Neuer Text: Es ist nicht leicht, kein Held zu sein
[ccbib.git] / content / Bernd_Meyer / Es_ist_nicht_leicht_kein_Held_zu_sein.tex
blob61c86082a5c41eb737919643cf68e94f3c3fc1eb
1 \usepackage[ngerman]{babel}
2 \usepackage[T1]{fontenc}
3 \usepackage{textcomp}
4 \input{common/hyp-de}
6 %\setlength{\emergencystretch}{1ex}
8 \renewcommand*{\tb}{\begin{center}* \quad * \quad *\end{center}}
10 \newcommand\bigpar\medskip
12 \begin{document}
13 \raggedbottom
14 \begin{center}
15 \textbf{\huge\textsf{Es ist nicht leicht, kein Held zu sein}}
17 \bigskip
19 Bernd Meyer
20 \end{center}
22 \bigskip
24 \begin{flushleft}
25 Dieser Text wurde erstmals veröffentlicht in:
26 \begin{center}
27 Die Steampunk-Chroniken\\
28 Band I -- Æthergarn
29 \end{center}
31 \bigskip
33 Der ganze Band steht unter einer
34 \href{http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.0/de/}{Creative-Commons-Lizenz.} \\
35 (CC BY-NC-ND)
37 \bigskip
39 Spenden werden auf der
40 \href{http://steampunk-chroniken.de/download}{Downloadseite}
41 des Projekts gerne entgegen genommen.
43 \vfill
45 Geboren 1968 in Hamburg, wohnt Bernd Meyer mittlerweile mit seiner Familie
46 und den Katzen etwas weiter nördlich. Schon früh verfiel er dem
47 Rollenspiel, wo er recht viel ausprobiert hat, was den Mangel an
48 Lieblingsgenres erklären könnte. Er machte mehrere Ausbildungen,
49 unternahm zwischendurch das Risiko der Selbständigkeit und blieb
50 nebenbei immer wieder beim Schreiben hängen. Im Rahmen von FOLLOW,
51 eines Fantasy-Literaturvereins, wurden die ersten literarischen
52 Gehversuche unternommen. Sein erstes Romanmanuskript wartet noch
53 auf den Feinschliff, während er dann und wann die eine oder andere
54 Kurzgeschichte schreibt.
56 \bigpar
58 Bisherige Veröffentlichungen über die eigene Internetpräsenz
59 \texttt{http://www.bedlamboys.de/} sowie in
60 der Anthologie "Berggeister" des Mondwolf-Verlages.
61 \end{flushleft}
63 \section{Es ist nicht leicht, kein Held zu sein}
64 Das fahle Licht des Mondes fiel auf das Aussichtsdeck der World of
65 Æther und warf die Schatten der beiden an der Reling stehenden
66 Personen auf die Wand hinter ihnen.
68 Der Luxusliner glitt gemächlich durch den Æther, fast schien es den
69 Passagieren so, als befänden sie sich auf einer Kreuzfahrt über
70 einen der irdischen Ozeane. Doch das gemächliche Schwanken des
71 Fahrzeugs durch die Wellen fehlte ebenso, wie die frische Brise,
72 die man auf der Erde gespürt hätte. Stattdessen war um sie herum
73 der schier endlose Sternenozeans, diese samtene Schwärze, in der
74 die fernen Lichtpunkte der Sterne schwammen. Eine Glaswand trennte
75 die Passagiere vom Æther, sorgte aber dafür, dass der großartige
76 Ausblick nicht getrübt wurde. Fast unmerklich drehte das Schiff ein
77 wenig nach Steuerbord ab, so dass der Mond ganz langsam achteraus
78 wanderte. Die kleinere der beiden Gestalten ließ den Kopf sinken
79 und seufzte leise. Sofort wandte sich die andere Person ihr zu.
81 \bigpar
83 »Lady Walsington, ist Euch nicht gut? Soll ich den Steward rufen?«
85 \bigpar
87 Wäre ein Beobachter zugegen gewesen, hätte er die schlankere der
88 beiden Gestalten als weiblich erkannt. Modisch gekleidet, der
89 kostbare schwarze Stoff die Figur der Trägerin umschmeichelnd, das
90 lange rote Haar von einem kleinen Hut gekrönt. Die grünen Augen
91 schimmerten hinter dem hauchdünnen, schwarzen Schleier feucht über
92 der zierlichen Stupsnase und den vollen Lippen. Sie umfasste die
93 Reling fester, als würde sich eine Ertrinkende an den rettenden
94 Halt klammern. Ohne ihren Blick zu heben schüttelte sie den Kopf.
96 »Es ist nichts, Sir Geoffrey, aber haben Sie Dank für Ihre
97 Besorgnis. Der Anblick lässt mich nur ein wenig sentimental werden.
98 Wie Sie vielleicht wissen, war mein Verlobter bei der königlichen
99 Marine. Er \ldots{} kam von einer Patrouille nicht zurück. In Erfüllung
100 seiner Pflicht gefallen, sagte man.«
102 Sie wandte sich ab, beide Hände auf der Reling, und starrte hinaus
103 in die Schwärze. Sir Geoffrey, noch vom Dinner formal in seinen
104 Frack gekleidet, für den Besuch auf Deck den Zylinder auf dem
105 Kopfe, lehnte sich auf seinen Gehstock mit dem Silberknauf und
106 wusste nicht so recht, was er tun sollte. Sein wohlfrisiertes,
107 blondes Haar ragte unter der Kopfbedeckung hervor, seine grauen
108 Augen ruhten auf der Gestalt der Lady vor ihm. Es schmerzte ihn,
109 sie derart traurig zu sehen, aber der Anstand verbot ihm, sie
110 tröstend in den Arm zu nehmen, wie sein Herz es ihm sagte.
112 Er hatte sie erst vor ein paar Tagen kennengelernt, genau an diesem
113 Ort, auf dem Aussichtsdeck. Sie war jeden Abend hier, betrachtete
114 den Æther und dachte an die Vergangenheit. Doch selbst wenn sie
115 keine Trauer getragen hätte, würde es sich nicht schicken, ihr
116 derart zu nahe zu treten. So musste er sich damit begnügen, in
117 ihrer Nähe zu bleiben und abzuwarten. Ein Angebot – das wohl nie in
118 Anspruch genommen werden würde.
120 Ach, wäre seine Familie doch nur noch so bedeutend wie zu den
121 Zeiten seines berühmten Vorfahren. Aber nur dessen Ruhm war
122 geblieben, nicht die Stellung der Familie oder das Vermögen, dafür
123 hatte sein Onkel mit seiner Vorliebe für kostspielige Bälle und
124 Pferdewetten gesorgt. Wäre er nicht bereits so früh einem
125 Jagdunfall zum Opfer gefallen, würde die Familie vielleicht sogar
126 einer Arbeit nachgehen müssen. Schockierender Gedanke …
128 Somit galt seine Familie als nicht einflussreich genug, um in der
129 Gesellschaft ernstzunehmend wahrgenommen zu werden. Schon gar nicht
130 von einer Frau wie Lady Walsington, die gute Verbindungen zum Hof
131 hatte, wie es hieß. Aber zumindest wehrte sie sich nicht gegen
132 seine Anwesenheit, im Gegenteil schien sie ihre gemeinsamen
133 Spaziergänge über das Aussichtsdeck zu genießen. Nur bei jenen
134 letzten Wanderungen nach dem Dinner griff verstärkt die Schwermut
135 nach ihr.
137 Nach kurzer Zeit reichte sie ihm ihren Arm, den er ergriff und sie
138 zu ihrer Kabine geleitete. Als er sich kurze Zeit später zur Nacht
139 umkleiden ließ, grübelte er immer noch, wie er ihr Erleichterung
140 verschaffen konnte. Doch wie stets kam er auf keine Lösung.
144 »Sir, bitte wachen Sie auf. Bitte, Sir, es ist dringend!«
146 Sein Butler, Lionel, stand vor seinem Bett, eine Tasse frisch
147 gebrühten Tees in der Hand. Unwillig richtete Sir Geoffrey sich auf
148 und sah seinen Butler an.
150 »Ich habe mich doch soeben erst zum Schlafen niedergelassen, warum
151 wecken Sie mich denn schon? Ich würde gern eine Bemerkung machen,
152 dass es draußen noch dunkel ist, aber das wäre fruchtlos, im Æther
153 ist es bekanntlich immer dunkel. Also, Lionel, was ist los? Gibt es
154 einen Bridge-Notfall?«
156 Mit einem versöhnlichen Lächeln das seinen Worten die Spitze nahm
157 und einem dankbaren Nicken griff Sir Geoffrey nach der Teetasse.
158 Trotzdem er es nicht zeigte und sogar versuchte, es mit Humor zu
159 überspielen, war er besorgt. Lionel würde ihn nie grundlos wecken,
160 dafür kannten sie sich zu lange und hatten zu viel miteinander
161 erlebt. Also musste etwas passiert sein, etwas sehr Ernstes sogar.
163 »Wir werden angegriffen, Sir. Piraten, vermutet der Kapitän. Er
164 bittet um Ihre Anwesenheit auf der Brücke. Darf ich Ihnen beim
165 Anziehen helfen, Sir?«
167 Sir Geoffrey verschluckte sich an einem Schluck Tee. Während er
168 hustete, rasten seine Gedanken. Piraten! Und die World of Æther war
169 ein Vergnügungsschiff, kein Kriegsschiff. Unbewaffnet, auch
170 Soldaten waren nicht an Bord, von ein paar Passagieren abgesehen.
171 Doch das waren meistens pensionierte Offiziere, die schon lange
172 keinen Waffengang mehr erlebt hatten. Wie sollten sie sich also zur
173 Wehr setzen? Wie die Damen beschützen gegen die unangebrachten
174 Aufmerksamkeiten, welche diese ungehobelten Rohlinge sicherlich im
175 Sinn hatten. Sie diesen Banditen kampflos zu überlassen, verbot
176 sich von selbst. Kurz stieg die Vorstellung, Lady Walsington müsse
177 ein derartiges Schicksal erleiden, vor seinem geistigen Auge auf,
178 doch er verwarf diesen Gedanken sofort.
180 Eilig kleidete er sich mit Hilfe von Lionel an, griff nach seinem
181 Gehstock, dann begab er sich schnellen Schrittes zur Brücke.
183 \bigpar
185 Auf dem Kommandostand herrschte eine Art geordnete Unruhe,
186 zumindest konnte Sir Geoffrey keine bessere Beschreibung dafür
187 finden. Man merkte deutlich, dass etwas nicht in Ordnung war, aber
188 jeder Mann versah seine Aufgabe mit der üblichen Professionalität.
189 Ihre Augen jedoch huschten unruhig hin und her, suchten die Quelle
190 der Unruhe. Nur der Kapitän, ein würdevoller, älterer Gentleman in
191 weißer Uniform und mit einem prächtigen Backenbart, stand wie ein
192 Fels der Ruhe mitten auf der Brücke. Mit sicherer Hand lenkte er
193 sein Schiff durch den Æther, näher zum Mond, wo die Zwölfte
194 Königlich Britische Wachflotille stationiert war. Der
195 Schiffsheliograph versuchte unterdessen, die Station der »Zwölften«
196 zu erreichen, um sie über die Notlage zu unterrichten.
198 »Ah, Sir Geoffrey, gut dass Sie da sind. Winslow mein Name, ich bin
199 der Kapitän der World of Æther. Vergeben Sie mir die unverzeihliche
200 Störung, aber wir haben ein kleines Problem. Wenn Sie ihren Blick
201 gen Steuerbord richten, werden Sie dort einen Verfolger bemerken.
202 Dort drüben, sehen Sie? Ausgezeichnet! Es handelt sich
203 bedauernswerterweise nicht um Gentlemen, sondern um Piraten, welche
204 die unvergleichliche Frechheit besaßen, uns dazu aufzufordern, die
205 Flagge zu streichen. Unverschämtes Pack! Unglaublich! Leider sind
206 sie schneller als wir, bei der Konstruktion der World of Æther
207 wurde auf Geschwindigkeit weniger Wert gelegt als auf
208 Bequemlichkeit. Wir werden ihnen also nicht davonsegeln können,
209 ebenso wenig werden wir dazu in der Lage sein, sie niederzukämpfen,
210 da wir keine nennenswerten Bordgeschütze mitführen. Wenn sie uns
211 entern, sollten wir uns ihrer eine gewisse Zeit erwehren können, da
212 wir aller Wahrscheinlichkeit nach über mehr Personen verfügen.
213 Aber, bei Harry, wir können doch nicht von den Passagieren
214 verlangen, zu kämpfen. Das wäre schockierend, meinen Sie nicht? Wie
215 Sie nun sicherlich sehen, haben wir hier ein kleines Ungemach. Aber
216 bestimmt können Sie uns behilflich sein, immerhin sind Sie ja ein
217 Nelson, nicht wahr? Steckt im Blut, der Heldenmut, was?«
219 \bigpar
221 Sir Geoffrey wand sich innerlich. Natürlich entstammte er einer
222 berühmten Familie von Helden, aber warum sollten sie deswegen alle
223 derart veranlagt sein? Er hatte schon genug Probleme, die bohrenden
224 Fragen von Tante Beth zu antworten, was aber in dem doch recht
225 geschlossenen Umfeld der Familie um einiges einfacher war. Immerhin
226 konnte man unter Verwandten den Ruf der Familie nicht gefährden,
227 nur seinen eigenen. Der aber war Sir Geoffrey herzlich egal,
228 solange er in Ruhe gelassen wurde.
230 Es war ja nicht so, dass er feige gewesen wäre. Keineswegs, er
231 hatte sich schon des Öfteren in halsbrecherische Unternehmungen
232 gestürzt. Es war nur so, dass sein Interesse an Abenteuern sich auf
233 Bridge und die Times beschränkte. Er bevorzugte ein gemütliches und
234 beschauliches Leben. Nun aber hatte ihn wieder einmal der Ruf
235 seiner Familie eingeholt.
237 »Natürlich, Kapitän Winslow. Gar keine Frage. Aber wie Sie selbst
238 bereits sagten, wir dürfen die Damen nicht in Gefahr bringen. Das
239 wäre unverzeihlich. Haben Sie die Flotte benachrichtigt? Wann
240 können wir mit Hilfe rechnen, Sir?«
242 Der Kapitän lächelte, dann nickte er zum Heliographen hinüber.
244 »Wir haben noch keine Bestätigung erhalten, also müssen wir
245 befürchten, dass unsere Nachricht die Station nicht erreicht hat.
246 Unsere Position ist nicht ideal, wir haben die Sonne schräg hinter
247 uns, deswegen kann unser Signal im Schein des Sterns untergehen.
248 Wir versuchen uns dem Mond zu nähern, so gut es geht. Erreichen
249 werden wir ihn nicht, aber möglicherweise entdeckt uns eine
250 Patrouille und kommt uns zu Hilfe. Oberlippe steif halten und so
251 weiter, richtig? Auf jeden Fall stehen wir hinter Ihnen, Sir
252 Geoffrey, wir sind uns ganz sicher, dass Sie uns hier herausholen
253 werden.«
255 Großartig, es geht nichts über subtilen Druck, um einen Tag zu
256 einem großartigen Erlebnis zu machen! Geoffrey zwang sich dazu,
257 weiterhin zu lächeln. Währenddessen rasten seine Gedanken und
258 versuchten einen Ausweg zu finden. Der ganz große Nachteil einer
259 Ætherkreuzfahrt, verglichen mit einer Kreuzfahrt auf den Meeren,
260 klang zwar vernachlässigbar, war aber gerade jetzt ein ziemlich
261 großes Problem. Rettungsboote gab es nicht, genauso wenig wie man
262 einfach von Bord springen und sein Leben dem Schicksal und dem Meer
263 anvertrauen konnte. Der Æther war nicht so gnädig wie die irdischen
264 Wassermassen. Leider. Und der Verfolger holte immer weiter auf,
265 sich seiner Sache völlig sicher, schoss er sie nicht erst
266 zusammen.
268 Wäre das Schiff besser bewaffnet gewesen hätten die Piraten das
269 wohl getan, aber entweder wussten sie nichts von den wenigen
270 Geschützen oder sie erachteten sie nicht als eine Gefahr. Wobei sie
271 das wohl auch nicht waren, wenn er den Schiffstyp der Verfolger
272 richtig erkannte. Eine Korvette. Woher hatte dieses Gesindel nur
273 eine Korvette? Sollten sie das Schiff der britischen Marine
274 abgerungen haben? Das würde auf einen respektablen Gegner schließen
275 lassen.
277 »Wenn mir die Frage gestattet ist, Sir, welcherart Geschütze führt
278 die World of Æther mit sich? Ich sollte schon wissen, mit welchen
279 Kontingenten ich planen kann.«
281 Er zwang seine Züge dazu, verwegen auszusehen, während er den
282 Kapitän ansah. Doch so zuversichtlich und draufgängerisch, wie er
283 sich gab, war er mitnichten.
285 \bigpar
287 Wenn nur Bredon hier wäre, der wüsste, was zu tun ist. Immerhin tut
288 er so etwas öfter, der Verrückte. Bredon war Sir Geoffreys ältester
289 Bruder. Ein waschechter Held, selbst für die Verhältnisse seiner
290 Familie, wie die Times einmal schrieb. Er hatte viele Länder
291 bereist und fühlte sich in unwirtlichen Gebieten wie zu Hause. Er
292 focht wie der Teufel, verstand gar mit einer Armbrust umzugehen.
293 Schoss genauer als dieser Schweizer – Hell, oder wie auch immer der
294 geheißen hatte. Außerdem war Bredon ein ausgezeichneter
295 Cricket-Spieler und ein angenehmer Bridgepartner. Er liebte die
296 Gefahr und die Queen hatte ihn bereits ausgezeichnet.
298 Sir Geoffrey fand ihn suspekt, der Mann hatte keinen Funken
299 modisches Verständnis. Er kleidete sich praktisch, bei Gott, nicht
300 nach den Gesichtspunkten der Mode. Wäre da nicht die Tatsache, dass
301 die Queen ihn geehrt hatte, und die Verwandtschaft, Sir Geoffrey
302 hätte ihm ganz klar abgesprochen, ein Gentleman zu sein. So aber
303 musste er ihn wohl oder übel ertragen, auch wenn es schwerfiel.
304 Aber da Bredon nicht hier war, oblag es offenbar ihm, die
305 Familienehre hochzuhalten. Er hoffte, er würde sich dieser Aufgabe
306 gewachsen zeigen.
308 »Geschütze \ldots{} nun ja,« entgegnete der Kapitän. »Die Konstrukteure
309 gingen davon aus, dass die königliche Marine im Bedarfsfall den
310 Schutz übernehmen würde. Deswegen haben wir – wenn man diesen
311 hochtrabenden Begriff verwenden möchte – zwei Breitseiten zu je
312 zwei dreieinhalb Zoll-Kanonen und einem Tesla-Geschütz. Eigentlich
313 eher, um zu zeigen, dass wir bewaffnet sind, nicht wirklich
314 nützlich, befürchte ich. Dazu noch eine Handvoll Gewehre und
315 Faustfeuerwaffen, auch diese eher zu Repräsentationszwecken. Sie
316 sehen also, wir sind nicht viel mehr als ein alter, zahnloser
317 Hund.«
319 Der Kapitän lachte dröhnend über seinen Scherz und Sir Geoffrey
320 fiel höflich mit ein, während sich in seinem Kopf ein Plan zu
321 formen begann. Ein sehr riskanter Plan, aber er baute darauf, dass
322 die Piraten die Besatzung der World of Æther nicht für so dumm
323 hielten, derartige Dinge zu versuchen. Nun musste er die Besatzung
324 nur noch davon überzeugen, genau das zu tun. Und nebenbei beten,
325 dass sein wahnwitziger Plan gelang. Warum eigentlich war Bredon nie
326 da, wenn man ihn einmal brauchte?
330 »Sir Geoffrey, sind Sie sich wirklich sicher, das gut überlegt zu
331 haben? Haben Sie nicht doch möglicherweise etwas übersehen? Keine
332 andere Option denkbar? Ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten, aber
333 bitte bedenken Sie, dass wir anderen keine Helden sind, nur ganz
334 normale Untertanen Ihrer Majestät. Was, wenn wir Ihren
335 Vorstellungen nicht gerecht werden können?«
337 \bigpar
339 Sir Geoffrey lächelte sanft.
341 Nette Worte, aber ich weiß doch ganz genau, dass ihr mich für
342 verrückt haltet und am liebsten einsperren würdet. Himmel, ich
343 selbst halte mich ja auch für verrückt, auch nur ansatzweise
344 anzunehmen, das hier könnte klappen. Aber es ist vielleicht unsere
345 einzige Chance, den Schurken Herr zu werden. Und wäre ich kein
346 Nelson, dann würdet ihr mir das auch ganz klar sagen und es nicht
347 nur denken. Anstatt aber diese Gedanken auszusprechen, legte er
348 lieber dem Kapitän beruhigend die Hand auf die Schulter.
350 »Machen Sie sich keine Sorgen. Mein Butler war früher Kanonier,
351 einer der Besten. Hat unter mir gedient, ich habe ihm schon des
352 Öfteren mein Leben anvertraut. Und es nie bereut, ansonsten würde
353 ich hier ja nicht stehen.«
355 Sein Lachen verbarg seine Nervosität. Zu viel konnte schief gehen,
356 jetzt. Er konnte nur hoffen und beten, dass sein Plan wie ersonnen
357 funktionierte. Mit fragend hochgezogener Augenbraue wandte er sich
358 an den ersten Offizier.
360 »Sir Geoffrey, wir haben wie befohlen den Piraten signalisiert,
361 dass wir uns ergeben und beigedreht. Damit wenden wir ihnen nun
362 unsere Breitseite zu. Keine Antwort bisher von der Königlichen
363 Flotte. Die Passagiere haben keinen Verdacht geschöpft, die
364 Stewards haben den Halt als eine bessere Möglichkeit, die Schönheit
365 des Mondes zu genießen ausgegeben. Die Mannschaft verhält sich
366 ruhig, um kein Aufsehen zu erregen. Die Verfolger scheinen keinen
367 Verdacht geschöpft zu haben und nähern sich weiter. Alles läuft
368 nach Plan, Sir. Und wenn ich das sagen darf, Sir, die Besatzung ist
369 stolz, unter Ihrem Kommando kämpfen zu dürfen. Wo Sie doch einer
370 der heldenhaften Nelsons sind, Sir.«
372 \bigpar
374 Sir Geoffrey nickte dankend, dann wandte er sich der Brückenseite
375 zu, von der die Angreifer kamen. Jetzt waren schon Einzelheiten des
376 Piratenschiffes zu erkennen. Guter Zustand, wie er neidlos
377 anerkennen musste. Von der Bewaffnung her um ein Vielfaches
378 überlegen, aber das hatte er vorher gewusst. Gegen die World of
379 Æther waren selbst die Kutter der Flotte kleine Schlachtschiffe.
380 Aber es gab eine Chance, wenngleich auch nur eine recht winzige
381 Chance. Klappte der Versuch nicht, so würden die Piraten keine
382 Gnade mit ihnen kennen, wie er annahm. Immerhin hätten sie
383 versucht, diese Schurken zu täuschen. Es musste einfach gelingen.
384 Nicht auszudenken, wenn \ldots{} Er zwang seine Gedanken fort von Lady
385 Walsington und wieder zurück zur aktuellen Situation. Das Schiff
386 der Verfolger drehte jetzt ein, brachte sich in Position, um
387 längsseits zu gehen. Nun kam es auf den richtigen Zeitpunkt an. Zu
388 früh oder zu spät und alles wäre vergeblich gewesen.
390 \bigpar
392 »Sir Geoffrey, wir müssen jetzt reagieren. Schnell, bevor es zu
393 spät ist. Bitte, wir \ldots{}«
395 Der erste Offizier konnte seine Angst nun nicht mehr verbergen. Auf
396 ein Nicken des Kapitäns hin wurde er von zwei kräftigen Matrosen
397 von der Brücke geführt. Auch der Kapitän hatte Angst, sogar große
398 Angst, wie ein Blick in seine Augen zweifelsfrei bestätigte, doch
399 er beherrschte sich mustergültig. Er wusste, dass seine Mannschaft
400 nur funktionierte, weil er sich nicht gehen ließ. Sir Geoffrey war
401 ihm dankbar, ließ aber weiterhin das Schiff der Piraten nicht aus
402 den Augen.
404 \bigpar
406 Gleich \ldots{} nur noch ein klein wenig näher \ldots{} warte \ldots{} warte \ldots{}
407 nun komm schon \ldots{} jetzt!
409 Zeitgleich mit dem letzten Gedanken blitzte es an der
410 Steuerbordseite auf, dann rollte der Donner der Abschüsse durch das
411 Schiff. Auch wenn er sie nicht sehen konnte, so wusste er, dass die
412 Kanonenkugeln durch den Æther auf das Schiff der Piraten zu rasten.
413 Ihr Steuermann versuchte noch, das Ruder herumzureißen, aber es war
414 zu spät.
416 Noch während auf der Brücke der Jubel der Besatzung aufbrandete,
417 sah Sir Geoffrey, wie die Geschosse am Ziel ankamen. Aber sie
418 prallten nicht an der Panzerung ab, sondern zerschlugen die
419 Brückenfenster und verursachten im Kommandoraum des Gegners Tod und
420 Zerstörung!
422 Guter alter Lionel! Die Wahrscheinlichkeit war minimal gewesen,
423 aber es hatte ihre einzige Chance dargestellt. Die gepanzerte
424 Außenhülle hätten sie mit ihren kleinkalibrigen Kanonen nicht
425 überwinden können, sie mussten einen der wenigen verwundbaren
426 Punkte treffen. Das aber gelang nur mit einem meisterhaften
427 Schützen. Dass sein Butler ein derartiger Mensch war, hatte weder
428 die Besatzung der World of Æther noch die Angreifer wissen können.
429 Deswegen war der Anflug derart sorglos gewesen.
431 Und sie hatten es wirklich vollbracht, wenngleich es ihnen vorerst
432 nur mehr Zeit verschafft hatte. Das Piratenschiff trieb steuerlos
433 im Æther, aber die Geschütze waren noch einsatzbereit. Sobald sich
434 das Passagierschiff in den Schussbereich der Kanonen der Schurken
435 bewegte, würden diese feuern. Und die World of Æther war um ein
436 Vielfaches verletzlicher als ihr Verfolger.
438 \bigpar
440 Dankbar registrierte Sir Geoffrey, dass der Kapitän den Jubel
441 eindämmte und anordnete, wieder Kurs auf den Mond zu nehmen. Ein
442 Brückenoffizier wurde abgestellt, die Piraten im Auge zu behalten,
443 und der Heliograph versuchte erneut, die Königliche Wachflotille zu
444 erreichen.
446 \bigpar
448 Sir Geoffrey jedoch begab sich in die Messe, ohne einen Blick
449 zurückzuwerfen. Vermissen würde man ihn erst später und der
450 glückliche Ausgang würde wieder etwas zur Legende um seine Familie
451 beitragen. Dass ein Scheitern sehr viel wahrscheinlicher gewesen
452 war, daran würde sich schon nach kurzer Zeit niemand mehr erinnern.
453 Und warum auch, immerhin war die tollkühne Tat ja gelungen. Jeder
454 Zweifel hätte nur der Heldenverehrung im Weg gestanden und so etwas
455 konnte man ja nicht zulassen …
457 Auch die Rolle seines Butlers Lionel würde in Vergessenheit
458 geraten, was ihn nicht wenig ärgerte. So würde er selbst dafür
459 Sorge tragen müssen, dass der wahre Held dieser Begebenheit eine
460 angemessene Entlohnung erhielt. Wie üblich.
462 Und vielleicht sickerte ja genug seitens der Besatzung an die
463 Passagiere durch, dass Lady Walsington ihn ein wenig bewundern
464 würde. Um sie nicht zu kränken würde er diesen eigentlich
465 unverdienten Ruhm ertragen.
467 \bigpar
469 Aber war das nicht ebenfalls irgendwie heldenhaft?
470 \end{document}