Neuer Text: Im Aether verloren
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10 \raggedbottom
11 \begin{center}
12 \textbf{\huge\textsf{Im Æther verloren}}
14 \medskip
15 Tedine Sanss
17 \end{center}
19 \bigskip
21 \begin{flushleft}
22 Dieser Text wurde erstmals veröffentlicht in:
23 \begin{center}
24 Die Steampunk-Chroniken\\
25 Geschichten aus dem Æther
26 \end{center}
28 \bigskip
30 Der ganze Band steht unter einer
31 \href{http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.0/de/}{Creative-Commons-Lizenz.} \\
32 (CC BY-NC-ND)
34 \bigskip
36 Spenden werden auf der
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38 des Projekts gerne entgegen genommen.
39 \end{flushleft}
41 \newpage
43 Ich erwachte wie jeden Morgen in kaltem Schweiß gebadet und lag
44 noch eine Weile still, während ich mich daran erinnerte, wo ich
45 war. Die Nacht hatte mich erneut zu den Schlachtfeldern
46 Afghanistans geführt, Kameraden an meine Seite gestellt, von denen
47 ein Teil meines Bewusstseins erkannte, dass sie längst tot waren,
48 und ihnen deswegen das faulende Fleisch vom Körper fallen ließ, bis
49 ich die elfenbeinweißen Knochen darunter sah. Sie wandten sich mir
50 zu, um zu sprechen, aber ihre Kiefer fielen herab, und aus ihren
51 leeren Augenhöhlen krochen Maden, wälzten sich über die
52 Wangenknochen, stürzten auf mich herab wie ein Hagelschauer,
53 wimmelten über meine Arme und Beine, besudelten meinen ganzen
54 Körper.
56 \bigpar
58 Mit einem mühsam unterdrückten Schrei fuhr ich hoch und wischte mit
59 den Händen über meine Glieder, zerkratzte panisch meine Haut dabei
60 und rang nach Atem, während ich den Schlaf endgültig hinter mir
61 ließ.
63 Ich war daheim, in meinem neuen Zuhause, einem sonnendurchfluteten
64 Bauernhaus im Departement Calvados, dem schönsten Teil der
65 Normandie. Was ich im Traum für Kanonendonner gehalten hatte, war
66 Claudines und mein einziger Bediensteter Yves, der den
67 Samstagmorgen nutzte, um auf dem Platz unter meinem Fenster Holz zu
68 hacken. Das disharmonische Gellen der Alarmglocken stammte in
69 Wahrheit von den Kühen, die gemächlich über die Weide schritten.
70 Und was mir wie das Pfeifen von Schüssen geklungen hatte, waren die
71 Zweige des alten Apfelbaums, die am Fenster scharrten.
73 Die andere Seite des Bettes war leer. Claudine musste schon
74 aufgestanden und zum Frühstück hinuntergegangen sein. Dieser
75 Gedanke erleichterte mich zunächst, denn so hatte sie mein
76 gequältes Erwachen nicht miterleben müssen. Aber dann war mir umso
77 schwerer ums Herz, als mir bewusst wurde, an wie vielen Tagen ich
78 allein erwachte.
80 \bigpar
82 Ich hatte England erst vor einigen Monaten verlassen, als ich
83 begriff, dass ich mich dort niemals wieder heimisch fühlen würde,
84 nicht nach der Schlacht um Herat, nicht nach der grausamen
85 Belagerung von Chakcharan. Der Arzt hatte mir Luftveränderung
86 empfohlen, einen Ortswechsel und einen ausgedehnten Urlaub von Land
87 und Leuten.
89 In einer grimmigen Anwandlung von Gehorsam war ich auf den
90 Kontinent geflüchtet, in die Normandie, wo mich die Landschaft und
91 der Calvados heilen sollten, hatte überstürzt das hübsche
92 dunkeläugige Mädchen geheiratet, das im Café bediente, und von der
93 Invalidenrente den kleinen Hof gekauft. Aber wohin auch immer man
94 flüchtet, man nimmt sich selber mit, und so rang ich jeden Morgen
95 gegen mein nächtliches Ich wie Jakob gegen den Engel, und entfernte
96 mich dabei immer weiter von meiner liebenswürdigen, koketten
97 kleinen Ehefrau und dem einfachen Landleben, das ich gesucht
98 hatte.
100 \bigpar
102 Noch immer zitternd von dem Nachtmahr, schob ich die Decken
103 beiseite, erhob mich und ging ins Bad. Ein graues Gesicht starrte
104 mich aus dem Spiegel an. Schwarze wirre Locken, die tief in die
105 Stirn hingen, dunkle, weit aufgerissene Augen, die all den
106 Schrecken widerspiegelten, den sie gesehen hatten, ein schmaler
107 Mund, Wangen und Kinn mit dunklen Stoppeln bedeckt. Das Gesicht
108 musterte mich forschend. Rasch senkte ich den Blick, wusch mich,
109 rasierte mich flüchtig und kleidete mich an. Dunkle schmale
110 Reithosen, ein weißes Hemd, eine Weste darüber und hohe Stiefel. So
111 lief ich die Treppe hinunter in die Küche.
113 \bigpar
115 Yves, der mit dem Holzhacken fertig war, lächelte mir entgegen und
116 servierte mir frisches Brot, Käse und ein Glas warmer Milch.
118 »Das ist ein Frühstück für ein krankes Kind!«, protestierte ich
119 halbherzig, während ich mich auf dem Stuhl niederließ und schon
120 zugriff.
122 »Sie müssen doch zu Kräften kommen«, brummte Yves. »Die gnädige
123 Frau ist ins Dorf gegangen. Sie lässt Ihnen ausrichten, Sie sollten
124 nicht mit dem Mittagessen auf sie warten. Es gibt Tripes à la mode.
125 Wenn Sie mich dann nicht mehr brauchen – ich will noch ein Gatter
126 reparieren.«
128 Ich entließ ihn mit einem Nicken, während ich schon fieberhaft
129 überlegte, wie auch ich dem heutigen Mittagessen entgehen konnte.
130 Yves war ein guter Koch, aber auf das seltsame Gericht aus Kutteln
131 und Kalbsfüßen wollte ich gern verzichten.
133 Schließlich beschloss ich, mich bei meinem Nachbarn einzuladen. Ich
134 hatte Gérard Le Bon bei meinem Einzug kennen gelernt, den er
135 tatkräftig mitorganisiert hatte, und der breitschultrige, gelassene
136 Normanne war mir sofort sympathisch gewesen. Ich wusste, dass er im
137 Dorf als Sonderling galt, der in seiner Scheune an allerlei selbst
138 erfundenen Geräten herumbastelte. Da mein Interesse für alles
139 Technische ebenso groß war wie mein Abscheu vor allzu
140 traditionellen Gerichten, sah ich nun eine gute Gelegenheit für
141 einen Besuch. Ich beendete das Frühstück, klemmte mir eine Flasche
142 Cidre aus der Küche unter den Arm und verließ das Haus durch die
143 Küchentür.
145 \bigpar
147 Vom Garten aus konnte ich die Scheune meines Nachbarn sehen. Sein
148 Grundstück lag etwas unterhalb von meinem, in einem der Täler, die
149 sich in sanften Schwüngen zum Fluss hinab erstreckten, und war nur
150 durch einige Hecken von meinem Haus getrennt. Ich beschloss, den
151 direkten Weg zu nehmen. Die Augen fest auf die Scheune geheftet,
152 bahnte ich mir einen Pfad vorbei an den Kräuterbeeten, über die
153 Obstwiese, auf der die ersten Apfelbäume sich mit weißen und
154 rosafarbenen Blüten schmückten, über die Hecke zur Weide, auf der
155 träge wiederkäuend die Kühe umherwanderten, und schließlich über
156 das Gatter auf seine eigene, kurz geschnittene Wiese, in deren
157 Mitte die große alte Scheune stand. Davor lehnten zwei hölzerne
158 Kisten. Ein eifriges Klopfen drang durch das Tor, als hämmere
159 jemand mit präzisen kurzen Schlägen auf Metall ein.
161 Ich trat näher heran.
163 »Hallo? Ist es gestattet, einzutreten?«
165 Das Hämmern verstummte, und kurz darauf öffnete sich das Tor.
166 Gérard Le Bon stand vor mir, mit einem hellen Schutzanzug
167 bekleidet, und kämmte sich mit ölverschmierten Fingern das blonde
168 Haar aus den Augen. Er war einen halben Kopf größer als ich und
169 packte mich wie ein Bär, um mir die Hände zu schütteln.
171 »Henry, wie schön, dass Sie einmal vorbeischauen!«, rief er
172 herzlich. »Ich wollte Sie schon lange einladen, aber Yves sagte,
173 Sie müssten sich erholen.«
175 »Manchmal ist Yves fürsorglicher als eine Amme«, murrte ich. »Wenn
176 es nach ihm ginge, säße ich den ganzen Tag mit einer Decke über den
177 Beinen im Lehnstuhl. Wie steht es mit einer Erfrischung?« Einladend
178 schwenkte ich die Flasche.
180 Gérard nickte. »Gern. Irgendwo habe ich bestimmt Gläser.«
182 Er kehrte in die Scheune zurück, wühlte herum und kam mit einem
183 Weinglas und einem Cognacschwenker wieder heraus. Wir hockten uns
184 auf die Kisten, ich schenkte ein und nahm einen tiefen Schluck.
185 Heiter lehnte ich mich zurück und reckte die Beine in die
186 Frühlingssonne. Ich hatte mich lange nicht mehr so wohl gefühlt.
188 »Wie geht es Claudine?«, erkundigte sich Gérard.
190 Ich zuckte die Achseln. »Gut, vermutlich. Sie ist ins Dorf gegangen
191 und ließ mir ausrichten, ich solle nicht mit dem Mittagessen
192 warten.«
194 Möglicherweise hatte sich ein harter Unterton in meine Stimme
195 eingeschlichen, denn er blickte zu Boden, räusperte sich und zupfte
196 unbehaglich mit Daumen und Zeigefinger an seiner Unterlippe.
198 Wir schwiegen eine Weile, während ich wie ein Schuljunge auf der
199 Kiste herumrutschte und überlegte, wie ich das Gespräch auf das
200 Gerät in der Scheune lenken könnte, an dem er gehämmert hatte.
201 Gérard beobachtete mich aus den Augenwinkeln und ließ mich zappeln.
202 Schließlich, als ich kurz davor war, meine unbezähmbare Neugier
203 einfach herauszuschreien, stellte er das Glas ab und stand auf.
205 »Wollen Sie mir bei den letzten Nieten helfen?«
207 »Gern!« Sofort erhob ich mich ebenfalls. »Ich bin Ingenieur, das
208 heißt, ich war es, vor dem Krieg. Seit ich gehört habe, dass Sie in
209 der Scheune etwas bauen, brenne ich darauf, es zu Gesicht zu
210 bekommen.«
212 »Ingenieur also! Dann brauche ich Sie nicht mit langen Erklärungen
213 zu behelligen. Kommen Sie mit.«
215 Er ging voraus und stieß beide Flügel des Tores weit auf, um Licht
216 hineinzulassen. Ich folgte ihm und spähte über seine Schulter.
218 \bigpar
220 Im Inneren der Scheune ruhte, ein wenig zur Seite geneigt, ein
221 großer Zeppelin, etwa fünfzehn Meter in der Gesamtlänge. Der Korpus
222 war aus hölzernen Spanten gebaut und mit Leinenstoff bezogen.
223 Darunter schaute eine Kabine aus genietetem Kupfer hervor, mit vier
224 Bullaugen versehen wie ein Schiff. Eine Leiter führte zu einer Tür
225 hinauf. Unter der Kabine befand sich ein weiterer Raum, und auf
226 diesem hatte Gérard Kupferplatten festgenietet, als mein Klopfen
227 ihn unterbrach.
229 Beifällig glitten meine Augen über die sinnreichen Verstrebungen,
230 die Drahtseillenkung für Höhen- und Seitenruder und den stabilen
231 Propeller, aber dann ließ ein Kupferrohr mich stutzen, das von dem
232 untersten Raum geradewegs in den Korpus führte.
234 »Es funktioniert mit Heißluft«, erläuterte Gérard. »Die erwärmte
235 Luft ist ein Nebenprodukt des Dampfantriebs für den Propeller. Sie
236 wird durch das Rohr in den Korpus eingespeist, und der Druck \ldots{}
237 ach, am Besten steigen Sie ein und schauen es sich an.«
239 Ich ließ mich nicht zweimal bitten. Rasch erklomm ich hinter Gérard
240 die Leiter und folgte ihm durch eine schmale Schleuse ins Innere
241 des Luftschiffs.
243 Ein kleiner, äußerst komfortabler Raum tat sich vor mir auf. Direkt
244 hinter der großen Frontscheibe in ihrem Messingrahmen standen zwei
245 mit Leder bezogene Drehsessel, vor denen übersichtlich die
246 Instrumente angeordnet waren. Ich erkannte einen Kompass,
247 kardanisch aufgehängt in einem hölzernen Kasten, in dem er vor
248 allen magnetischen Ablenkungen geschützt war, die Anzeige eines
249 Höhenmessers und eine weitere, die die Geschwindigkeit in Knoten
250 auswies. Auch ein Morsegerät konnte ich ausmachen und eine Uhr in
251 einem äußerst stoßfest wirkenden Gehäuse. Vor dem linken Sessel,
252 offensichtlich dem des Piloten, befand sich ein Steuerknüppel mit
253 Mahagonischalen.
255 Rechts neben dem Sessel des Copiloten waren weitere, kleinere
256 Anzeigen. Ich beugte mich vor und musterte sie interessiert.
258 Gérard trat zu mir. »Wasserstand, Kohlevorrat, Gewicht,
259 Druckmesser, Seiten- und Höhenruderstand, Drehgeschwindigkeit«,
260 erläuterte er knapp, während er mit dem Finger darauf wies. »Das
261 muss alles bedacht werden, bevor man in den Æther startet.«
263 »In den Æther!«, entfuhr es mir. »Bei allen Göttern, Sie wollen
264 doch mit diesem Gefährt nicht etwa auf Sternenreise gehen!«
266 »Aber gewiss doch – was sollte mich aufhalten!«
268 Wie er dort stand, breitschultrig und selbstbewusst, war ich
269 beinahe bereit, ihm Glauben zu schenken.
271 »Aber«, wandte ich dennoch ein, »woher kommt die Atemluft während
272 der Reise?«
274 Er wies auf etwas, das ich für einen Ventilator gehalten hatte.
275 »Dieses von mir entwickelte Gerät wird während der Reise
276 kontinuierlich Sauerstoff in die Luft dieses Raumes einspeisen.
277 Sehen Sie – es hat sogar eine Kontrollanzeige.«
279 »Für eine Reise durch den Æther benötigen Sie eine enorme Menge an
280 Kohle«, wandte ich weiter ein.
282 »Lediglich für den Start, denn sobald die Anziehungskraft der Erde
283 überwunden ist, gleitet mein Heißluft-Ætherschiff in den
284 Sonnenwinden und dem Ætherstrom dahin. Aber schauen Sie selbst, ich
285 habe eine ungeheuer leistungsfähige Dampfmaschine dort unten.«
287 Wir kletterten über eine enge Leiter in den Raum unter der Kabine,
288 der beinahe ganz von einem glänzenden Kessel ausgefüllt war.
290 »Wie kamen Sie auf die Idee«, erkundigte ich mich während des
291 Abstiegs, »anstatt des Heliums mit erhitzter Luft zu arbeiten?«
293 Er zuckte in einer großartigen Geste die Achseln. »Es lag auf der
294 Hand, mon ami! Sollte der Korpus eines gewöhnlichen Zeppelins auf
295 dem Weg zu den Sternen einmal leck schlagen, dann könnten Sie das
296 ausströmende Helium nicht ersetzen und müssten auf ewig verloren
297 durch den Æther driften. Luft und Wärme hingegen produziert mein
298 sinnreiches Luftschiff kontinuierlich neu, sodass es ausreichen
299 würde, die Außenhülle zu reparieren, und dank dieses wunderbaren
300 Gerätes ginge die Fahrt alsdann ohne Verzögerung weiter.«
302 Er wies auf die Dampfmaschine, das Herz seiner Erfindung. Glatt und
303 blank lag sie da, und obschon ich wusste, dass sie nichts als ein
304 Konstrukt aus Zylindern, Ventilen und einem großen Kessel war,
305 erschien sie mir beinahe lebendig, als schlage ein Puls unter ihrem
306 glatten Äußeren, als atme sie und schmiege sich erwartungsvoll in
307 das ihr zugedachte Gehäuse.
309 »Die beste ihrer Art, und gerade gut genug für meine Zwecke. Ein
310 solches Ætherschiff, mon cher«, dröhnte Gérard, »erbaut man nicht
311 auf einer kleinen, engen Insel, die verloren im Ozean liegt. Dazu
312 braucht es den festen Untergrund eines Kontinents, den sicheren
313 Boden der Normandie.«
315 Ich entzifferte das Herstellerschild auf der Dampfmaschine.
316 »Fawcett \& Preston, Liverpool«, stand darauf. »Sicherlich die
317 beste ihrer Art«, lächelte ich still. »Und wann soll das
318 Heißluft-Ætherschiff vom Stapel laufen?«
320 »Jederzeit«, erwiderte er. »Sobald die letzten Nieten sitzen. Wie
321 wäre es mit jetzt gleich?«
323 Ich schüttelte den Kopf. »Sie sind ja verrückt!«
325 »Keineswegs!« Zusehends erwärmte er sich für diesen Gedanken. »Das
326 Schiff ist fertig. Wasser habe ich im Brunnen, die nötige Kohle
327 lagert im Keller. Dort sind auch ein paar Vorräte. Und Sie sind
328 Ingenieur, genau der Richtige für den Copilotenplatz. Einen zweiten
329 Schutzanzug habe ich auch – er wird Ihnen ein wenig zu groß sein,
330 fürchte ich, aber das macht sicher nichts. Wenn wir gemeinsam die
331 letzten Nieten anbringen, dann beladen und vorheizen, wären wir in
332 zwei Stunden reisefertig. Ein kurzer Ausflug nur, einmal um unsere
333 alte Erde und wieder zurück. Sind Sie dabei?«
335 »Claudine wird nicht wissen, wo ich bin«, wandte ich ein.
337 »Claudine ist mit ihren Freundinnen im Dorf. Sie werden Hüte
338 anschauen und Handschuhe anprobieren. Dann gehen sie in das Café
339 von Madame Fleury, essen Apfelkuchen und trinken Kaffee. Während
340 sie über die Hüte und die Handschuhe schwatzen, nehmen sie einen
341 kleinen Calvados, pour faire le trou normand – um ein wenig Platz
342 im Magen zu schaffen. Und schon ist es Abend. Bis dahin sind wir
343 längst zurück!«
345 »Yves wird sich sorgen. Er kocht Tripes à la mode.«
347 Ein Schatten glitt über Gérards Gesicht. »Welch ein Jammer! Aber
348 man kann es aufwärmen, morgen sind sie noch besser. Also, wie steht
349 es?«
351 »Nun gut!« Lachend hob ich die Hände. »Sie haben mich überredet.
352 Ein kurzer Ausflug in den Æther und wieder zurück. Nur um zu
353 schauen, ob Ihr Heißluft-Ætherschiff funktioniert.«
355 »Das wird es, seien Sie gewiss.« Er rieb sich die Hände. »Was für
356 ein Glück, dass gerade Sie heute Morgen vorbeigekommen sind!«
358 \bigpar
360 Wir hämmerten die Nieten fest, überprüften noch einmal die
361 Verstrebungen und testeten die Lenkung. Mit einer Reihe von
362 Seilwinden schafften wir anschließend das Luftschiff aus das
363 Scheune hinaus auf die Wiese.
365 Wir fühlten uns wie Schulbuben in einer geheimen Verschwörung als
366 wir die Vorräte aus dem Keller holten, ein paar weitere Flaschen
367 Cidre, ein frisches Brot, verschiedene Sorten Käse und eine Paté.
368 Dann schleppten wir die Kohle und das Wasser herbei und heizten den
369 Kessel an, steckten den Schutzanzug um, der mir viel zu groß war
370 und in dem ich versank, als sei ich tatsächlich ein kleines Kind,
371 schließlich, während der Kessel sich langsam erwärmte, hockten wir
372 noch eine Weile auf den Kisten vor der Scheune.
374 Gérard zupfte wieder einmal mit den Fingern an seiner Unterlippe
375 herum.
377 »Nervös?«, erkundigte ich mich.
379 Entschieden schüttelte er den Kopf.
381 »Nein, mon ami. Ich weiß, dass es funktionieren wird. Es ist
382 lediglich \ldots{} wie eine Vorahnung, verstehen Sie? Ich glaube, wir
383 werden ein Abenteuer erleben.«
385 Ich nickte. Genau dieses Gefühl hatte ich auch, es prickelte durch
386 meine Adern wie der Cidre.
388 Entschlossen erhob er sich. »Nun denn, steigen wir ein! Es ist noch
389 früh genug, der Wind steht günstig. In einer Stunde werden Sie die
390 Erde von oben sehen, eine große blaue Murmel inmitten des Æthers.
391 Kommen Sie!«
393 \bigpar
395 Wir kletterten ins Innere. Gérard nahm seinen Platz im
396 Pilotensessel ein, ich schlüpfte wie selbstverständlich auf den des
397 Copiloten, überprüfte aus alter Gewohnheit die Funktionsfähigkeit
398 der Geräte, indem ich mit dem Fingernagel gegen die Gläser
399 schnippte.
401 »Wasserstand und Kohlevorrat?«, fragte Gérard.
403 »Maximum!«
405 »Druck?«
407 »15 Pascal!«
409 »Ideal. Dann lassen Sie uns abheben.«
411 Wir lösten über einen Hebel die Leinen, holten sie ein und stiegen
412 gemächlich empor. Die Scheune schrumpfte zu einem Puppenhaus
413 zusammen, dann verschwammen die Obstwiesen und Hecken zu einem
414 Schachbrettmuster, schließlich breitete sich ein grüner Teppich
415 unter uns aus, nur gelegentlich durchbrochen durch die
416 schwärzlichen Flecken der Häuser. Gérard betätigte den
417 Steuerungshebel.
419 »Wir müssen zuerst ein Stück aufs Meer hinaus, damit wir genügend
420 Aufwind für den Weg in den Æther bekommen«, erläuterte er. »Unter
421 Ihrem Sitz liegt eine Karte. Machen Sie sich doch schon einmal mit
422 ihr vertraut.«
424 Ich ertastete das gefaltete Pergament, hob es auf meinen Schoß und
425 strich es glatt. Ein wirres Durcheinander aus Punkten und Linien
426 breitete sich vor mir aus, die noch dazu nicht stillzuhalten
427 schienen, sondern unter meinem Blick verschwammen, sich voneinander
428 entfernten und sich gleich darauf wieder anzunähern schienen.
430 »Gérard? Ich kann das nicht lesen.«
432 Ohne hinzusehen, griff er herüber und zog die Karte im Mittelfalz
433 eine Handbreit nach oben. Sofort sortierten sich die Punkte zu den
434 mir bekannten Sternbildern, die Linien bildeten Routen und
435 Verbindungsstrecken.
437 »Wie haben Sie das gemacht?« Sehr behutsam zog ich an den Rändern
438 der Karte, bis die Bilder wieder verwischten und in Bewegung
439 gerieten. Dann schob ich sie erneut zusammen, an einem anderen Falz
440 dieses Mal, probierte eine Weile herum, und die Bilder wurden
441 wieder klar. Verdutzt rieb ich mir die Augen. »Was für eine
442 seltsame Karte ist das?«
444 Gérard lächelte. »Im Æther, mon cher, gibt es kein Oben und Unten,
445 kein Rechts und Links. Unsere herkömmlichen Bezugspunkte verlieren
446 ihre Bedeutung. Deswegen würde uns eine gewöhnliche Karte nichts
447 nützen. Und so habe ich diese Sternenkarte entwickelt. Sie schafft
448 ihren eigenen Bezugspunkt, immer dort, wo man ihn braucht. Sehen
449 Sie die Buchstaben am Rand?«
451 Ich entzifferte S, M, V, E, M, M, J, S, U, N.
453 »Können Sie sich denken, mon ami, wofür sie stehen?«
455 »Gewiss!«, rief ich. »Sonne, Merkur, Venus, Erde, Mond, Mars,
456 Jupiter \ldots{} Aber Sie wollen doch nicht allen Ernstes behaupten, Sie
457 könnten mit diesem Heißluft-Ætherschiff bis zum Jupiter oder zum
458 Saturn, ins Äußere Sonnensystem!«
460 Er zuckte lediglich die Achseln. »Bisher noch nicht, aber wenn es
461 mir gelingt, die Außenhülle ein wenig stabiler zu machen, damit sie
462 größerem Druck standhält \ldots{} Im Augenblick komme ich nicht über 15
463 Pascal, aber ich denke über weitaus höhere Werte nach. Mit 500
464 Pascal beispielsweise könnte man es durchaus bis zum Uranus
465 schaffen. Vielleicht sogar noch weiter.«
467 »500 Pascal – Sie träumen!«, tadelte ich. »Welches Material gibt es
468 wohl, das solch einen Druck ertragen würde! Nun, immerhin der Mars
469 könnte erreichbar sein. Bei guter Vorbereitung und einem günstigem
470 Sonnenwind.«
472 Er hatte mich bei meinen Worten sehr aufmerksam angesehen. »Sie
473 wären also mein Copilot – sofern ich jemals eine Reise zum Mars
474 planen würde?«
476 »Nein. Ja! Beim Zeus, da haben Sie mich sauber in die Falle
477 gelockt!« Ich musste lachen. »Wenn Sie also ein Material finden
478 könnten, das einen wesentlich höheren Druck ertrüge als das
479 bisherige, und wenn Sie den Korpus Ihres Heißluft-Ætherschiffes
480 damit zu verkleiden wüssten. Wenn Sie außerdem einen Weg fänden,
481 genügend Vorräte und vor allem reines Trinkwasser an Bord zu
482 nehmen. Und wenn Sie außerdem Claudine und Yves erklären würden,
483 weshalb ich in den nächsten Wochen nicht pünktlich zum Essen käme –
484 dann, mein lieber Freund, wäre ich tatsächlich bereit, als Ihr
485 Copilot in diesem Gefährt bis zum Mars zu reisen.«
487 Gérard nickte, als habe er nichts anderes erwartet. »Nun gut, dann
488 ist das abgemacht, mon ami. Aber fürs Erste umkreisen wir nur die
489 Erde, der Mars muss noch eine Weile warten.«
491 \bigpar
493 Inzwischen waren wir über dem Meer, der grüne Teppich unter uns war
494 von einer unruhigen, silbrig schäumenden Oberfläche abgelöst
495 worden. Der Aufwind griff nach unserem Gefährt und drückte uns
496 empor, stärker als ich es für möglich gehalten hatte.
498 »Jetzt gilt es!« Gérard beschleunigte den Propeller auf höchste
499 Leistung und zog dann den Steuerungshebel mit aller Kraft auf sich
500 zu. Das Luftschiff richtete sich auf und preschte steil nach oben
501 in den Himmel. Die Aufwärtsbewegung presste mich in meinen Sitz,
502 ich klammerte mich an die Armlehnen.
504 Gérard warf mir einen seiner raschen Seitenblicke zu. »Es ist
505 gleich überstanden, mon cher. Je weiter wir uns von der Erde
506 entfernen, desto geringer wird ihre Anziehungskraft. Wenn wir
507 dieses Tempo halten können, werden wir in wenigen Minuten im Æther
508 schweben – dann lässt der Druck nach.«
510 Ich nickte krampfhaft. Das Atmen wurde mir schwer, als presse
511 jemand mit aller Gewalt meinen Brustkorb zusammen. Vor meinen Augen
512 tanzten Funken, in meinen Ohren pfiff es, als sei ich wieder in
513 Afghanistan, in den Schützengraben geduckt zum Schutz vor den
514 Gewehrkugeln, und meine Kameraden – oh Gott, meine Kameraden! – Der
515 Albtraum der vergangenen Nacht griff nach mir und schwemmte mich
516 davon wie eine Flutwelle.
518 »Henry? Es ist gleich vorbei!«
520 Mühsam kam ich zu mir, blickte in Gérards besorgte Augen.
522 »Es geht mir gut«, würgte ich hervor.
524 Er schüttelte nur den Kopf, griff unter seinen Sitz und holte eine
525 Flasche hervor. Als er sie öffnete und den Verschlussbecher füllte,
526 stieg mir der Duft von Äpfeln in die Nase.
528 »Calvados?«
530 »Selbst gebraut. Auf einen Schluck hinunter damit. Vertrauen Sie
531 mir!«
533 Ich tastete blind nach dem Becher und schüttete das Gebräu in meine
534 Kehle. Zuerst spürte ich nichts. Dann brannte sich flüssiges Feuer
535 eine Bahn durch meine Kehle hinunter. Ich hustete, rang nach Atem.
536 Ein konvulsivisches Zittern durchfuhr mich, heiße Tränen traten in
537 meine Augen.
539 »Atmen!«, befahl Gérard.
541 Als ich seiner Anweisung Folge leistete, sprengte ich dabei die
542 eisernen Reifen, die sich um meine Brust gelegt hatten. Mit einem
543 unterdrückten Schluchzen sackte ich in meinem Ledersessel
544 zusammen.
546 »Es ist gut, mon ami. Wir sind im Æther. Jetzt wird es Ihnen besser
547 gehen.«
549 Ich richtete mich auf und blickte durch das Bullauge. Alles um uns
550 her war dunkel und ruhig. Ohne einen festen Bezugspunkt war es
551 unmöglich, unsere Geschwindigkeit auszumachen. Wir schienen im
552 Nirgendwo stillzustehen.
554 »Es tut mir leid«, murmelte ich verlegen. »Ich weiß gar nicht, was
555 in mich gefahren ist.«
557 »Das ist die Ætherkrankheit«, stellte er fest. »Der Druck beim
558 Aufstieg führt zu Atemnot und Angstzuständen. Manche leiden mehr
559 darunter, manche weniger, aber verschont hat sie meines Wissens
560 beim ersten Ausflug in den Æther noch niemanden. Doch jetzt ist es
561 überstanden. Lassen Sie uns die Erde betrachten, unseren einmaligen
562 blauen Planeten. Die Aussicht ist atemberaubend.«
564 Er bewegte den Steuerknüppel, sodass wir in die Umlaufbahn
565 einschwenkten. Erwartungsvoll blickte ich hinaus, doch alles, was
566 ich erkennen konnte, war eine schmale goldene Sichel.
568 »Wir sind über dem Ozean«, erläuterte Gérard. »Die Sonne geht eben
569 über dem Horizont auf. Da – sehen Sie!«
571 Die Sichel wurde breiter, einzelne Strahlen tasteten sich vor und
572 glommen auf wie Glut im Kamin. Dann erkannte ich das Meer, blau und
573 wolkenverhangen. Immer weiter rundete sich die Erde unter meinen
574 Blicken, ich sah die bräunlichen Kontinente, die weißen Polkappen
575 und die Wolkenfetzen, die darüber hinwegtrieben.
577 »Was für ein unglaublicher Anblick!«, entfuhr es mir.
579 Gérard lächelte voller Besitzerstolz.
581 »Wir sind gleich über Nordfrankreich«, stellte er fest, »und können
582 das Morsegerät der Bahnstation von Calvados erreichen. Möchten Sie
583 Yves eine Nachricht senden?«
585 Damit schob er mir das Morsegerät zu.
587 Während ich weiter durch das Bullauge hinausschaute, tippte ich auf
588 die Taste ein. »Yves, warte nicht mit dem Essen, wir sind auf einem
589 längeren Ausflug und erst gegen Abend zurück«, sprach Gérard
590 halblaut mit. »Nun, immerhin weiß er jetzt, dass er sich keine
591 Sorgen machen muss.«
593 Ich nickte und wollte weiter hinaussehen, als ich aus den
594 Augenwinkeln eine Bewegung in der Kabine bemerkte. Der Kompass
595 schlug aus. In seiner kardanischen Aufhängung war er vor allen
596 magnetischen Einflüssen geschützt, dennoch geriet er immer heftiger
597 in Erschütterung, die Nadel begann schließlich sogar zu rotieren.
598 Irritiert blickte ich auf die übrigen Instrumente. Auch die
599 Anzeigen für Höhe und Druck spielten verrückt und schlugen
600 unkontrolliert aus.
602 »Gérard, schauen Sie doch! Hier ist etwas nicht in Ordnung!« Mit
603 dem Fingernagel schnippte ich gegen die Gläser, die leise
604 schepperten.
606 Für einen Augenblick schien er ebenso verwirrt wie ich. Dann schlug
607 er sich mit der Hand vor die Stirn. »Die Sonnenstürme!«, stöhnte
608 er. »Sie waren für heute Nachmittag angekündigt. Ich hätte die
609 Warnung ernster nehmen sollen. Nur gut, dass wir nicht höher
610 aufgestiegen sind und nach Sicht manövrieren können. Lassen Sie uns
611 den Ausflug abbrechen und zurückkehren, rasch, solange es nur die
612 Messinstrumente sind, die durch den erhöhten Magnetismus
613 beeinträchtigt werden!«
615 Er schob den Steuerknüppel nach vorn, um den Sinkflug einzuleiten.
616 Das Ætherschiff bäumte sich auf wie ein widerspenstiges Pferd und
617 drehte sich mit einem protestierenden Quietschen aus seiner
618 Umlaufbahn. Aber gerade als es sich vollkommen quergestellt hatte,
619 traf uns ein gewaltiger Stoß, erschütterte unser Gefährt, als sei
620 es ein Kinderspielzeug, und warf uns beinahe aus den Sitzen.
622 »Was war das?«, schrie ich.
624 Gérard ruckte am Steuerknüppel. Seine Knöchel wurden weiß von der
625 Anstrengung, aber der Knüppel bewegte sich nicht.
627 »Etwas hat unsere Lenkung verkeilt«, keuchte er, während er sich
628 wieder und wieder gegen das störrische Gerät stemmte. »Ein
629 Meteoritensplitter vielleicht. Helfen Sie mir!«
631 Nun zerrten wir beide mit aller Kraft an dem Hebel, aber er saß
632 fest und rührte sich um keinen Zoll.
634 »Nun gut!« Er stand auf, griff nach der Fliegerkappe, die unter
635 seinem Sitz deponiert war, und war schon auf dem Weg zur Tür. »Dann
636 gehe ich hinaus und versuche den Splitter in der Lenkung zu
637 lösen.«
639 Ich eilte ihm nach. »Nein, Sie werden hier drinnen gebraucht. Ich
640 kann das Ætherschiff nicht bedienen. Lassen Sie mich aussteigen und
641 den Schaden beheben.«
643 Er setzte zu einer Antwort an, da traf das Schiff erneut ein
644 furchtbarer Schlag. Ich verlor das Gleichgewicht und krachte gegen
645 Gérard, der dadurch mit dem Kopf gegen die Tür prallte und schwer
646 zu Boden ging. Eine weitere Erschütterung schleuderte mich durch
647 den Raum wie eine Lumpenpuppe, ich nahm noch wahr, wie unser Schiff
648 zu schlingern und zu trudeln begann, dann schwanden auch mir die
649 Sinne.
651 \bigpar
653 Ich erwachte mit schweren, verkrampften Gliedern, halb hinter dem
654 Sessel verkeilt. Von der Tür her hörte ich ein leises Stöhnen.
656 »Henry?«, fragte Gérard mit matter Stimme. »Mon ami, geht es Ihnen
657 gut?«
659 »Den Umständen entsprechend, ja«, erwiderte ich. »Und wissen Sie
660 was? Dies ist das erstemal seit Monaten, dass ich geschlafen habe,
661 ohne von Herat zu träumen. Was ist geschehen?«
663 Er rappelte sich hoch und blickte sich in der Kabine um. »Der
664 Sonnensturm scheint einen Meteoritenschauer ausgelöst zu haben,
665 dessen Ausläufer unser Schiff aus der Bahn geworfen haben. Nun, wir
666 leben noch. Das ist ein Zeichen dafür, dass die Kabine und unsere
667 Sauerstoffversorgung intakt geblieben sind. Die Geräte scheinen
668 ebenfalls wieder zu funktionieren. Was ist mit Ihnen? Sind Sie
669 verletzt?«
671 »Nein, ich denke nicht.« Ich bewegte Hände und Füße, zog dann die
672 Knie an und richtete mich schwerfällig auf. »Wie lange waren wir
673 ohne Bewusstsein?«
675 Er blickte auf die Uhr. »Wir sind gegen Elf gestartet, und jetzt
676 ist es kurz vor Drei. Es waren also mindestens vier Stunden. Nach
677 dem Hunger, den ich habe, könnten es allerdings auch sechzehn
678 Stunden gewesen sein.«
680 Als hätte er auf das Stichwort gewartet, knurrte mein Magen »Hunger
681 habe ich auch«, gab ich zu.
683 Gérard zog den Korb mit unserem Proviant hervor. »Bitte, bedienen
684 Sie sich. – Nanu, das Brot ist steinhart! Waren es sechzehn Stunden
685 oder am Ende gar noch mehr? Immerhin sind der Käse und die Paté
686 noch brauchbar.«
688 Ausgehungert machten wir uns über die Vorräte her und teilten eine
689 weitere Flasche Cidre.
691 »Wenn wir tatsächlich über sechzehn Stunden steuerlos durch den
692 Æther gedriftet sind«, fragte ich, »wo befinden wir uns dann?«
694 Gérard zuckte die Achseln und spähte durch das Bullauge. »Ich kann
695 keine mir bekannte Sternenkonstellation entdecken«, erwiderte er.
696 »Reichen Sie die Karte herüber.«
698 Ich gab ihm die Karte, und gemeinsam falteten und verglichen wir
699 das Pergament, bis Gérard plötzlich voller Stolz ausrief: »Hier ist
700 es! Schauen Sie nur, mon cher, wir haben es beinahe bis zum Mars
701 geschafft! Wir befinden uns in einer Umlaufbahn ungefähr auf halber
702 Strecke zwischen Phobos und Deimos, den beiden Marsmonden. Und die
703 Lufthülle hält, der Druck liegt immer noch bei 15 Pascal. Ich
704 wusste, es könnte gelingen. Das, mon ami, ist französische
705 Wertarbeit!«
707 Ich überprüfte die Instrumente. »Tatsächlich, der Druck ist noch
708 konstant«, stellte ich fest, »und auch um den Wasserstand brauchen
709 wir uns keine Sorgen zu machen. Allerdings muss die Dampfmaschine
710 neu angeheizt werden, die Kohle ist aufgezehrt.«
712 »Ah, was erwarten Sie von einer Dampfmaschine aus Liverpool!«, rief
713 er wegwerfend. »Sie findet doch immer eine Ausrede, um zu streiken.
714 Aber das ist bald behoben. Schlimmer ist der Ausfall unserer
715 Steuerung. Das Höhenruder ist beschädigt, und das Seitenruder
716 scheint von den Meteoriten komplett weggerissen worden zu sein. In
717 dieser Umlaufbahn bewegen wir uns fürs Erste zwar komfortabel, aber
718 wenn wir zur Erde zurückkehren wollen, müssen wir es irgendwie
719 ersetzen. Werkzeug für die Reparatur haben wir an Bord, aber kein
720 Holz von geeigneter Form und Größe. Immerhin sind wir nicht völlig
721 aus der Welt, der Mars liegt auf einer belebten Handelsroute, und
722 wenn wir Glück haben, kommt innerhalb der nächsten Wochen ein
723 Ætherschiff vorbei.«
725 »Innerhalb der nächsten Wochen?« Ich starrte betroffen auf die
726 spärlichen Reste im Vorratskorb. Schon jetzt, in halbwegs
727 gesättigtem Zustand, vermisste ich Yves’ Miesmuscheleintopf, und
728 beinahe sogar seine Tripes à la mode. »Was sollen wir bis dahin
729 machen?«
731 »Ausschau halten, mon ami!« Er drückte mir ein großes Fernrohr aus
732 Messing in die Hand. »Sie halten Ausschau und morsen das erste
733 Fahrzeug an, das in Sicht kommt, und ich versuche bis dahin,
734 wenigstens das Höhenruder wieder flott zu machen.«
736 Damit setzte er die Fliegerkappe auf, zog die Brille und das
737 Mundstück für die Sauerstoffversorgung vor das Gesicht und verließ
738 unser angeschlagenes Gefährt durch die Schleuse. Durch ein Bullauge
739 sah ich zu, wie er sich draußen mit einem Tau festmachte und zum
740 Höhenruder hangelte.
742 »Ausschau halten, aber wie?« Mit dem Rohr in der Hand ging ich von
743 Bullauge zu Bullauge, doch meine Sicht war in jedem Fall zu
744 beschränkt. Ich beschloss, dass ich selbst auch hinaus musste.
745 Unter meinem Sessel fand ich eine weitere Fliegerkappe, und mit
746 dieser ausgerüstet, folgte ich Gérard in den Æther.
748 Obwohl der Schutzanzug sich sofort aufblähte wie ein Federbett, war
749 es eiskalt, als sei ich in einen zugefrorenen Teich gesprungen. Es
750 gelang mir kaum, mit klammen Fingern das Haltetau festzuhaken, und
751 als ich über die Streben den Aufstieg zum Korpus begann, schien mir
752 die Kälte mit jedem Atemzug direkt in die Lungen zu dringen.
754 Ich sah Gérard am Höhenruder arbeiten und wollte ihm nichts
755 nachstehen, deswegen kroch ich weiter empor, das Fernrohr eng an
756 die Seite gepresst. Meine Augenlider schienen zu gefrieren, das
757 Zwinkern wurde mir schwer. Um der Kälte zu entgehen, atmete ich zu
758 flach. Ich bemerkte es, konnte es aber nicht verhindern. In meinen
759 Ohren begann es zu dröhnen wie Kanonendonner, mit einem Angstschrei
760 presste ich mich an den Leinenstoff, der mir gleich darauf wie ein
761 Leichentuch erschien, mit dem Gerippe der Spanten darunter, von dem
762 ich schaudernd wegstrebte.
764 Mit aller Kraft kämpfte ich gegen die Schreckensbilder, zwang mich,
765 das Fernrohr hochzuheben. Ich glaubte in weiter Ferne einen
766 Schatten vorüberziehen zu sehen, versuchte ihn genauer ins Auge zu
767 fassen, aber ein knackendes Geräusch neben mir ließ mich jammernd
768 zusammensinken. Ich fiel direkt in Gérards Arme.
770 Minuten später hatte er mich zurück in die Kabine geschafft und
771 flößte mir seinen selbstgebrauten Calvados ein. »Mon ami, das
772 Einzige, das größer ist als Ihre Torheit, ist Ihre
773 Hartnäckigkeit.«
775 »Aber es hat sich gelohnt!«, protestierte ich. »Da war etwas, ich
776 habe ein Schiff gesehen!«
778 Verdutzt blickte er mich an. »Sind Sie sicher, dass es nicht nur
779 ein Mondschatten war?«
781 »Ganz sicher. Ich habe die Masten erkannt. Ist es vorbeigefahren?«
783 »Gewiss ist es noch nicht außer Reichweite. Versuchen Sie es
784 anzumorsen.«
786 Ich morste CQD, die internationale Sequenz für einen Notfall.
787 Dreimal. Ein viertes Mal. Endlich kam eine Antwort. »Wo efind Sie«,
788 sprach Gérard amüsiert mit. »Der Funker hat einen lahmen
789 Zeigefinger.«
791 »Das ist in der Tat merkwürdig«, erwiderte ich. »Soweit ich weiß,
792 ist für sämtliche Offiziere an Bord eines Ætherschiffes eine
793 Morseprüfung zwingend vorgesehen. Aber vielleicht klemmt nur die
794 Taste.«
796 Ich gab unsere Position an und erklärte unsere Schwierigkeiten
797 wegen des abgerissenen Seitenruders. Schließlich bat ich darum, an
798 Bord kommen zu dürfen.
800 Die Antwort ließ lange auf sich warten. Endlich hörten wir:
801 »Schicken Niarkasse.«
803 Jetzt lachte Gérard hell auf. »Natürlich meinen sie die Barkasse.
804 Sie haben Recht, mon ami, die Taste klemmt.«
806 \bigpar
808 Wir blieben weiter in Kontakt, ich gab von Zeit zu Zeit unsere
809 Position durch, während das Ætherschiff sich näherte. Endlich kam
810 es in Sicht – und ich hielt den Atem an. Es war ein riesiger
811 Klipper unter voller Besegelung, vierfach übereinander türmten sich
812 an den Masten die Rahsegel auf, zu beiden Seiten waren zusätzliche
813 Leesegel gesetzt und an Bugspriet und Fockmast wölbten sich die
814 dreieckigen Stagsegel. Der schmale kupferbeschlagene Rumpf glänzte,
815 als sei er poliert, er schien durch den Æther zu schneiden wie eine
816 Klinge.
818 Der Klipper blieb in sicherem Abstand, ein Teil der Segel wurde
819 eingeholt, um die Fahrt zu verlangsamen. Wir sahen zu, wie die
820 Barkasse ausgesetzt wurde, ein geschlossenes kleines Beiboot, das
821 sich uns zielstrebig näherte. Es dockte an unserer Schleuse an, und
822 Gérard beeilte sich zu öffnen.
824 Vier Æthermänner standen vor uns, alle in kurzen engen Jacken, den
825 »Draught-nots«, und weiten, aufgekrempelten Hosen, die langen Haare
826 mit Tüchern aus dem Gesicht gebunden. In den Gürteln trugen sie
827 kurze breite Messer.
829 »Was für eine Art von Schiff ist das?«, fragte einer,
830 offensichtlich der Wortführer, anstelle einer Begrüßung. Er war
831 groß und hager, sein Gesicht war entstellt durch eine lange Narbe,
832 die von der Nasenwurzel knapp unter dem rechten Auge hindurch bis
833 zum Ohr reichte. Als er bemerkte, dass ich ihn anstarrte, machte
834 er: »Buh!« und rüttelte an seinem Messer.
836 »Dies ist ein Heißluft-Ætherschiff, das erste seiner Art«,
837 erwiderte Gérard freundlich. »Mein Name ist Gérard Le Bon, der Herr
838 dort ist mein Begleiter Henry Sutton. Willkommen an Bord. Mit wem
839 haben wir die Ehre?«
841 »James Hanway, Bootsmann auf der \emph{Olifant}«, entgegnete der
842 Æthermann. »Wir sollen Ihr \ldots{} Heißluft-Ætherschiff ins Schlepptau
843 nehmen, um den Schaden zu begutachten. Und Sie und Ihren Begleiter
844 bittet Kapitän Anstis an Bord.«
846 Ich griff nach meiner Fliegerkappe.
848 »Die Schutzanzüge können Sie hier lassen«, sagte Hanway. »Wir sind
849 komfortabel überdacht.«
851 Gérard und ich wechselten einen Blick. Auch wenn wir die
852 Schutzanzüge auf der \emph{Olifant} nicht brauchten, waren wir ohne
853 sie zugleich auf dem Klipper gefangen. Aber Hanways Worte hatten
854 nicht wie eine Option, sondern eher wie ein Befehl geklungen, und
855 in unserer derzeitigen Situation war es ratsam, ihn zu befolgen.
857 Wir verstauten die Schutzanzüge und die Fliegerkappen unter unseren
858 Sitzen, dann folgten wir Hanway durch die Schleuse auf die
859 Barkasse, während die übrigen Æthermänner unser Gefährt vertäuten.
861 Das Beiboot war eine Überraschung. Sein Inneres präsentierte sich
862 beinahe wie ein Salon, die Bänke waren fein gearbeitet und mit
863 Edelhölzern verziert, ein kristallener Lüster unter den
864 Deckenverstrebungen erfüllte den Raum mit Licht.
866 Hanway machte eine einladende Handbewegung. »Setzen Sie sich, wo
867 immer Sie mögen. Die Überfahrt wird mit Ihrem zusätzlichen Gewicht
868 ungefähr eine halbe Stunde dauern, also machen Sie es sich besser
869 bequem.«
871 Er selbst ließ sich mit einem Plumpsen auf eine der Bänke fallen,
872 und seine Leute, die ihm bald folgten, taten es ihm nach. Einer zog
873 das breite Messer aus dem Gürtel und begann an der Bank
874 herumzukratzen.
876 Ich hatte erwartet, dass Gérard plaudern und mit den Æthermännern
877 über sein Heißluft-Ætherschiff fachsimpeln würde, aber er war
878 ungewohnt schweigsam und spähte nur durch die hohen Fenster hinaus
879 zu unserem Gefährt, das hinter der Barkasse hergezogen wurde.
880 Deswegen schwieg auch ich.
882 \bigpar
884 Wie es der Bootsmann Hanway vorhergesagt hatte, erreichten wir nach
885 einer halben Stunde die \emph{Olifant}. Hatte sie aus der Ferne
886 schon riesig ausgesehen, so benahm sie mir jetzt vollends den Atem.
887 Sie war etwa 325 Fuß lang, besaß vier Masten, die so hoch in den
888 Æther aufragten, dass ich kaum ihre Spitze sehen konnte, war
889 wehrhaft ausgerüstet mit einer langen Reihe von Geschützen hinter
890 den Geschützklappen und zusätzlichen Drehbassen, die auf der Reling
891 montiert waren, und mit reichlichem Laderaum in den unteren Decks
892 ausgestattet.
894 Wir gingen längsseits und dockten an eine der Schleusen im
895 Zwischendeck an, durch die wir den Ætherklipper betraten.
897 »Ich habe Weisung, Sie sofort zu Kapitän Anstis zu bringen«, sagte
898 Hanway und schritt voraus, durch das Deck, eine Stiege hinauf und
899 zur Kapitänskajüte, an deren Tür er anklopfte.
901 »Aye!«, rief eine kräftige Stimme.
903 Hanway öffnete die Tür und stand stramm. »Kapitän Anstis, Sir! Die
904 Besatzung des Heißluft-Ætherschiffes, die Herren Le Bon und
905 Sutton!«, meldete er, trat dann zur Seite und winkte uns herein.
906 Hinter uns fiel schwer die Tür ins Schloss.
908 \bigpar
910 Wir standen vor einem großen, mit Schnitzereien verzierten Tisch
911 aus Mahagoniholz, auf dem einige Ætherkarten, ein Sextant, ein
912 Sternenglobus und mehrere Stechzirkel lagen. Dahinter saß ein
913 hochgewachsener, stämmiger Mann. Die Ætherreisen hatten sein Haar
914 beinahe weißlich blond gebleicht, seiner Haut einen dunklen
915 Kupferton verliehen. Seine Kleidung war elegant, wenn auch ein
916 wenig zu eng, und in der einen Hand hielt er ein Kristallglas mit
917 Rotwein, die andere hatte er fest um das Handgelenk einer jungen
918 Frau gelegt, die neben ihm stand, einer englischen Rose mit
919 milchweißer Haut und blassblondem Haar, deren Augen dieselbe
920 graublaue Farbe hatten wie das schlicht geschnittene Kleid, das sie
921 trug.
923 Gérard neben mir schnappte bei ihrem Anblick hörbar nach Luft. Der
924 Kapitän, der seinen Blick bemerkte, schloss voller Besitzerstolz
925 seine Finger noch fester um ihren Arm.
927 »Meine Herren, willkommen an Bord!«, dröhnte er. »Ich bin John
928 Anstis, Kapitän der \emph{Olifant}, und dies« – er zog die Frau an
929 sich, die leise aufstöhnte – »ist meine Ehefrau Madeleine. Was für
930 ein interessantes Gefährt hat Sie hergebracht? Ein
931 Heißluft-Ætherschiff, so etwas erscheint mir vielversprechend für
932 den interplanetaren Verkehr.«
934 Gérard schüttelte lächelnd den Kopf. »Leider ist es noch in der
935 Erprobungsphase und nicht besonders zuverlässig«, wehrte er ab.
936 »Schon ein leichter Sonnensturm hat unsere Steuerung abgerissen und
937 uns vom Kurs gebracht. Bis man es für den Ætherverkehr einsetzen
938 kann, werden wir wohl noch einige Jahre daran herumbasteln
939 müssen.«
941 »Nur keine falsche Bescheidenheit!«, beharrte der Kapitän. »Sie
942 werden mir später alles zeigen und genau erklären müssen, vor allem
943 den neuartigen Antrieb. Aber fürs Erste darf ich Sie zum Essen
944 bitten. Sie werden hungrig sein nach Ihrer Irrfahrt.«
946 Ich nickte lebhaft, aber Gérards Gesicht blieb unbewegt. »Ich danke
947 Ihnen für die Einladung, Kapitän Anstis«, erwiderte er lediglich.
949 Nach und nach trafen die übrigen Tischgenossen ein und wurden uns
950 vorgestellt – Evans, der Erste Offizier, der sich spreizte wie ein
951 Pfau, Barley, der Zweite Offizier, ein verschlossener Rotschopf,
952 und Doktor Scudamore, der kleine bewegliche Schiffsarzt.
954 Wir setzten uns zu Tisch, und der Steward trug auf. Angesichts der
955 übervollen Schüsseln gingen mir die Augen über. Es gab eine Reihe
956 von Fleischspeisen, dazu Knödel, kaltes eingelegtes Gemüse und
957 Käse.
959 Gérard musterte die Speisen. »Wie lange sind Sie schon unterwegs?«,
960 fragte er Kapitän Anstis, der seinen Teller voll häufte.
962 »Die \emph{Olifant} reist auf der Mars-Venus-Route«, erwiderte
963 dieser kauend, »aber wir haben vor einiger Zeit von einem
964 Versorgungsschiff frische Vorräte übernehmen können. Greifen Sie
965 ruhig zu, es ist genug da.«
967 »Für ein Handelsschiff sind Sie außergewöhnlich gut bewaffnet«,
968 forschte Gérard weiter, während er sich zurückhaltend bediente.
970 »Wegen der Ætherpiraten«, warf Barley ein, eine Bemerkung, die bei
971 dem Ersten Offizier Evans für ausgelassene Heiterkeit sorgte.
973 Doktor Scudamore warf einen mahnenden Blick in die Runde und führte
974 bedachtsam die Gabel zum Teller. »In der letzten Zeit haben sich
975 auf dieser Route Piratenüberfälle gehäuft. Die meisten
976 Handelsschiffe schließen sich daher in den Häfen zu Konvois
977 zusammen – und wenn das nicht möglich ist, weil sie Termingeschäfte
978 abgeschlossen haben, verstärken sie ihre Bewaffnung, in der
979 Hoffnung darauf, die Piraten abzuschrecken.«
981 »Was transportiert die \emph{Olifant}?«, fragte ich.
983 »Maschinenzubehör«, schnappte der Kapitän. Er wandte sich an
984 Gérard. »Ihr Heißluft-Ætherschiff erscheint mir außerordentlich
985 wendig. Gewiss wären Sie damit in der Lage, auf einem der Marsmonde
986 zu landen, nicht wahr?«
988 Gérard zuckte nur die Achseln. »Wir haben es noch nicht
989 ausprobiert. Und auch wenn eine Landung möglich wäre, sehe ich
990 Schwierigkeiten beim Starten voraus, denn der Druck auf dem Korpus
991 \ldots{}«
993 »Aber mein lieber Freund«, wandte ich ein, »wieso sollte der Start
994 von Deimos aus mit größeren Schwierigkeiten verbunden sein als der
995 von der Erde?«
997 »Die Druckverteilung«, behauptete Gérard.
999 »Was ist denn an der Druck \ldots{}«
1001 »Der Käse!«, unterbrach er mich. »Würden Sie mir die Käseplatte
1002 reichen, mon ami?«
1004 Ich folgte seinem Wunsch, obgleich ich mich über ihn wunderte.
1005 Seine schroffe Art war ungewöhnlich, und erst recht befremdete
1006 mich, dass er mehr an dem Käse interessiert schien als an der
1007 Erörterung einer Landung auf einem der Marsmonde.
1009 Ungeduldig ruckte er auf seinem Platz herum, trommelte mit den
1010 Fingern auf die Tischplatte, als wünsche er nichts sehnlicher, als
1011 dass dieses Essen zuende gehe und wir uns zur Ruhe begeben könnten.
1012 Auch ich fühlte mich ermüdet durch die Abenteuer des Tages,
1013 versuchte aber die Form zu wahren.
1015 »Ob es wohl möglich wäre«, sinnierte Evans gerade, »den Stauraum
1016 eines solchen Heißluft-Ætherschiffes zu erhöhen?«
1018 Gérard schwieg, deswegen warf ich ein: »Man könnte gewiss mehrere
1019 dieser Schiffe aneinander koppeln.«
1021 »Wie sollte das möglich sein?«, widersprach Gérard scharf. »Eine
1022 starre Verbindung müsste zerbrechen, und eine bewegliche hätte zur
1023 Folge, dass die nachfolgenden Schiffe zu schwer unter Kontrolle zu
1024 halten wären!«
1026 »Aber wenn man \ldots{}«, überlegte ich weiter, doch Madeleine, die Frau
1027 des Kapitäns, fiel mir ins Wort.
1029 »Es wäre mir lieb, wenn die Herren den Abend beenden könnten«,
1030 erklärte sie und legte dabei die Hand an den Mund, um ein Gähnen zu
1031 unterdrücken. »Gewiss gibt es im weiteren Verlauf der Reise noch
1032 genügend Gelegenheiten, um über die technischen Details zu
1033 fachsimpeln.«
1035 Kapitän Anstis fuhr auf, als wolle er sie zurechtweisen, besann
1036 sich dann aber eines Besseren. »Du hast Recht, meine Liebe«, lenkte
1037 er ein und legte den Arm um ihre Schultern. »Wir werden morgen
1038 weitersprechen. Lass uns zu Bett gehen.«
1040 Damit erregte er bei Evans erneut einen Heiterkeitsausbruch. Auch
1041 Barley und der Doktor wechselten einen amüsierten Blick. Gérard
1042 dagegen erhob sich auf der Stelle und verneigte sich leicht vor dem
1043 Kapitän. »Wir danken Ihnen für unsere Rettung und den interessanten
1044 Abend. Könnten Sie uns ein Quartier zuweisen?«, fragte er.
1046 Nach kurzer Diskussion wurde uns eine Kabine im Orlopdeck
1047 zugeteilt.
1049 Wir folgten einem Æthermann, der uns über ein paar Stiegen hinunter
1050 führte, und fanden uns in einem engen Verschlag wieder, notdürftig
1051 ausgerüstet mit zwei Hängematten und einer morschen Seekiste, die
1052 zugleich als Tisch diente.
1054 \bigpar
1056 Sobald wir allein waren, streckte ich die Glieder. »Nun, mein
1057 Freund, was halten Sie von unserem Gastgeber?«
1059 »Es ist gewiss das schönste Geschöpf, das ich je gesehen habe!«,
1060 sagte Gérard mit unerwartetem Ernst.
1062 »Warum nur habe ich den Eindruck«, lächelte ich, »dass Sie nicht
1063 von Kapitän Anstis sprechen \ldots{} Aber leider ist die schöne Dame
1064 schon vergeben. Sie sollten sie sich aus dem Kopf schlagen.«
1066 »Wir treffen Madeleine in einer halben Stunde im Geschützdeck«,
1067 erwiderte er zu meiner Überraschung.
1069 »Aber wie konnten Sie sich mit ihr verabreden?«, fragte ich
1070 verdutzt, als es mir plötzlich klar wurde. »Sie haben vorhin nicht
1071 auf den Tisch getrommelt, sondern gemorst – mit einer
1072 außerordentlich hohen Geschwindigkeit.«
1074 Gérard nickte. »Nach den stümperhaften Nachrichten, die wir
1075 empfangen haben, ging ich davon aus, dass keiner dieser sogenannten
1076 Offiziere des Morsens ausreichend mächtig ist. Nicht genug
1077 jedenfalls, um einer derart schnell übermittelten Nachricht auf die
1078 Spur zu kommen.«
1080 »Und wieso glaubten Sie, dass ausgerechnet die Dame Ihnen folgen
1081 könnte?«
1083 Er zuckte die Achseln. »Das musste ich riskieren. Mit wem, mon ami,
1084 übt ein Æthermann für die Morseprüfung? Mit seiner Frau. Deswegen
1085 können die meisten Offiziersfrauen ganz ausgezeichnet morsen,
1086 mitunter besser als ihre Männer, denen sie es mühsam beigebracht
1087 haben. Und siehe da – mein Plan hat funktioniert, sie hat mich
1088 verstanden. Das Handzeichen, wissen Sie noch?«
1090 »Als unterdrücktes Gähnen getarnt«, begriff ich. »Das ist skandalös
1091 – eine Verabredung zum Rendezvous direkt unter den Augen des
1092 Ehemannes \ldots{}«
1094 »Anstis ist nicht ihr Ehemann, das ist doch offensichtlich«,
1095 erklärte Gérard. »Und dieses Treffen ist alles andere als ein
1096 Rendezvous. Wir müssen uns bewaffnen, mon ami. Aber womit? Alles,
1097 was uns von Nutzen sein könnte, ist im Heißluft-Ætherschiff
1098 zurückgeblieben, und wir müssen noch heute Nacht zuschlagen,
1099 solange die meisten der Æthermänner betrunken sind.« Fieberhaft sah
1100 er sich in unserem Verschlag um und begann schließlich, die
1101 Seekiste zu zertrümmern. Verbissen trat er auf sie ein, bis sie
1102 zerbrach.
1104 Mit Befremdung sah ich ihm zu. »Was ist denn nur in Sie gefahren?«,
1105 fragte ich. »Gegen wen sollen wir kämpfen?«
1107 »Gegen die Piraten natürlich«, erwiderte er. »Aber kommen Sie, wir
1108 wollen Madeleine nicht warten lassen. Sie riskiert viel.«
1110 Er öffnete die Tür, eine der Leisten aus der Seekiste zum Schlag
1111 erhoben, und blickte zu beiden Seiten. Dann atmete er auf. »Die
1112 Piraten scheinen sich ihrer Sache sehr sicher zu sein. Ich hatte
1113 mit Wachposten gerechnet. Mon cher, nehmen Sie sich auch eine
1114 Leiste. Es ist nicht viel, aber doch immerhin besser, als wenn wir
1115 mit bloßen Händen gegen sie antreten müssten. Dort – die Stiege
1116 hinauf. Und seien Sie leise! Wenn es misslingt, werden nicht nur
1117 wir dafür büßen.«
1119 Noch immer hatte ich die Zusammenhänge nicht verstanden, aber ich
1120 ergriff die provisorische Waffe und folgte ihm hastig.
1122 \bigpar
1124 Wir erreichten ungesehen das Geschützdeck. Gérard schaute sich
1125 suchend um, dann bemerkte er eine Bewegung und flüsterte:
1126 »Madeleine?«
1128 Die junge Frau eilte zu uns. »Es wird ihm auffallen, dass ich fort
1129 bin«, wisperte sie, »und er wird mich suchen lassen, durch diesen
1130 Bootsmann, Hanway!« Ein Beben durchlief sie, als sie den Namen
1131 aussprach, und sie atmete tief ein, um sich wieder zu fassen.
1133 »Sie sind im Kabelgatt eingeschlossen, die Mannschaft, sofern sie
1134 nicht übergelaufen ist, und mein Mann.«
1136 »Ihr Mann?«, vergewisserte ich mich.
1138 »Der Kapitän der \emph{Olifant}. Thomas Roberts. Der Mann, der sich
1139 Ihnen als Kapitän Anstis vorgestellt hat, ist ein Ætherpirat – und
1140 ein Schuft. Er und seine Spießgesellen haben das Schiff vor zwei
1141 Tagen in ihre Gewalt gebracht und alle loyalen Männer dort unten
1142 eingesperrt. Mich betrachten sie anscheinend als Beute.« Sie
1143 erschauderte und wandte sich an Gérard. «Ich konnte mein Glück kaum
1144 fassen, als Sie mir morsten, dass Sie meine Zwangslage erkannt
1145 hatten und mich hier treffen wollten. Anstis \ldots{} Er hat mich
1146 bedroht und geschlagen. Ich sollte mir nichts anmerken lassen,
1147 Ihnen diese Komödie vorspielen.«
1149 »Das Kabelgatt – ist es bewacht?«, fragte Gérard.
1151 »Von zwei Mann. Aber ich habe den Steward angewiesen, ihnen Wein zu
1152 bringen. Bordeaux aus den Privatvorräten meines Mannes.« Sie
1153 lächelte schmerzlich. »Wenn die beiden den ganzen Krug geleert
1154 haben, müssten Sie leicht mit ihnen fertig werden.«
1156 »Sie sind sehr mutig, Madeleine«, lobte Gérard.
1158 »Das bin ich nicht«, widersprach sie, »aber ich liebe meinen Mann.
1159 Helfen Sie ihm! Ich muss zurück; Gott stehe mir bei, wenn sie mein
1160 Verschwinden schon bemerkt haben.«
1162 Damit glitt sie davon wie ein Schatten.
1164 \bigpar
1166 »Zum Kabelgatt also!«, beschloss Gérard und wandte sich zum Gehen.
1168 Ich hielt ihn zurück. »Möglicherweise bin ich der Falsche, um Ihnen
1169 beizustehen«, begann ich beschämt. »Sie wissen, ich bin Invalide.
1170 Sie haben es gesehen, mein Versagen – mehr als einmal, zuletzt
1171 draußen im Æther, als Sie das Höhenruder reparierten und ich nicht
1172 imstande war, Ihnen zu helfen. Im Gegenteil, ich war lediglich eine
1173 Last.«
1175 »Mon ami, Sie sind doch nur ein wenig Ætherkrank geworden, und
1176 \ldots{}«
1178 »Nein«, unterbrach ich ihn. »Es ist weit mehr als das. Wann immer
1179 diese Erinnerungen mich heimsuchen, bin ich wehrlos. Ein Krüppel,
1180 ein Klotz an Ihrem Bein.«
1182 Gérard schaute mich mit großem Ernst an. »Mon cher, Sie halten sich
1183 für einen Krüppel?«, rief er. »Ausgerechnet Sie? Sie haben Ihren
1184 ersten Aufstieg in den Æther besser hinter sich gebracht als jeder
1185 andere, den ich kenne, mich selbst eingeschlossen. Nach einem
1186 Schluck Calvados waren Sie wieder auf den Beinen. Mon dieu, die
1187 meisten verbringen wenigstens ihre erste Woche im Æther auf dem
1188 Rücken liegend, mit Atemnot und Panikanfällen. Kurz darauf haben
1189 Sie einen gehörigen Sonnensturm erlebt, aber obwohl Sie mindestens
1190 sechzehn Stunden bewusstlos waren, sind Sie unbeschadet wieder
1191 aufgestanden und haben sich sogar unvorbereitet in den Æther
1192 gewagt, um mir zu helfen. Ohne Anleitung, ohne Atemtraining – mit
1193 nichts weiter als nur Ihrem festen Willen. Schon als ich Sie kennen
1194 lernte, wusste ich, dass ich mir keinen besseren Copiloten wünschen
1195 könnte – nun, da ich an Ihrer Seite fliegen durfte, bin ich
1196 überzeugt davon, dass ich mit Ihrer Hilfe, Ihrem Können und Ihrem
1197 Mut alles erreichen kann.«
1199 Ich war dunkelrot geworden vor Verlegenheit und starrte auf meine
1200 Füße. »So denken Sie über mich? Aber die Bilder, die schrecklichen
1201 Traumbilder, die mir jede Kraft zum Handeln rauben \ldots{}«
1203 »Glauben Sie denn, mon ami, nur Sie allein litten unter solchen
1204 Bildern?«, fragte er mit sanftem Tadel. »Ist Ihnen noch nie in den
1205 Sinn gekommen, dass wir alle, jeder einzelne von uns, gegen die
1206 Schatten unserer Vergangenheit ankämpfen? Jeder trägt seine eigene
1207 Last, und ob wir der Mensch sind, der wir sein wollen, liegt nur
1208 daran, mit wie viel Entschlossenheit wir sie überwinden.«
1210 Nun schämte ich mich noch mehr. »Nachdem Sie mich so genau kennen –
1211 meine Schwäche und meinen Jammer – wie können Sie mich dann immer
1212 noch Ihren Freund nennen?«
1214 »Weil Sie jetzt hier sind«, erwiderte er schlicht, »und weil Sie
1215 mit mir ins Kabelgatt hinunter gehen werden, um den kleinen
1216 aufrechten Teil einer Æthermannschaft zu befreien, der sich lieber
1217 einsperren ließ, als sich der Piraterie schuldig zu machen, und der
1218 gegen eine Übermacht kämpfen wird, um dieses Schiff
1219 zurückzuerobern.«
1221 »Wir haben keine Waffen«, wandte ich ein. »Mit diesen kümmerlichen
1222 Brettern können wir nicht viel ausrichten.«
1224 Gérard sah sich um. »Dies hier ist besser!«, rief er triumphierend.
1225 Aus einer Ecke neben einer Bordkanone zog er Gerätschaften, die zum
1226 Laden benötigt wurden – einen Stopfer, so lang wie eine Lanze, eine
1227 Schaufel und einen mit Sand gefüllten Eimer.
1229 »Damit können wir schon mehr ausrichten, meinen Sie nicht, mon
1230 cher? Vielleicht finden wir noch mehr davon – genug, um unsere
1231 Mitstreiter angemessen auszurüsten!«
1233 Wir durchsuchten das Deck, so rasch es ging, da wir fürchteten, zu
1234 viel Zeit zu verlieren. Zwei Putzer und eine vergessene Kartusche
1235 waren allerdings unsere gesamte Ausbeute. So machten wir uns auf
1236 den Weg zum Kabelgatt.
1238 \bigpar
1240 Vorsichtig tasteten wir uns über die Stiegen hinunter. Gérard ging
1241 voraus, er horchte bei jeder Biegung. Aber der größte Teil der
1242 Piraten schien bereits in weinseligem Schlummer zu liegen, die
1243 übrigen feierten ihren Sieg und ihre künftigen Beutezüge mithilfe
1244 unseres Heißluft-Ætherschiffes in den oberen Decks.
1246 Ein letzter Niedergang. Wir hörten beseelten, aber unartikulierten
1247 Gesang. Zwei Gestalten tauchten vor uns auf, die mit Pistolen und
1248 Messern in den Gürteln einen Verschlag bewachten. Zweifelnd blickte
1249 ich zu Gérard, der aber taumelte polternd aus der Deckung und rief:
1250 »Holla, mes amis! Habt ihr den Krug etwa ohne uns geleert?«
1252 Die beiden Wachposten zögerten und schauten einander an. Gérard
1253 trat zwischen sie und fasste sie bei den Schultern.
1255 »Wachablösung, mes chers! Ihr dürft euch nach oben trollen! Aber
1256 was ist denn das für eine Art? Habt ihr gar nichts für uns übrig
1257 gelassen?«
1259 Die beiden zögerten.
1261 »Weißt du etwas von einer Wachablösung?«, fragte der eine seinen
1262 Genossen, mit schwerer Zunge zwar, aber offensichtlich noch mit
1263 wachem Geist.
1265 Der andere griff nach seiner Pistole, versuchte sie aus dem Gürtel
1266 zu nesteln und brach in wilde Flüche aus, als es ihm nicht gelang.
1267 Ich rammte ihn den Stopfer in den Magen, dass er zusammenklappte,
1268 und schwenkte gleich darauf den Eimer gegen unseren zweiten Gegner.
1269 Es schepperte, als das blecherne Gefäß sein Kinn traf und ihn von
1270 den Füßen holte.
1272 »Bravo!«, rief Gérard. Mit sicheren Griffen untersuchte er den am
1273 Boden Liegenden und nahm ihm außer den Waffen auch einen
1274 Schlüsselbund ab. Er öffnete das Vorhängeschloss, streifte es ab
1275 und zog die Tür auf. Im selben Moment ließ er sich blitzschnell
1276 nach hinten fallen.
1278 Dort, wo gerade noch sein Kopf gewesen war, sauste ein schwerer
1279 Gegenstand durch die Luft.
1281 »Jetzt drehen wir den Spieß um!«, brüllte jemand und machte
1282 Anstalten, sich auf Gérard zu stürzen.
1284 »Halt!«, schrie dieser. »Madeleine schickt uns, wir wollen Sie
1285 befreien!«
1287 Verdutzt hielt der Angreifer inne. Es war ein hochgewachsener,
1288 dunkelhaariger Mann, dessen üblicherweise wohl glattrasiertes Kinn
1289 von einem dunklen Stoppelbart beschattet wurde. In der Hand hielt
1290 er ein Holzbein.
1292 »Mein Name ist Gérard Le Bon, mein Begleiter hier ist Henry
1293 Sutton«, erläuterte Gérard hastig. »Die Ætherpiraten haben uns mit
1294 unserem beschädigten Heißluft-Ætherschiff aufgefischt; wir wurden
1295 nur deswegen nicht sofort eingesperrt oder über Bord geworfen, weil
1296 sie neugierig auf unser Gefährt sind und darauf hoffen, dass wir
1297 ihnen die Funktionsweise erklären. Madeleine hat uns berichtet,
1298 dass Sie hier festgesetzt sind, und sie hat die Wache mit Bordeaux
1299 traktiert, sodass wir den beiden nur noch den letzten Rest geben
1300 mussten. Ihre Frau ist ungeheuer couragiert, Kapitän Roberts.«
1302 »Ja, das ist sie!« Der Mann trat einen Schritt zurück und eröffnete
1303 uns dadurch einen Blick ins Kabelgatt. »Wir sind nur eine sehr
1304 kleine Schar«, erklärte er, »aber jeder von uns ist entschlossen,
1305 alles zu geben, um die \emph{Olifant} zurückzuerobern. Dort ist
1306 mein erster Offizier, Williams. Er ist verwundet. Nur gut, dass
1307 unser Doktor Travis loyaler war als sein Assistent Scudamore.«
1309 Er deutete auf einen blassen jungen Mann mit einer Bandage um den
1310 Kopf und einem notdürftig geschienten Arm, neben dem ein Älterer
1311 kniete und ihn stützte.
1313 »Der Zweite Offizier, Miles«, er nickte zu einem ernsten, hoch
1314 aufgeschossenen Dunkelhaarigen herüber, »und der dort neben ihm« –
1315 ein vierschrötiger Mann in den mittleren Jahren – »ist unser
1316 Zimmermann Harris, er hat übrigens das Holzbein geschnitzt, das Sie
1317 soeben verfehlte. Die beiden Ætherleute da drüben sind Jones und
1318 Barlow, und hier ist unser Smutje. Da, Omally, haben Sie Ihr Bein
1319 zurück.«
1321 Er reichte seine provisorische Keule dem Smutje, einem ungeheuer
1322 dürren und zappeligen Kerl. Der schnappte eilig danach und
1323 schnallte es sich wieder um, während er mit dünner Stimme zirpte:
1324 »Sie haben verlangt, dass ich die gesamte Wochenration Fleisch auf
1325 einmal zubereite! Das geht doch nicht, da kommt ja die gesamte
1326 Vorratshaltung durcheinander! Dagegen muss man etwas unternehmen!«
1328 Kapitän Roberts und Gérard wechselten einen amüsierten Blick.
1330 »Nun gut«, fasste Gérard zusammen. »Wir sind zehn Mann – und eine
1331 Frau, denn Madeleine wird sicher einen Weg finden, uns zu helfen.
1332 Als Waffen besitzen wir zwei Pistolen, zwei Messer und ein paar
1333 Gerätschaften zum Bedienen von Kanonen. Nicht eben viel gegen
1334 mindestens fünfzig Piraten, selbst wenn wir sie überraschen
1335 können.«
1337 »Wir brauchen Waffen«, stimmte ihm Roberts zu. »Aber dieser Kapitän
1338 von eigenen Gnaden, Anstis, wird sie in der Waffenkammer
1339 eingeschlossen haben und den Schlüssel in jedem Augenblick gut
1340 bewachen. Das ist es jedenfalls, was ich selbst tun würde.«
1342 »Die Kartusche!«, warf ich ein.
1344 Beide wandten mir die Köpfe zu.
1346 »Wir haben eine Kartusche gefunden, das Pulver darin ist trocken«,
1347 fuhr ich fort.
1349 Ich klammerte mich an den Stopfer, den ich noch immer in meinen
1350 Händen hielt. Kalter Schweiß rann mir den Rücken hinunter, meine
1351 Hände begannen zu zittern.
1353 »Damit können wir die Waffenkammer nicht aufsprengen«, erwiderte
1354 Roberts. »Es stehen Pulverfässer darin. Ein einziger Funke würde
1355 ausreichen, um sie zu entzünden, und die darauffolgende Explosion
1356 könnte das ganze Schiff in den Æther jagen.«
1358 »Ich weiß!«, schnappte ich.
1360 \bigpar
1362 Meine Knie gaben nach, die Bilder der Vergangenheit schlugen über
1363 mir zusammen. Die Belagerung von Chakcharan, ein monatelanges
1364 Ausharren im Niemandsland, Seuchen und Hunger dezimierten uns
1365 schneller, als ein Feind es hätte tun können. Endlich ein Auftrag
1366 für meine Abteilung, wir sollten die Wende herbeiführen, indem wir
1367 durch einen Tunnel zum Munitionsdepot vordrangen, es leer räumten
1368 und unsere Gegner mit den eigenen Waffen angriffen. Als der Tunnel
1369 gegraben war, hätte es nur noch eine Routineaufgabe sein sollen,
1370 denn wir waren ausgebildete Sprengstoffexperten. Wir erreichten das
1371 Depot, legten eine Lunte. Aber meine Hand zitterte, und ich nahm
1372 zuviel Pulver. Nur etwas zuviel. Und die Lunte war ein wenig zu
1373 kurz.
1375 Ich umklammerte meinen Kopf mit den Händen, als ich wimmernd
1376 zusammenbrach. Die Explosion gellte in meinen Ohren, die Schreie
1377 echoten durch meinen Kopf, und in meine Nase stieg der Geruch von
1378 brennendem Fleisch.
1380 Von weither nahm ich die Stimme von Kapitän Roberts wahr, »Doktor
1381 Travis, kommen Sie – der Mann hat einen Anfall!«
1383 »Ich kann nichts für ihn tun, wir haben kein Morphium. Rasch,
1384 halten Sie ihn fest, damit er sich nicht verletzt!«
1386 Die Finger, die mich hielten, sahen aus wie weiße Maden. Sie
1387 krochen über meinen ganzen Körper. Ich versuchte zu schreien, aber
1388 ich bekam keine Luft.
1390 Dann hörte ich Gérard, dicht an meiner Seite. »Mon ami! Wir
1391 brauchen Ihre Hilfe. Wenn es Ihnen gelingt, die Waffenkammer
1392 aufzusprengen, dann sind wir gerettet. Henry, jeder von uns muss
1393 gegen seine eigenen Schatten kämpfen. Sie sind ein Sprengmeister,
1394 ich weiß es aus den Zeitungsberichten. Helfen Sie uns, mon cher.«
1396 Langsam, sehr langsam kämpfte ich mich an die Oberfläche. Ich lag
1397 im Kabelgatt, flach auf dem Rücken und mit einer Uniformjacke unter
1398 dem Kopf. Über mich beugten sich besorgte Gesichter.
1400 »Wenn ich diese Waffenkammer aufsprenge und versehentlich zuviel
1401 Pulver benutze«, sagte ich matt, »dann könnte die \emph{Olifant} in
1402 den Æther fliegen.«
1404 »Sie werden die richtige Menge Pulver wählen«, erklärte Gérard
1405 zuversichtlich. »Sie werden diese Tür öffnen, ohne dass einer von
1406 uns verletzt wird. Was brauchen Sie dafür?«
1408 Ich richtete mich auf. »Eine Lunte«, erwiderte ich, »fest
1409 verdrillt, nicht weniger als zehn Zoll lang.«
1411 Einer der Ætherleute, Barlow, bückte sich und zog einen
1412 Schnürsenkel aus seinem Stiefel. »Wäre dies hier geeignet?«
1414 Ich prüfte die Schnur und nickte.
1416 »Außerdem brauche ich zwei Männer mit Wassereimern«, fuhr ich fort.
1417 »Sie müssen sich bereit halten, rechts und links neben mir. Daran
1418 hätte ich in Chakcharan denken sollen! Sobald die Explosion erfolgt
1419 ist, müssen alle Funken zuverlässig gelöscht werden, und zwar
1420 sofort, noch ehe sich die Tür öffnet.«
1422 Williams und Miles nickten einander zu. »Einen Eimer haben Sie
1423 hier«, stellte Miles fest, »ein weiterer steht neben den
1424 Wasserfässern.«
1426 »Dann also los!«, kommandierte Kapitän Roberts, und wir machten uns
1427 auf den Weg.
1429 \bigpar
1431 Wir verließen das Kabelgatt, schafften die beiden immer noch
1432 bewusstlosen Wachposten hinein und verschlossen die Tür, tasteten
1433 uns langsam hinauf bis zur Waffenkammer. Meine Hände waren feucht,
1434 ich zitterte am ganzen Körper und überließ mich beinahe ganz der
1435 Unterstützung der beiden Offizieren Williams und Miles, die mit
1436 ihren Wassereimern ausgerüstet neben mir herschritten, mit weitaus
1437 mehr Entschlossenheit, als ich sie empfand.
1439 \bigpar
1441 Eine Welle der Erleichterung durchströmte mich, als wir endlich die
1442 Waffenkammer erreichten, unbemerkt und sicher.
1444 Meine Hände schienen zu wissen, was sie zu tun hatten, daher
1445 überließ ich ihnen das Kommando, sah zu, wie sie das Pulver aus der
1446 Kartusche ins Schloss füllten, zwang sie nur innezuhalten, als die
1447 nötige Menge erreicht war. Ich legte die Lunte, hieß die Übrigen
1448 zurücktreten, bis auf Williams und Miles, die sich bereit hielten.
1449 Dann entzündete ich sie, trat selbst nur so weit beiseite, dass ich
1450 den Offizieren nicht den Weg versperrte, und wartete.
1452 Die Lunte brannte langsam und stetig ab, bis sie im Schloss
1453 verschwand. Es gab eine gedämpfte Explosion. Im selben Augenblick
1454 traten die Offiziere nach vorn und übergossen Schloss, Tür und
1455 Boden mit Wasser, bis auch der letzte Funke gewissenhaft gelöscht
1456 war. Das Schloss sprang auf.
1458 »Rasch, bewaffnen Sie sich!«, befahl Roberts, mit vor Aufregung
1459 heiserer Stimme. »Gewiss haben auch die Piraten die Explosion
1460 bemerkt. Wenn wir sie überraschen wollen, bleibt uns nur wenig
1461 Zeit.«
1463 Die kleine Truppe strebte in die Kammer, rüstete sich mit Pistolen,
1464 Äxten und den kurzen Messern der Æthermänner aus.
1466 Gérard fasste meinen Arm. »Mon ami, ich wusste, dass Sie es
1467 schaffen würden«, sagte er leise. »Ich bin sehr stolz, Sie in
1468 diesem Augenblick an meiner Seite zu haben.«
1470 Dann bewaffnete er sich mit zwei Pistolen und reichte mir zwei
1471 weitere.
1473 »Alle Mann mir nach!«, brüllte Roberts. »Stürmt die
1474 Kapitänskajüte!«
1476 Wir folgten ihm, aber die Piraten waren durch die Explosion
1477 aufgeschreckt und stellten sich uns entgegen. Ich feuerte meine
1478 Pistolen ab, drehte sie dann um und benutzte sie als Schlagstöcke,
1479 bahnte mir einen Weg bis zu einem Niedergang, in dessen Schutz ich
1480 nachladen konnte. Einer von Hanways Æthermännern stürzte sich mit
1481 einem wilden Schrei auf mich, ich tauchte unter den Stufen hindurch
1482 und schoss ihm ins Bein, sodass er schwer auf die Planken stürzte.
1483 Einige der nachfolgenden Ætherleute, von Roberts’ Mannschaft zu den
1484 Piraten desertiert, erfassten die veränderte Situation und
1485 wechselten die Seiten, indem sie uns zur Hilfe eilten und auf
1486 diejenigen losgingen, mit denen sie eben noch Kumpanei geschlossen
1487 hatten.
1489 In dem wilden Getümmel erblickte ich Gérard, der gegen Barley
1490 focht. Hinter ihm näherte sich Evans und legte auf ihn an. Ich
1491 stieß einen Warnschrei aus und stürzte mich auf den Ersten
1492 Offizier. Miteinander ringend, gingen wir zu Boden. Ich kam zuerst
1493 wieder auf die Füße und schlug ihn mit der umgedrehten Pistole
1494 nieder.
1496 Schon war Gérard an meiner Seite. »Zur Kapitänskajüte!«, rief er.
1497 »Wir müssen Madeleine beistehen!«
1499 Wir bahnten uns einen Weg durch die Kämpfenden, erreichten die Tür
1500 und rissen sie auf.
1502 Drinnen stand Madeleine, hoch aufgerichtet, den Sternenglobus in
1503 der Hand.
1505 »Wo ist Anstis?«, fragte Gérard hastig.
1507 Sie wies auf einen zusammengesunkenen Haufen zu ihren Füßen, halb
1508 von dem Schreibtisch verdeckt, ließ dann den Sternenglobus sinken
1509 und brach in Tränen aus.
1511 »Wir haben die Explosion gehört«, stammelte sie, »und als Anstis
1512 hinauslaufen wollte, habe ich \ldots{} Ich wollte ihn nur aufhalten!«
1514 »Gut gemacht!«, lobte Gérard und legte beruhigend den Arm um sie.
1515 »Er lebt, er ist nur bewusstlos. Sie sind bemerkenswert tapfer,
1516 Madeleine. Ihr Mann hat großes Glück, gerade mit Ihnen verheiratet
1517 zu sein.«
1519 Er verließ die Kajüte und rief mit Donnerstimme: »Kapitän Anstis
1520 ist in unserer Gewalt!«
1522 Das brachte die endgültige Entscheidung. Die Ætherpiraten, ihres
1523 Anführers beraubt, ergaben sich und ließen sich ins Kabelgatt
1524 abführen.
1526 \bigpar
1528 Am Tag darauf half uns die Mannschaft der \emph{Olifant} bei der
1529 Reparatur unseres Heißluft-Ætherschiffes, und nachdem wir uns
1530 verabschiedet hatten, konnten wir uns auf den Rückweg zur Erde
1531 machen.
1533 Gérard setzte sich in den Pilotensessel, ich nahm wie
1534 selbstverständlich auf dem des Copiloten Platz. Mit dem Fingernagel
1535 überprüfte ich die Funktionsfähigkeit der Geräte.
1537 »Wasserstand und Kohlevorrat?«, fragte Gérard.
1539 »Ausreichend!«
1541 »Druck?«
1543 »15 Pascal!«
1545 »Dann, mon cher, lassen Sie uns nach Hause fliegen.«
1547 Wir holten die Leinen ein und lösten uns von der \emph{Olifant}.
1549 »Gérard«, fragte ich, »wie konnten Sie die Ætherpiraten so schnell
1550 durchschauen? Woher wussten Sie, dass etwas nicht stimmte?«
1552 Er lächelte versonnen und zupfte an seiner Unterlippe.
1554 »Madeleines Augen«, sagte er dann. »Als Hanway uns in die
1555 Kapitänskajüte führte und ich den Ausdruck ihrer Augen sah, wurden
1556 mir die Zusammenhänge klar.«
1558 Ich begann zu lachen. Ich konnte nicht anders, ein Kichern stieg in
1559 meiner Kehle auf, wurde lauter und immer heftiger, bis ich mich vor
1560 Lachen schüttelte.
1562 Befremdet sah Gérard mir zu.
1564 Endlich japste ich: »So seid ihr Franzosen: Ihr denkt eben immer
1565 nur an Frauen!«
1567 Jetzt stimmte Gérard in mein Gelächter ein. »Sie haben vollkommen
1568 Recht, mon ami! Cherchez la femme!«
1570 \end{document}