| blob | 0948e610f12226a012a13812ca07f0aa77a87807 |
5 <head>
7 <title>
8 The Project Gutenberg eBook of Massenstreik, Partei und Gewerkschaften by Rosa Luxemburg.
9 </title>
16 }
20 }
27 }
37 }
41 }
48 /* visibility: hidden; */
73 }
107 </style>
108 </head>
109 <body>
112 <pre>
114 The Project Gutenberg EBook of Massenstreik, Partei und Gewerkschaften, by
115 Rosa Luxemburg
117 This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with
118 almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or
119 re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included
120 with this eBook or online at www.gutenberg.org
123 Title: Massenstreik, Partei und Gewerkschaften
125 Author: Rosa Luxemburg
129 Language: German
133 *** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK MASSENSTREIK ***
138 Produced by Odessa Paige Turner and the Online Distributed
139 Proofreading Team at http://www.pgdp.net (This book was
140 produced from scanned images of public domain material
141 from the Google Print project.)
148 </pre>
157 <h1> Massenstreik, Partei
158 und Gewerkschaften</h1>
165 Landesorganisation Hamburgs<br /> und
166 der Vorstände der sozialdemokratischen Vereine
167 von Altona, Ottensen und Wandsbek</p>
173 <table>
174 <tr><th class="left">Kapitel</th><th class="center"> </th><th align="right">Seite</th></tr>
175 <tr><td class="left"> </td><td class="center"> </td><td align="right"> </td></tr>
178 <tr><td class="left"><a href="#I"><b>I.</b></a></td><td class="center"> </td><td align="right">3</td></tr>
179 <tr><td class="left"><a href="#II"><b>II.</b></a></td><td class="center"> </td><td align="right">7</td></tr>
180 <tr><td class="left"><a href="#III"><b>III.</b></a></td><td class="center"> </td><td align="right">10</td></tr>
181 <tr><td class="left"><a href="#IV"><b>IV.</b></a></td><td class="center"> </td><td align="right">28</td></tr>
182 <tr><td class="left"><a href="#V"><b>V.</b></a></td><td class="center"> </td><td align="right">36</td></tr>
183 <tr><td class="left"><a href="#VI"><b>VI.</b></a></td><td class="center"> </td><td align="right">41</td></tr>
184 <tr><td class="left"><a href="#VII"><b>VII.</b></a></td><td class="center"> </td><td align="right">46</td></tr>
185 <tr><td class="left"><a href="#VIII"><b>VIII.</b></a></td><td class="center"> </td><td align="right">52</td></tr>
186 </table>
196 Sozialismus über die Frage des Massenstreiks datieren
197 aus der Zeit <em class="gesperrt">vor</em> der russischen Revolution, dem ersten geschichtlichen
198 Experiment mit diesem Kampfmittel auf größter Skala. Daher
199 erklärt sich auch, daß sie meistenteils antiquiert sind. In ihrer Auffassung
200 stehen sie wesentlich auf demselben Standpunkt wie Friedrich
201 Engels, der 1873 in seiner Kritik der Bakunistischen Revolutionsmacherei
202 in Spanien schrieb:</p>
204 <p>»Der allgemeine Streik ist im Bakunistischen Programm der Hebel,
205 der zur Einleitung der sozialen Revolution angesetzt wird. Eines
206 schönen Morgens legen alle Arbeiter aller Gewerke eines Landes
207 oder gar der ganzen Welt die Arbeit nieder und zwingen dadurch
208 in längstens vier Wochen die besitzenden Klassen, entweder zu Kreuze
209 zu kriechen oder auf die Arbeiter loszuschlagen, so dß diese dann
210 das Recht haben, sich zu verteidigen und bei dieser Gelegenheit die
211 ganze alte Gesellschaft über den Haufen zu werfen. Der Vorschlag
212 ist weit entfernt davon, neu zu sein; französische und nach ihnen
213 belgische Sozialisten haben seit 1848 dies Paradepferd stark geritten,
214 das aber ursprünglich englischer Rasse ist. Während der auf die
215 Krise von 1837 folgenden raschen und heftigen Entwicklung des
216 Chartismus unter den englischen Arbeitern war schon 1839 der
217 »heilige Monat« gepredigt worden, die Arbeitseinstellung auf nationalem
218 Mßstab (siehe Engels: »Lage der arbeitenden Klasse«, zweite
219 Auflage, Seite 234), und hatte solchen Anklang gefunden, dass die
220 Fabrikarbeiter von Nordengland im Juli 1842 die Sache auszuführen
221 versuchten. – Auch auf dem Genfer Allianzistenkongreß vom
223 nur wurde allseitig zugegeben, dass dazu eine vollständige Organisation
224 der Arbeiterklasse und eine gefüllte Kasse nötig sei. Und darin liegt
225 eben der Haken. Einerseits werden die Regierungen, besonders wenn
226 man sie durch politische Enthaltung ermutigt, weder die Organisation
227 noch die Kasse der Arbeiter je soweit kommen lassen, und anderseits
228 werden die politischen Ereignisse und die Übergriffe der herrschenden
229 Klassen die Befreiung der Arbeiter zu Wege bringen, lange
230 bevor das Proletariat dazu kommt, sich diese ideale Organisation
231 und diesen kolossalen Reservefonds anzuschaffen. Hätte es sie aber,
232 so brauchte es nicht den Umweg des allgemeinen Streiks, um zum
233 Ziele zu gelangen.«<a name="FNanchor_1_1" id="FNanchor_1_1"></a><a href="#Footnote_1_1" class="fnanchor">[1]</a></p>
236 <p>Hier haben wir die Argumentation, die für die Stellungnahme
237 der internationalen Sozialdemokratie zum Massenstreik in den folgenden
238 Jahrzehnten maßgebend war. Sie ist ganz auf die
239 anarchistische Theorie des Generalstreiks zugeschnitten, d. h. auf die
240 Theorie vom Generalstreik als Mittel, die soziale Revolution einzuleiten,
241 im Gegensatz zum täglichen politischen Kampf der Arbeiterklasse,
242 und erschöpft sich in dem folgenden einfachen Dilemma:
243 entweder ist das gesamte Proletariat noch nicht im Besitz mächtiger
244 Organisationen und Kassen, dann kann es den Generalstreik nicht
245 durchführen, oder es ist bereits mächtig genug organisiert, dann
246 braucht es den Generalstreik nicht. Diese Argumentation ist allerdings
247 so einfach und auf den ersten Blick so unanfechtbar, daß sie
248 ein Vierteljahrhundert lang der modernen Arbeiterbewegung ausgezeichnete
249 Dienste leistete, als logische Waffe wider die anarchistischen
250 Hirngespinnste und als Hülfsmittel, um die Idee des politischen
251 Kampfes in die weitesten Kreise der Arbeiterschaft zu tragen. Die
252 großartigen Fortschritte der Arbeiterbewegung in allen modernen
253 Ländern während der letzten 25 Jahre sind der glänzendste Beweis
254 für die von Marx und Engels im Gegensatz zum Bakunismus verfochtene
255 Taktik des politischen Kampfes, und die deutsche Sozialdemokratie
256 in ihrer heutigen Macht, in ihrer Stellung als Vorhut
257 der gesamten internationalen Arbeiterbewegung, ist nicht zum geringsten
258 das direkte Produkt der konsequenten und nachdrücklichen
259 Anwendung dieser Taktik.</p>
261 <p>Die russische Revolution hat nun die obige Argumentation einer
262 gründlichen Revision unterzogen. Sie hat zum ersten Male in der
263 Geschichte der Klassenkämpfe eine grandiose Verwirklichung der Idee
265 selbst des Generalstreiks gezeitigt und damit eine neue Epoche in
266 der Entwicklung der Arbeiterbewegung eröffnet. Freilich folgt daraus
267 nicht etwa, dß die von Marx und Engels empfohlene Taktik des
268 politischen Kampfes oder ihre an dem Anarchismus geübte Kritik
269 falsch war. Umgekehrt, es sind dieselben Gedankengänge, dieselbe
270 Methode, die der Marx-Engelschen Taktik, die auch der bisherigen
271 Praxis der deutschen Sozialdemokratie zu grunde lagen, welche jetzt
272 in der russischen Revolution ganz neue Momente und neue Bedingungen
273 des Klassenkampfes erzeugten. Die russische Revolution,
274 dieselbe Revolution, die die erste geschichtliche Probe auf das Exempel
275 des Massenstreiks bildet, bedeutet nicht bloß keine Ehrenrettung für
277 Liquidation des Anarchismus</em>. Das triste Dasein, wozu diese
278 Geistesrichtung von der mächtigen Entwicklung der Sozialdemokratie
279 in Deutschland in den letzten Jahrzehnten verurteilt war, mochte
280 gewissermßen durch die ausschließliche Herrschaft und lange Dauer
281 der parlamentarischen Periode erklärt werden. Eine ganz auf das
282 »Losschlagen« und die »direkte Aktion« zugeschnittene, im nacktesten
283 Heugabelsinne »revolutionäre« Richtung mochte immerhin in der
284 Windstille des parlamentarischen Alltags nur zeitweilig verkümmern,
285 um erst bei einer Wiederkehr der direkten offenen Kampfperiode, bei
286 einer Strßenrevolution aufzuleben und ihre innere Kraft zu ent<span class='pagenum'><a name="Page_5" id="Page_5">[ 5]</a></span>falten.
287 Zumal schien Rußland besonders dazu angetan, das
288 Experimentierfeld für die Heldentaten des Anarchismus zu werden.
289 Ein Land, wo das Proletariat gar keine politischen Rechte und
290 eine äußerst schwache Organisation hatte, ein buntes Durcheinander
291 verschiedener Volksschichten mit sehr verschiedenen, wirr durcheinanderlaufenden
292 Interessen, geringe Bildung der Volksmasse, dafür
293 äußerste Bestialität in der Gewaltanwendung seitens des herrschenden
294 Regimes – alles das schien wie geschaffen, um den Anarchismus
295 zu einer plötzlichen, wenn auch vielleicht kurzlebigen Macht zu erheben.
296 Und schließlich war Rußland die geschichtliche Geburtsstätte
297 des Anarchismus. Allein, das Vaterland Bakunins sollte für seine
298 Lehre zur Grabesstätte werden. Nicht bloß standen und stehen in
299 Rußland nicht die Anarchisten an der Spitze der Massenstreikbewegung;
300 nicht bloß liegt die ganze politische Führung der
301 revolutionären Aktion und auch des Massenstreiks in den Händen
302 der sozialdemokratischen Organisationen, die von den russischen
303 Anarchisten als »bürgerliche Partei« bitter bekämpft werden, oder
304 zum Teil in den Händen solcher mehr oder weniger von der Sozialdemokratie
305 beeinflußten und sich ihr annähernden sozialistischen
306 Organisationen, wie die terroristische Partei der »Sozialisten-Revolutionäre«,
307 – die Anarchisten existieren als ernste politische
308 Richtung überhaupt in der russischen Revolution gar nicht. Nur
309 in einer litauischen Kleinstadt mit besonders schwierigen Verhältnissen
310 – bunte nationale Zusammenwürfelung der Arbeiter,
311 überwiegende Zersplitterung des Kleinbetriebs, sehr tiefstehendes
313 verschiedenen revolutionären Gruppen auch ein Häuflein halbwüchsiger
314 »Anarchisten«, das die Konfusion und Verwirrung der
315 Arbeiterschaft nach Kräften fördert, und letzthin macht sich in
317 Häuflein dieser Gattung bemerkbar. Allein, was ist jetzt, abgesehen
318 von diesen paar »revolutionären« Gruppen, die eigentliche Rolle
319 des Anarchismus in der russischen Revolution? Er ist zum Aushängeschild
320 für gemeine Diebe und Plünderer geworden; unter der
321 Firma des »Anarcho-Kommunismus« wird ein großer Teil jener unzähligen
322 Diebstähle und Plündereien bei Privatleuten ausgeübt, die
323 in jeder Periode der Depression, der momentanen Defensive der
324 Revolution wie eine trübe Welle emporkommen. Der Anarchismus
325 ist in der russischen Revolution nicht die Theorie des kämpfenden
326 Proletariats, sondern das ideologische Aushängeschild des kontrerevolutionären
327 Lumpenproletariats geworden, das wie ein Rudel
328 Haifische hinter dem Schlachtschiff der Revolution wimmelt.
329 Und damit ist die geschichtliche Laufbahn des Anarchismus wohl
330 beendet.</p>
332 <p>Auf der anderen Seite ist der Massenstreik in Rußland verwirklicht
333 worden nicht als ein Mittel, unter Umgehung des politischen
334 Kampfes der Arbeiterklasse und speziell des Parlamentarismus durch
335 einen Theatercoup plötzlich in die soziale Revolution hineinzuspringen,
336 sondern als ein Mittel, erst die Bedingungen des täglichen politischen
337 Kampfes und insbesondere des Parlamentarismus für das Proletariat
338 <span class='pagenum'><a name="Page_6" id="Page_6">[ 6]</a></span>zu schaffen. Der revolutionäre Kampf in Rußland, in dem die
339 Massenstreiks als die wichtigste Waffe zur Anwendung kommen,
340 wird von dem arbeitenden Volke und in erster Reihe vom Proletariat
341 gerade um dieselben politischen Rechte und Bedingungen geführt,
342 deren Notwendigkeit und Bedeutung im Emanzipationskampfe der
343 Arbeiterklasse Marx und Engels zuerst nachgewiesen und im Gegensatz
344 zum Anarchismus in der Internationale mit aller Macht verfochten
345 haben. So hat die geschichtliche Dialektik, der Fels, auf dem die
346 ganze Lehre des Marxschen Sozialismus beruht, es mit sich gebracht,
347 dß heute der Anarchismus, mit dem die Idee des Massenstreiks
348 unzertrennlich verknüpft war, zu der Praxis des Massenstreiks
349 selbst in einen Gegensatz gerathen ist, während umgekehrt der
350 Massenstreik, der als der Gegensatz zur politischen Betätigung des
351 Proletariats bekämpft wurde, heute als die mächtigste Waffe des
352 politischen Kampfes um politische Rechte erscheint. Wenn also die
353 russische Revolution eine gründliche Revision des alten Standpunkts
354 des Marxismus zum Massenstreik erforderlich macht, so ist es wieder
355 nur der Marxismus, dessen allgemeine Methoden und Gesichtspunkte
356 dabei in neuer Gestalt den Sieg davontragen. Moors
357 Geliebte kann nur durch Moor sterben.</p>
359 <div class="footnote"><p><a name="Footnote_1_1" id="Footnote_1_1"></a><a href="#FNanchor_1_1"><span class="label">[1]</span></a> Fr. Engels, Die Bakunisten an der Arbeit. Internationales aus dem
366 <p>Die erste Revision, die sich aus den Ereignissen in Rußland für
367 die Frage vom Massenstreik ergibt, bezieht sich auf die allgemeine
369 Befürworter eines »Versuchs mit dem Massenstreik« in Deutschland
370 von der Art Bernsteins, Eisners usw., wie auch die strikten Gegner
371 eines solchen Versuchs, wie sie im gewerkschaftlichen Lager z. b. durch
372 Bömelburg vertreten sind, im grunde genommen auf dem Boden
373 derselben, und zwar der anarchistischen Auffassung. Die scheinbaren
374 Gegenpole schließen sich nicht bloß gegenseitig aus, sondern, wie
375 stets, bedingen auch und ergänzen zugleich einander. Für die
376 anarchistische Denkweise ist nämlich die Spekulation direkt auf den
377 »großen Kladderadatsch«, auf die soziale Revolution nur ein äußeres
378 und unwesentliches Merkmal. Wesentlich ist dabei die ganze abstrakte,
379 unhistorische Betrachtung des Massenstreiks, wie überhaupt
380 aller Bedingungen des proletarischen Kampfes. Für den Anarchisten
381 existieren als stoffliche Voraussetzungen seiner »revolutionären«
382 Spekulationen lediglich zwei Dinge: zunächst die blaue Luft und
383 dann der gute Wille und der Mut, die Menschheit aus dem heutigen
384 kapitalistischen Jammertal zu erretten. In der blauen Luft ergab
385 sich aus dem Raisonnement schon vor 60 Jahren, dass der Massenstreik
386 das kürzeste, sicherste und leichteste Mittel ist, um den Sprung
387 ins bessere soziale Jenseits auszuführen. In derselben blauen Luft
388 ergibt sich neuerdings aus der Spekulation, dass der gewerkschaftliche
389 Kampf die einzige wirkliche »direkte Aktion der Massen« und
390 also der einzige revolutionäre Kampf ist – dies bekanntlich die
391 neueste Schrulle der französischen und italienischen »Syndikalisten«.
392 <span class='pagenum'><a name="Page_7" id="Page_7">[ 7]</a></span>Das Fatale für den Anarchismus war dabei stets, dß die in der
393 blauen Luft improvisierten Kampfmethoden nicht bloß eine Rechnung
394 ohne den Wirt, das heißt reine Utopien waren, sondern dß sie, weil sie
395 eben mit der verachteten, schlechten Wirklichkeit gar nicht rechneten,
396 in dieser schlechten Wirklichkeit meistens aus revolutionären Spekulationen
397 unversehens zu praktischen Helferdiensten für die Reaktion
398 wurden.</p>
400 <p>Auf demselben Boden der abstrakten, unhistorischen Betrachtungsweise
401 stehen aber heute diejenigen, die den Massenstreik nächstens in
402 Deutschland auf dem Wege eines Vorstandsbeschlusses auf einen
403 bestimmten Kalendertag ansetzen möchten, wie auch diejenigen, die,
404 wie die Teilnehmer des Kölner Gewerkschaftskongresses, durch ein
405 Verbot des »Propagierens« das Problem des Massenstreiks aus
406 der Welt schaffen wollen. Beide Richtungen gehen von der gemeinsamen,
407 rein anarchistischen Vorstellung aus, dß der Massenstreik
408 ein bloßes technisches Kampfmittel ist, das nach Belieben und nach
409 bestem Wissen und Gewissen »beschlossen« oder auch »verboten« werden
410 könne, eine Art Taschenmesser, das man in der Tasche »für alle
411 Fälle« zusammengeklappt bereit halten oder auch nach Beschluß aufklappen
412 und gebrauchen kann. Zwar nehmen gerade die Gegner
413 des Massenstreiks für sich das Verdienst in Anspruch, den geschichtlichen
414 Boden und die materiellen Bedingungen der heutigen Situation
415 in Deutschland in Betracht zu ziehen, im Gegensatz zu den »Revolutionsromantikern«,
416 die in der Luft schweben und partout nicht
418 rechnen wollen. »Tatsachen und Zahlen, Zahlen und Tatsachen!«
419 rufen sie wie Mr. Gradgrind in Dickens' »Harte Zeiten«.
420 Was die gewerkschaftlichen Gegner des Massenstreiks unter »geschichtlichem
421 Boden« und »materiellen Bedingungen« verstehen, sind
422 zweierlei Momente: einerseits die Schwäche des Proletariats,
423 anderseits die Kraft des preußisch-deutschen Militarismus. Die
424 ungenügenden Arbeiterorganisationen und Kassenbestände und die
425 imponierenden preußischen Bajonette, das sind die »Tatsachen und
426 Zahlen«, auf denen diese gewerkschaftlichen Führer ihre praktische
427 Politik im gegebenen Falle basieren. Nun sind freilich gewerkschaftliche
428 Kassen sowie preußische Bajonette zweifellos sehr materielle
429 und auch sehr historische Erscheinungen, allein die darauf
430 basierte Auffassung ist kein historischer Materialismus im Sinne von
431 Marx, sondern ein polizeilicher Materialismus im Sinne Puttkamers.
432 Auch die Vertreter des kapitalistischen Polizeistaats rechnen
433 sehr, und zwar ausschließlich mit der jeweiligen tatsächlichen Macht
434 des organisierten Proletariats, sowie mit der materiellen Macht
435 der Bajonette, und aus dem vergleichenden Exempel dieser
436 beiden Zahlenreihen wird noch immer der beruhigende Schluß gezogen:
437 die revolutionäre Arbeiterbewegung wird von einzelnen
439 und den Bajonetten ein ausreichendes Mittel, um der unliebsamen
440 »vorübergehenden Erscheinung« Herr zu werden.</p>
442 <p>Die klassenbewußte deutsche Arbeiterschaft hat längst das
443 Humoristische der polizeilichen Theorie begriffen, als sei die ganze
444 <span class='pagenum'><a name="Page_8" id="Page_8">[ 8]</a></span>moderne Arbeiterbewegung ein künstliches, willkürliches Produkt
445 einer handvoll gewissenloser »Wühler und Hetzer«.</p>
447 <p>Es ist aber genau dieselbe Auffassung, die darin zum Ausdruck
448 kommt, wenn sich ein paar brave Genossen zu einer freiwilligen
449 Nachtwächterkolonne zusammentun, um die deutsche Arbeiterschaft
450 vor dem gefährlichen Treiben einiger »Revolutionsromantiker« und
451 ihrer »Propaganda des Massenstreiks« zu warnen; oder wenn auf
452 der anderen Seite eine larmoyante Entrüstungskampagne von denjenigen
453 inszeniert wird, die sich durch irgendwelche »vertraulichen«
454 Abmachungen des Parteivorstandes mit der Generalkommission der
455 Gewerkschaften um den Ausbruch des Massenstreiks in Deutschland
456 betrogen glauben. Käme es auf die zündende »Propaganda« der
457 Revolutionsromantiker oder auf vertrauliche oder öffentliche Beschlüsse
458 der Parteileitungen an, dann hätten wir bis jetzt in Rußland
459 keinen einzigen ernsten Massenstreik. In keinem Lande dachte man
461 hervorgehoben habe – so wenig daran, den Massenstreik zu
462 »propagieren« oder selbst zu »diskutieren« wie in Rußland. Und
463 die vereinzelten Beispiele von Beschlüssen und Abmachungen des
464 russischen Parteivorstandes, die wirklich den Massenstreik aus freien
465 Stücken proklamieren sollten, wie z. B. der letzte Versuch im
466 August dieses Jahres nach der Duma-Auflösung, sind fast gänzlich
467 gescheitert. Wenn uns also die russische Revolution etwas lehrt,
468 so ist es vor allem, dß der Massenstreik nicht künstlich »gemacht«,
469 nicht ins Blaue hinein »beschlossen«, nicht »propagiert« wird, sondern
470 dß er eine historische Erscheinung ist, die sich in gewissem Moment
471 aus den sozialen Verhältnissen mit geschichtlicher Notwendigkeit
472 ergibt.</p>
475 oder Unmöglichkeit, den Nutzen oder die Schädlichkeit des Massenstreiks,
476 sondern durch die Erforschung derjenigen Momente und derjenigen
477 sozialen Verhältnisse, aus denen der Massenstreik in der
478 gegenwärtigen Phase des Klassenkampfes erwächst, mit anderen
481 Untersuchung</em> der Quellen des Massenstreiks vom Standpunkte
482 des geschichtlich Notwendigen kann das Problem allein erfßt und
483 auch diskutiert werden.</p>
485 <p>In der freien Luft der abstrakten logischen Analyse läßt sich
486 die absolute Unmöglichkeit und die sichere Niederlage, sowie die vollkommene
487 Möglichkeit und der zweifellose Sieg des Massenstreiks mit
488 genau derselben Kraft beweisen. Und deshalb ist der Wert der Beweisführung
489 in beiden Fällen derselbe, nämlich gar keiner. Daher
490 ist auch insbesondere die Furcht vor dem »Propagieren« des Massenstreiks,
491 die sogar zu förmlichen Bannflüchen gegen die vermeintlichen
492 Schuldigen dieses Verbrechens geführt hat, lediglich das Produkt
493 eines drolligen Quiproquo. Es ist genau so unmöglich, den
494 Massenstreik als abstraktes Kampfmittel zu »propagieren«, wie es
495 unmöglich ist, die »Revolution« zu propagieren. »Revolution« wie
496 »Massenstreik« sind Begriffe, die selbst bloß eine äußere Form des
497 <span class='pagenum'><a name="Page_9" id="Page_9">[ 9]</a></span>Klassenkampfes bedeuten, die nur im Zusammenhang mit ganz bestimmten
498 politischen Situationen Sinn und Inhalt haben.</p>
500 <p>Wollte es jemand unternehmen, den Massenstreik überhaupt als
501 eine Form der proletarischen Aktion zum Gegenstand einer regelrechten
502 Agitation zu machen, mit dieser »Idee« hausieren zu gehen,
503 um für sie die Arbeiterschaft nach und nach zu gewinnen, so wäre
504 das eine ebenso müßige aber auch ebenso öde und abgeschmackte
505 Beschäftigung, wie wenn jemand die Idee der Revolution oder des
506 Barrikadenkampfes zum Gegenstand einer besonderen Agitation
507 machen wollte. Der Massenstreik ist jetzt zum Mittelpunkt des lebhaften
508 Interesses der deutschen und der internationalen Arbeiterschaft
509 geworden, weil er eine neue Kampfform und als solche das sichere
510 Symptom eines tiefgehenden inneren Umschwunges in den Klassenverhältnissen
511 und den Bedingungen des Klassenkampfes bedeutet.
512 Es zeugt von dem gesunden revolutionären Instinkt und der lebhaften
513 Intelligenz der deutschen Proletariermasse, dß sie sich – ungeachtet
514 des hartnäckigen Widerstandes ihrer Gewerkschaftsführer – mit so
515 warmem Interesse dem neuen Problem zuwendet. Allein diesem
516 Interesse, dem edlen intellektuellen Durst und revolutionären
517 Tatendrang der Arbeiter kann man nicht dadurch entsprechen, dß
518 man sie mit abstrakter Hirngymnastik über die Möglichkeit oder
519 Unmöglichkeit des Massenstreiks traktiert, sondern dadurch, dß man
520 ihnen die Entwicklung der russischen Revolution, die internationale
521 Bedeutung dieser Revolution, die Verschärfung der Klassengegensätze
522 in Westeuropa, die weiteren politischen Perspektiven des Klassenkampfes
523 in Deutschland, die Rolle und die Aufgaben der Masse in
524 den kommenden Kämpfen klar macht. Nur in dieser Form wird
525 die Diskussion über den Massenstreik dazu führen, den geistigen
526 Horizont des Proletariats zu erweitern, sein Klassenbewußtsein zu
527 schärfen, seine Denkweise zu vertiefen und seine Tatkraft zu stählen.</p>
529 <p>Steht man aber auf diesem Standpunkte, dann erscheint in
530 seiner ganzen Lächerlichkeit auch der Strafprozeß, der von den
531 Gegnern der »Revolutionsromantik« gemacht wird, weil man sich
532 bei der Behandlung des Problems nicht genau an den Wortlaut
533 der Jenaer Resolution halte. Mit dieser Resolution geben sich die
534 »praktischen Politiker« allenfalls noch zufrieden, weil sie den Massenstreik
535 hauptsächlich mit den Schicksalen des allgemeinen Wahlrechts
536 verkoppelt, woraus sie zweierlei folgern zu können glauben: erstens,
537 dß dem Massenstreik ein rein defensiver Charakter bewahrt, zweitens,
538 dß der Massenstreik selbst dem Parlamentarismus untergeordnet, in
539 ein bloßes Anhängsel des Parlamentarismus verwandelt wird.
540 Der wahre Kern der Jenaer Resolution liegt aber in dieser Beziehung
541 darin, dß bei der gegenwärtigen Lage in Deutschland ein
542 Attentat der herrschenden Reaktion auf das Reichstagswahlrecht
543 höchst wahrscheinlich das Einleitungsmoment und das Signal zu jener
544 Periode stürmischer politischer Kämpfe abgeben dürfte, in denen der
545 Massenstreik als Kampfmittel in Deutschland wohl zuerst in Anwendung
546 kommen wird. Allein die soziale Tragweite und den
547 geschichtlichen Spielraum des Massenstreiks als Erscheinung und als
548 Problem des Klassenkampfes durch den Wortlaut einer Parteitags<span class='pagenum'><a name="Page_10" id="Page_10">[ 10]</a></span>resolution
549 einengen und künstlich abstecken zu wollen, ist ein Unternehmen,
550 das an Kurzsichtigkeit jenem Diskussionsverbot des Kölner
551 Gewerkschaftskongresses gleichkommt. In der Resolution des Jenaer
552 Parteitages hat die deutsche Sozialdemokratie von dem durch die
553 russische Revolution in den internationalen Bedingungen des proletarischen
554 Klassenkampfes vollzogenen tiefen Umschwung offiziell Akt
555 genommen und ihre revolutionäre Entwicklungsfähigkeit, ihre Anpassungsfähigkeit
556 an die neuen Anforderungen der kommenden Phase
557 der Klassenkämpfe bekundet. Darin liegt die Bedeutung der Jenaer
558 Resolution. Was die praktische Anwendung des Massenstreiks in
559 Deutschland betrifft, darüber wird die Geschichte entscheiden, wie
560 sie darüber in Rußland entschieden hat, die Geschichte, in der die
561 Sozialdemokratie mit ihren Entschlüssen allerdings ein wichtiger
570 <p>Der Massenstreik, wie er meistens in der gegenwärtigen Diskussion
571 in Deutschland vorschwebt, ist eine sehr klar und einfach gedachte,
572 scharf umrissene Einzelerscheinung. Es wird ausschließlich
573 vom politischen Massenstreik gesprochen. Es wird dabei an einen
574 einmaligen grandiosen Ausstand des Industrieproletariats gedacht,
575 der aus einem politischen Anlß von höchster Tragweite unternommen,
576 und zwar auf Grund einer rechtzeitigen gegenseitigen Verständigung
577 der Partei- und der gewerkschaftlichen Instanzen unternommen,
578 dann im Geiste der Disziplin in größter Ordnung durchgeführt
579 und in noch schönster Ordnung auf rechtzeitig gegebene
580 Losung der leitenden Instanzen abgebrochen wird, wobei die
581 Regelung der Unterstützungen, der Kosten, der Opfer, mit einem
582 Wort die ganze materielle Bilanz des Massenstreiks im voraus
583 genau bestimmt wird.</p>
585 <p>Wenn wir nun dieses theoretische Schema mit dem wirklichen
586 Massenstreik vergleichen, wie er in Rußland seit fünf Jahren auftritt,
587 so müssen wir sagen, dß der Vorstellung, die in der deutschen
588 Diskussion im Mittelpunkt steht, fast kein einziger von den vielen
589 Massenstreiks entspricht, die stattgefunden haben, und dß anderseits
590 die Massenstreiks in Rußland eine solche Mannigfaltigkeit der
591 verschiedensten Spielarten aufweisen, dß es ganz unmöglich ist, von
592 »dem« Massenstreik, von einem abstrakten schematischen Massenstreik
593 zu sprechen. Alle Momente des Massenstreiks sowie sein Charakter
594 sind nicht bloß verschieden in verschiedenen Städten und Gegenden
595 des Reiches, sondern vor allem hat sich ihr allgemeiner Charakter
596 mehrmals im Laufe der Revolution geändert. Die Massenstreiks
597 haben in Rußland eine bestimmte Geschichte durchgemacht, und sie
598 machen sie noch weiter durch. Wer also vom Massenstreik in Rußland
599 redet, muß vor allem seine Geschichte ins Auge fassen.</p>
601 <p>Die jetzige sozusagen offizielle Periode der russischen Revolution
602 wird mit vollem Recht von der Erhebung des Petersburger Proletariats
604 <span class='pagenum'><a name="Page_11" id="Page_11">[ 11]</a></span>Arbeiter vor das Zarenschloß datiert, der mit einem furchtbaren
605 Blutbade endete. Das blutige Massacre in Petersburg war bekanntlich
606 das Signal zum Ausbruch der ersten Riesenserie von
607 Massenstreiks, die sich binnen weniger Tage über das gesamte Rußland
608 gewälzt und den Sturmruf der Revolution aus Petersburg in
609 alle Winkel des Reiches und in die breitesten Schichten des Proletariats
610 getragen haben. Die Petersburger Erhebung vom 22. Januar
611 war aber auch nur der äußerste Moment eines Massenstreiks, der
612 vorher das Proletariat der Zarenhauptstadt im Januar 1905 ergriffen
613 hatte. Dieser Januar-Massenstreik in Petersburg spielte sich
614 nun zweifellos unter dem unmittelbaren Eindruck jenes riesenhaften
615 Generalstreiks ab, der kurz vorher, im Dezember 1904, im
616 Kaukasus, in Baku, ausgebrochen war und eine Weile lang ganz
617 Rußland im Atem hielt. Die Dezemberereignisse in Baku waren
618 aber ihrerseits nichts anderes, als an letzter und kräftiger Ausläufer
619 jener gewaltigen Massenstreiks, die wie ein periodisches Erdbeben
621 deren Prolog der Massenstreik in Batum (im Kaukasus) im März
622 1902 war. Diese erste Massenstreikbewegung in der fortlaufenden
623 Kette der jetzigen revolutionären Eruptionen ist endlich nur um fünf
624 bis sechs Jahre von dem großen Generalstreik der Petersburger
626 Bewegung äußerlich von der heutigen Revolution durch einige Jahre
627 scheinbaren Stillstands und starrer Reaktion getrennt scheint, so wird
628 doch jeder, der die innere politische Entwicklung des russischen Proletariats
629 bis zu der heutigen Stufe seines Klassenbewußtseins und seiner
630 revolutionären Energie kennt, die Geschichte der jetzigen Periode der
631 Massenkämpfe mit jenen Petersburger Generalstreiks beginnen. Sie
632 sind für das Problem des Massenstreiks schon deshalb wichtig, weil
633 sie bereits alle Hauptmomente der späteren Massenstreiks im Keime
634 enthalten.</p>
636 <p>Zunächst erscheint der Petersburger Generalstreik des Jahres
638 waren die unerträglichen Arbeitsbedingungen der Spinner und Weber
640 Akkordlöhne und eine ganze Musterkarte nichtswürdiger Unternehmerschikanen.
641 Allein diese Lage ertrugen die Textilarbeiter lange geduldig,
642 bis ein scheinbar winziger Umstand das Mß zum Überlaufen gebracht
643 hat. Im Jahre 1896 im Mai wurde nämlich die zwei Jahre
644 lang aus Angst vor den Revolutionären hinausgeschobene Krönung
645 des heutigen Zaren Nikolaus II. abgehalten, und aus diesem Anlß
646 bezeugten die Petersburger Unternehmer ihren patriotischen Eifer
647 dadurch, dass sie ihren Arbeitern drei Tage Zwangsferien auferlegten,
648 wobei sie jedoch merkwürdigerweise für diese Tage die Löhne
649 nicht auszahlen wollten. Die dadurch aufgebrachten Textilarbeiter
650 kamen in Bewegung. Nach einer Beratung von za. 800 der aufgeklärtesten
651 Arbeiter im Jekaterinenhofer Garten wurde der Streik
652 beschlossen und die Forderungen formuliert: 1. Auszahlung der
655 <span class='pagenum'><a name="Page_12" id="Page_12">[ 12]</a></span>einer Woche standen <em class="gesperrt">sämtliche</em> Webereien und Spinnereien still,
657 Ereignis, an den gewaltigen Massenstreiks der Revolution gemessen,
658 als eine Kleinigkeit erscheinen. In der politischen Eisstarre des <em class="gesperrt">damaligen</em>
659 Rußlands war ein Generalstreik etwas Unerhörtes, er
660 war selbst eine ganze Revolution im kleinen. Es begannen selbstverständlich
661 die brutalsten Verfolgungen, za. 1000 Arbeitet wurden
662 verhaftet und nach der Heimat abgeschoben, und der Generalstreik
663 wurde unterdrückt.</p>
665 <p>Bereits hier sehen wir alle Grundzüge der späteren Massenstreiks.
666 Der nächste Anlß der Bewegung war ein ganz zufälliger,
667 ja untergeordneter, ihr Ausbruch ein elementarer; aber in dem
668 Zustandekommen der Bewegung zeigten sich die Früchte der mehrjährigen
669 Agitation der Sozialdemokratie, und im Laufe des Generalstreiks
670 standen die sozialdemokratischen Agitatoren an der Spitze
671 der Bewegung, leiteten und benutzten sie zur regen revolutionären
672 Agitation. Ferner: Der Streik war äußerlich ein bloßer ökonomischer
673 Lohnkampf, allein die Stellung der Regierung sowie die Agitation
674 der Sozialdemokratie haben ihn zu einer politischen Erscheinung
675 ersten Ranges gemacht. Und endlich: Der Streik wurde unterdrückt,
676 die Arbeiter erlitten eine »Niederlage«. Aber bereits im Januar
677 des folgenden Jahres, 1897, wiederholten die Petersburger Textilarbeiter
678 nochmals den Generalstreik und errangen diesmal einen hervorragenden
679 Erfolg: die gesetzliche Einführung des elfeinhalbstündigen
680 Arbeitstages in ganz Rußland. Was jedoch ein viel wichtigeres
681 Ergebnis war: seit jenem ersten Generalstreik des Jahres 1896, der
682 ohne eine Spur von Organisation und von Streikkassen unternommen
683 war, beginnt im eigentlichen Rußland ein intensiver
684 gewerkschaftlicher Kampf, der sich bald aus Petersburg auf das
685 übrige Land verbreitet und der sozialdemokratischen Agitation und
686 Organisation ganz neue Aussichten eröffnet, damit aber in der
687 scheinbaren Kirchhofsruhe der folgenden Periode durch unsichtbare
688 Maulwurfsarbeit die proletarische Revolution vorbereitet.</p>
691 war anscheinend ebenso zufällig und von rein ökonomischen, partiellen,
692 wenn auch ganz anderen Momenten erzeugt, wie jener vom
693 Jahre 1896. Er hängt mit der schweren Industrie- und Handelskrise
694 zusammen, die in Rußland die Vorgängerin des japanischen
695 Krieges und mit ihm zusammen der mächtigste Faktor der beginnenden
696 revolutionären Gährung war. Die Krise erzeugte eine
697 enorme Arbeitslosigkeit, die in der proletarischen Masse die Agitation
698 nährte, deshalb unternahm es die Regierung, zur Beruhigung der
699 Arbeiterklasse die »überflüssigen Hände« nach ihren entsprechenden
700 Heimatsorten per Schub zu transportieren. Eine solche Mßnahme
701 eben, die za. 400 Petroleumarbeiter betreffen sollte, rief in Batum einen
702 Massenprotest hervor, der zu Demonstrationen, Verhaftungen, einem
703 Massacre und schließlich zu einem politischen Prozeß führte, in dem
705 und revolutionären Ereignis wurde. Der Widerhall des ganz
706 »resultatlos« verlaufenen und niedergeschlagenen Streiks in Batum
707 <span class='pagenum'><a name="Page_13" id="Page_13">[ 13]</a></span>war eine Reihe revolutionärer Massendemonstrationen der Arbeiter
708 in Nischni-Nowgorod, in Saratow, in anderen Städten, also ein
709 kräftiger Vorstoß für die allgemeine Welle der revolutionären
710 Bewegung.</p>
714 Den Anstoß zu dieser Bewegung gaben Lohndifferenzen in den
715 Werkstätten der Wladikaukasischen Eisenbahn. Die Verwaltung
716 wollte die Löhne herabsetzen, darauf gab das Donsche Komitee der
717 Sozialdemokratie einen Aufruf heraus, mit der Aufforderung zum
718 Streik um folgende Forderungen: Neunstundentag, Lohnaufbesserung,
719 Abschaffung der Strafen, Entlassung unbeliebter Ingenieure &c.
720 Sämtliche Eisenbahnwerkstätten traten in den Ausstand. Ihnen
721 schlossen sich alsbald alle anderen Berufe an, und plötzlich herrschte
722 in Rostow ein nie dagewesener Zustand: jede gewerbliche Arbeit
725 einem Kordon Kosaken, wobei zum ersten Male sozialdemokratische
726 Volksredner offen auftreten, zündende Reden über Sozialismus und
727 politische Freiheit gehalten und mit ungeheurer Begeisterung aufgenommen,
728 revolutionäre Aufrufe in Zehntausenden von Exemplaren
729 verbreitet werden. Mitten in dem starren absolutistischen Rußland
730 erobert das Proletariat Rostows zum ersten Male sein Versammlungsrecht,
731 seine Redefreiheit im Sturm. Freilich geht es auch
732 hier nicht ohne ein Massacre ab. Die Lohndifferenzen der Wladikaukasischen
733 Eisenbahnwerkstätten haben sich in wenigen Tagen zu
734 einem politischen Generalstreik und zu einer revolutionären Strßenschlacht
735 ausgewachsen. Als Nachklang erfolgte sofort noch ein Generalstreik
737 hier kam es zu einem Massacre, ferner zu einem Prozeß, und
738 auch Tichoretzkaja hat sich als Episode gleichfalls in die unzertrennliche
739 Kette der Revolutionsmomente eingeflochten.</p>
742 Streiks in Rostow und Tichoretzkaja: der ganze Süden Rußlands
743 steht im Mai, Juni und Juli in Flammen. <em class="gesperrt">Baku</em>, <em class="gesperrt">Tiflis</em>,
744 <em class="gesperrt">Batum</em>, <em class="gesperrt">Jelissawetgrad</em>, <em class="gesperrt">Odessa</em>, <em class="gesperrt">Kijew</em>, <em class="gesperrt">Nikolajew</em>,
746 Aber auch hier entsteht die Bewegung nicht nach irgend einem vorgefßten
747 Plan aus einem Zentrum, sie fließt zusammen aus einzelnen
748 Punkten, in jedem aus anderen Anlässen, in anderen Formen.
750 Fabriken und Branchen endlich in einen Generalstreik ausmünden.
754 Umzug durch die Stadt, um die Ladeninhaber zur Schließung der
755 Geschäfte aufzufordern. Der Sieg ist ein vollständiger: die Handelsangestellten
757 sich sofort alle Fabriken, Werkstätten, Bureaux an. Die Zeitungen
758 erscheinen nicht, der Trambahnverkehr kann nur unter dem Schutze
759 <span class='pagenum'><a name="Page_14" id="Page_14">[ 14]</a></span>des Militärs stattfinden. – In <em class="gesperrt">Jelissawetgrad</em> beginnt am
762 der Streik auf. Allein zwei Wochen später bricht er wieder aus;
763 diesmal geben die Bäcker die Parole, ihnen folgen die Steinarbeiter,
764 Tischler, Färber, Mühlenarbeiter und schließlich wieder
766 einem Lohnkampfe, in den der von Regierungsagenten nach dem
768 »legale« Arbeiterverein verwickelt wurde. Die geschichtliche Dialektik
769 hat wieder Gelegenheit genommen, einen ihrer hübschen boshaften
770 Streiche auszuführen: Die ökonomischen Kämpfe der früheren
771 Periode – darunter der große Petersburger Generalstreik von
773 sogen. »Ökonomismus« verleitet, wodurch sie in der Arbeiterschaft
774 für das demagogische Treiben des Subatow den Boden bereitet
775 hatte. Nach einer Weile drehte aber der große revolutionäre Strom
776 das Schifflein mit der falschen Flagge um und zwang es, gerade
777 an der Spitze der revolutionären proletarischen Flottille zu schwimmen.
778 Die Subatowschen Vereine gaben im Frühling 1904 die Parole zu
779 dem großen Generalstreik in Odessa, wie im Januar 1905 zu dem
780 Generalstreik in Petersburg. Die Arbeiter in Odessa, die in den
781 Wahn von der aufrichtigen Arbeiterfreundlichkeit der Regierung und
782 ihrer Sympathie für rein ökonomischen Kampf gewiegt wurden,
783 wollten plötzlich eine Probe aufs Exempel machen und zwangen
784 den Subatowschen »Arbeiterverein«, in einer Fabrik den Streik um bescheidenste
785 Forderungen zu erklären. Sie wurden darauf vom Unternehmer
786 einfach aufs Pflaster gesetzt, und als sie von dem Leiter ihres
787 Vereins den versprochenen obrigkeitlichen Schutz forderten, verduftete
788 der Herr und ließ die Arbeiter in wilder Gärung zurück. Alsbald
789 stellten sich die Sozialdemokraten an die Spitze und die Streikbewegung
790 sprang auf andere Fabriken über. Am 1. Juli streiken
793 und Verkürzung der Arbeitszeit um eine halbe Stunde. Am 6. Juli
794 schließen sich die Seeleute der Bewegung an. Am 13. Juli beginnt
795 der Ausstand des Trambahnpersonals. Nun findet eine Versammlung
797 der von Fabrik zu Fabrik geht und, lawinenartig anwachsend, schon
799 jede Arbeit zum Stillstand zu bringen. Bald herrscht in der ganzen
801 Ausstand in den Eisenbahnwerkstätten. Auch hier ist der nächste
802 Anlß miserable Arbeitsbedingungen, und es werden Lohnforderungen
803 aufgestellt. Am anderen Tage folgen dem Beispiel die
804 Gießereien. Am 23. Juli passiert darauf ein Zwischenfall, der das
805 Signal zum Generalstreik gibt. In der Nacht wurden zwei Delegierte
806 der Eisenbahnarbeiter verhaftet; die Streikenden fordern sofort ihre
807 Freilassung, und als dies nicht erfüllt wird, beschließen sie, die
808 Eisenbahnzüge nicht aus der Stadt herauszulassen. Am Bahnhof
809 <span class='pagenum'><a name="Page_15" id="Page_15">[ 15]</a></span>setzen sich auf den Schienenstrang sämtliche Streikende mit Weib
811 Gewehrsalven. Die Arbeiter entblößen darauf ihre Brust und rufen:
812 »Schießt!« Eine Salve wird auf die wehrlose, sitzende Menge
814 auf dem Platze liegen. Auf diese Kunde erhebt sich am gleichen
815 Tage ganz Kijew zum Streik. Die Leichen der Ermordeten werden
816 von der Menge emporgehoben und in einem Massenzug herumgetragen.
817 Versammlungen, Reden, Verhaftungen, einzelne Strßenkämpfe
818 – Kijew steht mitten in der Revolution. Die Bewegung
819 geht bald zu Ende; dabei haben aber die Buchdrucker eine Verkürzung
820 der Arbeitszeit um eine Stunde und eine Lohnerhöhung um einen
821 Rubel gewonnen; in einer Hefefabrik ist der Achtstundentag eingeführt
822 worden; die Eisenbahnwerkstätten wurden auf Beschluß des Ministeriums
823 geschlossen; andere Branchen führten partielle Streiks um
824 ihre Forderungen weiter. – <em class="gesperrt">In Nikolajew</em> bricht der Generalstreik
825 unter dem unmittelbaren Eindruck der Nachrichten aus Odessa,
826 Baku, Batum und Tiflis aus, trotz des Widerstandes des sozialdemokratischen
827 Komitees, das den Ausbruch der Bewegung auf den Zeitpunkt
828 hinausschieben wollte, wo das Militär zum Manöver aus
829 der Stadt ziehen sollte. Die Masse ließ sich nicht zurückhalten;
830 eine Fabrik machte den Anfang, die Streikenden gingen von einer
831 Werkstatt zur anderen, der Widerstand des Militärs goß nur Öl ins
832 Feuer. Bald bildeten sich Massenumzüge mit revolutionärem Gesang,
833 die alle Arbeiter, Angestellten, Trambahnbedienstete, Männer und
834 Frauen, mitrissen. Die Arbeitsruhe war eine vollkommene. – In
836 Arbeiter der Eisenbahnwerkstätte, darauf alle anderen Fabriken den
838 erscheinen nicht. – So kam der grandiose Generalstreik Südrußlands
839 im Sommer 1903 zu stande. Aus vielen kleinen Kanälen partieller
840 ökonomischer Kämpfe und kleiner »zufälliger« Vorgänge floß er
841 rasch zu einem gewaltigen Meer zusammen und verwandelte den
842 ganzen Süden des Zarenreichs für einige Wochen in eine bizarre,
843 revolutionäre Arbeiterrepublik. »Brüderliche Umarmungen, Rufe des
844 Entzückens und der Begeisterung, Freiheitslieder, frohes Gelächter,
846 die von Morgen bis Abend in der Stadt wogte. Die Stimmung
847 war eine gehobene; man konnte beinahe glauben, dß ein neues,
848 besseres Leben auf Erden beginnt. Ein tiefernstes und zugleich
849 idyllisches, rührendes Bild« ... So schrieb damals der Korrespondent
850 im liberalen »Oswoboshdenje« des Herrn Peter v. Struve.</p>
853 eine Weile eine Ruhepause in der Massenstreikbewegung mit sich. Zuerst
854 ergoß sich eine trübe Welle polizeilich veranstalteter »patriotischer«
855 Demonstrationen über das Land. Die »liberale« bürgerliche Gesellschaft
856 wurde vorerst von dem zarisch-offiziellen Chauvinismus ganz
857 zu Boden geschmettert. Doch nimmt die Sozialdemokratie bald
858 den Kampfplatz wieder in Besitz; den polizeilichen Demonstrationen
859 des patriotischen Lumpenproletariats werden revolutionäre Arbeite<span class='pagenum'><a name="Page_16" id="Page_16">[ 16]</a></span>rdemonstrationen
860 entgegengestellt. Endlich wecken die schmählichen
861 Niederlagen der zarischen Armee auch die liberale Gesellschaft aus
862 der Betäubung; es beginnt die Ära liberaler und demokratischer
863 Kongresse, Bankette, Reden, Adressen und Manifeste. Der durch die
864 Schmach des Krieges zeitweilig erdrückte Absolutismus läßt in seiner
865 Zerfahrenheit die Herren gewähren, und sie sehen bereits den Himmel
866 voller liberaler Geigen. Für ein halbes Jahr nimmt der bürgerliche
867 Liberalismus die politische Vorderbühne in Besitz, das Proletariat
868 tritt in den Schatten. Allein nach längerer Depression rafft sich der
869 Absolutismus seinerseits wieder auf, die Kamarilla sammelt ihre
870 Kräfte und durch ein einziges kräftiges Aufstampfen des Kosakenstiefels
871 wird die ganze liberale Aktion im Dezember ins Mauseloch
872 gejagt. Die Bankette, Reden, Kongresse werden kurzerhand als eine
873 »freche Anmßung« verboten und der Liberalismus sieht sich plötzlich
874 am Ende seines Lateins. Aber genau dort, wo dem Liberalismus
875 der Faden ausgegangen ist, beginnt die Aktion des Proletariats. Im
876 Dezember 1904 bricht auf dem Boden der Arbeitslosigkeit der grandiose
878 Kampfplatz. Als das Reden verboten wurde und verstummte, begann
879 wieder das Handeln. In Baku herrschte während einiger Wochen
880 mitten im Generalstreik die Sozialdemokratie als unumschränkte
881 Herrin der Lage, und die eigenartigen Ereignisse des Dezembers im
882 Kaukasus hätten ein ungeheures Aufsehen erregt, wenn sie nicht so
883 rapid von der steigenden Woge der Revolution übertroffen worden
884 wären, die sie selbst aufgepeitscht hatten. Noch waren die phantastischen,
885 unklaren Nachrichten von dem Generalstreik in Baku nicht in alle
886 Enden des Zarenreichs gelangt, als im Januar 1905 der Massenstreik
889 <p>Auch hier war der Anlß bekanntlich ein winziger. Zwei Arbeiter
890 der Putilow-Werke wurden wegen ihrer Zugehörigkeit zum legalen
891 Subatowschen Verein entlassen. Diese Mßregelung rief am 16. Januar
893 Die Sozialdemokraten begannen aus Anlß des Streiks eine rege
894 Agitation um die Erweiterung der Forderungen und setzten die Forderung
895 des Achtstundentages, des Koalitionsrechts, der Rede- und Preßfreiheit
896 usw. durch. Die Gärung der Putilowschen Arbeiter teilte
897 sich rasch dem übrigen Proletariat mit, und in wenigen Tagen standen
899 Diskussionen führten zur Ausarbeitung jener proletarischen Charte
900 der bürgerlichen Freiheiten mit dem Achtstundentag an der Spitze,
902 geführt, vor das Zarenschloß zogen. Der Konflikt der zwei gemßregelten
903 Putilow-Arbeiter hat sich binnen einer Woche in den Prolog
904 der gewaltigsten Revolution der Neuzeit verwandelt.</p>
906 <p>Die zunächst darauffolgenden Ereignisse sind bekannt: Das
907 Petersburger Blutbad hat im Januar und Februar in sämtlichen
908 Industriezentren und Städten Rußlands, Polens, Litauens, der
909 baltischen Provinzen, des Kaukasus, Sibiriens, vom Norden bis
910 zum Süden, vom Westen bis zum Osten riesenhafte Massenstreiks
911 und Generalstreiks hervorgerufen. Allein bei näherem Zusehen
912 <span class='pagenum'><a name="Page_17" id="Page_17">[ 17]</a></span>treten jetzt die Massenstreiks in anderen Formen auf, als in der
913 bisherigen Periode. Diesmal gingen überall die sozialdemokratischen
914 Organisationen mit Aufrufen voran; überall war die revolutionäre
915 Solidarität mit dem Petersburger Proletariat ausdrücklich als Grund
916 und Zweck des Generalstreiks bezeichnet; überall gab es zugleich
917 Demonstrationen, Reden, Kämpfe mit dem Militär. Doch auch hier
918 war von einem vorgefßten Plan, einer organisierten Aktion keine
919 Rede, denn die Aufrufe der Parteien vermochten kaum, mit den
920 spontanen Erhebungen der Masse Schritt zu halten; die Leiter hatten
921 kaum Zeit, die Losungen der vorausstürmenden Proletariermenge zu
922 formulieren. Ferner: Die früheren Massen- und Generalstreiks entstanden
923 aus einzelnen zusammenfließenden Lohnkämpfen, die in der
924 allgemeinen Stimmung der revolutionären Situation und unter
925 dem Eindruck der sozialdemokratischen Agitation rapid zu politischen
926 Kundgebungen wurden; das ökonomische Moment und die gewerkschaftliche
927 Zersplitterung waren der Ausgangspunkt, die zusammenfassende
928 Klassenaktion und die politische Leitung das Schlußergebnis.
929 Jetzt ist die Bewegung eine umgekehrte. Die Januar- und Februargeneralstreiks
930 brachen im voraus als einheitliche revolutionäre Aktion
931 unter der Leitung der Sozialdemokratie aus; allein diese Aktion zerfiel
932 bald in eine unendliche Reihe lokaler, partieller, ökonomischer
933 Streiks in einzelnen Gegenden, Städten, Branchen, Fabriken. Den
934 ganzen Frühling des Jahres 1905 hindurch bis in den Hochsommer
935 hinein gährte im gesamten Riesenreich ein unermüdlicher ökonomischer
936 Kampf fast des gesamten Proletariats gegen das Kapital, ein Kampf,
937 der nach oben hin alle kleinbürgerlichen und liberalen Berufe: Handelsangestellte,
938 Bankbeamte, Techniker, Schauspieler, Kunstberufe, ergreift,
939 nach unten hin bis ins Hausgesinde, in das Subalternbeamtentum
940 der Polizei, ja bis in die Schicht des Lumpenproletariats hineindringt
941 und gleichzeitig aus der Stadt aufs flache Land hinausströmt
942 und sogar an die eisernen Tore der Militärkasernen pocht.</p>
944 <p>Es ist dies ein riesenhaftes buntes Bild einer allgemeinen Auseinandersetzung
945 der Arbeit mit dem Kapital, das die ganze Mannigfaltigkeit
946 der sozialen Gliederung und des politischen Bewußtseins
947 jeder Schicht und jedes Winkels abspiegelt und die ganze lange
948 Stufenleiter vom regelrechten gewerkschaftlichen Kampf einer erprobten
949 großindustriellen Elitetruppe des Proletariats bis zum formlosen
950 Protestausbruch eines Haufens Landproletarier und zur ersten dunklen
951 Regung einer aufgeregten Soldatengarnison durchläuft, von der
952 wohlerzogenen eleganten Revolte in Manschetten und Stehkragen
953 im Kontor eines Bankhauses bis zum scheu-dreisten Murren
954 einer klobigen Versammlung unzufriedener Polizisten in einer verräucherten,
955 dunklen und schmutzigen Polizeiwachtstube.</p>
957 <p>Nach der Theorie der Liebhaber »ordentlicher und wohldisziplinierter«
958 Kämpfe nach Plan und Schema, jener besonders, die es
959 von weitem stets besser wissen wollen, wie es »hätte gemacht werden
960 sollen«, war der Zerfall der großen politischen Generalstreikaktion des
962 »ein großer Fehler«, der jene Aktion »lahmgelegt« und in ein »Strohfeuer«
963 verwandelt hatte. Auch die Sozialdemokratie in Rußland,
964 <span class='pagenum'><a name="Page_18" id="Page_18">[ 18]</a></span>die die Revolution zwar mitmacht, aber nicht »macht«, und ihre
965 Gesetze erst aus ihrem Verlauf selbst lernen muß, war im ersten
966 Augenblick durch das scheinbar resultatlose Zurückfluten der ersten
967 Sturmflut des Generalstreiks für eine Weile etwas aus dem Konzept
968 gebracht. Allein, die Geschichte, die jenen »großen Fehler« gemacht
969 hat, verrichtete damit, unbekümmert um das Räsonieren ihrer unberufenen
970 Schulmeister, eine ebenso unvermeidliche wie in ihren
971 Folgen unberechenbare Riesenarbeit der Revolution.</p>
974 unter dem gewaltigen Anstoß der Petersburger Ereignisse war nach
975 außen hin ein politischer Akt der revolutionären Kriegserklärung an
976 den Absolutismus. Aber diese erste allgemeine direkte Klassenaktion
977 wirkte gerade als solche nach innen um so mächtiger zurück, indem
978 sie zum ersten Mal das Klassengefühl und Klassenbewußtsein in den
979 Millionen und Abermillionen wie durch einen elektrischen Schlag
980 weckte. Und dieses Erwachen des Klassengefühls äußerte sich sofort
981 darin, dß der nach Millionen zählenden proletarischen Masse
982 ganz plötzlich scharf und schneidend die Unerträglichkeit jenes sozialen
983 und ökonomischen Daseins zum Bewußtsein kam, das sie Jahrzehnte
984 in den Ketten des Kapitalismus geduldig ertrug. Es beginnt daher
985 ein spontanes allgemeines Rütteln und Zerren an diesen Ketten.
986 Alle tausendfältigen Leiden des modernen Proletariats erinnern es
987 an alte blutende Wunden. Hier wird um den Achtstundentag gekämpft,
988 dort gegen die Akkordarbeit, hier werden brutale Meister
989 auf einem Handkarren im Sack »hinausgefahren«, anderswo gegen
990 infame Strafsysteme, überall um bessere Löhne, hier und da um Abschaffung
991 der Heimarbeit gekämpft. Rückständige, degradierte Berufe
992 in großen Städten, kleine Provinzstädte, die bis dahin in einem idyllischen
993 Schlaf dahin dämmerten, das Dorf mit seinem Vermächtnis aus
995 geweckt, auf seine Rechte und sucht nun fieberhaft, das Versäumte
996 nachzuholen. Der ökonomische Kampf war hier also in
997 Wirklichkeit nicht ein Zerfall, eine Zersplitterung der Aktion, sondern
998 bloß eine Frontänderung, ein plötzlicher und natürlicher Umschlag
999 der ersten Generalschlacht mit dem Absolutismus in eine Generalabrechnung
1001 Form</em> einzelner zersplitterter Lohnkämpfe annahm. Nicht die politische
1002 Klassenaktion wurde im Januar durch den Zerfall des Generalstreiks
1003 in ökonomische Streiks gebrochen, sondern umgekehrt; nachdem der
1004 in der gegebenen Situation und auf der gegebenen Stufe der
1008 <p>In der Tat: was konnte der Generalstreik im Januar weiter
1009 erreichen? Nur völlige Gedankenlosigkeit durfte eine Vernichtung
1010 des Absolutismus auf einen Schlag durch einen einzigen »ausdauernden«
1011 Generalstreik nach dem anarchistischen Schema erwarten.
1012 Der Absolutismus muß in Rußland durch das Proletariat gestürzt
1013 werden. Aber das Proletariat bedarf dazu eines hohen
1014 Grades der politischen Schulung, des Klassenbewußtseins und der
1015 Organisation. Alle diese Bedingungen vermag es sich nicht aus
1016 <span class='pagenum'><a name="Page_19" id="Page_19">[ 19]</a></span>Broschüren und Flugblättern, sondern bloß aus der lebendigen
1017 politischen Schule, aus dem Kampf und in dem Kampf, in dem
1018 fortschreitenden Verlauf der Revolution aneignen. Ferner kann der
1019 Absolutismus nicht in jedem beliebigen Moment, wozu bloß eine
1020 genügende »Anstrengung« und »Ausdauer« erforderlich, gestürzt
1021 werden. Der Untergang des Absolutismus ist bloß ein äußerer
1022 Ausdruck der inneren sozialen und Klassenentwicklung der russischen
1023 Gesellschaft. Bevor und damit der Absolutismus gestürzt werden
1024 kann, muß das künftige bürgerliche Rußland in seinem Innern, in
1025 seiner modernen Klassenscheidung hergestellt, geformt werden. Dazu
1026 gehört die Auseinandergrenzung der verschiedenen sozialen Schichten
1027 und Interessen, die Bildung außer der proletarischen, revolutionären,
1028 auch nicht minder der liberalen, radikalen, kleinbürgerlichen, konservativen
1029 und reaktionären Parteien, dazu gehört die Selbstbesinnung,
1030 Selbsterkenntnis und das Klassenbewußtsein nicht bloß der Volksschichten,
1031 sondern auch der bürgerlichen Schichten. Aber auch diese
1032 vermögen sich nicht anders als im Kampf, im Prozeß der Revolution
1033 selbst, durch die lebendige Schule der Ereignisse, im Zusammenprall
1034 mit dem Proletariat, sowie gegeneinander, in unaufhörlicher gegenseitiger
1035 Reibung bilden und zur Reife gedeihen. Diese Klassenspaltung
1036 und Klassenreife der bürgerlichen Gesellschaft sowie ihre
1037 Aktion im Kampfe gegen den Absolutismus wird durch die eigenartige
1038 führende Rolle des Proletariats und seine Klassenaktion
1039 einerseits unterbunden und erschwert, anderseits angepeitscht und
1040 beschleunigt. Die verschiedenen Unterströme des sozialen Prozesses
1041 der Revolution durchkreuzen einander, hemmen einander, steigern die
1042 inneren Widersprüche der Revolution, im Resultat beschleunigen und
1043 potenzieren aber damit nur ihre gewaltigen Ausbrüche.</p>
1045 <p>So erfordert das anscheinend so einfache und nackte rein
1046 mechanische Problem: der Sturz des Absolutismus einen ganzen
1047 langen sozialen Prozeß, eine gänzliche Unterwühlung des gesellschaftlichen
1048 Bodens, das Unterste muß nach oben, das Oberste
1049 nach unten gekehrt, die scheinbare »Ordnung« in einen Chaos und
1050 aus dem scheinbaren »anarchistischen« Chaos eine neue Ordnung
1051 umgeschaffen werden. Und nun in diesem Prozeß der sozialen
1052 Umschachtelung des alten Rußland spielte nicht nur der Januar-Blitz
1053 des ersten Generalstreiks, sondern noch mehr das darauffolgende
1054 große Frühlings- und Sommergewitter der ökonomischen Streiks
1055 eine unersetzliche Rolle. Die erbitterte allgemeine Auseinandersetzung
1056 der Lohnarbeit mit dem Kapital hat im gleichen Mße zur Auseinandergrenzung
1057 der verschiedenen Volksschichten wie der bürgerlichen
1058 Schichten, zum Klassenbewußtsein des revolutionären Proletariats
1059 wie auch der liberalen und konservativen Bourgeoisie beigetragen.
1060 Und wie die städtischen Lohnkämpfe zur Bildung der starken
1061 monarchischen Moskauer Industriellen-Partei beigetragen haben, so
1062 hat der rote Hahn der gewaltigen Landerhebung in Livland zur
1063 raschen Liquidation des berühmten adelig-agrarischen Semstwo-Liberalismus
1064 geführt.</p>
1067 Frühling und Sommer des Jahres 1905 dem städtischen Proletariat
1068 <span class='pagenum'><a name="Page_20" id="Page_20">[ 20]</a></span>in der Gestalt der regen sozialdemokratischen Agitation und Leitung
1069 die Möglichkeit gegeben, die ganze Summe der Lehren des Januar-Prologs
1070 sich nachträglich anzueignen, sich die weiteren Aufgaben
1071 der Revolution klar zu machen. Im Zusammenhang damit steht
1072 aber noch ein anderes Ergebnis dauernden sozialen Charakters:
1074 Proletariats</em>, des wirtschaftlichen, sozialen und intellektuellen.
1075 Die Frühlingsstreiks des Jahres 1905 sind fast durchweg siegreich
1076 verlaufen. Als eine Probe aus dem enormen und noch meistens
1077 unübersehbaren Tatsachenmaterial seien hier nur einige Daten über
1078 ein paar der allein in Warschau von der Sozialdemokratie Polens
1079 und Litauens geleiteten wichtigsten Streiks angeführt. In den
1080 größten Fabriken der <em class="gesperrt">Metallbranche</em> Warschaus: Aktiengesellschaft
1086 Werner, Buch, Gebrüder Renneberg, Labor, Lampenfabrik Dittmar,
1087 Serkowski, Weszyski, zusammen 22 Fabriken errangen die Arbeiter
1088 sämtlich nach einem vier- bis fünfwöchigen Streik (seit dem
1092 Warschaus, nämlich bei Karmanski, Damiecki, Gromel, Szerbinski,
1093 Tremerowski, Horn, Bevensee, Tworkowski, Daab & Martens,
1094 zusammen 10 Werkstätten, errangen die Streikenden bereits am
1095 23. Februar den Neunstundentag; sie gaben sich jedoch nicht zufrieden
1096 und bestanden auf dem Achtstundentag, den sie auch nach
1097 einer weiteren Woche durchsetzten, zugleich mit einer Lohnerhöhung.
1099 forderte gemäß der Parole der Sozialdemokratie den Achtstundentag
1100 und errang am 11. März den Neunstundentag, eine
1103 <em class="gesperrt">Sattler</em> und <em class="gesperrt">Schmiede</em> errangen gemeinsam den Achtstundentag
1105 zehn Tage und errangen den Achtstundentag und eine Lohnerhöhung
1108 Streik eine Verkürzung der Arbeitszeit um eine Stunde und Lohnaufbesserung
1110 Variationen sehen wir in allen übrigen Branchen
1111 Warschaus, in Lodz, in Sosnowitz.</p>
1114 im September 1904 von einigen Kategorien der Naphthaarbeiter
1115 in Baku, im Mai 1905 von den Zuckerarbeitern des Kijewer Rayons,
1116 im Januar 1905 in sämtlichen Buchdruckereien der Stadt Samara
1118 Strafen durchgesetzt wurde), im Februar in der Fabrik kriegs<span class='pagenum'><a name="Page_21" id="Page_21">[ 21]</a></span>medizinischer
1119 Instrumente, in einer Möbeltischlerei und in der
1120 Patronenfabrik in Petersburg, ferner wurde eine achtstündige
1121 Schicht in den Gruben von Wladiwostok eingeführt, im März in
1122 der staatlichen mechanischen Werkstatt der Staatspapiere, im April
1123 bei den Schmieden der Stadt Bobrujsk, im Mai bei den Angestellten
1124 der elektrischen Stadtbahn in Tiflis, gleichfalls im Mai der achteinhalbstündige
1125 Arbeitstag in der Riesenbaumwollweberei von
1126 Morosow (bei gleichzeitiger Abschaffung der Nachtarbeit und
1128 einigen Ölmühlen in Petersburg und Moskau, im Juli achteinhalb
1129 Stunden bei den Schmieden des Petersburger Hafens, im
1130 November in sämtlichen Privatdruckereien der Stadt Orel (bei
1133 Einigungsamtes).</p>
1136 (im Februar), in vielen staatlichen Militär- und Marinewerkstätten,
1137 in den meisten Fabriken der Stadt Berdjansk, in sämtlichen
1138 Druckereien der Stadt Poltawa sowie der Stadt Minsk; neuneinhalb
1139 Stunden auf der Schiffswerft, Mechanischen Werkstatt und
1140 Gießerei der Stadt Nikolajew, im Juni nach einem allgemeinen
1141 Kellnerstreik in Warschau in vielen Restaurants und Cafés (bei
1143 Urlaub jährlich).</p>
1146 Städte Lodz, Gosnowitz, Riga, Kowno, Reval, Dorpat, Minsk,
1147 Charkow, bei den Bäckern in Odessa, in den Handwerkstätten
1148 in Kischinew, in einigen Hutfabriken in Petersburg, in den Zündholzfabriken
1150 in sämtlichen staatlichen Marinewerkstätten und bei sämtlichen
1151 Hafenarbeitern.</p>
1154 Verkürzung der Arbeitszeit, immerhin aber bedeutende; so wurde
1155 in Warschau Mitte März 1905 von dem städtischen Fabrikamt eine
1157 der Textilindustrie Iwanowo-Wosnesensk erreichten die Lohnerhöhungen
1160 wurde eingeführt: in einem Teile der Bäckereien in Odessa,
1161 in der Newaschen Schiffswerft in Petersburg usw.</p>
1163 <p>Freilich werden die Konzessionen vielfach bald hier bald dort
1164 wieder zurückgenommen. Dies gibt aber nur den Anlß zu erneuten,
1165 noch erbitterteren Revanchekämpfen, und so ist die Streikperiode des
1166 Frühlings 1905 von selbst zum Prolog einer unendlichen Reihe sich
1167 immer weiter ausbreitender und ineinanderschlingender ökonomischer
1168 Kämpfe geworden, die bis auf den heutigen Tag dauern. In den
1169 Perioden des äußerlichen Stillstandes der Revolution, wo die
1170 Telegramme keine Sensationsnachrichten vom russischen Kampfplatz
1171 in die Welt tragen und wo der westeuropäische Leser mit Enttäuschung
1172 seine Morgenzeitung aus der Hand legt, mit der Bemerkung,
1173 <span class='pagenum'><a name="Page_22" id="Page_22">[ 22]</a></span>dß in Rußland »nichts passiert sei«, wird in Wirklichkeit in der
1174 Tiefe des ganzen Reiches die große Maulwurfsarbeit der Revolution
1175 ohne Rast Tag für Tag und Stunde für Stunde fortgesetzt. Der
1177 Methoden die Hinüberleitung des Kapitalismus aus dem Stadium
1178 der primitiven Akkumulation, des patriarchalischen Raubbaus in
1179 ein hochmodernes, zivilisiertes Stadium durch. Heute läßt die
1180 tatsächliche Arbeitszeit in der russischen Industrie nicht nur die
1181 russische Fabrikgesetzgebung, d. h. den gesetzlichen elfeinhalbstündigen
1182 Arbeitstag, sondern selbst die deutschen tatsächlichen Verhältnisse
1183 hinter sich. In den meisten Branchen der russischen Großindustrie
1184 herrscht heute der Zehnstundentag, der in Deutschland von der Sozialgesetzgebung
1185 als unerreichbares Ziel hingestellt wird. Ja, noch mehr;
1186 jener ersehnte »industrielle Konstitutionalismus«, für den man in
1187 Deutschland schwärmt und um deswillen die Anhänger der opportunistischen
1188 Taktik jedes schärfere Lüftchen von den stehenden
1189 Gewässern des allein-seligmachenden Parlamentarismus fernhalten
1191 der Revolution, zusammen mit dem politischen »Konstitutionalismus«
1192 geboren! Tatsächlich ist nicht bloß eine allgemeine Hebung des
1193 Lebensniveaus oder vielmehr des Kulturniveaus der Arbeiterschaft
1194 eingetreten. Das materielle Lebensniveau als eine dauernde Stufe
1195 des Wohlseins findet in der Revolution keinen Platz. Voller Widersprüche
1196 und Kontraste, bringt sie zugleich überraschende ökonomische
1197 Siege und brutalste Racheakte des Kapitals: heute den Achtstundentag,
1198 morgen Massenaussperrungen und nackten Hunger für Hunderttausende.
1199 Das Kostbarste, weil bleibende, bei diesem scharfen
1201 das sprungweise intellektuelle, kulturelle Wachstum des
1202 Proletariats, das eine unverbrüchliche Gewähr für sein weiteres
1203 unaufhaltsames Fortschreiten im wirtschaftlichen wie im politischen
1204 Kampfe bietet. Allein, nicht bloß das. Das Verhältnis selbst des
1205 Arbeiters zum Unternehmer wird umgestülpt; seit den Januar-Generalstreiks
1206 und den darauffolgenden Streiks des Jahres 1905
1208 abgeschafft. In den größten Fabriken aller wichtigsten Industriezentren
1209 hat sich wie von selbst die Einrichtung der Arbeiterausschüsse
1210 gebildet, mit denen allein der Unternehmer verhandelt, die über alle
1211 Konflikte entscheiden. Und schließlich noch mehr: Die anscheinend
1212 chaotischen Streiks und die »desorganisierte« revolutionäre Aktion
1213 nach dem Januar-Generalstreik wird zum Ausgangspunkt einer
1215 den bureaukratischen Schablonenmenschen, die an den Toren des
1216 deutschen Gewerkschaftsglücks grimmige Wacht halten, von weitem
1217 lachend eine Nase. Die festen Organisationen, die als unbedingte
1218 Voraussetzung für einen eventuellen Versuch zu einem eventuellen
1219 deutschen Massenstreik im voraus wie eine uneinnehmbare Festung
1220 umschanzt werden sollen, diese Organisationen werden in Rußland
1221 gerade umgekehrt aus dem Massenstreik geboren! Und während
1222 die Hüter der deutschen Gewerkschaften am meisten befürchten, dß
1223 <span class='pagenum'><a name="Page_23" id="Page_23">[ 23]</a></span>die Organisationen in einem revolutionären Wirbel wie kostbares
1224 Porzellan krachend in Stücke gehen, zeigt uns die russische Revolution
1225 das direkt umgekehrte Bild: aus dem Wirbel und Sturm, aus
1226 Feuer und Glut der Massenstreiks, der Strßenkämpfe steigen empor
1227 wie die Venus aus dem Meerschaum: frische, junge, kräftige und
1228 lebensfrohe ..... Gewerkschaften.</p>
1230 <p>Hier nur wieder ein kleines Beispiel, das aber für das gesamte
1231 Reich typisch ist. Auf der zweiten Konferenz der Gewerkschaften
1232 Rußlands, die Ende Februar 1906 in Petersburg stattgefunden hat,
1233 sagte der Vertreter der Petersburger Gewerkschaften in seinem
1234 Bericht über die Entwicklung der Gewerkschaftsorganisationen der
1235 Zarenhauptstadt:</p>
1238 hat, bildete einen Wendepunkt. Die Arbeiter aus der
1239 Masse haben an der Hand der Ereignisse gelernt, die Bedeutung
1240 der Organisation zu schätzen und begriffen, dß nur sie selbst diese
1242 Januarbewegung entsteht in Petersburg die erste Gewerkschaft:
1243 die der Buchdrucker. Die zur Ausarbeitung des Tarifs gewählte
1244 Kommission arbeitete die Statuten aus, und am 19. Juni begann
1245 die Gewerkschaft ihre Existenz. Ungefähr um dieselbe Zeit wurde
1246 die Gewerkschaft der Kontoristen und der Buchhalter ins Leben
1247 gerufen. Neben diesen Organisationen, die fast offen (legal)
1248 existieren, entstanden vom Januar bis Oktober 1905 halbgesetzliche
1250 der Apothekergehülfen und der Handelsangestellten. Unter den ungesetzlichen
1251 Gewerkschaften muß der Verein der Uhrmacher hervorgehoben
1252 werden, dessen erste geheime Sitzung am 24. April stattfand. Alle
1253 Versuche, eine allgemeine offene Versammlung einzuberufen, scheiterten
1254 an dem hartnäckigen Widerstand der Polizei und der Unternehmer
1255 in der Person der Handwerkskammer. Dieser Mißerfolg hat die
1256 Existenz der Gewerkschaft nicht verhindert. Sie hielt geheime
1258 von den Sitzungen der Vorstände der Gewerkschaft. Die Schneider-
1259 und Schneiderinnengewerkschaft wurde im Frühling des Jahres 1905
1260 in einer Versammlung im Walde gegründet, wo 70 Schneider anwesend
1261 waren. Nachdem die Frage der Gründung besprochen
1262 wurde, wählte man eine Kommission, die mit der Ausarbeitung des
1263 Statuts beauftragt wurde. Alle Versuche der Kommission, für die
1264 Gewerkschaft eine gesetzliche Existenz durchzusetzen, blieben erfolglos.
1265 Ihre Tätigkeit beschränkt sich auf die Agitation und Mitgliederwerbung
1266 in den einzelnen Werkstätten. Ein ähnliches Schicksal war
1267 der Schuhmachergewerkschaft beschieden. Im Juli wurde Nachts
1268 in einem Walde außerhalb der Stadt eine geheime Versammlung
1269 einberufen. Mehr als 100 Schuhmacher kamen zusammen; es wurde
1270 ein Referat über die Bedeutung der Gewerkschaften, über ihre
1271 Geschichte in Westeuropa und ihre Aufgaben in Rußland gehalten.
1272 Darauf ward beschlossen, eine Gewerkschaft zu gründen; 12 Mann
1273 wurden in eine Kommission gewählt, die das Statut ausarbeiten
1274 und eine allgemeine Schuhmacherversammlung einberufen sollte.
1275 <span class='pagenum'><a name="Page_24" id="Page_24">[ 24]</a></span>Das Statut wurde ausgearbeitet, aber es gelang vorläufig weder
1276 es zu drucken, noch eine allgemeine Versammlung einzuberufen.«</p>
1278 <p>Das waren die ersten schweren Anfänge. Dann kamen die
1279 Oktobertage, der zweite allgemeine Generalstreik, das Zarenmanifest
1280 des 30. Oktober und die kurze »Verfassungsperiode«. Mit Feuereifer
1281 stürzen sich die Arbeiter in die Wogen der politischen Freiheit, um
1282 sie sofort zum Organisationswerk zu benutzen. Neben tagtäglichen
1283 politischen Versammlungen, Debatten, Vereinsgründungen wird
1284 sofort der Ausbau der Gewerkschaften in Angriff genommen. Im
1286 Gewerkschaften. Alsbald wird ein »Zentralbureau«, d. h. ein Gewerkschaftskartell
1287 gegründet, es erscheinen verschiedene Gewerkschaftsblätter
1288 und seit dem November auch ein Zentralorgan: »Die Gewerkschaft«.
1289 Das, was im obigen über Petersburg berichtet wurde,
1290 trifft im großen und ganzen auf Moskau und Odessa, Kijew und
1291 Nikolajew, Saratow und Woronesch, Samara und Nischni-Nowgorod,
1293 auf Polen zu. Die Gewerkschaften einzelner Städte suchen Fühlung
1294 miteinander, es werden Konferenzen abgehalten. Das Ende der
1295 »Verfassungsperiode« und die Umkehr zur Reaktion im Dezember
1296 1905 macht zeitweilig auch ein Ende der offenen, breiten Tätigkeit
1297 der Gewerkschaften, bläst ihnen aber das Lebenslicht nicht aus. Sie
1298 wirken weiter im geheimen als Organisation und führen gleichzeitig
1299 ganz offen Lohnkämpfe. Es bildet sich ein eigenartiges Gemisch
1300 eines gesetzlichen und ungesetzlichen Zustandes des Gewerkschaftslebens
1301 aus, entsprechend der widerspruchsvollen revolutionären
1302 Situation. Aber mitten im Kampf wird das Organisationswerk
1303 mit aller Gründlichkeit, ja mit Pedanterie weiter ausgebaut. Die
1304 Gewerkschaften der Sozialdemokratie Polens und Litauens z. B.,
1305 die auf dem letzten Parteitag (im Juli 1906) durch fünf Delegierte
1307 Statuten, gedruckten Mitgliedsbüchlein, Klebemarken usw. versehen.
1308 Und dieselben Warschauer und Lodzer Bäcker und Schuhmacher,
1309 Metallarbeiter und Buchdrucker, die im Juni 1905 auf den
1310 Barrikaden standen und im Dezember nur auf eine Parole aus
1311 Petersburg zum Strßenkampf warteten, finden zwischen einem
1312 Massenstreik und dem anderen, zwischen Gefängnis und Aussperrung,
1313 unter dem Belagerungszustand Muße und heiligen Ernst, um ihre
1314 Gewerkschaftsstatuten eingehend und aufmerksam zu diskutieren. Ja,
1315 diese gestrigen und morgigen Barrikadenkämpfer haben mehr als
1316 einmal in Versammlungen ihren Leitern unbarmherzig den Kopf
1317 gewaschen und mit dem Austritt aus der Partei gedroht, weil die
1318 unglücklichen gewerkschaftlichen Mitgliedsbüchlein nicht rasch genug
1320 – gedruckt werden konnten. Dieser Eifer und dieser Ernst
1321 dauern bis zur Stunde fort. In den ersten zwei Wochen des Juli
1323 in Kostroma 6 Gewerkschaften, mehrere in Kijew, Poltawa, Smolensk,
1324 Tscherkassy, Proskurow – bis in die kleinsten Provinznester. In
1326 <span class='pagenum'><a name="Page_25" id="Page_25">[ 25]</a></span>wurde nach Entgegennahme der Berichte einzelner Gewerkschaftsdelegierten
1327 beschlossen: »Dß die Gewerkschaften ihre Mitglieder
1328 disziplinieren und von Strßenkrawallen zurückhalten sollen, weil
1329 der Moment für den Massenstreik als ungeeignet betrachtet wird.
1330 Angesichts möglicher Provokationen der Regierung sollen sie achtgeben,
1331 dß die Masse nicht auf die Strße hinausströmt. Endlich
1332 beschloß das Kartell, dß in der Zeit, wo eine Gewerkschaft einen
1333 Streik führt, die anderen sich von Lohnbewegungen zurückzuhalten
1334 haben.« Die meisten ökonomischen Kämpfe werden jetzt von den
1335 Gewerkschaften geleitet.<a name="FNanchor_2_2" id="FNanchor_2_2"></a><a href="#Footnote_2_2" class="fnanchor">[2]</a></p>
1337 <p>So hat der vom Januar-Generalstreik ausgehende große
1338 ökonomische Kampf, der von da an bis auf den heutigen Tag nicht
1339 aufhört, einen breiten Hintergrund der Revolution gebildet, aus dem
1340 sich in unaufhörlicher Wechselwirkung mit der politischen Agitation
1341 und den äußeren Ereignissen der Revolution immer wieder bald
1342 hier und da einzelne Explosionen, bald allgemeine, große Hauptaktionen
1343 des Proletariats erheben. So flammen auf diesem Hintergrund
1345 absoluter Generalstreik in <em class="gesperrt">Warschau</em> mit einer völlig friedlichen
1346 Massendemonstration, die in einem blutigen Renkontre der
1347 wehrlosen Menge mit den Soldaten endet. Im Juni führt in
1350 einiger Opfer der Soldateska, zu erneutem Renkontre mit dem
1352 in den ersten Barrikadenkampf im Zarenreiche übergeht. Im Juni
1353 gleichfalls explodiert im Odessaer Hafen aus einem kleinen Zwischenfall
1354 an Bord des Panzerschiffes »Potemkin« die erste große Matrosenrevolte
1355 der Schwarzmeerflotte, die sofort als Rückwirkung in
1356 <em class="gesperrt">Odessa</em> und <em class="gesperrt">Nikolajew</em> einen gewaltigen Massenstreik hervorruft.
1357 Als weiteres Echo folgen: der Massenstreik und Matrosenrevolten
1358 in <em class="gesperrt">Kronstadt</em>, <em class="gesperrt">Libau</em>, <em class="gesperrt">Wladiwostok</em>.</p>
1360 <p>In den Monat Oktober fällt das grandiose Experiment Petersburgs
1361 mit der Einführung des Achtstundentags. Der Rat der
1362 Arbeiterdelegierten beschließt, in Petersburg auf revolutionärem
1363 Wege den Achtstundentag durchzusetzen. Das heißt: an einem bestimmten
1364 Tage erklären sämtliche Arbeiter Petersburgs ihren Unternehmern,
1365 dß sie nicht gewillt sind, länger als acht Stunden täglich
1366 zu arbeiten und verlassen zur entsprechenden Stunde die Arbeitsräume.
1367 Die Idee gibt Anlß zu einer lebhaften Agitation, wird
1368 vom Proletariat mit Begeisterung aufgenommen und ausgeführt,
1369 wobei die größten Opfer nicht gescheut werden. So bedeutete zum
1370 Beispiel der Achtstundentag für die Textilarbeiter, die bis dahin
1371 elf Stunden und zwar bei Akkordlöhnen arbeiteten, einen enormen
1373 einer Woche herrscht in sämtlichen Fabriken und
1374 Werkstätten Petersburgs der Achtstundentag</em>, und
1375 der Jubel der Arbeiterschaft kennt keine Grenzen. Bald rüstet jedoch
1376 das anfangs verblüffte Unternehmertum zur Abwehr: es wird überall
1377 mit der Schließung der Fabriken gedroht. Ein Teil der Arbeiter
1378 läßt sich auf Verhandlungen ein und erringt hier den Zehn-, dort
1379 den Neunstundentag. Die Elite des Petersburger Proletariats jedoch,
1380 die Arbeiter der großen staatlichen Metallwerke bleiben unerschüttert
1382 einen Monat aufs Pflaster setzt. Durch diesen Abschluß spielt
1383 die Achtstundenbewegung in den allgemeinen Massenstreik des Dezember
1384 hinein, den die große Aussperrung in hohem Mße unterbunden
1385 hat.</p>
1387 <p>Inzwischen folgt aber im Oktober als Antwort auf das Bulyginsche
1388 Duma-Projekt der zweite gewaltigste allgemeine Massenstreik
1389 im gesamten Zarenreich, zu dem die Eisenbahner die Parole ausgeben.
1390 Diese zweite revolutionäre Hauptaktion des Proletariats trägt schon
1391 einen wesentlich anderen Charakter, als die erste im Januar. Das
1392 Element des politischen Bewußtseins spielt schon eine viel größere
1393 Rolle. Freilich war auch hier der erste Anlß zum Ausbruch des
1394 Massenstreiks ein untergeordneter und scheinbar zufälliger: der Konflikt
1395 der Eisenbahner mit der Verwaltung wegen der Pensionskasse.
1396 Allein die darauf erfolgte allgemeine Erhebung des Industrieproletariats
1397 wird vom klaren politischen Gedanken getragen. Der Prolog
1398 des Januarstreiks war ein Bittgang zum Zaren um politische Freiheit,
1399 die Losung des Oktoberstreiks lautete: Fort mit der konstitutionellen
1400 Komödie des Zarismus! Und Dank dem sofortigen Erfolg des
1401 Generalstreiks: dem Zarenmanifest vom 30. Oktober, fließt die Bewegung
1402 nicht nach innen zurück, wie im Januar, um erst die Anfänge
1403 des ökonomischen Klassenkampfes nachzuholen, sondern gießt sich nach
1404 außen in eine eifrige Betätigung der frisch eroberten politischen
1405 Freiheit über. Demonstrationen, Versammlungen, eine junge Presse,
1406 öffentliche Diskussionen und blutige Massacres als das Ende vom
1407 Liede, darauf neue Massenstreiks und Demonstration – das ist das
1408 stürmische Bild der November- und Dezembertage. Im November
1409 wird auf den Appell der Sozialdemokratie hin in Petersburg der erste
1410 demonstrative Massenstreik veranstaltet als Protestkundgebung gegen
1411 <span class='pagenum'><a name="Page_27" id="Page_27">[ 27]</a></span>die Bluttaten und die Verhängung des Belagerungszustandes in
1412 Livland und Polen. Die Gärung nach dem kurzen Verfassungstraum
1413 und dem grausamen Erwachen führt endlich im Dezember zum
1414 Ausbruch des dritten allgemeinen Massenstreiks im ganzen Zarenreich.
1415 Diesmal ist der Verlauf und der Ausgang wieder ein ganz anderer,
1416 wie in den beiden früheren Fällen. Die politische Aktion schlägt
1417 nicht mehr in eine ökonomische um, wie im Januar, sie erringt
1418 aber auch nicht mehr einen raschen Sieg, wie im Oktober. Die
1419 Versuche der zarischen Kamarilla mit der wirklichen politischen
1420 Freiheit werden nicht mehr gemacht und die revolutionäre Aktion
1421 stößt somit zum ersten Male in ihrer ganzen Breite auf die starre
1422 Mauer der physischen Gewalt des Absolutismus. Durch die logische
1423 innere Entwicklung der fortschreitenden Ereignisse schlägt der Massenstreik
1424 diesmal um in einen offenen Aufstand, einen bewaffneten
1425 Barrikaden- und Strßenkampf in Moskau. Die Moskauer Dezembertage
1426 schließen als der Höhepunkt der aufsteigenden Linie der
1427 politischen Aktion und der Massenstreikbewegung das erste arbeitsreiche
1428 Jahr der Revolution ab.</p>
1430 <p>Die Moskauer Ereignisse zeigen zugleich im kleinen Probebild
1431 die logische Entwicklung und die Zukunft der revolutionären Bewegung
1432 im ganzen: ihren unvermeidlichen Abschluß in einem allgemeinen
1433 offenen Aufstand, der aber seinerseits wieder nicht anders
1434 zu stande kommen kann, als durch die Schule einer Reihe vorbereitender
1435 partieller Aufstände, die eben deshalb vorläufig mit partiellen
1436 äußeren »Niederlagen« abschließen und, jeder einzeln betrachtet,
1440 Das Proletariat boykottiert aus kräftigem revolutionären
1441 Instinkt und klarer Erkenntnis der Lage die ganze zarisch-konstitutionelle
1442 Farçe, und den Vordergrund der politischen
1443 Bühne nimmt für einige Monate wieder der Liberalismus
1444 ein. Die Situation des Jahres 1904 kehrt anscheinend
1445 wieder: eine Periode des Redens tritt an Stelle des Handelns, und
1446 das Proletariat tritt für eine Zeitlang in den Schatten, um sich
1447 desto fleißiger dem gewerkschaftlichen Kampf und dem Organisationswerk
1448 zu widmen. Die Massenstreiks verstummen, während knatternde
1449 Raketen der liberalen Rethorik Tag für Tag abgefeuert werden.
1450 Schließlich rasselt der eiserne Vorhang plötzlich herunter, die Schauspieler
1451 werden auseinander gejagt, von den liberalen Raketen bleibt
1452 nur Rauch und Dunst übrig. Ein Versuch des Zentralkomitees
1453 der russischen Sozialdemokratie, als Demonstration für die Duma
1454 und für die Wiedereröffnung der Periode des liberalen Redens
1455 einen vierten Massenstreik in ganz Rußland hervorzurufen, fällt
1456 platt zu Boden. Die Rolle der politischen Massenstreiks allein ist
1458 Volksaufstand und Strßenkampf aber noch nicht herangereift. Die
1459 liberale Episode ist vorbei, die proletarische hat noch nicht wieder
1460 begonnen. Die Bühne bleibt vorläufig leer.</p>
1462 <div class="footnote"><p><a name="Footnote_2_2" id="Footnote_2_2"></a><a href="#FNanchor_2_2"><span class="label">[2]</span></a> In den zwei ersten Wochen des Juni 1906 allein wurden folgende Lohnkämpfe
1463 geführt: bei den Buchdruckern in <em class="gesperrt">Petersburg</em>, <em class="gesperrt">Moskau</em>, <em class="gesperrt">Odessa</em>,
1464 <em class="gesperrt">Minsk</em>, <em class="gesperrt">Wilna</em>, <em class="gesperrt">Saratow</em>, <em class="gesperrt">Mogilew</em>, <em class="gesperrt">Tambow</em> um den Achtstundentag
1465 und die Sonntagsruhe; ein Generalstreik der Seeleute in <em class="gesperrt">Odessa</em>, <em class="gesperrt">Nikolajew</em>,
1466 <em class="gesperrt">Kertsch</em>, <em class="gesperrt">Krim</em>, <em class="gesperrt">Kaukasus</em>, auf der <em class="gesperrt">Wolga</em>-Flotte, in <em class="gesperrt">Kronstadt</em>, in
1467 <em class="gesperrt">Warschau</em> und <em class="gesperrt">Plock</em> um die Anerkennung der Gewerkschaft und Freilassung
1468 der verhafteten Arbeiterdelegierten; bei den Hafenarbeitern in <em class="gesperrt">Saratow</em>,
1469 <em class="gesperrt">Nikolajew</em>, <em class="gesperrt">Zarizin</em>, <em class="gesperrt">Archangel</em>, <em class="gesperrt">Nischni-Nowgorod</em>, <em class="gesperrt">Rybinsk</em>. Die
1470 Bäcker streikten in <em class="gesperrt">Kijew</em>, <em class="gesperrt">Archangel</em>, <em class="gesperrt">Bialystock</em>, <em class="gesperrt">Wilna</em>, <em class="gesperrt">Odessa</em>,
1471 <em class="gesperrt">Charkow</em>, <em class="gesperrt">Brest-Litowsk</em>, <em class="gesperrt">Radom</em>, <em class="gesperrt">Tiflis</em>; die Landarbeiter in den
1472 Distrikten Werchne-Dneprowsk, Borisowsk, Simferopol, in den Gouvernements
1473 Podolsk, Tula, Kursk, in den Distrikten Koslow, Lipowetz, in Finnland, im
1474 Gouvernement Kijew, im Jelissawetgrader Distrikt. In mehreren Städten streikten
1477 Generalstreik der Kohlenarbeiter des ganzen Reviers. In anderen Städten ergriff
1479 alle</em> Gewerbezweige, so in Kijew, Petersburg, Warschau, Moskau, im ganzen
1480 Rayon Ivanowo-Wosnesensk. Zweck der Streiks überall: Verkürzung der Arbeitszeit,
1481 Sonntagsruhe, Lohnforderungen. <em class="gesperrt">Die meisten Streiks verliefen siegreich.</em>
1482 Es wird in den lokalen Berichten hervorgehoben, dass sie zum Teil Arbeiterschichten
1483 ergriffen, die sich zum ersten Male an einer Lohnbewegung beteiligten.</p></div>
1491 <p>Wir haben im vorigen in wenigen knappen Zügen die Geschichte
1492 der Massenstreiks in Rußland zu skizzieren gesucht. Schon ein
1493 flüchtiger Blick auf diese Geschichte zeigt uns ein Bild, das in keinem
1494 Strich demjenigen ähnelt, welches man sich bei der Diskussion in
1495 Deutschland gewöhnlich vom Massenstreik macht. Statt des starren
1496 und hohlen Schemas einer auf Beschluß der höchsten Instanzen mit
1497 Plan und Umsicht ausgeführten trocknen politischen »Aktion«, sehen
1498 wir ein Stück lebendiges Leben aus Fleisch und Blut, das sich gar
1499 nicht aus dem großen Rahmen der Revolution herausschneiden läßt,
1500 das durch tausend Adern mit dem ganzen Drum und Dran der
1501 Revolution verbunden ist.</p>
1503 <p>Der Massenstreik, wie ihn uns die russische Revolution zeigt,
1504 ist eine so wandelbare Erscheinung, dß er alle Phasen des politischen
1505 und ökonomischen Kampfes, alle Stadien und Momente der Revolution
1506 in sich spiegelt. Seine Anwendbarkeit, seine Wirkungskraft, seine
1508 neue, weite Perspektiven der Revolution, wo sie bereits in einen
1509 Engpß geraten schien, und er versagt, wo man auf ihn mit voller
1510 Sicherheit glaubt rechnen zu können. Er flutet bald wie eine breite
1511 Meereswoge über das ganze Reich, bald zerteilt er sich in ein Riesennetz
1512 dünner Ströme; bald sprudelt er aus dem Untergrunde wie
1513 ein frischer Quell, bald versickert er ganz im Boden. Politische und
1514 ökonomische Streiks, Massenstreiks und partielle Streiks, Demonstrationsstreiks
1515 und Kampfstreiks, Generalstreiks einzelner Branchen
1516 und Generalstreiks einzelner Städte, ruhige Lohnkämpfe und Strßenschlachten,
1517 Barrikadenkämpfe – alles das läuft durcheinander, nebeneinander,
1518 durchkreuzt sich, flutet ineinander über; es ist ein ewig
1519 bewegliches, wechselndes Meer von Erscheinungen. Und das Bewegungsgesetz
1520 dieser Erscheinungen wird klar: Es liegt nicht in dem
1521 Massenstreik selbst, nicht in seinen technischen Besonderheiten, sondern
1522 in dem politischen und sozialen Kräfteverhältnis der Revolution.
1523 Der Massenstreik ist bloß die Form des revolutionären Kampfes und
1524 jede Verschiebung im Verhältnis der streitenden Kräfte, in der Parteientwicklung
1525 und der Klassenscheidung, in der Position der Kontrerevolution,
1526 alles das beeinflußt sofort auf tausend unsichtbaren, kaum
1527 kontrollierbaren Wegen die Streikaktion. Dabei hört aber die Streikaktion
1528 selbst fast keinen Augenblick auf. Sie ändert bloß ihre Formen,
1529 ihre Ausdehnung, ihre Wirkung. Sie ist der lebendige Pulsschlag
1530 der Revolution und zugleich ihr mächtigstes Triebrad. Mit einem Wort:
1531 der Massenstreik, wie ihn uns die russische Revolution zeigt, ist nicht
1532 ein pfiffiges Mittel, ausgeklügelt zum Zwecke einer kräftigeren Wirkung
1534 der proletarischen Masse, die Erscheinungsform des
1537 <p>Daraus lassen sich für die Beurteilung des Massenstreikproblems
1538 einige allgemeine Gesichtspunkte ableiten.<span class='pagenum'><a name="Page_29" id="Page_29">[ 29]</a></span></p>
1541 Einzelhandlung zu denken. Der Massenstreik ist vielmehr die Bezeichnung,
1542 der Sammelbegriff einer ganzen jahrelangen, vielleicht jahrzehntelangen
1543 Periode des Klassenkampfes. Von den unzähligen verschiedensten
1544 Massenstreiks, die sich in Rußland seit vier Jahren abgespielt
1545 haben, pßt das Schema des Massenstreiks als eines rein politischen,
1546 nach Plan und Absicht hervorgerufenen und abgeschlossenen, kurzen
1547 Einzelaktes lediglich auf eine und zwar untergeordnete Spielart:
1548 auf den reinen Demonstrationsstreik. Im ganzen Verlauf der fünfjährigen
1549 Periode sehen wir in Rußland bloß einige wenige Demonstrationsstreiks,
1550 die sich notabene gewöhnlich nur auf einzelne Städte
1551 beschränken. So der jährliche Maifeier-Generalstreik in Warschau
1553 noch nicht in nennenswertem Umfange durch Arbeitsruhe gefeiert
1555 als Trauerfeier zu Ehren des hingerichteten Martin Kasprzak, im
1556 November 1905 in Petersburg als Protestkundgebung gegen die
1557 Erklärung des Belagerungszustandes in Polen und Livland, am
1559 Kohlenbecken, sowie zum Teil in einigen russischen Städten als
1560 Jahresfeier des Gedenktages des Petersburger Blutbades; ferner im
1561 Juli 1906 ein Generalstreik in Tiflis als Sympathiekundgebung für
1562 die vom Kriegsgericht wegen der Militärrevolte abgeurteilten
1563 Soldaten, endlich aus gleichem Anlß im September d. J. während
1564 der Verhandlung des Kriegsgerichts in Reval. Alle übrigen großen
1565 und partiellen Massenstreiks und Generalstreiks waren nicht
1566 Demonstrations- sondern Kampfstreiks, und als solche entstanden sie
1567 meistens spontan, jedesmal aus spezifischen lokalen zufälligen Anlässen,
1568 ohne Plan und Absicht und wuchsen sich mit elementarer
1569 Macht zu großen Bewegungen aus, wobei sie nicht einen »geordneten
1570 Rückzug« antraten, sondern sich bald in ökonomischen Kampf verwandelten,
1571 bald in Strßenkampf, bald fielen sie von selbst zusammen.</p>
1573 <p>In diesem allgemeinen Bilde spielen die reinen politischen Demonstrationsstreiks
1574 eine ganz untergeordnete Rolle – die einzelner
1575 kleiner Punkte mitten unter gewaltigen Flächen. Dabei läßt sich,
1576 zeitlich betrachtet, folgender Zug wahrnehmen: Die Demonstrationsstreiks,
1577 die im Unterschied von den Kampfstreiks das größte Mß
1578 von Parteidisziplin, bewußter Leitung und politischem Gedanken
1579 aufweisen, also nach dem Schema als die höchste und reifste Form
1580 der Massenstreiks erscheinen müßten, spielen in Wahrheit die größte
1583 eines so staunenswert durchgeführten Beschlusses der Sozialdemokratie,
1584 für die proletarische Bewegung in Polen ein Ereignis von
1585 großer Tragweite. Ebenso hat der Sympathiestreik im November
1586 des gleichen Jahres in Petersburg als die erste Probe einer
1587 bewußten planmäßigen Massenaktion in Rußland großen Eindruck
1588 gemacht. Genau so wird auch der »Probemassenstreik« der Hamburger
1590 in der Geschichte der künftigen deutschen Massenstreiks spielen, als
1591 <span class='pagenum'><a name="Page_30" id="Page_30">[ 30]</a></span>der erste frische Versuch mit der soviel umstrittenen Waffe und
1592 zwar als ein so wohlgelungener, von der Kampfstimmung und
1593 Kampffreude der Hamburger Arbeiterschaft so überzeugend sprechender
1594 Versuch. Und ebenso sicher wird die Periode der Massenstreiks in
1595 Deutschland, wenn sie einmal im Ernst begonnen hat, von selbst zu
1596 einer wirklichen allgemeinen Arbeitsruhe am 1. Mai führen. Die
1597 Maifeier dürfte naturgemäß als die erste große Demonstration im
1598 Zeichen der Massenkämpfe zu Ehren kommen. In diesem Sinne hat
1599 der »lahme Gaul«, wie die Maifeier auf dem Kölner Gewerkschaftskongreß
1600 genannt wurde, noch eine große Zukunft und eine wichtige
1601 Rolle im proletarischen Klassenkampfe in Deutschland vor sich.
1602 Allein mit der Entwicklung der ernsten revolutionären Kämpfe
1603 nimmt die Bedeutung solcher Demonstrationen rasch ab. Gerade
1604 dieselben Momente, die das Zustandekommen der Demonstrationsstreiks
1605 nach vorgefßtem Plan und auf die Parole der Parteien hin
1606 objektiv ermöglichen: das Wachstum des politischen Bewußtseins
1607 und der Schulung des Proletariats, machen diese Art von Massenstreiks
1608 unmöglich: heute will das Proletariat in Rußland, und zwar
1609 gerade die tüchtigste Vorhut der Masse, von Demonstrationsstreiks
1610 nichts wissen; die Arbeiter verstehen keinen Spß mehr und wollen
1611 nunmehr bloß an ernsten Kampf mit allen seinen Konsequenzen
1612 denken. Und wenn in dem ersten großen Massenstreik im Januar 1905
1613 das demonstrative Element, zwar nicht in absichtlicher, sondern mehr
1614 in instinktiver, spontaner Form, noch eine große Rolle spielte, so
1615 scheiterte umgekehrt der Versuch des Zentralkomitees der russischen
1616 Sozialdemokratie, im August einen Massenstreik als Kundgebung für
1617 die aufgelöste Duma hervorzurufen, unter anderem an der entschiedenen
1618 Abneigung des geschulten Proletariats gegen schwächliche
1619 Halbaktionen und bloße Demonstrationen.</p>
1622 demonstrativen Streiks den Kampfstreik ins Auge fassen, wie er im
1623 heutigen Rußland den eigentlichen Träger der proletarischen Aktion
1624 darstellt, so fällt weiter ins Auge, dß darin das ökonomische und
1625 das politische Moment unmöglich voneinander zu trennen sind.
1626 Auch hier weicht die Wirklichkeit von dem theoretischen Schema weit
1627 ab, und die pedantische Vorstellung, in der der reine politische
1628 Massenstreik logisch von dem gewerkschaftlichen Generalstreik als die
1629 reifste und höchste Stufe abgeleitet, aber zugleich klar auseinandergehalten
1630 wird, ist von der Erfahrung der russischen Revolution
1631 gründlich widerlegt. Dies äußert sich nicht bloß geschichtlich darin,
1632 dß die Massenstreiks, von jenem ersten großen Lohnkampf der
1634 großen Massenstreik im Dezember 1905, ganz unmerklich aus
1636 die Grenze zwischen beiden zu ziehen. Auch jeder einzelne von den
1637 großen Massenstreiks wiederholt sozusagen im kleinen die allgemeine
1638 Geschichte der russischen Massenstreiks und beginnt mit einem rein
1639 ökonomischen oder jedenfalls partiellen gewerkschaftlichen Konflikt,
1640 um die Stufenleiter bis zur politischen Kundgebung zu durchlaufen.
1642 <span class='pagenum'><a name="Page_31" id="Page_31">[ 31]</a></span>entstand, wie wir gesehen, in Baku aus einem Konflikt infolge der
1643 Mßregelung Arbeitsloser, in Rostow aus Lohndifferenzen in den
1644 Eisenbahnwerkstätten, in Tiflis aus einem Kampf der Handelsangestellten
1645 um die Verkürzung der Arbeitszeit, in Odessa aus einem
1646 Lohnkampf in einer einzelnen kleinen Fabrik. Der Januar-Massenstreik
1647 1905 entwickelt sich aus dem internen Konflikt in den Putilow-Werken,
1648 der Oktoberstreik aus dem Kampf der Eisenbahner um
1649 die Pensionskasse, der Dezemberstreik endlich aus dem Kampf
1650 der Post- und Telegraphenangestellten um das Koalitionsrecht. Der
1651 Fortschritt der Bewegung im ganzen äußert sich nicht darin, dß
1652 das ökonomische Anfangsstadium ausfällt, sondern vielmehr in der
1653 Rapidität, womit die Stufenleiter zur politischen Kundgebung durchlaufen
1654 wird und in der Extremität des Punktes, bis zu dem sich
1655 der Massenstreik voranbewegt.</p>
1657 <p>Allein die Bewegung im ganzen geht nicht bloß nach der
1658 Richtung vom ökonomischen zum politischen Kampf, sondern auch
1659 umgekehrt. Jede von den großen politischen Massenaktionen schlägt,
1660 nachdem sie ihren politischen Höhepunkt erreicht hat, in einen ganzen
1661 Wust ökonomischer Streiks um. Und dies bezieht sich wieder nicht
1662 bloß auf jeden einzelnen von den großen Massenstreiks, sondern
1663 auch auf die Revolution im ganzen. Mit der Verbreitung, Klärung
1664 und Potenzierung des politischen Kampfes tritt nicht bloß der ökonomische
1665 Kampf nicht zurück, sondern er verbreitet sich, organisiert
1666 sich und potenziert sich seinerseits in gleichem Schritt. Es besteht
1669 <p>Jeder neue Anlauf und neue Sieg des politischen Kampfes verwandelt
1670 sich in einen mächtigen Anstoß für den wirtschaftlichen Kampf,
1671 indem er zugleich seine äußeren Möglichkeiten erweitert und den
1672 inneren Antrieb der Arbeiter, ihre Lage zu bessern, ihre Kampflust
1673 erhöht. Nach jeder schäumenden Welle der politischen Aktion bleibt
1674 ein befruchtender Niederschlag zurück, aus dem sofort tausendfältige
1675 Halme des ökonomischen Kampfes emporschießen. Und umgekehrt.
1677 Kapital hält die Kampfenergie in allen politischen Pausen wach, er
1678 bildet sozusagen das ständige frische Reservoir der proletarischen
1679 Klassenkraft, aus dem der politische Kampf immer von neuem seine
1680 Macht hervorholt, und zugleich führt das unermüdliche ökonomische
1681 Bohren des Proletariats alle Augenblicke bald hier, bald dort zu
1682 einzelnen scharfen Konflikten, aus denen unversehens politische Konflikte
1683 auf großem Mßstab explodieren.</p>
1686 von einem politischen Knotenpunkt zum andern, der politische Kampf
1687 ist die periodische Befruchtung des Bodens für den ökonomischen
1688 Kampf. Ursache und Wirkung wechseln hier alle Augenblicke ihre
1689 Stellen, und so bilden das ökonomische und das politische Moment
1690 in der Massenstreikperiode, weit entfernt, sich reinlich zu scheiden
1691 oder gar auszuschließen, wie es das pedantische Schema will, vielmehr
1692 nur zwei ineinandergeschlungene Seiten des proletarischen
1694 Massenstreik. Wenn die spintisierende Theorie, um zu dem »reinen
1695 <span class='pagenum'><a name="Page_32" id="Page_32">[ 32]</a></span>politischen Massenstreik« zu gelangen, eine künstliche logische Sektion
1696 an dem Massenstreik vornimmt, so wird bei diesem Sezieren, wie
1697 bei jedem anderen, die Erscheinung nicht in ihrem lebendigen Wesen
1701 Massenstreik von der Revolution unzertrennlich ist. Die Geschichte
1702 der russischen Massenstreiks das ist die Geschichte der russischen
1703 Revolution. Wenn freilich die Vertreter unseres deutschen Opportunismus
1704 von »Revolution« hören, so denken sie sofort an Blutvergießen,
1705 Strßenschlachten, an Pulver und Blei, und der logische
1706 Schluß daraus ist: der Massenstreik führt unvermeidlich zur
1708 wir in Rußland, dß beinahe jeder Massenstreik im letzten Schluß
1709 auf ein Renkontre mit den bewaffneten Hütern der zarischen Ordnung
1710 hinausläuft; darin sind die sogenannten politischen Streiks den
1712 ist etwas anderes und etwas mehr als Blutvergießen. Im Unterschied
1713 von der polizeilichen Auffassung, die die Revolution ausschließlich
1714 vom Standpunkte der Strßenunruhen und Krawalle, d. h.
1715 vom Standpunkte der »Unordnung« ins Auge fßt, erblickt die
1716 Auffassung des wissenschaftlichen Sozialismus in der Revolution
1717 vor allem eine tiefgehende innere Umwälzung in den sozialen
1718 Klassenverhältnissen. Und von diesem Standpunkt besteht zwischen
1719 Revolution und Massenstreik in Rußland auch noch ein ganz anderer
1720 Zusammenhang als der von der trivialen Wahrnehmung konstatierte,
1723 <p>Wir haben oben den inneren Mechanismus der russischen
1724 Massenstreiks gesehen, der auf der unaufhörlichen Wechselwirkung
1725 des politischen und des ökonomischen Kampfes beruht. Aber gerade
1726 diese Wechselwirkung ist bedingt durch die Revolutionsperiode. Nur
1727 in der Gewitterluft der revolutionären Periode vermag sich nämlich
1728 jeder partielle kleine Konflikt zwischen Arbeit und Kapital zu einer
1729 allgemeinen Explosion auszuwachsen. In Deutschland passieren
1730 jährlich und täglich die heftigsten, brutalsten Zusammenstöße zwischen
1731 Arbeitern und Unternehmern, ohne dß der Kampf die Schranken
1732 der betreffenden einzelnen Branche oder der einzelnen Stadt, ja
1733 Fabrik überspringt. Mßregelungen organisierter Arbeiter wie in
1734 Petersburg, Arbeitslosigkeit wie in Baku, Lohnkonflikte wie in Odessa,
1735 Kämpfe um das Koalitionsrecht wie in Moskau sind in Deutschland
1736 auf der Tagesordnung. Kein einziger dieser Fälle schlägt jedoch in
1737 eine gemeinsame Klassenaktion um. Und wenn sie sich selbst zu
1738 einzelnen Massenstreiks auswachsen, die zweifellos einen politischen
1739 Anstrich haben, so entzünden sie auch dann noch kein allgemeines
1740 Gewitter. Der Generalstreik der holländischen Eisenbahner, der trotz
1741 wärmster Sympathien mitten in völliger Unbeweglichkeit des Proletariats
1742 im Lande verblutete, liefert einen frappanten Beweis dafür.</p>
1744 <p>Und umgekehrt, nur in der Revolutionsperiode, wo die sozialen
1745 Fundamente und die Mauern der Klassengesellschaft aufgelockert und
1746 in ständiger Verschiebung begriffen sind, vermag jede politische
1747 Klassenaktion des Proletariats in wenigen Stunden ganze, bis dahin
1748 <span class='pagenum'><a name="Page_33" id="Page_33">[ 33]</a></span>unberührte Schichten der Arbeiterschaft aus der Unbeweglichkeit zu
1749 reißen, was sich sofort naturgemäß in einem stürmischen ökonomischen
1750 Kampf äußert. Der plötzlich durch den elektrischen Schlag einer
1751 politischen Aktion wachgerüttelte Arbeiter greift im nächsten Augenblick
1752 vor allem zu dem nächstliegenden: zur Abwehr gegen sein
1753 ökonomisches Sklavenverhältnis; die stürmische Geste des politischen
1754 Kampfes läßt ihn plötzlich mit ungeahnter Intensität die Schwere
1755 und den Druck seiner ökonomischen Ketten fühlen. Und während
1756 z. B. der heftigste politische Kampf in Deutschland: der Wahlkampf
1757 oder der parlamentarische Kampf um den Zolltarif kaum einen vernehmbaren
1758 direkten Einfluß auf den Verlauf und die Intensität der
1759 gleichzeitig in Deutschland geführten Lohnkämpfe ausübt, äußert sich
1760 jede politische Aktion des Proletariats in Rußland sofort in der
1761 Erweiterung und Vertiefung der Fläche des wirtschaftlichen Kampfes.</p>
1763 <p>So schafft also die Revolution erst die sozialen Bedingungen,
1764 in denen jenes unmittelbare Umschlagen des ökonomischen Kampfes
1766 wird, das im Massenstreik seinen Ausdruck findet. Und wenn das
1767 vulgäre Schema den Zusammenhang zwischen Massenstreik und
1768 Revolution nur in den blutigen Strßen-Renkontres erblickt, mit denen
1769 die Massenstreiks abschließen, so zeigt uns ein etwas tieferer Blick
1771 in Wirklichkeit produziert nicht der Massenstreik die Revolution,
1772 sondern die Revolution produziert den Massenstreik.</p>
1775 die Frage der bewußten Leitung und der Initiative bei dem Massenstreik
1776 Aufschluß zu bekommen. Wenn der Massenstreik nicht einen
1777 einzelnen Akt, sondern eine ganze Periode des Klassenkampfes bedeutet,
1778 und wenn diese Periode mit einer Revolutionsperiode
1779 identisch ist, so ist es klar, dß der Massenstreik nicht aus freien
1780 Stücken hervorgerufen werden kann, auch wenn der Entschluß dazu
1781 von der höchsten Instanz der stärksten sozialdemokratischen Partei
1782 ausgehen mag. Solange die Sozialdemokratie es nicht in ihrer
1783 Hand hat, nach eigenem Ermessen Revolutionen zu inszenieren und
1784 abzusagen, genügt auch nicht die größte Begeisterung und Ungeduld
1785 der sozialdemokratischen Truppen dazu, eine wirkliche Periode der
1786 Massenstreiks als eine lebendige mächtige Volksbewegung ins Leben
1787 zu rufen. Auf Grund der Entschlossenheit einer Parteileitung und
1788 der Parteidisziplin der sozialdemokratischen Arbeiterschaft kann man
1789 wohl eine einmalige kurze Demonstration veranstalten, wie der
1790 schwedische Massenstreik oder die jüngsten österreichischen oder auch
1791 der Hamburger Massenstreik vom 17. Januar. Diese Demonstrationen
1792 unterscheiden sich aber von einer wirklichen Periode revolutionärer
1793 Massenstreiks genau so, wie sich die bekannten Flottendemonstrationen
1794 in fremden Häfen bei gespannten diplomatischen Beziehungen von
1795 einem Seekrieg unterscheiden. Ein aus lauter Disziplin und Begeisterung
1796 geborener Massenstreik wird im besten Falle als eine
1797 Episode, als ein Symptom der Kampfstimmung der Arbeiterschaft
1798 eine Rolle spielen, worauf die Verhältnisse aber in den ruhigen
1799 Alltag zurückfallen. Freilich fallen auch während der Revolution
1800 <span class='pagenum'><a name="Page_34" id="Page_34">[ 34]</a></span>die Massenstreiks nicht ganz vom Himmel. Sie müssen so oder
1801 anders von den Arbeitern gemacht werden. Der Entschluß und
1802 Beschluß der Arbeiterschaft spielt auch dabei eine Rolle, und zwar
1803 kommt die Initiative sowie die weitere Leitung natürlich dem
1804 organisierten und aufgeklärtesten sozialdemokratischen Kern des
1805 Proletariats zu. Allein diese Initiative und diese Leitung haben
1806 einen Spielraum meistens nur in Anwendung auf die einzelnen
1807 Akte, einzelnen Streiks, wenn die revolutionäre Periode bereits vorhanden
1808 ist, und zwar meistens in den Grenzen einer einzelnen Stadt.
1809 So hat z. B., wie wir gesehen, die Sozialdemokratie mehrmals
1810 direkt die Losung zum Massenstreik in Baku, in Warschau, in Lodz,
1811 in Petersburg mit Erfolg gegeben. Dasselbe gelingt schon viel
1812 weniger in Anwendung auf allgemeine Bewegungen des gesamten
1813 Proletariats. Ferner sind dabei der Initiative und der bewußten
1814 Leitung ganz bestimmte Schranken gesteckt. Gerade während der
1815 Revolution ist es für irgend ein leitendes Organ der proletarischen
1816 Bewegung äußerst schwer, vorauszusehen und zu berechnen, welcher
1817 Anlß und welche Momente zu Explosionen führen können und
1818 welche nicht. Auch hier besteht die Initiative und Leitung nicht in
1819 dem Kommandieren aus freien Stücken, sondern in der möglichst
1820 geschickten Anpassung an die Situation und möglichst engen Fühlung
1821 mit den Stimmungen der Masse. Das Element des Spontanen
1822 spielt, wie wir gesehen, in allen russischen Massenstreiks ohne Ausnahme
1823 eine große Rolle, sei es als treibendes oder als hemmendes
1824 Element. Dies rührt aber nicht daher, weil in Rußland die Sozialdemokratie
1825 noch jung oder schwach ist, sondern daher, weil bei jedem
1826 einzelnen Akt des Kampfes so viele unübersehbare ökonomische,
1827 politische und soziale, allgemeine und lokale, materielle und psychische
1828 Momente mitwirken, dß kein einziger Akt sich wie ein Rechenexempel
1829 bestimmen und abwickeln läßt. Die Revolution ist, auch wenn
1830 in ihr das Proletariat mit der Sozialdemokratie an der Spitze die
1831 führende Rolle spielt, nicht ein Manöver des Proletariats im
1832 freien Felde, sondern es ist ein Kampf mitten im unaufhörlichen
1833 Krachen, Zerbröckeln, Verschieben aller sozialen Fundamente. Kurz,
1834 in den Massenstreiks in Rußland spielt das Element des Spontanen
1835 eine so vorherrschende Rolle, nicht weil das russische Proletariat
1836 »ungeschult« ist, sondern weil sich Revolutionen nicht schulmeistern
1837 lassen.</p>
1839 <p>Anderseits aber sehen wir in Rußland, dß dieselbe Revolution,
1840 die der Sozialdemokratie das Kommando über den Massenstreik so
1841 sehr erschwert und ihr alle Augenblicke launig das Dirigentenstöckchen
1842 aus der Hand schlägt oder in die Hand drückt, dß sie dafür selbst
1843 gerade alle jene Schwierigkeiten der Massenstreiks löst, die im
1844 theoretischen Schema der deutschen Diskussion als die Hauptsorgen
1845 der »Leitung« behandelt werden: die Frage der »Verproviantierung«,
1846 der »Kostendeckung« und der »Opfer«. Freilich, sie löst sie durchaus
1847 nicht in dem Sinne, wie man es bei einer ruhigen, vertraulichen
1848 Konferenz zwischen den leitenden Oberinstanzen der Arbeiterbewegung
1849 mit dem Bleistift in der Hand regelt. Die »Regelung« all dieser
1850 Fragen besteht darin, dß die Revolution eben so enorme Volksmassen<span class='pagenum'><a name="Page_35" id="Page_35">[ 35]</a></span>
1851 auf die Bühne bringt, dß jede Berechnung und Regelung der
1852 Kosten ihrer Bewegung, wie man die Kosten eines Zivilprozesses
1853 im voraus aufzeichnet, als ein ganz hoffnungsloses Unternehmen
1854 erscheint. Gewiß suchen auch die leitenden Organisationen in
1855 Rußland die direkten Opfer des Kampfes nach Kräften zu unterstützen.
1856 So wurden z. B. die tapferen Opfer der Riesenaussperrung
1857 in Petersburg infolge der Achtstundenkampagne wochenlang
1858 unterstützt. Allein alle diese Mßnahmen sind in der enormen
1859 Bilanz der Revolution ein Tropfen im Meere. Mit dem Augenblick,
1860 wo eine wirkliche ernste Massenstreikperiode beginnt, verwandeln
1861 sich alle »Kostenberechnungen« in das Vorhaben, den Ozean mit
1862 einem Wasserglas auszuschöpfen. Es ist nämlich ein Ozean furchtbarer
1863 Entbehrungen und Leiden, durch den jede Revolution für die
1864 Proletariermasse erkauft wird. Und die Lösung, die eine revolutionäre
1865 Periode dieser scheinbar unüberwindlichen Schwierigkeit gibt, besteht
1866 darin, dß sie zugleich eine so gewaltige Summe von Massenidealismus
1867 auslöst, bei der die Masse gegen die schärfsten Leiden
1868 unempfindlich wird. Mit der Psychologie eines Gewerkschaftlers,
1869 der sich auf keine Arbeitsruhe bei der Maifeier einläßt, bevor ihm
1870 eine genau bestimmte Unterstützung für den Fall seiner Mßregelung
1871 im voraus zugesichert wird, läßt sich weder Revolution noch Massenstreik
1872 machen. Aber im Sturm der revolutionären Periode verwandelt
1873 sich eben der Proletarier aus einem Unterstützung heischenden
1874 vorsorglichen Familienvater in einen »Revolutionsromantiker«, für
1875 den sogar das höchste Gut, nämlich das Leben, geschweige das
1876 materielle Wohlsein, im Vergleich mit den Kampfidealen geringen
1877 Wert besitzt.</p>
1879 <p>Wenn aber die Leitung der Massenstreiks im Sinne des Kommandos
1880 über ihre Entstehung und im Sinne der Berechnung und
1881 Deckung ihrer Kosten Sache der revolutionären Periode selbst ist, so
1882 kommt dafür die Leitung bei Massenstreiks in einem ganz anderen
1883 Sinne der Sozialdemokratie und ihren führenden Organen zu. Statt
1884 sich mit der technischen Seite, mit dem Mechanismus der
1885 Massenstreiks fremden Kopf zu zerbrechen, ist die Sozialdemokratie
1886 berufen, die <em class="gesperrt">politische</em> Leitung auch mitten in der Revolutionsperiode
1887 zu übernehmen. Die Parole, die Richtung dem Kampfe zu
1889 jeder Phase und in jedem Moment des Kampfes die ganze Summe
1890 der vorhandenen und bereits ausgelösten, betätigten Macht des
1891 Proletariats realisiert wird und in der Kampfstellung der Partei
1892 zum Ausdruck kommt, dß die Taktik der Sozialdemokratie nach ihrer
1894 Kräfteverhältnisses steht, sondern vielmehr diesem Verhältnis vorauseilt,
1895 das ist die wichtigste Aufgabe der »Leitung« in der Periode
1896 der Massenstreiks. Und diese Leitung schlägt von selbst gewissermßen
1897 in technische Leitung um. Eine konsequente, entschlossene, vorwärtsstrebende
1898 Taktik der Sozialdemokratie ruft in der Masse das Gefühl
1899 der Sicherheit, des Selbstvertrauens und der Kampflust hervor; eine
1900 schwankende, schwächliche, auf der Unterschätzung des Proletariats
1901 basierte Taktik wirkt auf die Masse lähmend und verwirrend.<span class='pagenum'><a name="Page_36" id="Page_36">[ 36]</a></span>
1902 Im ersteren Falle brechen Massenstreiks »von selbst« und immer
1903 »rechtzeitig« aus, im zweiten bleiben mitunter direkte Aufforderungen
1904 der Leitung zum Massenstreik erfolglos. Und für beides liefert die
1905 russische Revolution sprechende Beispiele.</p>
1913 <p>Es fragt sich nun, wie weit alte Lehren, die man aus den
1914 russischen Massenstreiks ziehen kann, auf Deutschland passen. Die
1915 sozialen und politischen Verhältnisse, die Geschichte und der Stand
1916 der Arbeiterbewegung sind in Deutschland und in Rußland völlig
1917 verschieden. Auf den ersten Blick mögen auch die oben aufgezeichneten
1918 inneren Gesetze der russischen Massenstreiks lediglich als das
1919 Produkt spezifisch russischer Verhältnisse erscheinen, die für das
1920 deutsche Proletariat gar nicht in Betracht kommen. Zwischen dem
1921 politischen und ökonomischen Kampf in der russischen Revolution
1922 besteht der engste innere Zusammenhang; ihre Einheit kommt in der
1923 Periode der Massenstreiks zum Ausdruck. Aber ist das nicht eine
1924 einfache Folge des russischen Absolutismus? In einem Staate,
1925 wo jede Form und jede Äußerung der Arbeiterbewegung verboten,
1926 wo der einfachste Streik ein politisches Verbrechen ist,
1927 muß auch logischerweise jeder ökonomische Kampf zum politischen
1928 werden.</p>
1930 <p>Ferner, wenn umgekehrt gleich der erste Ausbruch der politischen
1931 Revolution eine allgemeine Abrechnung der russischen Arbeiterschaft
1932 mit dem Unternehmertum nach sich gezogen hat, so ist das wiederum
1933 die einfache Folge des Umstandes, dß der russische Arbeiter bis
1934 dahin auf dem tiefsten Niveau der Lebenshaltung stand und überhaupt
1935 noch niemals einen regelmäßigen ökonomischen Kampf um die
1936 Besserung seiner Lage geführt hatte. Das Proletariat in Rußland
1937 mußte sich gewissermßen aus dem allergröbsten erst herausarbeiten,
1938 was Wunder, dß es dazu mit jugendlichem Wagemut griff, sobald
1939 die Revolution den ersten frischen Hauch in die Stickluft des
1940 Absolutismus hineingebracht hatte. Und endlich erklärt sich der
1941 stürmische revolutionäre Verlauf der russischen Massenstreiks, sowie
1942 ihr vorwiegend spontaner, elementarer Charakter einerseits aus der
1943 politischen Zurückgebliebenheit Rußlands, aus der Notwendigkeit,
1944 erst den orientalischen Despotismus zu stürzen, anderseits aus dem
1945 Mangel an Organisation und Schulung des russischen Proletariats.
1946 In einem Lande, wo die Arbeiterklasse 80 Jahre Erfahrung im
1947 politischen Leben, eine drei Millionen starke sozialdemokratische
1948 Partei und eineinviertel Million gewerkschaftlich organisierte Kerntruppen
1949 hat, kann der politische Kampf, können die Massenstreiks
1950 unmöglich denselben stürmischen und elementaren Charakter annehmen
1951 wie in einem halbbarbarischen Staate, der erst den Sprung aus
1952 dem Mittelalter in die neuzeitliche bürgerliche Ordnung macht.
1953 Dies die landläufige Vorstellung bei denjenigen, die den Reifegrad
1954 der gesellschaftlichen Verhältnisse eines Landes aus dem Wortlaut
1955 seiner geschriebenen Gesetze ablesen wollen.<span class='pagenum'><a name="Page_37" id="Page_37">[ 37]</a></span></p>
1957 <p>Untersuchen wir die Fragen nach der Reihe. Zunächst ist es
1958 verkehrt, den Beginn des ökonomischen Kampfes in Rußland erst
1959 von dem Ausbruch der Revolution zu datieren. Tatsächlich waren
1960 die Streiks, die Lohnkämpfe im eigentlichen Rußland seit Anfang
1961 der neunziger Jahre, in Russisch-Polen sogar seit Ende der
1962 achtziger Jahre, immer mehr auf der Tagesordnung und hatten
1963 sich zuletzt das faktische Bürgerrecht erworben. Freilich zogen sie
1964 häufig brutale polizeiliche Mßregelungen nach sich, gehörten aber
1965 trotzdem zu den alltäglichen Erscheinungen. Bestand doch z. B. in
1966 Warschau und Lodz bereits im Jahre 1891 je eine bedeutende
1967 allgemeine Streikkasse, und die Schwärmerei für die Gewerkschaften
1968 hat in diesen Jahren in Polen für kurze Zeit sogar jene »ökonomischen«
1969 Illusionen geschaffen, die in Petersburg und im übrigen Rußland
1970 einige Jahre später grassierten.<a name="FNanchor_3_3" id="FNanchor_3_3"></a><a href="#Footnote_3_3" class="fnanchor">[3]</a></p>
1973 der Proletarier im Zarenreich vor der Revolution durchweg auf
1974 dem Lebensniveau eines Paupers gestanden. Gerade die jetzt im
1975 ökonomischen wie im politischen Kampfe tätigste und eifrigste Schicht
1976 der großindustriellen großstädtischen Arbeiter stand in bezug auf ihr
1977 materielles Lebensniveau kaum viel tiefer als die entsprechende
1978 Schicht des deutschen Proletariats, und in manchen Berufen kann
1980 als in Deutschland. Auch in Bezug auf die Arbeitszeit wird der
1981 Unterschied zwischen den großindustriellen Betrieben hier und dort
1982 kaum ein bedeutender sein. Somit sind die Vorstellungen, die mit
1983 einem vermeintlichen materiellen und kulturellen Helotentum der
1984 russischen Arbeiterschaft rechnen, ziemlich aus der Luft gegriffen.
1985 <span class='pagenum'><a name="Page_38" id="Page_38">[ 38]</a></span>Dieser Vorstellung müßte bei einigem Nachdenken schon die Tatsache
1986 der Revolution selbst und der hervorragenden Rolle des Proletariats
1987 in ihr widersprechen. Mit Paupers werden keine Revolutionen von
1988 dieser politischen Reife und Gedankenklarheit gemacht, und der im
1989 Vordertreffen des Kampfes stehende Petersburger und Warschauer,
1990 Moskauer und Odessaer Industriearbeiter ist kulturell und geistig
1991 dem westeuropäischen Typus viel näher, als sich diejenigen denken,
1992 die als die einzige und unentbehrliche Kulturschule des Proletariats
1993 den bürgerlichen Parlamentarismus und die regelrechte Gewerkschaftspraxis
1994 betrachten. Die moderne großkapitalistische Entwicklung
1995 Rußlands und die anderthalbjahrzehnte lange geistige Einwirkung
1996 der Sozialdemokratie, die den ökonomischen Kampf ermutigte und
1997 leitete, haben auch ohne die äußeren Garantien der bürgerlichen
1998 Rechtsordnung ein tüchtiges Stück Kulturarbeit geleistet.</p>
2000 <p>Der Kontrast wird aber noch geringer, wenn wir auf der
2001 anderen Seite etwas tiefer in das tatsächliche Lebensniveau der
2003 Massenstreiks haben in Rußland vom ersten Augenblick die breitesten
2004 Schichten des Proletariats aufgerüttelt und in fieberhaften ökonomischen
2005 Kampf gestürzt. Allein, gibt es in Deutschland nicht ganze
2006 dunkle Winkel im Dasein der Arbeiterschaft, wo das wärmende Licht
2007 der Gewerkschaften bis jetzt sehr spärlich eindringt, ganze große
2008 Schichten, die bis jetzt gar nicht oder vergeblich auf dem Wege alltäglicher
2009 Lohnkämpfe sich aus dem sozialen Helotentum emporzuheben
2011 in dem ruhigen Werkeltag, in der kalten Atmosphäre des parlamentarischen
2012 Einerlei Deutschlands – wie in den anderen Ländern auch,
2013 selbst im Dorado der Gewerkschaften, in England – äußert sich der
2014 Lohnkampf der Bergarbeiter fast nicht anders als von Zeit zu Zeit
2015 in gewaltigen Eruptionen, in Massenstreiks von typischem, elementarem
2016 Charakter. Dies zeigt eben, dß der Gegensatz zwischen Kapital und
2017 Arbeit hier ein zu scharfer und gewaltiger ist, als dß er sich in die Form
2018 ruhiger, planmäßiger, partieller Gewerkschaftskämpfe zerbröckeln ließe.
2019 Dieses Bergarbeiterelend aber mit seinem eruptiven Boden, das schon in
2020 »normalen« Zeiten einen Wetterwinkel von größter Heftigkeit bildet,
2021 müßte sich in Deutschland bei jeder größeren politischen Massenaktion
2022 der Arbeiterklasse, bei jedem stärkeren Ruck, der das momentane
2023 Gleichgewicht des sozialen Alltags verschiebt, unvermeidlich sofort
2024 in einen gewaltigen ökonomisch-sozialen Kampf entladen. Nehmen
2026 erbitterten und meistens resultatlosen Ausbrüche des Lohnkampfes,
2027 der das Vogtland alle paar Jahre durchtobt, einen schwachen Begriff
2028 von der Vehemenz, mit der die große, zusammengeknäuelte
2029 Masse der Heloten des kartellierten Textilkapitals bei einer politischen
2030 Erschütterung, bei einer kräftigen und kühnen Massenaktion des
2031 deutschen Proletariats explodieren müßte. Nehmen wir ferner das
2032 <em class="gesperrt">Heimarbeiterelend</em>, das <em class="gesperrt">Konfektionsarbeiterelend</em>,
2034 in denen um so sicherer bei jeder politischen Lufterschütterung
2035 in Deutschland gewaltige wirtschaftliche Kämpfe ausbrechen werden,<span class='pagenum'><a name="Page_39" id="Page_39">[ 39]</a></span>
2036 je seltener das Proletariat hier sonst, in ruhigen Zeiten, den Kampf
2037 aufnimmt und je erfolgloser es jedesmal kämpft, je brutaler es
2038 vom Kapital gezwungen wird, zähneknirschend ins Sklavenjoch
2039 zurückzukehren.</p>
2041 <p>Nun aber kommen in Betracht ganze große Kategorien des
2042 Proletariats, die überhaupt bei dem »normalen« Lauf der Dinge
2043 in Deutschland von jeder Möglichkeit eines ruhigen wirtschaftlichen
2044 Kampfes um die Hebung ihrer Lage und von jedem Gebrauch des
2045 Koalitionsrechts ausgeschlossen sind. Vor allem nennen wir zum
2046 Beispiel das glänzende Elend der <em class="gesperrt">Eisenbahn-</em> und der <em class="gesperrt">Postangestellten</em>.
2047 Bestehen doch für diese Staatsarbeiter mitten im
2048 parlamentarischen Rechtsstaat Deutschland russische Zustände, wohlgemerkt
2050 ungetrübten Herrlichkeit des Absolutismus, bestanden. Bereits in
2051 dem großen Oktoberstreik 1905 stand der russische Eisenbahner in
2052 dem noch formell absolutistischen Rußland in bezug auf seine wirtschaftliche
2053 und soziale Bewegungsfreiheit turmhoch über dem deutschen.
2054 Die russischen Eisenbahner und Postangestellten haben sich das
2055 Koalitionsrecht faktisch im Sturm erobert, und wenn es auch
2056 momentan Prozeß auf Prozeß und Mßregelung auf Mßregelung
2057 regnet, den inneren Zusammenhalt vermag ihnen nichts mehr zu
2058 nehmen. Es wäre aber eine völlig falsche psychologische Rechnung,
2059 wollte man mit der deutschen Reaktion annehmen, dß der Kadavergehorsam
2060 der deutschen Eisenbahner und Postangestellten ewig dauern
2061 wird, dß er ein Fels ist, den nichts zermürben kann. Wenn sich
2062 auch die deutschen Gewerkschaftsführer an die bestehenden Zustände
2063 dermßen gewöhnt haben, dß sie ungetrübt durch diese in ganz
2064 Europa fast beispiellose Schmach mit einiger Genugtuung die Erfolge
2065 des Gewerkschaftskampfes in Deutschland überblicken können,
2066 so wird sich der tiefverborgene, lange aufgespeicherte Groll der
2067 uniformierten Staatssklaven bei einer allgemeinen Erhebung der
2068 Industriearbeiter unvermeidlich Luft zu verschaffen suchen. Und
2069 wenn die industrielle Vorhut des Proletariats in Massenstreiks nach
2070 weiteren politischen Rechten greifen oder die alten wird verteidigen
2071 wollen, muß der große Trupp der Eisenbahner und Postangestellten
2072 sich naturnotwendig auf seine besondere Schmach besinnen und endlich
2073 einmal zur Befreiung von der Extraportion russischen Absolutismus
2074 erheben, die für ihn speziell in Deutschland errichtet ist. Die
2075 pedantische Auffassung, die große Volksbewegungen nach Schema
2076 und Rezept abwickeln will, glaubt in der Eroberung des Koalitionsrechts
2078 erblicken, bei der man erst an einen Massenstreik in Deutschland
2079 wird »denken dürfen«. Der wirkliche und natürliche Gang der
2080 Ereignisse kann nur ein umgekehrter sein: nur aus einer kräftigen
2081 spontanen Massenstreikaktion kann tatsächlich das Koalitionsrecht der
2082 deutschen Eisenbahner wie der Postangestellten geboren werden.
2083 Und die bei den bestehenden Verhältnissen in Deutschland unlösbare
2084 Aufgabe wird unter dem Eindruck und dem Druck einer allgemeinen
2086 und ihre Lösung finden.<span class='pagenum'><a name="Page_40" id="Page_40">[ 40]</a></span></p>
2088 <p>Und endlich das größte und wichtigste: das <em class="gesperrt">Landarbeiterelend</em>.
2089 Wenn die englischen Gewerkschaften ausschließlich auf die
2090 Industriearbeiter zugeschnitten sind, so ist das der dem spezifischen
2091 Charakter der englischen Nationalwirtschaft, bei der geringen Rolle
2092 der Landwirtschaft im ganzen des ökonomischen Lebens eher eine
2093 begreifliche Erscheinung. In Deutschland wird eine gewerkschaftliche
2094 Organisation, und sei sie noch so glänzend ausgebaut, wenn sie
2095 lediglich die Industriearbeiter umfßt und für das ganze große
2096 Heer der Landarbeiter unzugänglich ist, immer nur ein schwaches
2097 Teilbild der Lage des Proletariats im ganzen geben. Es wäre
2098 aber wiederum eine verhängnisvolle Illusion, zu glauben, dß die
2099 Zustände auf dem flachen Lande unveränderliche und unbewegliche
2100 seien, dß sowohl die unermüdliche Aufklärungsarbeit der Sozialdemokratie,
2101 wie noch mehr die ganze innere Klassenpolitik Deutschlands
2102 nicht beständig die äußere Passivität des Landarbeiters unterwühlen,
2103 und dß bei irgend einer größeren allgemeinen Klassenaktion
2104 des deutschen Industrieproletariats, zu welchem Zweck sie auch unternommen
2105 sei, nicht auch das ländliche Proletariat in Aufruhr kommt.
2106 Dies kann sich aber ganz naturgemäß nicht anders als zunächst
2107 in einem allgemeinen stürmischen ökonomischen Kampf, in gewaltigen
2108 Massenstreiks der Landarbeiter äußern.</p>
2110 <p>So verschiebt sich das Bild der angeblichen wirtschaftlichen
2111 Überlegenheit des deutschen Proletariats über das russische ganz
2112 bedeutend, wenn wir den Blick von der Tabelle der gewerkschaftlich
2113 organisierten Industrie- und Handwerksbranchen auf jene großen
2114 Gruppen des Proletariats richten, die ganz außerhalb des gewerkschaftlichen
2115 Kampfes stehen oder deren besondere wirtschaftliche Lage
2116 sich nicht in den engen Rahmen des alltäglichen gewerkschaftlichen
2117 Kleinkriegs hineinzwängen läßt. Wir sehen dann ein gewaltiges
2118 Gebiet nach dem anderen, wo die Zuspitzung der Gegensätze die
2119 äußerste Grenze erreicht hat, wo Zündstoff in Hülle und Fülle aufgehäuft
2120 ist, wo sehr viel »russischer Absolutismus« in nacktester
2121 Form steckt und wo wirtschaftlich die allerelementarsten Abrechnungen
2122 mit dem Kapital erst nachzuholen sind.</p>
2124 <p>Alle diese alten Rechnungen würden dann bei einer allgemeinen
2125 politischen Massenaktion des Proletariats unvermeidlich dem herrschenden
2126 System präsentiert werden. Eine künstlich arrangierte einmalige
2127 Demonstration des städtischen Proletariats, eine bloße aus Disziplin
2128 und nach dem Taktstock eines Parteivorstandes ausgeführte Massenstreikaktion
2129 könnte freilich die breiteren Volksschichten kühl und gleichgültig
2130 lassen. Allein eine wirkliche, aus revolutionärer Situation
2131 geborene, kräftige und rücksichtslose Kampfaktion des Industrieproletariats
2132 müßte sicher auf tiefer liegende Schichten zurückwirken
2133 und gerade alle diejenigen, die in normalen ruhigen Zeiten abseits
2134 des gewerkschaftlichen Tageskampfes stehen, in einen stürmischen allgemeinen
2137 <p>Kommen wir aber auch auf die organisierten Vordertruppen
2138 des deutschen Industrieproletariats zurück und halten uns anderseits
2139 die heute von der russischen Arbeiterschaft verfochtenen Ziele
2140 des ökonomischen Kampfes vor die Augen, so finden wir durchaus<span class='pagenum'><a name="Page_41" id="Page_41">[ 41]</a></span>
2141 nicht, dß es Bestrebungen sind, auf die die deutschen ältesten
2142 Gewerkschaften Grund hätten, wie auf ausgetretene Kinderschuhe
2143 über die Achsel zu schauen. So ist die wichtigste allgemeine Forderung
2145 gewiß kein überwundener Standpunkt für das deutsche Proletariat,
2146 vielmehr in den allermeisten Fällen ein schönes fernes
2147 Ideal. Dasselbe trifft auf den Kampf mit dem »Hausherrnstandpunkt«
2148 zu, auf den Kampf um die Einführung der Arbeiterausschüsse
2149 in allen Fabriken, um die Abschaffung der Akkordarbeit,
2150 um die Abschaffung der Heimarbeit im Handwerk, um völlige
2151 Durchführung der Sonntagsruhe, um Anerkennung des Koalitionsrechts.
2152 Ja, bei näherem Zusehen sind sämtliche ökonomischen Kampfobjekte
2153 des russischen Proletariats in der jetzigen Revolution auch
2154 für das deutsche Proletariat höchst aktuell und berühren lauter wunde
2155 Stellen des Arbeiterdaseins.</p>
2157 <p>Daraus ergibt sich vor allem, dß der reine politische Massenstreik,
2158 mit dem man vorzugsweise operiert, auch für Deutschland ein
2159 bloßes lebloses theoretisches Schema ist. Werden die Massenstreiks
2160 aus einer starken revolutionären Gärung sich auf natürlichem Wege als
2161 ein entschlossener politischer Kampf der städtischen Arbeiterschaft ergeben,
2162 so werden sie ebenso natürlich, genau wie in Rußland, in eine ganze
2163 Periode elementarer ökonomischer Kämpfe umschlagen. Die Befürchtungen
2164 also der Gewerkschaftsführer, als könnte der Kampf um
2165 die ökonomischen Interessen in einer Periode stürmischer politischer
2166 Kämpfe, in einer Periode der Massenstreiks, einfach auf die Seite
2167 geschoben und erdrückt werden, beruhen auf einer ganz in der Luft
2168 schwebenden schulmäßigen Vorstellung von dem Gang der Dinge.
2169 Eine revolutionäre Periode würde vielmehr auch in Deutschland
2170 den Charakter des gewerkschaftlichen Kampfes ändern und ihn dermßen
2171 potenzieren, dß der heutige Guerillakrieg der Gewerkschaften
2172 dagegen ein Kinderspiel sein wird. Und anderseits würde aus diesem
2173 elementaren ökonomischen Massenstreikgewitter auch der politische
2175 Die Wechselwirkung zwischen ökonomischem und politischem Kampf,
2176 die die innere Triebfeder der heutigen Massenstreiks in Rußland
2177 und zugleich sozusagen den regulierenden Mechanismus der revolutionären
2178 Aktion des Proletariats bildet, würde sich ebenso naturgemäß
2179 auch in Deutschland aus den Verhältnissen selbst ergeben.</p>
2181 <div class="footnote"><p><a name="Footnote_3_3" id="Footnote_3_3"></a><a href="#FNanchor_3_3"><span class="label">[3]</span></a> Es beruht deshalb auf einem tatsächlichen Irrtum, wenn die Genossin
2182 Roland-Holst in der Vorrede zur russischen Ausgabe Ihres Buches über den
2183 Massenstreik meint: »Das Proletariat (in Rußland) war, fast seit dem Aufkommen
2184 der Großindustrie, mit dem Massenstreik vertraut geworden, aus dem
2185 einfachen Grunde, weil partielle Streiks sich unter dem politischen Drucke
2187 Umgekehrte war vielmehr der Fall. So sagte auch der Berichterstatter des
2188 Petersburger Gewerkschaftskartells auf der zweiten Konferenz der russischen
2189 Gewerkschaften im Februar 1906 eingangs seines Referats: »Bei der Zusammensetzung
2190 der Konferenz, die ich hier vor mir sehe, habe ich nicht nötig, erst
2191 hervorzuheben, dß unsere Gewerkschaftsbewegung nicht etwa von der »liberalen«
2192 Periode des Fürsten Swiatopolk-Mirski (im Jahre 1904. R. L.) oder
2193 vom 22. Januar herrührt, wie manche zu behaupten versuchen. Die gewerkschaftliche
2194 Bewegung hat viel tiefere Wurzeln, sie ist unzertrennlich verknüpft
2195 mit der ganzen Vergangenheit unserer Arbeiterbewegung. Unsere Gewerkschaften
2196 sind bloß neue Organisationsformen zur Leitung jenes ökonomischen Kampfes,
2197 den das russische Proletariat bereits Jahrzehnte lang führt. Ohne uns weit
2198 in die Geschichte zu vertiefen, darf man wohl sagen, dß der ökonomische Kampf
2199 der Petersburger Arbeiter mehr oder weniger organisierte Formen annimmt
2201 Kampfes wird, glücklich kombiniert mit der Leitung des politischen Kampfes,
2202 Sache jener sozialdemokratischen Organisation, die der »Petersburger Verein des
2203 Kampfes um die Befreiung der Arbeiterklasse« hieß, und die sich nach der Konferenz
2204 im März 1898 in das »Petersburger Komitee der russischen sozialdemokratischen
2205 Arbeiterpartei« verwandelte. Es wird ein kompliziertes System der
2206 Fabrik-, Bezirks- und Vorstadt-Organisationen geschaffen, welches die Zentrale
2207 durch unzählige Fäden mit den Arbeitermassen verknüpft und es ihr ermöglicht,
2208 auf alle Bedürfnisse der Arbeiterschaft durch Flugschriften zu reagieren. Es
2215 <p>Im Zusammenhang damit bekommt auch die Frage von der
2216 Organisation in ihrem Verhältnis zum Problem des Massenstreiks
2217 in Deutschland ein wesentlich anderes Gesicht.</p>
2219 <p>Die Stellung mancher Gewerkschaftsführer zu der Frage
2221 stark genug, um eine so gewagte Kraftprobe wie einen Massenstreik
2222 zu riskieren.« Nun ist dieser Standpunkt insofern ein unhaltbarer,
2223 weil es eine unlösbare Aufgabe ist, auf dem Wege einer ruhigen,<span class='pagenum'><a name="Page_42" id="Page_42">[ 42]</a></span>
2224 zahlenmäßigen Berechnung festzustellen, wann das Proletariat zu
2225 irgend einem Kampfe »stark genug sei«. Vor 30 Jahren zählten
2227 eine Zahl, bei der, nach dem obigen Mßstab, an einen Massenstreik
2228 nicht zu denken war. Nach weiteren 15 Jahren waren die Gewerkschaften
2230 man jedoch damals die heutigen Gewerkschaftsführer gefragt hätte,
2231 ob nun die Organisation des Proletariats zu einem Massenstreik
2232 reif wäre, so hätten sie sicher geantwortet, dß dies bei weitem nicht
2233 der Fall sei und dß die gewerkschaftlich Organisierten erst nach
2234 Millionen zählen müßten. Heute gehen die organisierten Gewerkschaftsmitglieder
2235 bereits in die zweite Million, aber die Ansicht ihrer
2236 Führer ist genau dieselbe, was offenbar so ins Unendliche
2237 gehen kann. Stillschweigend wird dabei vorausgesetzt, dß überhaupt
2238 die gesamte Arbeiterklasse Deutschlands bis auf den letzten
2239 Mann und die letzte Frau in die Organisation aufgenommen werden
2240 müsse, bevor man »stark genug sei«, eine Massenaktion zu wagen,
2241 die alsdann, nach der alten Formel, sich auch noch wahrscheinlich
2242 als »überflüssig« herausstellen würde. Diese Theorie ist jedoch aus
2243 dem einfachen Grunde völlig utopisch, weil sie an einem inneren
2244 Widerspruch leidet, sich im schlimmen Zirkel dreht. Die Arbeiter
2245 sollen, bevor sie irgend einen direkten Klassenkampf vornehmen können,
2246 sämtlich organisiert sein. Die Verhältnisse, die Bedingungen der
2247 kapitalistischen Entwicklung und des bürgerlichen Staates bringen
2248 es aber mit sich, dß bei dem »normalen« Verlauf der Dinge, ohne
2249 stürmische Klassenkämpfe, bestimmte Schichten – und zwar gerade
2250 das Gros, die wichtigsten, die tiefststehenden, die vom Kapital und
2251 vom Staate am meisten gedrückten Schichten des Proletariats –
2252 eben gar nicht organisiert werden können. Sehen wir doch selbst in
2253 England, dß ein ganzes Jahrhundert unermüdlicher Gewerkschaftsarbeit
2255 Periode der Chartistenbewegung – ohne alle »revolutionsromantischen«
2256 Verirrungen und Lockungen, es nicht weiter gebracht haben, als dahin,
2258 organisieren.</p>
2261 des Proletariats, sich selbst nicht auf die Dauer
2262 anders erhalten, als gerade im Kampf, und zwar nicht im Sinne
2263 allein des Froschmäusekrieges in den stehenden Gewässern der
2264 bürgerlich-parlamentarischen Periode, sondern im Sinne heftiger,
2265 revolutionärer Perioden des Massenkampfes. Die steife, mechanisch-bureaukratische
2266 Auffassung will den Kampf nur als Produkt der
2267 Organisation auf einer gewissen Höhe ihrer Stärke gelten lassen.
2268 Die lebendige dialektische Entwicklung läßt umgekehrt die Organisation
2269 als ein Produkt des Kampfes entstehen. Wir haben bereits ein
2270 grandioses Beispiel dieser Erscheinung in Rußland gesehen, wo ein
2271 so gut wie gar nicht organisiertes Proletariat sich in anderthalb
2272 Jahren stürmischen Revolutionskampfes ein umfassendes Netz von
2273 Organisationsansätzen geschaffen hat. Ein anderes Beispiel dieser
2274 Art zeigt die eigene Geschichte der deutschen Gewerkschaften. Im<span class='pagenum'><a name="Page_43" id="Page_43">[ 43]</a></span>
2276 Nach der Theorie der heutigen Gewerkschaftsführer war diese
2277 Organisation, wie gesagt, bei weitem nicht »stark genug«, um einen
2278 heftigen politischen Kampf aufzunehmen. Die deutschen Gewerkschaften
2281 nicht nur »stark genug«, aus dem Kampfe als Sieger hervorzugehen,
2282 sondern sie haben in diesem Kampfe ihre Kraft verfünffacht; sie
2283 umfßten nach dem Fall des Sozialistengesetzes im Jahre 1891
2285 die Gewerkschaften im Kampfe mit dem Sozialistengesetz gesiegt
2286 haben, nicht dem Ideal eines friedlichen, bienenartigen ununterbrochenen
2287 Ausbaus; sie gingen erst im Kampfe sämtlich in Trümmer,
2288 um sich dann aus der nächsten Welle emporzuschwingen und neu
2289 geboren zu werden. Dies ist aber eben die den proletarischen
2290 Klassenorganisationen entsprechende spezifische Methode des Wachstums:
2291 im Kampfe sich zu erproben und aus dem Kampfe wieder
2292 reproduziert hervorzugehen.</p>
2294 <p>Nach näherer Prüfung der deutschen Verhältnisse und der Lage
2295 der verschiedenen Schichten der Arbeiter ist es klar, dß auch die
2296 kommende Periode stürmischer politischer Massenkämpfe für die
2297 deutschen Gewerkschaften nicht den befürchteten drohenden Untergang,
2298 sondern umgekehrt neue ungeahnte Perspektiven einer rapiden sprungweisen
2299 Erweiterung ihrer Machtsphäre mit sich bringen würde.
2300 Allein die Frage hat noch eine andere Seite. Der Plan, Massenstreiks
2301 als ernste politische Klassenaktion bloß mit Organisierten zu unternehmen,
2302 ist überhaupt ein gänzlich hoffnungsloser. Soll der Massenstreik,
2303 oder vielmehr sollen die Massenstreiks, soll der Massenkampf
2305 werden, d. h. die breitesten Schichten des Proletariats mit in den
2306 Kampf ziehen. – Schon bei der parlamentarischen Form beruht
2307 die Macht des proletarischen Klassenkampfes nicht auf dem kleinen
2308 organisierten Kern, sondern auf der breiten umliegenden Peripherie
2309 des revolutionär gesinnten Proletariats. Wollte die Sozialdemokratie
2310 bloß mit ihren paar Hunderttausend Organisierten Wahlschlachten
2311 schlagen, dann würde sie sich selbst zur Nullität verurteilen. Und
2312 ist es auch eine Tendenz der Sozialdemokratie, womöglich fast den
2313 gesamten großen Heerbann ihrer Wähler in die Parteiorganisationen
2314 aufzunehmen, so wird doch nach 30jähriger Erfahrung der Sozialdemokratie
2315 nicht ihre Wählermasse durch das Wachstum der Parteiorganisation
2316 erweitert, sondern umgekehrt die durch den Wahlkampf
2317 jeweilig eroberten frischen Schichten der Arbeiterschaft bilden das
2318 Ackerfeld für die darauffolgende Organisationsaussaat. Auch hier
2319 liefert nicht nur die Organisation die Kampftruppen, sondern der
2320 Kampf liefert in noch größerem Mße die Rekrutiertruppen für die
2321 Organisation. In viel höherem Grade als auf den parlamentarischen
2322 Kampf bezieht sich dasselbe offenbar auf die direkte politische Massenaktion.
2323 Ist auch die Sozialdemokratie, als organisierter Kern der
2324 Arbeiterklasse, die führende Vordertruppe des gesamten arbeitenden
2325 Volkes und fließt auch die politische Klarheit, die Kraft, die Einheit<span class='pagenum'><a name="Page_44" id="Page_44">[ 44]</a></span>
2326 der Arbeiterbewegung gerade aus dieser Organisation, so darf doch
2327 die Klassenbewegung des Proletariats niemals als Bewegung der
2328 organisierten Minderheit aufgefßt werden. Jeder wirkliche große
2329 Klassenkampf muß auf der Unterstützung und Mitwirkung der breitesten
2330 Massen beruhen, und eine Strategie des Klassenkampfes, die nicht
2331 mit dieser Mitwirkung rechnete, die bloß auf die hübsch ausgeführten
2332 Märsche des kasernierten kleinen Teils des Proletariats zugeschnitten
2333 wäre, ist im voraus zum kläglichen Fiasko verurteilt.</p>
2336 unmöglich in Deutschland von den Organisierten allein getragen
2337 und auf eine regelrechte »Leitung« aus einer Parteizentrale berechnet
2338 werden. In diesem Falle kommt es aber wieder – ganz wie in
2339 Rußland – nicht sowohl auf »Disziplin«, »Schulung« und auf
2340 möglichst sorgfältige Vorausbestimmung der Unterstützungs- und der
2341 Kostenfrage an, als vielmehr auf eine wirkliche revolutionäre, entschlossene
2342 Klassenaktion, die im stande wäre, die breitesten Kreise der
2343 nichtorganisierten, aber ihrer Stimmung und ihrer Lage nach revolutionären
2344 Proletariermassen zu gewinnen und mitzureißen.</p>
2347 Organisation im Klassenkampf des Proletariats wird gewöhnlich ergänzt
2348 durch die Geringschätzung der unorganisierten Proletariermasse und
2349 ihrer politischen Reife. In einer revolutionären Periode, im Sturme
2350 großer, aufrüttelnder Klassenkämpfe zeigt sich erst die ganze erzieherische
2351 Wirkung der raschen kapitalistischen Entwicklung und der
2352 sozialdemokratischen Einflüsse auf die breitesten Volksschichten, wovon
2353 in ruhigen Zeiten die Tabellen der Organisationen und selbst
2354 die Wahlstatistiken nur einen ganz schwachen Begriff geben.</p>
2356 <p>Wir haben gesehen, dß in Rußland seit zirka zwei Jahren aus
2357 dem geringsten partiellen Konflikt der Arbeiter mit dem Unternehmertum,
2358 aus der geringsten lokalen Brutalität der Regierungsorgane
2359 sofort eine große, allgemeine Aktion des Proletariats entstehen
2360 kann. Jedermann sieht und findet es natürlich, weil in
2361 Rußland eben »die Revolution« da ist. Was bedeutet aber dies? Es
2362 bedeutet, dß das Klassengefühl, der Klasseninstinkt bei dem russischen
2363 Proletariat in höchstem Mße lebendig ist, so dß es jede partielle
2364 Sache irgend einer kleinen Arbeitergruppe unmittelbar als allgemeine
2365 Sache, als Klassenangelegenheit empfindet und blitzartig darauf als
2366 Ganzes reagiert. Während in Deutschland, in Frankreich, in Italien,
2367 in Holland die heftigsten gewerkschaftlichen Konflikte gar keine allgemeine
2368 Aktion der Arbeiterklasse – und sei es auch nur des organisierten
2369 Teils – hervorrufen, entfacht in Rußland der geringste Anlß
2370 einen ganzen Sturm. Das will aber nichts anderes besagen,
2371 als dß gegenwärtig der Klasseninstinkt – so paradox es klingen
2372 mag – bei dem jungen, ungeschulten, schwach aufgeklärten und noch
2373 schwächer organisierten russischen Proletariat ein unendlich stärkerer
2374 ist, als bei der organisierten, geschulten und aufgeklärten Arbeiterschaft
2375 Deutschlands oder eines anderen westeuropäischen Landes. Und das
2376 ist nicht etwa eine besondere Tugend des »jungen, unverbrauchten
2377 Ostens« im Vergleich mit dem »faulen Westen«, sondern es ist ein
2378 einfaches Resultat der unmittelbaren revolutionären Massenaktion.<span class='pagenum'><a name="Page_45" id="Page_45">[ 45]</a></span>
2379 Bei dem deutschen aufgeklärten Arbeiter ist das von der Sozialdemokratie
2381 <em class="gesperrt">latentes</em>: in der Periode der Herrschaft des bürgerlichen Parlamentarismus
2382 kann es sich als direkte Massenaktion in der Regel
2383 nicht betätigen; es ist hier die ideelle Summe der vierhundert
2384 Parallelaktionen der Wahlkreise während des Wahlkampfes, der
2385 vielen ökonomischen partiellen Kämpfe und dergleichen. In der
2386 Revolution, wo die Masse selbst auf dem politischen Schauplatz erscheint,
2387 wird das Klassenbewußtsein ein <em class="gesperrt">praktisches</em>, <em class="gesperrt">aktives</em>.
2388 Dem russischen Proletariat hat deshalb ein Jahr der Revolution
2389 jene »Schulung« gegeben, welche dem deutschen Proletariat 30 Jahre
2390 parlamentarischen und gewerkschaftlichen Kampfes nicht künstlich
2391 geben können. Freilich wird dieses lebendige, aktive Klassengefühl des
2392 Proletariats auch in Rußland nach dem Abschluß der Revolutionsperiode
2393 und nach der Herstellung eines bürgerlich-parlamentarischen
2394 Rechtsstaates bedeutend schwinden oder vielmehr in ein verborgenes,
2395 latentes umschlagen. Ebenso sicher wird aber umgekehrt in Deutschland
2396 in einer Periode kräftiger politischer Aktionen das lebendige,
2397 aktionsfähige revolutionäre Klassengefühl die breitesten und tiefsten
2398 Schichten des Proletariats ergreifen und zwar umso rascher und
2399 umso mächtiger, je gewaltiger das bis dahin geleistete Erziehungswerk
2400 der Sozialdemokratie ist. Dieses Erziehungswerk sowie die
2401 aufreizende und revolutionierende Wirkung der gesamten gegenwärtigen
2402 deutschen Politik wird sich darin äußern, dß der Fahne
2403 der Sozialdemokratie in einer ernsten revolutionären Periode alle
2404 jene Scharen plötzlich Folge leisten werden, die jetzt in scheinbarer
2405 politischer Stupidität gegen alle Organisierungsversuche der Sozialdemokratie
2406 und der Gewerkschaften unempfindlich sind. Sechs
2407 Monate einer revolutionären Periode werden an der Schulung
2408 dieser jetzt unorganisierten Massen das Werk vollenden, das zehn
2409 Jahre Volksversammlungen und Flugblattverteilungen nicht fertig
2410 zu bringen vermögen. Und wenn die Verhältnisse in Deutschland
2411 für eine solche Periode den Reifegrad erreicht haben, werden im
2412 Kampfe die heute unorganisierten zurückgebliebensten Schichten naturgemäß
2413 das radikalste, das ungestümste, nicht das mitgeschleppte
2414 Element bilden. Wird es in Deutschland zu Massenstreiks kommen,
2415 so werden fast sicher nicht die bestorganisierten – gewiß nicht die
2416 Buchdrucker – sondern die schlechter oder gar nicht organisierten,
2417 die Bergarbeiter, die Textilarbeiter, vielleicht gar die Landarbeiter
2420 <p>Auf diese Weise gelangen wir aber auch in Deutschland zu
2421 denselben Schlüssen in bezug auf die eigentlichen Aufgaben der
2423 Massenstreiks, wie bei der Analyse der russischen Vorgänge. Verlassen
2424 wir nämlich das pedantische Schema eines künstlich von
2425 Partei und Gewerkschafts wegen kommandierten demonstrativen
2426 Massenstreiks der organisierten Minderheit, und wenden wir uns
2427 dem lebendigen Bilde einer aus äußerster Zuspitzung der Klassengegensätze
2428 und der politischen Situation mit elementarer Kraft entstehenden
2429 wirklichen Volksbewegung zu, die sich sowohl in politischen<span class='pagenum'><a name="Page_46" id="Page_46">[ 46]</a></span>
2430 wie in ökonomischen stürmischen Massenkämpfen, Massenstreiks entladet,
2431 so muß offenbar die Aufgabe der Sozialdemokratie nicht in
2432 der technischen Vorbereitung und Leitung des Massenstreiks, sondern
2433 vor allem in der <em class="gesperrt">politischen Führung</em> der ganzen Bewegung bestehen.</p>
2435 <p>Die Sozialdemokratie ist die aufgeklärteste, klassenbewußteste
2436 Vorhut des Proletariats. Sie kann und darf nicht mit verschränkten
2437 Armen fatalistisch auf den Eintritt der »revolutionären Situation«
2438 warten, darauf warten, dß jene spontane Volksbewegung vom
2439 Himmel fällt. Im Gegenteil, sie muß, wie immer, der Entwicklung
2440 der Dinge <em class="gesperrt">vorauseilen</em>, sie zu <em class="gesperrt">beschleunigen</em> suchen.
2441 Dies vermag sie aber nicht dadurch, dß sie zur rechten und unrechten
2442 Zeit ins Blaue hinein plötzlich die »Losung« zu einem Massenstreik
2443 ausgibt, sondern vor allem dadurch, dß sie den breitesten
2447 Sollen breiteste proletarische Schichten für eine politische Massenaktion
2448 der Sozialdemokratie gewonnen werden und soll umgekehrt
2449 die Sozialdemokratie bei einer Massenbewegung die wirkliche Leitung
2451 Sinne</em> Herr werden, dann muß sie mit voller Klarheit, Konsequenz
2452 und Entschlossenheit die <em class="gesperrt">Taktik</em>, die <em class="gesperrt">Ziele</em> dem deutschen Proletariat
2453 in der Periode der kommenden Kämpfe zu stecken wissen.</p>
2461 <p>Wir haben gesehen, dß der Massenstreik in Rußland nicht ein
2462 künstliches Produkt einer absichtlichen Taktik der Sozialdemokratie,
2463 sondern eine natürliche geschichtliche Erscheinung auf dem Boden
2464 der jetzigen Revolution darstellt. Welche sind nun die Momente,
2465 die in Rußland diese neue Erscheinungsform der Revolution hervorgebracht
2466 haben?</p>
2468 <p>Die russische Revolution hat zur nächsten Aufgabe die Beseitigung
2469 des Absolutismus und die Herstellung eines modernen bürgerlich-parlamentarischen
2470 Rechtsstaates. Formell ist es genau dieselbe Aufgabe,
2471 die in Deutschland der Märzrevolution, in Frankreich der
2472 großen Revolution am Ausgang des 18. Jahrhunderts bevorstand.
2473 Allein die Verhältnisse, das geschichtliche Milieu, in dem diese formell
2474 analogen Revolutionen stattfanden, sind grundverschieden von den
2475 heutigen Rußlands. Das Entscheidende ist der Umstand, dß zwischen
2476 jenen bürgerlichen Revolutionen des Westens und der heutigen
2477 bürgerlichen Revolution im Osten der ganze Cyklus der kapitalistischen
2478 Entwicklung abgelaufen ist. Und zwar hatte diese Entwicklung
2479 nicht bloß die westeuropäischen Länder, sondern auch das
2480 absolutistische Rußland ergriffen. Die Großindustrie mit allen ihren
2481 Konsequenzen, der modernen Klassenscheidung, den schroffen sozialen
2482 Kontrasten, dem modernen Großstadtleben und dem modernen
2483 Proletariat, ist in Rußland die herrschende, d. h. in der sozialen
2484 Entwicklung ausschlaggebende Produktionsform geworden. Daraus<span class='pagenum'><a name="Page_47" id="Page_47">[ 47]</a></span>
2485 hat sich aber die merkwürdige, widerspruchsvolle, geschichtliche
2486 Situation ergeben, dß die nach ihren formellen Aufgaben bürgerliche
2487 Revolution in erster Reihe von einem modernen klassenbewußten
2488 Proletariat ausgeführt wird, und in einem internationalen Milieu,
2489 das im Zeichen des Verfalls der bürgerlichen Demokratie steht.
2490 Nicht die Bourgeoisie ist jetzt das führende revolutionäre Element,
2491 wie in den früheren Revolutionen des Westens, während die proletarische
2492 Masse, aufgelöst im Kleinbürgertum, der Bourgeoisie Heerbanndienste
2493 leistet, sondern umgekehrt, das klassenbewußte Proletariat
2494 ist das führende und treibende Element, während die großbürgerlichen
2495 Schichten teils direkt kontrerevolutionär, teils schwächlich-liberal,
2496 und nur das ländliche Kleinbürgertum nebst der städtischen
2497 kleinbürgerlichen Intelligenz entschieden oppositionell, ja revolutionär
2498 gesinnt sind. Das russische Proletariat aber, das dermßen zur
2499 führenden Rolle in der bürgerlichen Revolution bestimmt ist, tritt
2500 selbst frei von allen Illusionen der bürgerlichen Demokratie, dafür
2501 mit einem stark entwickelten Bewußtsein der eigenen spezifischen
2502 Klasseninteressen, bei einem scharf zugespitzten Gegensatz zwischen
2503 Kapital und Arbeit, in den Kampf. Dieses widerspruchsvolle Verhältnis
2504 findet seinen Ausdruck in der Tatsache, dß in dieser formell
2505 bürgerlichen Revolution der Gegensatz der bürgerlichen Gesellschaft
2506 zum Absolutismus von dem Gegensatz des Proletariats zur bürgerlichen
2507 Gesellschaft beherrscht wird, dß der Kampf des Proletariats
2508 sich mit gleicher Kraft gleichzeitig gegen den Absolutismus und
2509 gegen die kapitalistische Ausbeutung richtet, dß das Programm der
2510 revolutionären Kämpfe mit gleichem Nachdruck auf die politische
2511 Freiheit und auf die Eroberung des Achtstundentages sowie einer
2512 menschenwürdigen materiellen Existenz für das Proletariat gerichtet
2513 ist. Dieser zwiespältige Charakter der russischen Revolution äußert
2514 sich in jener innigen Verbindung und Wechselwirkung des ökonomischen
2515 mit dem politischen Kampf, die wir an der Hand der Vorgänge in
2516 Rußland kennen gelernt haben, und die ihren entsprechenden Ausdruck
2517 eben im Massenstreik findet.</p>
2519 <p>In den früheren bürgerlichen Revolutionen, wo einerseits die
2520 politische Schulung und Anführung der revolutionären Masse von
2521 den bürgerlichen Parteien besorgt wurde und wo es sich anderseits
2522 um den nackten Sturz der alten Regierung handelte, war die
2523 kurze Barrikadenschlacht die passende Form des revolutionären
2524 Kampfes. Heute, wo die Arbeiterklasse sich selbst im Laufe des
2525 revolutionären Kampfes aufklären, selbst sammeln und selbst anführen
2526 muß, und wo die Revolution ihrerseits ebenso gegen die alte Staatsgewalt
2527 wie gegen die kapitalistische Ausbeutung gerichtet ist, erscheint
2528 der Massenstreik als das natürliche Mittel, die breitesten proletarischen
2529 Schichten in der Aktion selbst zu rekrutieren, zu revolutionieren
2530 und zu organisieren, ebenso wie es gleichzeitig ein Mittel ist, die alte
2531 Staatsgewalt zu unterminieren und zu stürzen und die kapitalistische
2532 Ausbeutung einzudämmen. Das städtische Industrieproletariat ist
2533 jetzt die Seele der Revolution in Rußland. Um aber irgend eine
2534 direkte politische Aktion als Masse auszuführen, muß sich das
2535 Proletariat erst zur Masse wieder sammeln und zu diesem Behufe<span class='pagenum'><a name="Page_48" id="Page_48">[ 48]</a></span>
2536 muß es vor allem aus Fabriken und Werkstätten, aus Schächten
2537 und Hütten heraustreten, muß es die Pulverisierung und Zerbröckelung
2538 in den Einzelwerkstätten überwinden, zu der es im
2539 täglichen Joch des Kapitals verurteilt ist. Der Massenstreik ist
2540 somit die erste natürliche, impulsive Form jeder großen revolutionären
2541 Aktion des Proletariats, und je mehr die Industrie die vorherrschende
2542 Form der sozialen Wirtschaft, je hervorragender die
2543 Rolle des Proletariats in der Revolution und je entwickelter der
2544 Gegensatz zwischen Arbeit und Kapital, um so mächtiger und
2545 ausschlaggebender müssen die Massenstreiks werden. Die frühere
2546 Hauptform der bürgerlichen Revolutionen, die Barrikadenschlacht,
2547 die offene Begegnung mit der bewaffneten Macht des Staates, ist
2548 in der heutigen Revolution nur ein äußerster Punkt, nur ein
2549 Moment in dem ganzen Prozeß des proletarischen Massenkampfes.</p>
2551 <p>Und damit ist in der neuen Form der Revolution auch jene
2552 Zivilisierung und Milderung der Klassenkämpfe erreicht, die von
2553 den Opportunisten der deutschen Sozialdemokratie, von den Bernstein,
2554 David u. a. prophetisch vorausgesagt wurde. Die Genannten erblickten
2555 freilich die ersehnte Milderung und Zivilisierung des
2556 Klassenkampfes, im Geiste kleinbürgerlich-demokratischer Illusionen,
2557 darin, dß der Klassenkampf ausschließlich zu einem parlamentarischen
2558 Kampf beschränkt und die Strßenrevolution einfach
2559 abgeschafft wird. Die Geschichte hat die Lösung in einer etwas
2560 tieferen und feineren Weise gefunden: in dem Aufkommen des
2561 revolutionären Massenstreiks, der freilich den nackten brutalen
2562 Strßenkampf durchaus nicht ersetzt und nicht überflüssig macht,
2563 ihn aber bloß zu einem Moment der langen politischen Kampfperiode
2564 reduziert und gleichzeitig mit der Revolutionsperiode
2565 ein enormes Kulturwerk im genauesten Sinne dieses Wortes verbindet:
2566 die materielle und geistige Hebung der gesamten Arbeiterklasse
2567 durch die »Zivilisierung« der barbarischen Formen der
2568 kapitalistischen Ausbeutung.</p>
2570 <p>So erweist sich der Massenstreik also nicht als ein spezifisch
2571 russisches, aus dem Absolutismus entsprungenes Produkt, sondern
2572 als eine allgemeine Form des proletarischen Klassenkampfes, die sich
2573 aus dem gegenwärtigen Stadium der kapitalistischen Entwicklung
2574 und der Klassenverhältnisse ergibt. Die drei bürgerlichen Revolutionen:
2575 die große französische, die deutsche Märzrevolution und
2576 die jetzige russische bilden von diesem Standpunkt eine Kette der
2577 fortlaufenden Entwicklung, in der sich das Glück und Ende des
2578 kapitalistischen Jahrhunderts spiegelt. In der großen französischen
2579 Revolution geben die noch ganz unentwickelten inneren Widersprüche
2580 der bürgerlichen Gesellschaft für eine lange Periode gewaltiger
2581 Kämpfe Raum, wo sich alle die erst in der Hitze der Revolution
2582 rasch aufkeimenden und reifenden Gegensätze ungehindert und ungezwungen
2583 mit rücksichtslosem Radikalismus austoben. Ein halbes
2584 Jahrhundert später wird die auf halbem Wege der kapitalistischen
2585 Entwicklung ausgebrochene Revolution des deutschen Bürgertums
2586 schon durch den Gegensatz der Interessen und das Gleichgewicht der
2587 Kräfte zwischen Kapital und Arbeit in der Mitte unterbunden und<span class='pagenum'><a name="Page_49" id="Page_49">[ 49]</a></span>
2588 durch einen bürgerlich-feudalen Kompromiß erstickt, zu einer kurzen,
2589 kläglichen, mitten im Worte verstummten Episode abgekürzt. Noch
2590 ein halbes Jahrhundert, und die heutige russische Revolution steht
2591 auf einem Punkt des geschichtlichen Weges, der bereits über den
2592 Berg, über den Höhepunkt der kapitalistischen Gesellschaft hinweggeschritten
2593 ist, wo die bürgerliche Revolution nicht mehr durch den
2594 Gegensatz zwischen Bourgeoisie und Proletariat erstickt werden kann,
2595 sondern umgekehrt zu einer neuen, langen Periode gewaltigster sozialer
2596 Kämpfe entfaltet wird, in denen die Begleichung der alten Rechnung
2597 mit dem Absolutismus als eine Kleinigkeit erscheint gegen die
2598 vielen neuen Rechnungen, die die Revolution selbst aufmacht. Die
2599 heutige Revolution realisiert somit in der besonderen Angelegenheit
2600 des absolutistischen Rußland zugleich die allgemeinen Resultate der
2601 internationalen kapitalistischen Entwicklung und erscheint weniger ein
2602 letzter Nachläufer der alten bürgerlichen, wie ein Vorläufer
2603 der neuen Serie der proletarischen Revolutionen des Westens. Das
2604 zurückgebliebenste Land weist, gerade weil es sich mit seiner bürgerlichen
2605 Revolution so unverzeihlich verspätet hat, Wege und Methoden
2606 des weiteren Klassenkampfes dem Proletariat Deutschlands und der
2607 vorgeschrittensten kapitalistischen Länder.</p>
2609 <p>Demnach erscheint es, auch von dieser Seite genommen, gänzlich
2610 verfehlt, die russische Revolution als ein schönes Schauspiel, als
2611 etwas spezifisch »Russisches« von weitem zu betrachten und höchstens
2612 das Heldentum der Kämpfer, d. h. die äußeren Akzessorien des
2613 Kampfes zu bewundern. Viel wichtiger ist es, dß die deutschen
2615 zu betrachten lernen, nicht bloß im Sinne der internationalen
2616 Klassensolidarität mit dem russischen Proletariat, sondern vor allem
2618 Geschichte</em>. Diejenigen Gewerkschaftsführer und Parlamentarier,
2619 die das deutsche Proletariat als »zu schwach« und die deutschen
2620 Verhältnisse als zu unreif für revolutionäre Massenkämpfe betrachten,
2621 haben offenbar keine Ahnung davon, dß der Gradmesser der Reife
2622 der Klassenverhältnisse in Deutschland und der Macht des Proletariats
2623 nicht in den Statistiken der deutschen Gewerkschaften oder in den
2624 Wahlstatistiken liegt, sondern – in den Vorgängen der russischen
2625 Revolution. Genau so, wie sich die Reife der französischen Klassengegensätze
2626 unter der Julimonarchie und die Pariser Junischlacht in
2627 der deutschen Märzrevolution, in ihrem Verlauf und ihrem Fiasko
2628 spiegelte, ebenso spiegelt sich heute die Reife der deutschen Klassengegensätze
2629 in den Vorgängen, in der Macht der russischen Revolution.
2630 Und während die Bureaukraten der deutschen Arbeiterbewegung den
2631 Nachweis ihrer Kraft und ihrer Reife in den Schubfächern ihrer
2632 Kontore auskramen, sehen sie nicht, dß das Gesuchte gerade vor
2633 ihren Augen in einer großen historischen Offenbarung liegt, denn
2634 geschichtlich genommen ist die russische Revolution ein Reflex der
2635 Macht und der Reife der internationalen, also in erster Linie der
2636 deutschen Arbeiterbewegung.</p>
2638 <p>Es wäre deshalb ein gar zu klägliches, grotesk winziges Resultat
2639 der russischen Revolution, wollte das deutsche Proletariat aus ihr<span class='pagenum'><a name="Page_50" id="Page_50">[ 50]</a></span>
2640 bloß die Lehre ziehen, dß es – wie die Gen. Frohme, Elm und andere
2641 wollen – von der russischen Revolution die äußere Form des Kampfes,
2642 den Massenstreik entlehnt und zu einer Vorratskanone für den Fall
2643 der Kassierung des Reichstagswahlrechts, also zu einem passiven
2644 Mittel der parlamentarischen Defensive kastriert. Wenn man uns
2645 das Reichstagswahlrecht nimmt, dann wehren wir uns. Das ist ein
2646 ganz selbstverständlicher Entschluß. Aber zu diesem Entschluß braucht
2647 man sich nicht in die heldenhafte Pose eines Danton zu werfen, wie
2648 es z. B. Genosse Elm in Jena getan; denn die Verteidigung des
2649 bereits besessenen bescheidenen Mßes der parlamentarischen Rechte
2650 ist weniger eine himmelstürmende Neuerung, zu der erst die furchtbaren
2651 Hekatomben der russischen Revolution als Ermunterung notwendig
2652 waren, als vielmehr die einfachste und erste Pflicht jeder
2653 Oppositionspartei. Allein die bloße Defensive darf niemals die
2654 Politik des Proletariats in einer Revolutionsperiode erschöpfen.
2655 Und wenn es einerseits schwerlich mit Sicherheit vorausgesagt werden
2656 kann, ob die Vernichtung des allgemeinen Wahlrechts in Deutschland
2657 in einer Situation eintritt, die unbedingt eine sofortige Massenstreikaktion
2658 hervorrufen wird, so ist es anderseits ganz sicher, dß, sobald
2659 wir in Deutschland in die Periode stürmischer Massenaktionen eingetreten
2660 sind, die Sozialdemokratie unmöglich auf die bloße parlamentarische
2661 Defensive ihre Taktik festlegen darf. Den Anlß und
2662 den Moment vorauszubestimmen, an dem die Massenstreiks in
2663 Deutschland ausbrechen sollen, liegt außerhalb der Macht der Sozialdemokratie,
2664 weil es außerhalb ihrer Macht liegt, geschichtliche
2665 Situationen durch Parteitagsbeschlüsse herbeizuführen. Was sie aber
2666 kann und muß, ist, die politischen Richtlinien dieser Kämpfe, wenn
2667 sie einmal eintreten, klarlegen und in einer entschlossenen, konsequenten
2668 Taktik formulieren. Man hält nicht die geschichtlichen
2669 Ereignisse im Zaum, indem man ihnen Vorschriften macht, sondern
2670 indem man sich im voraus ihre wahrscheinlichen berechenbaren
2671 Konsequenzen zum Bewußtsein bringt und die eigene Handlungsweise
2672 danach einrichtet.</p>
2674 <p>Die zunächst drohende politische Gefahr, auf die sich die deutsche
2675 Arbeiterbewegung seit einer Reihe von Jahren gefßt macht, ist ein
2676 Staatsstreich der Reaktion, der den breitesten Schichten der arbeitenden
2677 Volksmasse das wichtigste politische Recht, das Reichstagswahlrecht,
2678 wird entreißen wollen. Trotz der ungeheuren Tragweite dieses
2679 eventuellen Ereignisses ist es, wie gesagt, unmöglich, mit Bestimmtheit
2680 zu behaupten, dß auf den Staatsstreich alsdann sofort eine
2681 offene Volksbewegung in der Form von Massenstreiks ausbricht,
2682 weil uns heute alle jene unzähligen Umstände und Momente unbekannt
2683 sind, die bei einer Massenbewegung die Situation mitbestimmen.
2684 Allein, wenn man die gegenwärtige äußerste Zuspitzung
2685 der Verhältnisse in Deutschland und anderseits die mannigfachen
2686 internationalen Rückwirkungen der russischen Revolution und weiter
2687 des künftigen renovierten Rußlands in Betracht zieht, so ist es klar,
2688 dß der Umsturz in der deutschen Politik, der aus einer Kassierung
2689 des Reichstagswahlrechts entstehen würde, nicht bei dem Kampf
2690 um dieses Wahlrecht allein Halt machen könnte. Dieser Staatsstreich<span class='pagenum'><a name="Page_51" id="Page_51">[ 51]</a></span>
2691 würde vielmehr in kürzerer oder längerer Frist mit elementarer
2692 Macht eine große allgemeine politische Abrechnung der einmal
2693 empörten und aufgerüttelten Volksmassen mit der Reaktion nach sich
2694 ziehen – eine Abrechnung für den Brotwucher, für die künstliche
2695 Fleischteuerung, für die Auspowerung durch den uferlosen Militarismus
2696 und Marinismus, für die Korruption der Kolonialpolitik, für
2697 die nationale Schmach des Königsberger Prozesses, für den Stillstand
2698 der Sozialreform, für die Entrechtung der Eisenbahner, der
2699 Postbeamten und der Landarbeiter, für die Bemogelung und Verhöhnung
2700 der Bergarbeiter, für das Löbtauer Urteil und die ganze
2701 Klassenjustiz, für das brutale Aussperrungssystem – kurz, für den
2702 gesamten zwanzigjährigen Druck der koalierten Herrschaft des ostelbischen
2703 Junkertums und des kartellierten Großkapitals.</p>
2705 <p>Ist aber einmal der Stein ins Rollen gekommen, so kann er,
2706 ob es die Sozialdemokratie will oder nicht, nicht mehr zum Stillstand
2707 gebracht werden. Die Gegner des Massenstreiks pflegen die Lehren
2708 und Beispiele der russischen Revolution, als für Deutschland gar nicht
2709 mßgebend, vor allem deshalb abzuweisen, weil ja in Rußland erst
2710 der gewaltige Sprung aus einer orientalischen Despotie in eine
2711 moderne bürgerliche Rechtsordnung gemacht werden mußte. Der
2712 formelle Abstand zwischen der alten und der neuen politischen Ordnung
2713 soll für die Vehemenz und die Gewalt der Revolution in Rußland
2714 als ausreichender Erklärungsgrund dienen. In Deutschland haben
2715 wir längst die notwendigsten Formen und Garantien des Rechtsstaats,
2716 weshalb hier ein so elementares Toben der sozialen Gegensätze
2717 unmöglich ist. Die also spekulieren, vergessen, dß dafür in
2718 Deutschland, wenn es einmal zum Ausbruch offener politischer
2719 Kämpfe kommt, eben das geschichtlich bedingte Ziel ein ganz anderes
2720 sein wird, als heute in Rußland. Gerade weil die bürgerliche
2721 Rechtsordnung in Deutschland längst besteht, weil sie also Zeit
2722 hatte, sich gänzlich zu erschöpfen und auf die Neige zu gehen, weil
2723 die bürgerliche Demokratie und der Liberalismus Zeit hatten, auszusterben,
2725 nicht mehr die Rede sein. Und deshalb kann es sich bei einer
2726 Periode offener politischer Volkskämpfe in Deutschland als letztes
2728 Proletariats</em> handeln. Der Abstand aber dieser Aufgabe von
2729 den heutigen Zuständen in Deutschland ist ein noch viel gewaltigerer,
2730 als der Abstand der bürgerlichen Rechtsordnung von der orientalischen
2731 Despotie, und deshalb kann diese Aufgabe auch nicht mit einem
2732 Schlag, sondern gleichfalls in einer langen Periode gigantischer
2733 sozialer Kämpfe vollzogen werden.</p>
2735 <p>Liegt aber nicht ein krasser Widerspruch in den von uns aufgezeichneten
2736 Perspektiven? Einerseits heißt es, bei einer eventuellen
2737 künftigen Periode der politischen Massenaktion werden vor allem
2738 die zurückgebliebensten Schichten des deutschen Proletariats, die
2739 Landarbeiter, die Eisenbahner, die Postsklaven, erst ihr Koalitionsrecht
2740 erobern, die ärgsten Auswüchse der Ausbeutung erst beseitigt
2741 werden müssen, anderseits soll die politische Aufgabe dieser Periode
2742 schon die politische Machteroberung durch das Proletariat sein!<span class='pagenum'><a name="Page_52" id="Page_52">[ 52]</a></span>
2743 Einerseits ökonomische, gewerkschaftliche Kämpfe um die nächsten
2744 Interessen, um die materielle Hebung der Arbeiterklasse, anderseits
2745 schon das äußerste Endziel der Sozialdemokratie! Gewiß, das sind
2746 krasse Widersprüche, aber nicht Widersprüche unseres Raisonnements,
2747 sondern Widersprüche der kapitialistischen Entwicklung. Sie verläuft
2748 nicht in einer hübschen, geraden Linie, sondern im schroffen blitzähnlichen
2749 Zickzack. Ebenso wie die verschiedenen kapitalistischen
2750 Länder die verschiedensten Stadien der Entwicklung darstellen, ebenso
2751 innerhalb jedes Landes die verschiedenen Schichten derselben Arbeiterklasse.
2752 Die Geschichte wartet aber nicht geduldig, bis erst die
2753 zurückgebliebenen Länder und Schichten die fortgeschrittensten eingeholt
2754 haben, damit sich das Ganze wie eine stramme Kolonne
2755 symmetrisch weiter bewegen kann. Sie bringt es bereits in den
2756 vordersten exponiertesten Punkten zu Explosionen, sobald die Verhältnisse
2757 hier dafür reif sind, und im Sturme der revolutionären
2758 Periode wird dann in wenigen Tagen und Monaten das Versäumte
2759 nachgeholt, das Ungleiche ausgeglichen, der gesamte soziale Fortschritt
2760 mit einem Ruck in Sturmschritt versetzt.</p>
2762 <p>Wie in der russischen Revolution sich die ganze Stufenleiter der
2763 Entwicklung und der Interessen der verschiedenen Arbeiterschichten in
2764 dem sozialdemokratischen Programm der Revolution und die unzähligen
2765 partiellen Kämpfe in der gemeinsamen großen Klassenaktion des
2766 Proletariats vereinigen, so wird es, wenn die Verhältnisse dafür
2767 reif sind, auch in Deutschland der Fall sein. Und Aufgabe der
2768 Sozialdemokratie wird es alsdann sein, ihre Taktik nicht nach den
2769 zurückgebliebensten Phasen der Entwicklung, sondern nach den fortgeschrittensten
2770 zu richten.</p>
2778 <p>Das wichtigste Erfordernis in der früher oder später kommenden
2779 Periode der großen Kämpfe, die der deutschen Arbeiterklasse harren,
2780 ist, neben der vollen Entschlossenheit und Konsequenz der Taktik, die
2782 sozialdemokratischen Teils der proletarischen Masse. Indes bereits
2783 die ersten schwachen Versuche zur Vorbereitung einer größeren
2784 Massenaktion haben sofort einen wichtigen Übelstand in dieser
2785 Hinsicht aufgedeckt: die völlige Trennung und Verselbständigung der
2786 beiden Organisationen der Arbeiterbewegung, der Sozialdemokratie
2787 und der Gewerkschaften.</p>
2789 <p>Es ist klar aus der näheren Betrachtung der Massenstreiks in
2790 Rußland sowie aus den Verhältnissen in Deutschland selbst, dß
2791 irgend eine größere Massenaktion, wenn sie sich nicht bloß auf eine
2792 einmalige Demonstration beschränken, sondern zu einer wirklichen
2793 Kampfaktion werden soll, unmöglich als ein sogenannter politischer
2794 Massenstreik gedacht werden kann. Die Gewerkschaften würden an
2795 einer solchen Aktion in Deutschland genau so beteiligt sein wie die
2796 Sozialdemokratie. Nicht aus dem Grunde, weil, wie die Gewerkschaftsführer
2797 sich einbilden, die Sozialdemokratie angesichts ihrer viel geringeren
2798 Organisation auf die Mitwirkung der 1-1/4 Million Gewerk<span class='pagenum'><a name="Page_53" id="Page_53">[ 53]</a></span>schaftler
2799 angewiesen wäre und ohne sie nichts zu stande bringen
2800 könnte, sondern aus einem viel tiefer liegenden Grunde: weil jede
2801 direkte Massenaktion oder Periode offener Klassenkämpfe zugleich
2802 eine politische und ökonomische sein würde. Wird es in Deutschland
2803 aus irgend einem Anlß und in irgend einem Zeitpunkt zu großen
2804 politischen Kämpfen, zu Massenstreiks kommen, so wird das zugleich
2806 wobei die Ereignisse nicht im mindesten danach fragen
2807 werden, ob die Gewerkschaftsführer zu der Bewegung ihre Zustimmung
2808 gegeben haben oder nicht. Stehen sie auf der Seite oder suchen sich
2809 gar der Bewegung zu widersetzen, so wird der Erfolg dieses Verhaltens
2810 nur der sein, dß die Gewerkschaftsführer, genau wie die
2811 Parteiführer im analogen Falle, von der Welle der Ereignisse einfach
2812 auf die Seite geschoben und die ökonomischen wie die politischen
2813 Kämpfe der Masse ohne sie ausgekämpft werden.</p>
2815 <p>In der Tat. Die Trennung zwischen dem politischen und dem
2816 ökonomischen Kampf und die Verselbständigung beider ist nichts als
2817 ein künstliches, wenn auch geschichtlich bedingtes Produkt der
2818 parlamentarischen Periode. Einerseits wird hier, bei dem ruhigen,
2819 »normalen« Gang der bürgerlichen Gesellschaft, der ökonomische
2820 Kampf zersplittert, in eine Vielheit einzelner Kämpfe in jeder Unternehmung,
2821 in jedem Produktionszweige aufgelöst. Anderseits wird
2822 der politische Kampf nicht durch die Masse selbst in einer direkten
2823 Aktion geführt, sondern, den Formen des bürgerlichen Staates
2824 entsprechend, auf repräsentativem Wege, durch den Druck auf die
2825 gesetzgebenden Vertretungen. Sobald eine Periode revolutionärer
2826 Kämpfe eintritt, d. h. sobald die Masse auf dem Kampfplatz erscheint,
2827 fallen sowohl die Zersplitterung des ökonomischen Kampfes wie die
2828 indirekte parlamentarische Form des politischen Kampfes weg; in
2829 einer revolutionären Massenaktion sind politischer und ökonomischer
2830 Kampf eins und die künstliche Schranke zwischen Gewerkschaft und
2831 Sozialdemokratie als zwei getrennten, ganz selbständigen Formen der
2832 Arbeiterbewegung wird einfach weggeschwemmt. Was aber in der
2833 revolutionären Massenbewegung augenfällig zum Ausdruck kommt,
2834 trifft auch für die parlamentarische Periode als wirkliche Sachlage zu.
2835 Es gibt nicht zwei verschiedene Klassenkämpfe der Arbeiterklasse, einen
2836 ökonomischen und einen politischen, sondern es gibt nur <em class="gesperrt">einen</em> Klassenkampf,
2837 der gleichzeitig auf die Einschränkung der kapitalistischen Ausbeutung
2838 innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft und auf die Abschaffung
2839 der Ausbeutung mitsamt der bürgerlichen Gesellschaft gerichtet ist.</p>
2841 <p>Wenn sich diese zwei Seiten des Klassenkampfes auch aus technischen
2842 Gründen in der parlamentarischen Periode voneinander
2843 trennen, so stellen sie doch nicht etwa zwei parallel verlaufende Aktionen,
2844 sondern bloß zwei Phasen, zwei Stufen des Emanzipationskampfes
2845 der Arbeiterklasse dar. Der gewerkschaftliche Kampf umfßt die Gegenwartsinteressen,
2846 der sozialdemokratische Kampf die Zukunftsinteressen
2847 der Arbeiterbewegung. Die Kommunisten, sagt das kommunistische
2848 Manifest, vertreten gegenüber verschiedenen Gruppeninteressen (nationalen,
2849 lokalen Interessen) der Proletarier die gemeinsamen Interessen
2850 des gesamten Proletariats und in den verschiedenen Entwicklungsstufen<span class='pagenum'><a name="Page_54" id="Page_54">[ 54]</a></span>
2851 des Klassenkampfes das Interesse der Gesamtbewegung d. h. die Endziele
2852 der Befreiung des Proletariats. Die Gewerkschaften vertreten
2853 nun die Gruppeninteressen und eine Entwicklungsstufe der Arbeiterbewegung.
2854 Die Sozialdemokratie vertritt die Arbeiterklasse und ihre
2855 Befreiungsinteressen im ganzen. Das Verhältnis der Gewerkschaften
2856 zur Sozialdemokratie ist demnach das eines Teiles zum Ganzen, und
2857 wenn unter den Gewerkschaftsführern die Theorie von der »Gleichberechtigung«
2858 der Gewerkschaften und der Sozialdemokratie soviel
2859 Anklang findet, so beruht das auf einer gründlichen Verkennung des
2860 Wesens selbst der Gewerkschaften und ihrer Rolle im allgemeinen
2861 Befreiungskampfe der Arbeiterklasse.</p>
2863 <p>Diese Theorie von der parallelen Aktion der Sozialdemokratie
2864 und der Gewerkschaften und von ihrer »Gleichberechtigung« ist
2865 jedoch nicht völlig aus der Luft gegriffen, sondern hat ihre geschichtlichen
2866 Wurzeln. Sie beruht nämlich auf einer Illusion der ruhigen,
2867 »normalen« Periode der bürgerlichen Gesellschaft, in der der
2869 Kampf aufzugehen scheint. Der parlamentarische Kampf aber,
2870 das ergänzende Gegenstück zum Gewerkschaftskampf, ist ebenso wie
2871 dieser ein Kampf ausschließlich auf dem Boden der bürgerlichen
2872 Gesellschaftsordnung. Er ist seiner Natur nach politische Reformarbeit,
2873 wie die Gewerkschaften ökonomische Reformarbeit sind. Er
2874 stellt politische Gegenwartsarbeit dar, wie die Gewerkschaften ökonomische
2875 Gegenwartsarbeit darstellen. Er ist, wie sie, auch bloß eine
2876 Phase, eine Entwicklungsstufe im Ganzen des proletarischen Klassenkampfes,
2877 dessen Endziele über den parlamentarischen Kampf wie über
2878 den gewerkschaftlichen Kampf in gleichem Mße hinausgehen. Der
2879 parlamentarische Kampf verhält sich zur sozialdemokratischen Politik
2880 denn auch wie ein Teil zum Ganzen, genau so wie die gewerkschaftliche
2881 Arbeit. Die Sozialdemokratie ist eben heute die Zusammenfassung
2882 sowohl des parlamentarischen wie des gewerkschaftlichen
2883 Kampfes in einem auf die Abschaffung der bürgerlichen Gesellschaftsordnung
2884 gerichteten Klassenkampf.</p>
2886 <p>Die Theorie von der »Gleichberechtigung« der Gewerkschaften
2887 mit der Sozialdemokratie ist also kein bloßes theoretisches Mißverständnis,
2888 keine bloße Verwechslung, sondern sie ist ein Ausdruck
2889 der bekannten Tendenz jenes opportunistischen Flügels der Sozialdemokratie,
2890 der den politischen Kampf der Arbeiterklasse auch
2891 tatsächlich auf den parlamentarischen Kampf reduzieren und die
2892 Sozialdemokratie aus einer revolutionären proletarischen in eine
2893 kleinbürgerliche Reformpartei umwandeln will.<a name="FNanchor_4_4" id="FNanchor_4_4"></a><a href="#Footnote_4_4" class="fnanchor">[4]</a> Wollte die Sozial<span class='pagenum'><a name="Page_55" id="Page_55">[ 55]</a></span>demokratie
2894 die Theorie von der »Gleichberechtigung« der Gewerkschaften
2895 akzeptieren, so würde sie damit in indirekter Weise und
2896 stillschweigend jene Verwandlung akzeptieren, die von den Vertretern
2897 der opportunistischen Richtung längst angestrebt wird.</p>
2899 <p>Indes ist in Deutschland eine solche Verschiebung des Verhältnisses
2900 innerhalb der Arbeiterbewegung unmöglicher als in irgend
2901 einem anderen Lande. Das theoretische Verhältnis, wonach Gewerkschaften
2902 bloß ein Teil der Sozialdemokratie sind, findet gerade in
2903 Deutschland seine klassische Illustration in den Tatsachen, in der
2904 lebendigen Praxis, und zwar äußert sich dies nach drei Richtungen
2905 hin. Erstens sind die deutschen Gewerkschaften direkt ein Produkt
2906 der Sozialdemokratie; sie ist es, die die Anfänge der jetzigen Gewerkschaftsbewegung
2907 in Deutschland geschaffen hat, sie ist es, die sie großgezogen,
2908 sie liefert bis auf heute ihre Leiter und die tätigsten Träger
2909 ihrer Organisation. Zweitens sind die deutschen Gewerkschaften ein
2910 Produkt der Sozialdemokratie auch in dem Sinne, dß die sozialdemokratische
2911 Lehre die Seele der gewerkschaftlichen Praxis bildet,
2912 die Gewerkschaften verdanken ihre Überlegenheit über alle bürgerlichen
2913 und konfessionellen Gewerkschaften dem Gedanken des Klassenkampfes;
2914 ihre praktischen Erfolge, ihre Macht sind ein Resultat des Umstandes,
2915 dß ihre Praxis von der Theorie des wissenschaftlichen
2916 Sozialismus erleuchtet und über die Niederungen eines engherzigen
2917 Empirismus gehoben ist. Die Stärke der »praktischen Politik« der
2918 deutschen Gewerkschaften liegt in ihrer Einsicht in die tieferen sozialen
2919 und wirtschaftlichen Zusammenhänge der kapitalistischen Ordnung;
2920 <span class='pagenum'><a name="Page_56" id="Page_56">[ 56]</a></span>diese Einsicht verdanken sie aber niemand anderem, als der Theorie
2921 des wissenschaftlichen Sozialismus, auf der sie in ihrer Praxis fußen.
2922 In diesem Sinne ist jenes Suchen nach der Emanzipierung der
2923 Gewerkschaften von der sozialdemokratischen Theorie nach einer anderen
2924 »gewerkschaftlichen Theorie« im Gegensatz zur Sozialdemokratie vom
2925 Standpunkte der Gewerkschaften selbst und ihrer Zukunft nichts anderes,
2926 als ein Selbstmordversuch. Die Loslösung der gewerkschaftlichen
2927 Praxis von der Theorie des wissenschaftlichen Sozialismus würde
2928 für die deutschen Gewerkschaften einen sofortigen Verlust der ganzen
2929 Überlegenheit gegenüber allen bürgerlichen Gewerkschaftssorten, einen
2930 Sturz von ihrer bisherigen Höhe auf das Niveau eines haltlosen
2931 Tastens und reinen platten Empirismus bedeuten.</p>
2933 <p>Endlich aber drittens sind die Gewerkschaften, wovon ihre
2934 Führer allmählich das Bewußtsein verloren haben, auch direkt
2936 Bewegung und der sozialdemokratischen Agitation.
2937 Gewiß ging und geht die gewerkschaftliche Agitation in manchen
2938 Gegenden der sozialdemokratischen voran und überall ebnet die
2939 gewerkschaftliche Arbeit auch der Parteiarbeit die Wege. Vom
2941 einander völlig in die Hand. Allein, wenn man das Bild des
2942 Klassenkampfes in Deutschland im ganzen und in seinen tiefer
2943 liegenden Zusammenhängen überblickt, so verschiebt sich das Verhältnis
2944 erheblich. Manche Gewerkschaftsleiter pflegen gern mit
2946 auf die armselige, noch nicht volle halbe Million der
2947 organisierten Mitglieder der Sozialdemokratie herabzublicken und sie
2949 Reihen der Sozialdemokratie über die Perspektiven der gewerkschaftlichen
2950 Entwicklung noch pessimistisch dachte. Sie bemerken gar
2951 nicht, dass zwischen diesen zwei Tatsachen: der hohen Ziffer der
2952 Gewerkschaftsmitglieder und der niedrigen Ziffer der sozialdemokratisch
2954 besteht</em>. Tausende und Abertausende von Arbeitern treten
2955 den Parteiorganisationen nicht bei, eben <em class="gesperrt">weil</em> sie in die Gewerkschaften
2956 eintreten. Der Theorie nach müßten alle Arbeiter zweifach
2957 organisiert sein: zweierlei Versammlungen besuchen, zweifache Beiträge
2958 zahlen, zweierlei Arbeiterblätter lesen usw. Um dies jedoch
2959 zu tun, dazu gehört schon ein hoher Grad der Intelligenz und jener
2960 Idealismus, der aus reinem Pflichtgefühl gegenüber der Arbeiterbewegung
2961 tägliche Opfer an Zeit und Geld nicht scheut, endlich auch
2962 jenes leidenschaftliche Interesse für das eigentliche Parteileben, das nur
2963 durch die Zugehörigkeit zur Parteiorganisation befriedigt werden kann.
2964 All das trifft bei der aufgeklärtesten und intelligentesten Minderheit der
2965 sozialdemokratischen Arbeiterschaft in den Großstädten zu, wo das
2966 Parteileben ein inhaltreiches und anziehendes, wo die Lebenshaltung
2967 der Arbeiter eine höhere ist. Bei den breiteren Schichten der großstädtischen
2968 Arbeitermasse aber, sowie in der Provinz, in den kleineren
2969 und kleinsten Nestern, wo das lokale politische Leben ein unselbständiges,
2970 ein bloßer Reflex der hauptstädtischen Vorgänge, wo das Parteileben<span class='pagenum'><a name="Page_57" id="Page_57">[ 57]</a></span>
2971 folglich auch ein armes und monotones ist, wo endlich die wirtschaftliche
2972 Lebenshaltung des Arbeiters meistens eine sehr kümmerliche, da
2973 ist das doppelte Organisationsverhältnis sehr schwer durchzuführen.</p>
2975 <p>Für den sozialdemokratisch gesinnten Arbeiter aus der Masse
2976 wird dann die Frage von selbst in der Weise gelöst, dß er eben
2977 seiner Gewerkschaft beitritt. Den unmittelbaren Interessen seines
2978 wirtschaftlichen Kampfes kann er nämlich, was durch die Natur
2979 dieses Kampfes selbst bedingt ist, nicht anders genügen, als durch
2980 den Beitritt zu einer Berufsorganisation. Der Beitrag, den er hier
2981 vielfach unter bedeutenden Opfern seiner Lebenshaltung zahlt, bringt
2982 ihm unmittelbaren, sichtlichen Nutzen. Seine sozialdemokratische Gesinnung
2983 aber vermag er auch ohne Zugehörigkeit zu einer speziellen
2984 Parteiorganisation zu betätigen: durch Stimmabgabe bei den
2985 Parlamentswahlen, durch den Besuch sozialdemokratischer Volksversammlungen,
2986 durch das Verfolgen der Berichte über sozialdemokratische
2987 Reden in den Vertretungskörpern, durch das Lesen der Parteipresse
2988 – man vergleiche zum Beispiel die Zahl der sozialdemokratischen
2989 Wähler sowie die Abonnentenzahl des »Vorwärts« mit der Zahl
2990 der organisierten Parteimitglieder in Berlin. Und, was das
2991 Ausschlaggebende ist: der sozialdemokratisch gesinnte durchschnittliche
2992 Arbeiter aus der Masse, der als einfacher Mann kein Verständnis
2993 für die komplizierte und feine sogenannte »Zweiseelentheorie« haben
2995 organisiert. Tragen die Zentralverbände auch kein offizielles Parteischild,
2996 so sieht doch der Arbeitsmann aus der Masse in jeder Stadt
2997 und jedem Städtchen an der Spitze seiner Gewerkschaft als die
2998 tätigsten Leiter diejenigen Kollegen, die er auch als Genossen, als
2999 Sozialdemokraten aus dem öffentlichen Leben kennt: bald als sozialdemokratische
3000 Reichstags-, Landtags- oder Gemeindeabgeordnete, bald
3001 als sozialdemokratische Vertrauensmänner, Wahlvereinsvorstände,
3002 Parteiredakteure, Parteisekretäre, oder einfach als Redner und Agitatoren.
3003 Er hört ferner in der Agitation in seiner Gewerkschaft
3004 meistens dieselben ihm lieb und verständlich gewordenen Gedanken
3005 über die kapitalistische Ausbeutung, über Klassenverhältnisse, die er
3006 auch aus der sozialdemokratischen Agitation kennt; ja die meisten
3007 und beliebtesten Redner in den Gewerkschaftsversammlungen sind
3008 eben bekannte Sozialdemokraten.</p>
3010 <p>So wirkt alles dahin, dem klassenbewußten Durchschnittsarbeiter
3011 das Gefühl zu geben, dß er, indem er sich gewerkschaftlich
3012 organisiert, dadurch auch seiner Arbeiterpartei angehört, sozialdemokratisch
3014 eigentliche Werbekraft der deutschen Gewerkschaften</em>.
3015 Nicht dank dem Schein der Neutralität, sondern dank
3016 der sozialdemokratischen Wirklichkeit ihres Wesens, haben es die
3017 Zentralverbände vermocht, ihre heutige Stärke zu erreichen. Dies
3018 ist einfach durch dieselbe Mitexistenz verschiedener bürgerlich-parteilicher:
3019 katholischer, Hirsch-Dunckerscher &c. Gewerkschaften begründet,
3020 durch die man eben die Notwendigkeit jener politischen »Neutralität«
3021 zu begründen sucht. Wenn der deutsche Arbeiter, der die volle freie
3022 Wahl hat, sich einer christlichen, katholischen, evangelischen oder<span class='pagenum'><a name="Page_58" id="Page_58">[ 58]</a></span>
3023 freisinnigen Gewerkschaft anzuschließen, keine von diesen, sondern die
3024 »freie Gewerkschaft« wählt, oder gar aus jenen in diese übertritt,
3025 so tut er dies nur, weil er die Zentralverbände als ausgesprochene
3026 Organisationen des modernen Klassenkampfes, oder, was in Deutschland
3027 dasselbe, als sozialdemokratische Gewerkschaften auffßt. Kurz:
3028 der Schein der »Neutralität«, der für manche Gewerkschaftsführer
3029 existiert, besteht für die Masse der gewerkschaftlich Organisierten
3030 nicht. Und dies ist das ganze Glück der Gewerkschaftsbewegung.
3031 Sollte jener Schein der »Neutralität«, jene Entfremdung und Loslösung
3032 der Gewerkschaften von der Sozialdemokratie zur Wahrheit
3033 und namentlich in den Augen der proletarischen Masse zur Wirklichkeit
3034 werden, dann würden die Gewerkschaften sofort ihren ganzen
3035 Vorzug gegenüber den bürgerlichen Konkurrenzverbänden und damit
3036 auch ihre Werbekraft, ihr belebendes Feuer, verlieren. Das Gesagte
3037 wird durch allgemein bekannte Tatsachen schlagend bewiesen. Der
3038 Schein der partei-politischen »Neutralität« der Gewerkschaften konnte
3039 nämlich als Anziehungsmittel hervorragende Dienste leisten in einem
3040 Lande, wo die Sozialdemokratie selbst keinen Kredit bei den Massen
3041 besitzt, wo ihr Odium einer Arbeiterorganisation in den Augen der
3042 Masse noch eher schadet als nützt, wo mit einem Wort die Gewerkschaften
3043 ihre Truppen erst aus einer ganz unaufgeklärten, bürgerlich
3044 gesinnten Masse selbst rekrutieren müssen.</p>
3046 <p>Das Muster eines solchen Landes war das ganze vorige Jahrhundert
3048 In Deutschland jedoch liegen die Parteiverhältnisse ganz
3049 anders. In einem Lande, wo die Sozialdemokratie die mächtigste
3050 politische Partei ist, wo ihre Werbekraft durch ein Heer von über
3051 drei Millionen Proletariern dargestellt wird, da ist es lächerlich, von
3052 dem abschreckenden Odium der Sozialdemokratie zu sprechen und
3053 von bei Notwendigkeit einer Kampforganisation der Arbeiter, die
3054 politische Neutralität zu wahren. Die bloße Zusammenstellung der
3055 Ziffer der sozialdemokratischen Wähler mit den Ziffern der gewerkschaftlichen
3056 Organisationen in Deutschland genügt, um für jedes
3057 Kind klar zu machen, dß die deutschen Gewerkschaften ihre Truppen
3058 nicht, wie in England, aus der unaufgeklärten bürgerlich gesinnten
3059 Masse, sondern aus der Masse der bereits durch die Sozialdemokratie
3060 aufgerüttelten und für den Gedanken des Klassenkampfes gewonnenen
3061 Proletarier, aus der sozialdemokratischen Wählermasse werben. Manche
3062 Gewerkschaftsführer weisen mit Entrüstung – dies ein Requisit der
3063 »Neutralitätstheorie« – den Gedanken von sich, die Gewerkschaften
3064 als Rekrutenschule für die Sozialdemokratie zu betrachten. Tatsächlich
3065 ist diese ihnen so beleidigend erscheinende, in Wirklichkeit höchst
3066 schmeichelhafte Zumutung in Deutschland durch den einfachen Umstand
3067 zur Phantasie gemacht, weil die Verhältnisse meistens umgekehrt
3068 liegen; es ist die Sozialdemokratie, die in Deutschland die
3069 Rekrutenschule für die Gewerkschaften bildet. Wenn auch das
3070 Organisationswerk der Gewerkschaften meistens noch ein sehr schweres
3071 und mühseliges ist, so ist, abgesehen von manchen Gegenden und
3072 Fällen, im großen und ganzen nicht bloß der Boden bereits durch
3073 den sozialdemokratischen Pflug urbar gemacht worden, sondern die<span class='pagenum'><a name="Page_59" id="Page_59">[ 59]</a></span>
3074 gewerkschaftliche Saat selbst und endlich der Säemann müssen auch
3075 noch »rot«, sozialdemokratisch sein, damit die Ernte gedeiht. Wenn
3076 wir aber auf diese Weise die gewerkschaftlichen Stärkezahlen nicht
3077 mit den sozialdemokratischen Organisationen, sondern, was das einzig
3078 richtige ist, mit der sozialdemokratischen Wählermasse vergleichen, so
3079 kommen wir zu einem Schluß, der von der landläufigen Vorstellung
3080 in dieser Hinsicht bedeutend abweicht. Es stellt sich nämlich heraus,
3081 dß die »freien Gewerkschaften« heute tatsächlich noch die
3082 Minderheit der klassenbewußten Arbeiterschaft Deutschlands darstellen,
3084 Hälfte der von der Sozialdemokratie aufgerüttelten Masse ausschöpfen
3087 <p>Der wichtigste Schluß aus den angeführten Tatsachen ist der,
3088 dß die für die kommenden Massenkämpfe in Deutschland unbedingt
3089 notwendige völlige <em class="gesperrt">Einheit</em> der gewerkschaftlichen und der sozialdemokratischen
3091 und zwar ist sie verkörpert in der breiten Masse, die gleichzeitig die
3092 Basis der Sozialdemokratie wie der Gewerkschaften bildet und in
3093 deren Bewußtsein beide Seiten der Bewegung zu einer geistigen Einheit
3094 verschmolzen sind. Der angebliche Gegensatz zwischen Sozialdemokratie
3095 und Gewerkschaften schrumpft bei dieser Sachlage zu einem
3096 Gegensatz zwischen der Sozialdemokratie und einem gewissen Teil der
3097 Gewerkschaftsbeamten zusammen, der aber zugleich ein Gegensatz
3098 innerhalb der Gewerkschaften zwischen diesem Teil der Gewerkschaftsführer
3099 und der gewerkschaftlich organisierten proletarischen Masse ist.</p>
3101 <p>Das starke Wachstum der Gewerkschaftsbewegung in Deutschland
3102 im Laufe der letzten 15 Jahre, besonders in der Periode der
3104 Verselbständigung der Gewerkschaften, eine Spezialisierung ihrer
3105 Kampfmethoden und ihrer Leitung und endlich das Aufkommen eines
3106 regelrechten gewerkschaftlichen Beamtenstandes mit sich gebracht. All
3107 diese Erscheinungen sind ein vollkommen erklärliches und natürliches
3108 geschichtliches Produkt des fünfzehnjährigen Wachstums der Gewerkschaften,
3109 ein Produkt der wirtschaftlichen Prosperität und der
3110 politischen Windstille in Deutschland. Sie sind, wenn auch von
3111 gewissen Übelständen unzertrennlich, doch zweifellos ein historisch
3112 notwendiges Übel. Allein die Dialektik der Entwicklung bringt es
3113 eben mit sich, dß diese notwendigen Förderungsmittel des gewerkschaftlichen
3114 Wachstums auf einer gewissen Höhe der Organisation
3115 und bei einem gewissen Reifegrad der Verhältnisse in ihr Gegenteil,
3116 in Hemmnisse des weiteren Wachstums umschlagen.</p>
3118 <p>Die Spezialisierung ihrer Berufstätigkeit als gewerkschaftlicher
3119 Leiter sowie der naturgemäß enge Gesichtskreis, der mit den zersplitterten
3120 ökonomischen Kämpfen in einer ruhigen Periode verbunden
3121 ist, führen bei den Gewerkschaftsbeamten nur zu leicht zum
3122 Bureaukratismus und zu einer gewissen Enge der Auffassung. Beides
3123 äußert sich aber in einer ganzen Reihe von Tendenzen, die für die
3124 Zukunft der gewerkschaftlichen Bewegung selbst höchst verhängnisvoll
3126 Organisation, die aus einem Mittel zum Zweck allmählich in einen<span class='pagenum'><a name="Page_60" id="Page_60">[ 60]</a></span>
3127 Selbstzweck, in ein höchstes Gut verwandelt wird, dem die Interessen
3128 des Kampfes untergeordnet werden sollen. Daraus erklärt sich
3129 auch jenes offen zugestandene Ruhebedürfnis, das vor einem
3130 größeren Risiko und vor vermeintlichen Gefahren für den Bestand
3131 der Gewerkschaften, vor der Ungewißheit größerer Massenaktionen
3132 zurückschreckt, ferner die Überschätzung der gewerkschaftlichen
3133 Kampfesweise selbst, ihrer Aussichten und ihrer Erfolge. Die beständig
3134 von dem ökonomischen Kleinkrieg absorbierten Gewerkschaftsleiter,
3135 die es zur Aufgabe haben, den Arbeitermassen den
3136 hohen Wert jeder noch so geringen ökonomischen Errungenschaft,
3137 jeder Lohnerhöhung oder Verkürzung der Arbeitszeit plausibel zu
3138 machen, kommen allmählich dahin, dß sie selbst die größeren Zusammenhänge
3139 und den Überblick über die Gesamtlage verlieren.
3140 Nur dadurch kann erklärt werden, dß manche Gewerkschaftsführer
3141 z. B. mit so großer Genugtuung auf die Errungenschaften
3143 hinweisen, anstatt umgekehrt den Nachdruck auf die andere Seite
3144 der Medaille zu legen: auf die gleichzeitig stattgefundene ungeheure
3145 Herabdrückung der proletarischen Lebenshaltung durch den Brotwucher,
3146 durch die gesamte Steuer- und Zollpolitik, durch den Bodenwucher,
3147 der die Wohnungsmieten in so exorbitanter Weise in die
3148 Höhe getrieben hat, mit einem Wort, auf all die objektiven Tendenzen
3149 der bürgerlichen Politik, die jene Errungenschaften der
3150 15jährigen gewerkschaftlichen Kämpfe zu einem großen Teil wieder
3152 die neben der Betonung der Gegenwartsarbeit und ihrer
3154 die Schranken dieser Arbeit legt, wird so die <em class="gesperrt">halbe</em> gewerkschaftliche
3155 Wahrheit zurechtgestutzt, die nur das Positive des Tageskampfes
3156 hervorhebt. Und schließlich wird aus dem Verschweigen
3157 der dem gewerkschaftlichen Kampfe gezogenen objektiven Schranken
3158 der bürgerlichen Gesellschaftsordnung eine direkte Feindseligkeit
3159 gegen jede theoretische Kritik, die auf diese Schranken im Zusammenhang
3160 mit den Endzielen der Arbeiterbewegung hinweist. Die unbedingte
3161 Lobhudelei, der grenzenlose Optimismus werden zur Pflicht
3162 jedes »Freundes der Gewerkschaftsbewegung« gemacht. Da aber
3163 der sozialdemokratische Standpunkt gerade in der Bekämpfung des
3164 kritiklosen gewerkschaftlichen Optimismus, ganz wie in der Bekämpfung
3165 des kritiklosen parlamentarischen Optimismus besteht, so
3166 wird schließlich gegen die sozialdemokratische Theorie selbst Front
3167 gemacht: man sucht tastend nach einer »neuen gewerkschaftlichen
3168 Theorie«, d. h. nach einer Theorie, die den gewerkschaftlichen
3169 Kämpfen im Gegensatz zur sozialdemokratischen Lehre auf dem Boden
3170 der kapitalistischen Ordnung ganz unbeschränkte Perspektiven des wirtschaftlichen
3171 Aufstiegs eröffnen wurde. Eine solche Theorie existiert freilich
3173 die ausdrücklich mit der Absicht aufgestellt wurde, einen Keil zwischen
3174 die Gewerkschaften und die Sozialdemokratie in Deutschland zu treiben
3175 und die Gewerkschaften auf bürgerlichen Boden hinüberzulocken.</p>
3177 <p>Im engen Zusammenhang mit diesen theoretischen Tendenzen<span class='pagenum'><a name="Page_61" id="Page_61">[ 61]</a></span>
3178 steht ein Umschwung im Verhältnis der Führer zur Masse. An
3179 Stelle der kollegialen Leitung durch lokale Kommissionen mit ihren
3180 zweifellosen Unzulänglichkeiten tritt die geschäftsmäßige Leitung des
3181 Gewerkschaftsbeamten. Die Initiative und die Urteilsfähigkeit
3182 werden damit sozusagen zu seiner Berufsspezialität, während der
3183 Masse hauptsächlich die mehr passive Tugend der Disziplin obliegt.
3184 Diese Schattenseiten des Beamtentums bergen sicherlich auch für die
3185 Partei bedeutende Gefahren in sich, die sich aus der jüngsten Steuerung,
3186 aus der Anstellung der lokalen Parteisekretäre, seht leicht ergeben
3187 können, wenn die sozialdemokratische Masse nicht darauf bedacht
3188 sein wird, dß die genannten Sekretäre reine Vollziehungsorgane
3189 bleiben und nicht etwa als die berufenen Träger der Initiative und
3190 der Leitung des lokalen Parteilebens betrachtet werden. Allein dem
3191 Bureaukratismus sind in der Sozialdemokratie durch die Natur der
3192 Sache, durch den Charakter des politischen Kampfes selbst engere
3193 Grenzen gezogen, als im Gewerkschaftsleben. Hier bringt gerade
3194 die technische Spezialisierung der Lohnkämpfe, z. B. der Abschluß
3195 von komplizierten Tarifverträgen und dergleichen, mit sich, dß der
3196 Masse der Organisierten häufig der »Überblick über das gesamte
3197 Gewerbsleben« abgesprochen und damit ihre Urteilsunfähigkeit begründet
3198 wird. Eine Blüte dieser Auffassung ist namentlich auch
3199 die Argumentation, mit der jede theoretische Kritik an den Aussichten
3201 angeblich eine Gefahr für die gewerkschaftsfromme Gesinnung der
3202 Masse darstelle. Es wird dabei von der Ansicht ausgegangen, dß
3203 die Arbeitermasse nur bei blindem, kindlichen Glauben an das Heil
3204 des Gewerkschaftskampfes für die Organisation gewonnen und erhalten
3205 werden könne. Im Gegensatz zur Sozialdemokratie, die gerade
3206 auf der Einsicht der Masse in die Widersprüche der bestehenden
3207 Ordnung und in die ganze komplizierte Natur ihrer Entwicklung,
3208 auf dem kritischen Verhalten der Masse zu allen Momenten und
3209 Stadien des eigenen Klassenkampfes ihren Einfluß basiert, wird der
3210 Einfluß und die Macht der Gewerkschaften nach dieser verkehrten
3211 Theorie auf der Kritik- und Urteilslosigkeit der Masse gegründet. »Dem
3212 Volke muß der Glaube erhalten werden« – dies der Grundsatz, aus
3213 dem heraus manche Gewerkschaftsbeamten alle Kritik an den objektiven
3214 Unzulänglichkeiten der Gewerkschaftsbewegung zu einem Attentat auf
3215 diese Bewegung selbst stempeln. Und endlich ein Resultat dieser
3216 Spezialisierung und dieses Bureaukratismus unter den Gewerkschaftsbeamten
3217 ist auch die starke Verselbständigung und die »Neutralität«
3218 der Gewerkschaften gegenüber der Sozialdemokratie. Die äußere
3219 Selbständigkeit der gewerkschaftlichen Organisation hat sich mit ihrem
3220 Wachstum als eine natürliche Bedingung ergeben, als ein Verhältnis,
3221 das aus der technischen Arbeitsteilung zwischen der politischen und
3222 der gewerkschaftlichen Kampfform erwächst. Die »Neutralität« der
3223 deutschen Gewerkschaften kam ihrerseits als ein Produkt der
3224 reaktionären Vereinsgesetzgebung, des preußisch-deutschen Polizeistaates
3225 auf. Mit der Zeit haben beide Verhältnisse ihre Natur
3226 geändert. Aus dem polizeilich erzwungenen Zustand der politischen
3227 »Neutralität« der Gewerkschaften ist nachträglich eine Theorie ihrer<span class='pagenum'><a name="Page_62" id="Page_62">[ 62]</a></span>
3228 freiwilligen Neutralität als einer angeblich in der Natur des
3229 Gewerkschaftskampfes selbst begründeten Notwendigkeit zurechtgemacht
3230 worden. Und die technische Selbständigkeit der Gewerkschaften, die
3231 auf praktischer Arbeitsteilung innerhalb des einheitlichen sozialdemokratischen
3232 Klassenkampfes beruhen sollte, ist in die Lostrennung
3233 der Gewerkschaften von der Sozialdemokratie, von ihren Ansichten
3234 und von ihrer Führung, in die sogenannte »Gleichberechtigung« mit
3235 der Sozialdemokratie umgewandelt.</p>
3237 <p>Dieser Schein der Lostrennung und der Gleichstellung der
3238 Gewerkschaften mit der Sozialdemokratie wird aber hauptsächlich
3239 in den Gewerkschaftsbeamten verkörpert, durch den Verwaltungsapparat
3240 der Gewerkschaften genährt. Äußerlich ist durch die Nebenexistenz
3241 eines ganzen Stabes von Gewerkschaftsbeamten, einer gänzlich
3242 unabhängigen Zentrale, einer zahlreichen Berufspresse und endlich
3243 der gewerkschaftlichen Kongresse der Schein einer völligen Parallelität
3244 mit dem Verwaltungsapparat der Sozialdemokratie, dem Parteivorstand,
3245 der Parteipresse und den Parteitagen geschaffen. Diese
3246 Illusion der Gleichstellung zwischen Sozialdemokratie und Gewerkschaften
3248 auf den sozialdemokratischen Parteitagen und den gewerkschaftlichen
3249 Kongressen zum Teil ganz analoge Tagesordnungen behandelt und
3250 zu derselben Frage verschiedene, ja, direkt entgegengesetzte Beschlüsse
3251 gefßt werden. Aus der natürlichen Arbeitsteilung zwischen dem
3252 Parteitag, der die allgemeinen Interessen und Aufgaben der Arbeiterbewegung
3253 vertritt, und den Gewerkschaftskonferenzen, die das viel
3254 engere Gebiet der speziellen Fragen und Interessen des beruflichen
3255 Tageskampfes behandeln, ist der künstliche Zwiespalt zwischen einer
3256 angeblichen gewerkschaftlichen und einer sozialdemokratischen Weltanschauung
3258 und Interessen der Arbeiterbewegung konstruiert worden.</p>
3260 <p>So hat sich der eigenartige Zustand herausgebildet, dß dieselbe
3261 Gewerkschaftsbewegung, die mit der Sozialdemokratie unten, in der
3262 breiten proletarischen Masse, vollständig eins ist, oben, in dem Verwaltungsüberbau,
3263 von der Sozialdemokratie schroff abspringt und
3264 sich ihr gegenüber als eine unabhängige zweite Großmacht aufrichtet.
3265 Die deutsche Arbeiterbewegung bekommt dadurch die eigentümliche
3266 Form einer Doppelpyramide, deren Basis und Körper aus einem
3267 Massiv besteht, deren beide Spitzen aber weit auseinanderstehen.</p>
3269 <p>Es ist aus dem Dargelegten klar, auf welchem Wege allein in
3270 natürlicher und erfolgreicher Weise jene kompakte Einheit der deutschen
3271 Arbeiterbewegung geschaffen werden kann, die im Hinblick auf die
3272 kommenden politischen Klassenkämpfe, sowie im eigenen Interesse der
3273 weiteren Entwicklung der Gewerkschaften, unbedingt notwendig ist.
3274 Nichts wäre verkehrter und hoffnungsloser, als die erstrebte Einheit
3275 auf dem Wege sporadischer oder periodischer Verhandlungen über
3276 Einzelfragen der Arbeiterbewegung zwischen der sozialdemokratischen
3277 Parteileitung und der gewerkschaftlichen Zentrale herstellen zu wollen.
3278 Gerade die obersten Organisationsspitzen der beiden Formen der
3279 Arbeiterbewegung verkörpern, wie wir gesehen, ihre Trennung und
3280 Verselbständigung in sich, sind also selbst Träger der Illusion von der
3281 <span class='pagenum'><a name="Page_63" id="Page_63">[ 63]</a></span>»Gleichberechtigung« und der Parallelexistenz der Sozialdemokratie
3282 und der Gewerkschaften. Die Einheit der beiden durch die Verbindung
3283 des Parteivorstandes und der Generalkommission herstellen wollen,
3284 hieße eine Brücke gerade dort bauen, wo der Abstand am weitesten
3285 und der Übergang am schwersten ist. Nicht oben, in den Spitzen der
3286 Organisationsleitungen und ihrem föderativen Bündnis, sondern unten
3287 in der organisierten proletarischen Masse liegt die Gewähr für die
3288 wirkliche Einheit der Arbeiterbewegung. Im Bewußtsein der Million
3289 Gewerkschaftsmitglieder sind Partei und Gewerkschaften tatsächlich
3290 <em class="gesperrt">Eins</em>, sie sind nämlich der <em class="gesperrt">sozialdemokratische</em> Emanzipationskampf
3291 des Proletariats in verschiedenen Formen. Und daraus
3292 ergibt sich auch von selbst die Notwendigkeit, zur Beseitigung
3293 jener Reibungen, die sich zwischen der Sozialdemokratie und einem
3294 Teil der Gewerkschaften ergeben haben, ihr gegenseitiges Verhältnis
3296 Gewerkschaften der Sozialdemokratie wieder anzugliedern</em>.
3297 Es wird damit nur die Synthese der tatsächlichen
3298 Entwicklung zum Ausdruck gebracht, die es von der ursprünglichen
3299 Inkorporation der Gewerkschaften zu ihrer Ablösung von der Sozialdemokratie
3300 geführt hatte, um nachher durch die Periode des starken
3301 Wachstums sowohl der Gewerkschaften wie der Sozialdemokratie die
3302 kommende Periode großer proletarischer Massenkämpfe vorzubereiten,
3303 damit aber die Wiedervereinigung der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften
3304 im Interesse beider zur Notwendigkeit zu machen.</p>
3307 des jetzigen gewerkschaftlichen Aufbaues in der Partei, sondern
3308 es handelt sich um die Herstellung jenes natürlichen Verhältnisses
3309 zwischen der Leitung der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften,
3310 zwischen Parteitagen und Gewerkschaftskongressen, die dem tatsächlichen
3311 Verhältnis zwischen der Arbeiterbewegung im ganzen
3312 und ihrer gewerkschaftlichen Teilerscheinung entspricht. Ein solcher
3313 Umschwung wird, wie es nicht anders gehen kann, eine heftige
3314 Opposition eines Teils der Gewerkschaftsführer hervorrufen. Allein
3315 es ist hohe Zeit, dß die sozialdemokratische Arbeitermasse lernt, ihre
3316 Urteilsfähigkeit und Aktionsfähigkeit zum Ausdruck zu bringen, und
3317 damit ihre Reife für jene Zeiten großer Kämpfe und großer Aufgaben
3318 darzutun, in denen sie, die Masse, der handelnde Chorus, die
3319 Leitungen nur die »sprechenden Personen«, d. h., die Dolmetscher
3320 des Massenwillens sein sollen.</p>
3322 <p>Die Gewerkschaftsbewegung ist nicht das, was sich in den vollkommen
3323 erklärlichen, aber irrtümlichen Illusionen einer Minderheit
3324 der Gewerkschaftsführer spiegelt, sondern das, was im Bewußtsein der
3325 großen Masse der für den Klassenkampf gewonnenen Proletarier lebt.
3326 In diesem Bewußtsein ist die Gewerkschaftsbewegung ein Stück der
3327 Sozialdemokratie. »Und was sie ist, das wage sie zu scheinen.«</p>
3329 <div class="footnote"><p><a name="Footnote_4_4" id="Footnote_4_4"></a><a href="#FNanchor_4_4"><span class="label">[4]</span></a> Da das Vorhandensein einer solchen Tendenz innerhalb der deutschen
3330 Sozialdemokratie gewöhnlich geleugnet wird, so muß man die Offenherzigkeit
3331 begrüßen, mit der die opportunistische Richtung neulich ihre eigentlichen Ziele
3332 und Wünsche formuliert hat. In einer Parteiversammlung in Mainz am 10. September
3333 d. J. wurde folgende von Dr. <em class="gesperrt">David</em> vorgelegte Resolution angenommen:
3334 </p><p>
3335 »In der Erwägung, dß die sozialdemokratische Partei den Begriff »Revolution«
3336 nicht im Sinne des gewaltsamen Umsturzes, sondern im friedlichen
3337 Sinne der Entwicklung, d. h. der allmählichen Durchsetzung eines neuen Wirtschaftsprinzips,
3338 auffßt, lehnt die Mainzer öffentliche Parteiversammlung jede
3339 »Revolutionsromantik« ab.
3340 </p><p>
3341 »Die Versammlung sieht in der Eroberung der politischen Macht nichts
3342 anderes als die Eroberung der Mehrheit des Volkes für die Ideen und Forderungen
3343 der Sozialdemokratie; eine Eroberung, die nicht geschehen kann mit gewaltsamen
3344 Mitteln, sondern nur durch die Revolutionierung der Köpfe auf dem
3345 Wege der geistigen Propaganda und der praktischen Reformarbeit auf allen
3346 Gebieten des politischen, wirtschaftlichen und sozialen Lebens.
3347 </p><p>
3348 In der Überzeugung, dß die Sozialdemokratie weit besser gedeiht bei den
3349 gesetzlichen Mitteln als bei den ungesetzlichen und dem Umsturz, lehnt die Versammlung
3351 an dem Prinzip der <em class="gesperrt">parlamentarischen Reformation</em> fest, d. h., sie
3352 wünscht, dß die Partei nach wie vor ernstlich bemüht ist, <em class="gesperrt">auf dem Wege der
3353 Gesetzgebung und der organischen Entwicklung allmählich unsere
3354 Ziele zu erreichen</em>.
3355 </p><p>
3356 Die fundamentale Voraussetzung dieser reformatorischen Kampfesmethode
3358 Volksmasse an der Gesetzgebung</em> im Reiche und in den Einzelstaaten
3359 nicht verkürzt, sondern bis zur <em class="gesperrt">vollen Gleichberechtigung</em> erneuert wird.
3360 Aus diesem Grunde hält es die Versammlung für ein unbestreitbares Recht der
3361 Arbeiterschaft, zur Abwehr von Attentaten auf ihre gesetzlichen Rechte sowie
3362 zur Erringung weiterer Rechte, wenn alle anderen Mittel versagen, auch die
3363 Arbeit für kürzere oder längere Dauer zu verweigern.
3364 </p><p>
3365 Da der politische Massenstreik aber nur dann siegreich für die Arbeiterschaft
3367 Bahnen</em> hält und seitens der Streikenden kein berechtigter Anlß zum Eingreifen
3368 der bewaffneten Macht geboten wird, so erblickt die Versammlung die
3369 einzig notwendige und wirksame Vorbereitung auf den Gebrauch dieses Kampfmittels
3370 in dem weiteren Ausbau der politischen, gewerkschaftlichen und genossenschaftlichen
3371 Organisation. Denn nur dadurch können die Voraussetzungen
3372 in der breiten Volksmasse geschaffen werden, die den erfolgreichen Verlauf eines
3373 Massenstreiks garantieren: zielbewußte Disziplin und einen geeigneten wirtschaftlichen
3374 Rückhalt.«</p></div>
3382 Das Inhaltsverzeichnis wurde für die elektronische Fassung hinzugefügt.<br /><br />
3383 Offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert.<br /><br />
3384 Die Originalausgabe ist in Fraktur gesetzt. In Antiqua gesetzt sind in ihr römische
3385 Zahlen (in der elektronischen Fassung ohne Hervorhebung wiedergegeben) und einzelne
3386 Wörter aus fremden Sprachen (hier kursiv). Gesperrt gesetzte Passagen sind in dieser
3387 Form übernommen.<br /><br />
3389 Nicht verändert wurde die uneinheitliche Groß- oder Kleinschreibung von einigen Zahlwörtern,
3390 Pronomina und Adjektiven sowie Schreibvarianten, insbesondere durch Rechtschreibreformen entstandene.<br />
3391 </div>
3399 <pre>
3405 End of the Project Gutenberg EBook of Massenstreik, Partei und Gewerkschaften, by
3406 Rosa Luxemburg
3408 *** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK MASSENSTREIK ***
3411 This and all associated files of various formats will be found in:
3414 Produced by Odessa Paige Turner and the Online Distributed
3415 Proofreading Team at http://www.pgdp.net (This book was
3416 produced from scanned images of public domain material
3417 from the Google Print project.)
3420 Updated editions will replace the previous one--the old editions
3421 will be renamed.
3423 Creating the works from public domain print editions means that no
3424 one owns a United States copyright in these works, so the Foundation
3425 (and you!) can copy and distribute it in the United States without
3426 permission and without paying copyright royalties. Special rules,
3427 set forth in the General Terms of Use part of this license, apply to
3428 copying and distributing Project Gutenberg-tm electronic works to
3429 protect the PROJECT GUTENBERG-tm concept and trademark. Project
3430 Gutenberg is a registered trademark, and may not be used if you
3431 charge for the eBooks, unless you receive specific permission. If you
3432 do not charge anything for copies of this eBook, complying with the
3433 rules is very easy. You may use this eBook for nearly any purpose
3434 such as creation of derivative works, reports, performances and
3435 research. They may be modified and printed and given away--you may do
3436 practically ANYTHING with public domain eBooks. Redistribution is
3437 subject to the trademark license, especially commercial
3438 redistribution.
3442 *** START: FULL LICENSE ***
3444 THE FULL PROJECT GUTENBERG LICENSE
3445 PLEASE READ THIS BEFORE YOU DISTRIBUTE OR USE THIS WORK
3447 To protect the Project Gutenberg-tm mission of promoting the free
3448 distribution of electronic works, by using or distributing this work
3449 (or any other work associated in any way with the phrase "Project
3450 Gutenberg"), you agree to comply with all the terms of the Full Project
3451 Gutenberg-tm License (available with this file or online at
3452 http://gutenberg.org/license).
3455 Section 1. General Terms of Use and Redistributing Project Gutenberg-tm
3456 electronic works
3458 1.A. By reading or using any part of this Project Gutenberg-tm
3459 electronic work, you indicate that you have read, understand, agree to
3460 and accept all the terms of this license and intellectual property
3461 (trademark/copyright) agreement. If you do not agree to abide by all
3462 the terms of this agreement, you must cease using and return or destroy
3463 all copies of Project Gutenberg-tm electronic works in your possession.
3464 If you paid a fee for obtaining a copy of or access to a Project
3465 Gutenberg-tm electronic work and you do not agree to be bound by the
3466 terms of this agreement, you may obtain a refund from the person or
3470 used on or associated in any way with an electronic work by people who
3471 agree to be bound by the terms of this agreement. There are a few
3472 things that you can do with most Project Gutenberg-tm electronic works
3473 even without complying with the full terms of this agreement. See
3474 paragraph 1.C below. There are a lot of things you can do with Project
3475 Gutenberg-tm electronic works if you follow the terms of this agreement
3476 and help preserve free future access to Project Gutenberg-tm electronic
3477 works. See paragraph 1.E below.
3480 or PGLAF), owns a compilation copyright in the collection of Project
3481 Gutenberg-tm electronic works. Nearly all the individual works in the
3482 collection are in the public domain in the United States. If an
3483 individual work is in the public domain in the United States and you are
3484 located in the United States, we do not claim a right to prevent you from
3485 copying, distributing, performing, displaying or creating derivative
3486 works based on the work as long as all references to Project Gutenberg
3487 are removed. Of course, we hope that you will support the Project
3488 Gutenberg-tm mission of promoting free access to electronic works by
3489 freely sharing Project Gutenberg-tm works in compliance with the terms of
3490 this agreement for keeping the Project Gutenberg-tm name associated with
3491 the work. You can easily comply with the terms of this agreement by
3492 keeping this work in the same format with its attached full Project
3493 Gutenberg-tm License when you share it without charge with others.
3495 1.D. The copyright laws of the place where you are located also govern
3496 what you can do with this work. Copyright laws in most countries are in
3497 a constant state of change. If you are outside the United States, check
3498 the laws of your country in addition to the terms of this agreement
3499 before downloading, copying, displaying, performing, distributing or
3500 creating derivative works based on this work or any other Project
3501 Gutenberg-tm work. The Foundation makes no representations concerning
3502 the copyright status of any work in any country outside the United
3503 States.
3505 1.E. Unless you have removed all references to Project Gutenberg:
3508 access to, the full Project Gutenberg-tm License must appear prominently
3509 whenever any copy of a Project Gutenberg-tm work (any work on which the
3511 Gutenberg" is associated) is accessed, displayed, performed, viewed,
3512 copied or distributed:
3514 This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with
3515 almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or
3516 re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included
3517 with this eBook or online at www.gutenberg.org
3520 from the public domain (does not contain a notice indicating that it is
3521 posted with permission of the copyright holder), the work can be copied
3522 and distributed to anyone in the United States without paying any fees
3523 or charges. If you are redistributing or providing access to a work
3524 with the phrase "Project Gutenberg" associated with or appearing on the
3531 with the permission of the copyright holder, your use and distribution
3533 terms imposed by the copyright holder. Additional terms will be linked
3534 to the Project Gutenberg-tm License for all works posted with the
3535 permission of the copyright holder found at the beginning of this work.
3538 License terms from this work, or any files containing a part of this
3539 work or any other work associated with Project Gutenberg-tm.
3542 electronic work, or any part of this electronic work, without
3544 active links or immediate access to the full terms of the Project
3545 Gutenberg-tm License.
3548 compressed, marked up, nonproprietary or proprietary form, including any
3549 word processing or hypertext form. However, if you provide access to or
3550 distribute copies of a Project Gutenberg-tm work in a format other than
3551 "Plain Vanilla ASCII" or other format used in the official version
3552 posted on the official Project Gutenberg-tm web site (www.gutenberg.org),
3553 you must, at no additional cost, fee or expense to the user, provide a
3554 copy, a means of exporting a copy, or a means of obtaining a copy upon
3555 request, of the work in its original "Plain Vanilla ASCII" or other
3556 form. Any alternate format must include the full Project Gutenberg-tm
3560 performing, copying or distributing any Project Gutenberg-tm works
3564 access to or distributing Project Gutenberg-tm electronic works provided
3565 that
3567 - You pay a royalty fee of 20% of the gross profits you derive from
3568 the use of Project Gutenberg-tm works calculated using the method
3569 you already use to calculate your applicable taxes. The fee is
3570 owed to the owner of the Project Gutenberg-tm trademark, but he
3571 has agreed to donate royalties under this paragraph to the
3572 Project Gutenberg Literary Archive Foundation. Royalty payments
3573 must be paid within 60 days following each date on which you
3574 prepare (or are legally required to prepare) your periodic tax
3575 returns. Royalty payments should be clearly marked as such and
3576 sent to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation at the
3578 the Project Gutenberg Literary Archive Foundation."
3580 - You provide a full refund of any money paid by a user who notifies
3581 you in writing (or by e-mail) within 30 days of receipt that s/he
3582 does not agree to the terms of the full Project Gutenberg-tm
3583 License. You must require such a user to return or
3584 destroy all copies of the works possessed in a physical medium
3585 and discontinue all use of and all access to other copies of
3586 Project Gutenberg-tm works.
3589 money paid for a work or a replacement copy, if a defect in the
3590 electronic work is discovered and reported to you within 90 days
3591 of receipt of the work.
3593 - You comply with all other terms of this agreement for free
3594 distribution of Project Gutenberg-tm works.
3597 electronic work or group of works on different terms than are set
3598 forth in this agreement, you must obtain permission in writing from
3599 both the Project Gutenberg Literary Archive Foundation and Michael
3600 Hart, the owner of the Project Gutenberg-tm trademark. Contact the
3601 Foundation as set forth in Section 3 below.
3603 1.F.
3606 effort to identify, do copyright research on, transcribe and proofread
3607 public domain works in creating the Project Gutenberg-tm
3608 collection. Despite these efforts, Project Gutenberg-tm electronic
3609 works, and the medium on which they may be stored, may contain
3610 "Defects," such as, but not limited to, incomplete, inaccurate or
3611 corrupt data, transcription errors, a copyright or other intellectual
3612 property infringement, a defective or damaged disk or other medium, a
3613 computer virus, or computer codes that damage or cannot be read by
3614 your equipment.
3618 Gutenberg Literary Archive Foundation, the owner of the Project
3619 Gutenberg-tm trademark, and any other party distributing a Project
3620 Gutenberg-tm electronic work under this agreement, disclaim all
3621 liability to you for damages, costs and expenses, including legal
3622 fees. YOU AGREE THAT YOU HAVE NO REMEDIES FOR NEGLIGENCE, STRICT
3623 LIABILITY, BREACH OF WARRANTY OR BREACH OF CONTRACT EXCEPT THOSE
3624 PROVIDED IN PARAGRAPH F3. YOU AGREE THAT THE FOUNDATION, THE
3625 TRADEMARK OWNER, AND ANY DISTRIBUTOR UNDER THIS AGREEMENT WILL NOT BE
3626 LIABLE TO YOU FOR ACTUAL, DIRECT, INDIRECT, CONSEQUENTIAL, PUNITIVE OR
3627 INCIDENTAL DAMAGES EVEN IF YOU GIVE NOTICE OF THE POSSIBILITY OF SUCH
3628 DAMAGE.
3631 defect in this electronic work within 90 days of receiving it, you can
3632 receive a refund of the money (if any) you paid for it by sending a
3633 written explanation to the person you received the work from. If you
3634 received the work on a physical medium, you must return the medium with
3635 your written explanation. The person or entity that provided you with
3636 the defective work may elect to provide a replacement copy in lieu of a
3637 refund. If you received the work electronically, the person or entity
3638 providing it to you may choose to give you a second opportunity to
3639 receive the work electronically in lieu of a refund. If the second copy
3640 is also defective, you may demand a refund in writing without further
3641 opportunities to fix the problem.
3645 WARRANTIES OF ANY KIND, EXPRESS OR IMPLIED, INCLUDING BUT NOT LIMITED TO
3646 WARRANTIES OF MERCHANTIBILITY OR FITNESS FOR ANY PURPOSE.
3649 warranties or the exclusion or limitation of certain types of damages.
3650 If any disclaimer or limitation set forth in this agreement violates the
3651 law of the state applicable to this agreement, the agreement shall be
3652 interpreted to make the maximum disclaimer or limitation permitted by
3653 the applicable state law. The invalidity or unenforceability of any
3654 provision of this agreement shall not void the remaining provisions.
3657 trademark owner, any agent or employee of the Foundation, anyone
3658 providing copies of Project Gutenberg-tm electronic works in accordance
3659 with this agreement, and any volunteers associated with the production,
3660 promotion and distribution of Project Gutenberg-tm electronic works,
3661 harmless from all liability, costs and expenses, including legal fees,
3662 that arise directly or indirectly from any of the following which you do
3663 or cause to occur: (a) distribution of this or any Project Gutenberg-tm
3664 work, (b) alteration, modification, or additions or deletions to any
3665 Project Gutenberg-tm work, and (c) any Defect you cause.
3668 Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg-tm
3670 Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
3671 electronic works in formats readable by the widest variety of computers
3672 including obsolete, old, middle-aged and new computers. It exists
3673 because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from
3674 people in all walks of life.
3676 Volunteers and financial support to provide volunteers with the
3677 assistance they need, are critical to reaching Project Gutenberg-tm's
3678 goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
3679 remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
3680 Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
3681 and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations.
3682 To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
3684 and the Foundation web page at http://www.pglaf.org.
3687 Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive
3688 Foundation
3690 The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
3692 state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
3693 Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification
3695 http://pglaf.org/fundraising. Contributions to the Project Gutenberg
3696 Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent
3697 permitted by U.S. federal laws and your state's laws.
3699 The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S.
3700 Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered
3701 throughout numerous locations. Its business office is located at
3703 business@pglaf.org. Email contact links and up to date contact
3704 information can be found at the Foundation's web site and official
3705 page at http://pglaf.org
3707 For additional contact information:
3708 Dr. Gregory B. Newby
3709 Chief Executive and Director
3710 gbnewby@pglaf.org
3713 Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
3714 Literary Archive Foundation
3716 Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
3717 spread public support and donations to carry out its mission of
3718 increasing the number of public domain and licensed works that can be
3719 freely distributed in machine readable form accessible by the widest
3720 array of equipment including outdated equipment. Many small donations
3722 status with the IRS.
3724 The Foundation is committed to complying with the laws regulating
3725 charities and charitable donations in all 50 states of the United
3726 States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
3727 considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
3728 with these requirements. We do not solicit donations in locations
3729 where we have not received written confirmation of compliance. To
3730 SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any
3731 particular state visit http://pglaf.org
3733 While we cannot and do not solicit contributions from states where we
3734 have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
3735 against accepting unsolicited donations from donors in such states who
3736 approach us with offers to donate.
3738 International donations are gratefully accepted, but we cannot make
3739 any statements concerning tax treatment of donations received from
3740 outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.
3742 Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
3743 methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
3744 ways including checks, online payments and credit card donations.
3745 To donate, please visit: http://pglaf.org/donate
3748 Section 5. General Information About Project Gutenberg-tm electronic
3749 works.
3751 Professor Michael S. Hart is the originator of the Project Gutenberg-tm
3752 concept of a library of electronic works that could be freely shared
3753 with anyone. For thirty years, he produced and distributed Project
3754 Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support.
3757 Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
3758 editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S.
3759 unless a copyright notice is included. Thus, we do not necessarily
3760 keep eBooks in compliance with any particular paper edition.
3763 Most people start at our Web site which has the main PG search facility:
3765 http://www.gutenberg.org
3767 This Web site includes information about Project Gutenberg-tm,
3768 including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
3769 Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
3770 subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.
3773 </pre>
3775 </body>
3776 </html>