War of the Worlds: Fixes after reading
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7 \begin{document}
8 \raggedbottom
10 \author{Ricarda Huch}
11 \title{Der Sänger}
12 \date{}
13 \lowertitleback{Diese Ausgabe basiert auf dem
14 \href{http://www.gutenberg.net/}{Project Gutenberg}
15 EBook \#27446.}
17 \maketitle
19 \pagenum{[55]}Durch die breiten widerhallenden Gänge des
20 Gefängnisses San Callisto gingen an einem warmen
21 Frühlingsvormittage der Kardinal Mazzamori und der Meister der
22 päpstlichen Kapelle, Don Orazio, der seinen Stammbaum auf den
23 berühmten römischen Dichter zurückführte, beide Günstlinge des
24 Papstes Innozenz des Zehnten. Sie waren im Begriff, einen jungen
25 Menschen aufzusuchen, der des Mordes angeklagt und in Gefahr, das
26 Leben zu verlieren, dem Kardinal durch seine Geliebte, die schöne
27 Donna Olimpia, empfohlen worden war. Diese Dame, die durch Heirat
28 mit einem Ottobuoni aus kleinbürgerlichem Stande gehoben war, hatte
29 den Zusammenhang mit ihrer im Schatten weiterlebenden Familie nicht
30 verloren und pflegte ihn besonders, wenn sie sich in ihren neuen
31 Verhältnissen beeinträchtigt und unzufrieden fühlte. Als nun eine
32 ihrer Tanten zu ihr gekommen war und sie angefleht hatte, das
33 bedrohte Leben des einzigen Sohnes zu retten, wozu sie vermittels
34 ihres Freundes, des Kardinals Mazzamori, wohl imstande sei, war sie
35 nicht nur von Mitleid, sondern von Ehrfurcht für die Frau ergriffen
36 worden, die, von den Todesschmerzen der Mutter durchbohrt, ein
37 geheiligtes Schicksal zu erfüllen schien, während sie selbst nie
38 geboren noch die eheliche Treue bewahrt hatte und jetzt sogar an
39 ihrem geistlichen Freunde die Lust zu verlieren begann. Ihrem herb
40 erteilten Befehl hatte der\pagenum{[56]} Kardinal sich nicht
41 entziehen können, obwohl er die Möglichkeit, Hilfe zu schaffen, in
42 diesem Falle für ausgeschlossen hielt.
44 Es war nämlich der junge Lancelotto – so hieß der Vetter Olimpias –
45 durch seinen verstorbenen Vater, einen Kaufmann, der Gläubiger
46 eines Anverwandten des Papstes und hatte sich im Auftrage seiner
47 Mutter, nachdem verschiedene Mahnungen nicht gefruchtet hatten,
48 selbst in das Haus des Schuldners begeben, um ihn zur Zahlung
49 aufzufordern. Da der Herr sich kurzweg weigerte, seiner
50 Verpflichtung nachzukommen, oder sie gar leugnete, entstand ein
51 lebhafter Wortwechsel, in dessen Verlaufe der Nepot einige seiner
52 Leute herbeirief und ihnen befahl, den unverschämten Dränger zu
53 ergreifen und ihn durch das Fenster auf die Straße zu werfen. So
54 aufs äußerste gereizt, hatte Lancelotto, indem er sich der Männer,
55 die roh über ihn herfielen, zu erwehren suchte, einen derselben auf
56 den Tod verwundet. So viel Ursache der adlige Herr auch hatte, den
57 Vorfall zu verbergen, machte er ihn doch anhängig, um sich des
58 lästigen Gläubigers zu entledigen und zu seinem Glück trafen
59 mehrere Umstände zusammen, durch welche die Richter gegen den
60 Angeklagten eingenommen wurden.
62 Unter den Papieren Lancelottos fand sich außer allerlei verbotenen
63 philosophischen Schriften ein Spottgedicht auf den Papst, und so
64 liebenswürdig und empfindungsvoll Innozenz der Zehnte in mancher
65 Beziehung auch war, so hätten doch sogar seine verwöhntesten
66 Vertrauten sich jäher Ungnade versehen müssen, wenn sie ein gegen
67 ihn gerichtetes Witzwort zu verteidigen gewagt hätten. Vornehmlich
68 seine Schwäche, sich für einen Dichter zu halten, mußte von
69 jedermann geschont werden, und nichts hätte ihn davon abgehalten,
70 in demjenigen einen Mörder und Ketzer zu sehen, der mit viel Geist
71 \pagenum{[57]}und komischen Wendungen seine sapphischen Oden
72 parodiert hatte; denn dies war die Form, in die er die Ergießungen
73 seines Christenherzens vorzugsweise einzukleiden liebte.
75 Das Gedicht war »Die römische Sirene« betitelt und lautete etwa so:
76 »Segle nicht an der römischen Küste vorüber, Odysseus, oder tust du
77 es dennoch, so versäume nicht, deine Ohren mit Wachs zu verkleben,
78 damit du den Gesang des Papstes nicht vernimmst. Hörtest du ihn, so
79 würde dich ein solcher Schauer ergreifen, daß du nicht mehr
80 imstande wärest, dein Schiff zu lenken, und elend scheitern
81 würdest.« Es wäre tollkühn gewesen, sich eines Menschen anzunehmen,
82 der die Unvorsichtigkeit gehabt hatte, eine solche Keckheit nicht
83 nur aufzuschreiben und bei sich finden zu lassen, sondern sogar
84 seine Urheberschaft zuzugestehen.
86 Unter diesen Umständen schritt Kardinal Mazzamori mit bekümmerter
87 Miene neben seinem Freunde Orazio her, ihm seine Sorgen und
88 Bedenken mitteilend. »Ich kann Olimpias Teilnahme für die Tante
89 nicht anders als liebenswert finden,« sagte er, »obschon ich
90 darunter leide. Ihr Mitgefühl für ihre Verwandten macht ihr Herz
91 unzugänglich gegen meine Ansprüche, die ich ihrer düsteren Miene
92 gegenüber kaum geltend zu machen wage. Wie leicht wird die Tugend
93 zum Feinde des Glücks, und wie schwer ist es deswegen, zum Freunde
94 der Tugend zu werden. Ich kann mir keinen glücklichen Abschluß
95 dieser Angelegenheit vorstellen, da ich mich durchaus nicht in den
96 Prozeß einmischen kann, der schon zu viele Torheiten des Beklagten
97 ans Licht gebracht hat, und da doch die unberatene Olimpia ihre
98 Zärtlichkeit für mich an seine Rettung geknüpft hat.«
100 Orazio gab zu, daß es eine heikle Sache sei, und fügte bei, er
101 könne sich nicht genug freuen, daß seine Veranlagung ihn
102 \pagenum{[58]}vor dem unheilvollen Einfluß der Weiber beschützt.
103 »Nach meinem Dafürhalten«, sagte er, »wiegen die Vergnügungen, die
104 uns dies Geschlecht bereiten kann, die Ärgernisse und
105 Enttäuschungen nicht auf, die aus seinem Umgange fließen.«
107 Der Kardinal seufzte statt der Erwiderung, ohnehin war inzwischen
108 der ihnen vorangehende Wärter vor einer der vielen Türen
109 stehengeblieben, die auf den Gang führten, und gab ihnen ein
110 Zeichen, daß sie am Ziele seien.
112 Bei ihrem Eintritt richtete sich der Gefangene von seiner Pritsche
113 auf, sah die Fremden verdutzt und mißlaunig an, sprang dann auf und
114 sagte mit höflichem Gruß, daß er fest geschlafen habe und sich
115 nicht gleich auf seine Lage habe besinnen können. »Die barmherzige
116 Natur hat mir«, sagte er lachend, »die Gabe reichlichen Schlafes
117 verliehen, womit ich die Zeit verscheuchen kann, da mir keine
118 Gelegenheit gegeben wird, sie mir durch Arbeit oder Unterhaltung zu
119 befreunden.«
121 »Die Fähigkeit, zu schlafen, deutet auf ein freies Gewissen,«
122 bemerkte der Kardinal, worauf der junge Mann erwiderte: »Das habe
123 ich freilich; ich möchte den Mehlsack sehen, der sich von ehrlosen
124 Schurken mit Füßen treten ließe, ohne sich zu wehren. Wäre meine
125 Zunge so fehlerlos, wie meine Hände ohne Makel sind; aber die ist
126 so beschaffen, daß sie alles ausspricht, was durch mein Gehirn
127 zuckt, als ob sie eine Glocke wäre, an die der Schlegel der
128 Gedanken beständig anschlüge. Da wird denn manches laut, was den
129 Leuten Verdruß erregt; sprächen alle aus, was sie denken, so hätte
130 ich zu viele Gesinnungsgenossen, als daß man sie alle einsperren
131 oder ihnen allen den Kopf abschlagen könnte.«
133 »Ihr redet nicht eben wie ein bußfertiger Sünder,« sagte Don Orazio
134 nicht ohne Wohlgefallen an dem hübschen\pagenum{[59]} Jüngling,
135 dessen Munterkeit durch seine jammervolle Lage nicht gebrochen zu
136 sein schien.
138 »Was wollt Ihr, mein Herr!« entgegnen er zutraulich. »Einen Mord
139 habe ich nicht begangen; soll ich zerknirscht sein, weil ich nach
140 Maßgabe meines Verstandes über das Wunder des Daseins nachgedacht,
141 oder etwa gar, weil ich einen unbedeutenden Witz über Seine
142 Heiligkeit gemacht habe? Ich mache wohl auch einmal einen frechen
143 Scherz über die höchsten Herrschaften im Himmel, die doch
144 ehrwürdigere Häupter sind als der Papst, ohne daß ich mich deshalb
145 der Sünde zeihe; denn was für Abbruch tut es ihrer Herrlichkeit,
146 wenn ein Erdenwurm, ihnen fast unsichtbar, ein wenig daran zupft?
147 Ich bin nur ein armer Schlucker, den man leicht des Lebens und der
148 Ehre berauben kann, und bin doch den Richtern nicht böse, die mich
149 täglich als einen blutdürstigen Raufbold und Rebellen traktieren.«
151 Der Kardinal, welcher inzwischen verlegen seine weißen Nägel
152 betrachtet hatte, sagte, indem er eine ernste Miene annahm: »Die
153 Gerechtigkeit des Heiligen Vaters bürgt dafür, daß Euch kein Leid
154 widerfährt, wenn Ihr so schuldlos seid, wie Ihr behauptet. Hättet
155 Ihr nicht durch Euren Mutwillen die Anwartschaft auf Gnade
156 verscherzt, so möchte ich Euch raten, Euch mit Eurem Anliegen ganz
157 zu den Füßen Seiner Heiligkeit zu werfen.« Da der junge Mann nicht
158 sogleich antwortete, setzte Orazio im Tone wohlmeinender Überredung
159 hinzu: »Würdet Ihr nicht wenigstens das leidige Gedicht, das Euch
160 der Teufel eingegeben hat, zurücknehmen?«
162 »Warum nicht?« antwortete Lancelotto. »Am liebsten auch alle
163 Gedichte Seiner Heiligkeit, wenn ich es könnte.«
165 Es war Don Orazio unmöglich, das Lachen zurückzuhalten; der
166 Kardinal indessen spürte nur einen schwachen\pagenum{[60]} Anreiz
167 zur Heiterkeit, da das Bewußtsein der Widerwärtigkeit seiner Lage
168 in ihm fortwährend zunahm.
170 Wie der arme junge Mensch wahrzunehmen begann, daß der Besuch durch
171 ein gewisses Interesse an seiner Befreiung veranlaßt war, färbte
172 die erwachende Hoffnung seine blassen Wangen um einen Hauch röter,
173 und durch sein vorher so gelassenes Benehmen zitterte verhaltene
174 Unruhe. Ob es nicht wirksamer wäre, fragte er, indem er seine
175 Blicke zwischen den beiden Herren hin und her gehen ließ, wenn
176 seine Mutter sich an die Gnade des Papstes wendete? Sie würde alles
177 tun, was ihn retten und ihn ihr wiedergeben könnte. Auf ihr
178 Betreiben wären gewiß auch die beiden Herren mit so viel gütigem
179 Anteil zu ihm gekommen.
181 Der Kardinal nickte und ließ einige Worte fallen, wie die Liebe der
182 unglücklichen Frau zu ihrem Sohne nicht nachlasse, obwohl er ihr so
183 schweren Kummer bereite.
185 »Nicht durch meine Schuld,« sagte Lancelotto frei und freundlich;
186 »wäre ich aber noch so schuldig, so würde ich an ihrer Liebe doch
187 nicht zweifeln; denn ich bin noch in ihrem Herzen, wie ich einst in
188 ihrem Leibe war, und Gott selbst mit seiner Allmacht könnte mich
189 nicht herausreißen.«
191 Während er dies sagte, hatten seine Augen sich gefeuchtet und waren
192 dadurch glänzender und dunkler geworden, und den beiden Herren fiel
193 es jetzt auf, daß diese Augen ungewöhnlich schmal und lang waren,
194 so wie die älteren Maler die Augen der Cherubim und der verklärten
195 Heiligen zu bilden pflegten. Das geisthaft Schwebende, spielend
196 Süße, das ihnen eigen war, mochte dadurch bedingt sein, daß die
197 kleinen Pupillen den irdischen Leidenschaften keinen Versteck zu
198 gewähren und die Vielheit der bunten und veränderlichen Erdendinge
199 nur von ferne spiegeln zu können schienen.
201 \pagenum{[61]}Inzwischen hatten die scharfsichtigen Augen
202 Lancelottos erfaßt, daß die Herren doch nicht eigentlich darauf
203 ausgingen, etwas Wirksames für ihn zu tun, und die frohe Welle der
204 Hoffnung sickerte langsam wieder zurück. Wenn die Herren, sagte er
205 nach einer Pause, einen Auftrag an seine Mutter übernehmen wollten,
206 so möchte er sie bitten, ihr einen Büschel seiner Haare
207 zuzustellen, der ihr als ein lebendiges Stück von ihm teuer sein
208 würde. Ihm würde jedoch weder ein Messer noch sonst ein scharfes
209 Instrument in die Hände gegeben, so daß er ohne ihre Hilfe nicht
210 imstande sein würde, sich Haare abzuschneiden.
212 Der Kardinal zog ein mit Schmelz und farbigen Steinen verziertes
213 silbernes Büchschen aus dem weiten Ärmel, worin ein kleiner
214 Spiegel, eine Schere, ein Stückchen Wachs, eine Feile zum Glätten
215 der Nägel und dergleichen enthalten waren, öffnete es und blickte
216 unschlüssig hinein. Während er zögerte, bemächtigte sich Don Orazio
217 der Schere und beugte sich über den Kopf des jungen Mannes, um den
218 erforderlichen Schnitt zu tun, wobei er mit einer liebkosenden
219 Bewegung in die ein wenig geringelten kastanienbraunen Haare
220 griff.
222 Bei diesem Anblick fiel es dem Kardinal ein, daß die unglückliche
223 Mutter in der Besinnungslosigkeit ihres Schmerzes gewimmert hatte:
224 »Er ist ja noch ein Kind! Er hat Löckchen wie ein Kind!« und es
225 berührte ihn überaus peinlich, die Klage mit eigenen Augen
226 bestätigt zu sehen. Nachdem er sich leicht geräuspert hatte, sagte
227 er, daß er Sorge tragen werde, das Andenken in die Hände der Mutter
228 gelangen zu lassen, und daß er gern etwas tun würde, um die Lage
229 des Gefangenen zu erleichtern. Ob er Wünsche in betreff des Essens
230 habe? Oder womit ihm sonst gedient wäre?
232 Was das Essen angehe, sagte Lancelotto, so werde er durch seine
233 Mutter beköstigt, die ihm mehr Leckerbissen\pagenum{[62]}
234 vorsetzen lasse, als er bewältigen könne. Bücher, etwa ein Bändchen
235 Gedichte, würden ihn wohl erfreuen, am liebsten würde ihm aber
236 sein, wenn er einen Gefährten zugesellt bekäme, mit dem er ein
237 wenig plaudern und lachen könnte. Dieser Gedankengang brachte ihn
238 darauf, daß er seine Gäste, von denen namentlich der Kardinal
239 augenscheinlich sehr niedergeschlagen und durch die trübselige
240 Umgebung bedrückt war, bisher nicht eben gut unterhalten habe, und
241 er begann ein munteres Geschwätz, wobei aus den schmalen Augen die
242 unschuldige Schelmerei eines übermütigen Knaben blitzte. Er
243 erzählte Schulstreiche aus dem geistlichen Kolleg, das er besucht
244 hatte, von Lehrern und von dem Abt eines gewissen Klosters, der ihn
245 als einen jungen Heiligen angesehen habe und noch immer darauf
246 warte, ihn als Novizen eintreten zu sehen. Er habe den guten Mann
247 oft besucht und sich im Kloster wohl gefühlt; aber lange halte er
248 es in der Abgeschiedenheit nicht aus, dem Getümmel des Lebens
249 zuzusehen, sei ihm die liebste Beschäftigung; je toller es um ihn
250 her zugehe, desto stiller und behaglicher fühle er sich im Innern.
252 Dann sei die enge Zelle freilich nicht der rechte Aufenthalt für
253 ihn, meinte Orazio teilnehmend; aber der junge Mann erwiderte, es
254 sei immerhin so arg nicht, wie es den Anschein habe. Sein Fenster
255 gehe auf den Hof, wo die zur Gefangenschaft Verurteilten sich zu
256 gewissen Stunden ergehen dürften und untereinander handelten,
257 lachten, lärmten und zankten, wie wenn Viehmarkt auf der Piazza
258 Navona wäre. Zwischenhinein könne er schlafen, und schließlich
259 befinde sich in einer nicht weit entfernten Zelle ein
260 Untersuchungsgefangener, der eine so schöne Stimme besitze, daß man
261 sich einbilden könne, schon im Paradiese zu sein, wenn man ihn
262 singen höre.
264 \pagenum{[63]}Die Pause, die hierauf entstand, benutzte der
265 Kardinal, um Lancelotto zu fragen, wie es denn in Hinsicht der
266 Religion mit ihm bestellt sei. Ob er auf das Jenseits vorbereitet
267 sei, oder ob er etwa von einem verständigen Geistlichen über den
268 heiligen Glauben belehrt zu werden wünsche.
270 Der junge Mann schüttelte lachend den Kopf und sagten »Ich habe
271 Augenblicke, wo der Glaube mich mitten in Gottes Schoß trägt, und
272 ich habe Stunden, wo ich zweifle und denke, bis meine Gedanken an
273 jenes schwarze Tor stoßen, das sie nicht durchdringen und
274 übersteigen können. Das vermag kein Priester zu ändern, und ich
275 möchte es auch nicht. Den Platz, der in der weiten Welt für meine
276 Seele ist, werde ich erreichen; hat ja doch Gott dem Maultier
277 eingepflanzt, bei Nacht den rechten Weg, und einer Katze, das Haus
278 zu finden, wo sie hingehört. Die Herren müssen nicht um mich
279 besorgt sein, noch soll meine Mutter sich um mich grämen. Soll ich
280 sterben, so muß ich durch ein paar bittere Stunden hindurch, die
281 ebenso schnell vorübergehen werden wie manche andere, die ich auch
282 überstanden habe. Wie wohl wird mir aber hernach sein, wenn mir
283 Gott einen Anteil an der himmlischen Vollkommenheit gewährt. Dann
284 werden meine neugemachten, allgegenwärtigen und allwissenden Augen
285 auf die Verwirrung und das Händeringen und Zähnefletschen der
286 Menschen hinuntersehen und lachen, daß ich auch einmal mitten
287 dazwischen war und von armseligem Schlachtvieh zum Tode verurteilt
288 und auf das Schafott geschleppt wurde.« Sein frischer feuchter Mund
289 lächelte dabei mit besonderer Lieblichkeit, die man kaum wehmütig
290 nennen konnte, weil sie allzu unbefangen war.
292 Als die beiden Herren die Zelle verlassen und der Wärter die Tür
293 abgeschlossen hatte, winkten sie diesem, daß er\pagenum{[64]}
294 nunmehr entlassen sei, und gingen langsam den Gang hinunter. Der
295 Kardinal tupfte sich mit dem Taschentuch und sagte, es sei
296 jammerschade, daß ein solcher Knabe so zu Falle gekommen sei. Was
297 sei da zu machen? Der Mord könne schließlich nicht ungestraft
298 bleiben, er sähe keinen Ausweg.
300 »Ein allerliebster Junge,« sagte Don Orazio nachdenklich, »und
301 scheint durchaus nichts Strafwürdiges begangen zu haben. Ich hätte
302 Lust, mich seiner anzunehmen und ihn den Krallen dieses
303 gottvergessenen Tribunals zu entreißen, wenn sich nur ein
304 zweckmäßiger Weg dazu finden ließe.«
306 »Mir fehlt der Mut, mich vor Olimpia sehen zu lassen, wenn ich
307 keine Hoffnung bringe,« fuhr der Kardinal bekümmert fort. »Und wie,
308 wenn ich gar die Mutter mir vor Augen stelle! Ohnehin werde ich
309 diese Frau nie mehr vergessen können, die aussah, als ob sie
310 tausend Jahre gelebt und Schmerzen gelitten hätte. Sie sah aus wie
311 ein verwitterter Stein, und wenn sie zu weinen und zu schreien
312 anhub, so war es, wie wenn ein Berg sich bewegte und Feuer
313 auswürfe.«
315 »So, so,« sagte Don Orazio, »ich hatte sie mir als ein anmutiges
316 Weib vorgestellt mit süßen Lippen und zärtlichen Augen.«
318 Ohne diesen Einwurf zu beachten, ging der Kardinal in seinen
319 Betrachtungen weiter: »Was man ihr auch sagen mochte, sie schrie:
320 ›Mein Kind, das ich geboren habe! Mein Paradiesvogel! Meines
321 Herzens Herz! Mein Eingeweide! Es ist mein, ich muß es
322 wiederhaben!‹, als ob das Gründe wären, mit welchen sich etwas
323 durchsetzen ließe.«
325 »Das ist«, fiel Don Orazio ein, »wie alle Frauen sind. Die setzen
326 ihren Eigenwillen der offenkundigen Notwendigkeit entgegen und
327 lassen sich durch Vernunft nicht belehren.«
329 \pagenum{[65]}Der Kardinal nickte verständnisvoll und nahm Anlaß,
330 in behutsamen Andeutungen über die Launenhaftigkeit der Donna
331 Olimpia zu klagen, die sie in letzter Zeit wie eine Krankheit
332 überfallen habe, während sie sonst liebevoll und verträglich wie
333 ein Engel gewesen sei. Was ihr sonst eine willkommene Zerstreuung
334 gewesen sei, gefalle ihr nicht mehr, sie liebe Einsamkeit und trübe
335 Gedanken, und die Verzweiflung jener unglücklichen Tante vermehre
336 ihren Tiefsinn. Sie werde es ihn entgelten lassen, wenn der Prozeß
337 des jungen Mannes übel auslaufe, als wenn er etwas dazu zu tun
338 vermöge; so sähe er einer unfrohen Zukunft entgegen. Da würde es
339 das beste sein, meinte Orazio, die launische Dame zu meiden und
340 bequemere Gesellschaft aufzusuchen; allein der Kardinal sagte, die
341 Frau habe sich doch um ihn verdient gemacht, und er halte sich
342 verpflichtet, nun, da sie offenbar krank und des Beistandes
343 bedürftig sei, bei ihr auszuharren. Er war beschämt, indem er dies
344 sagte, denn er fühlte, daß sein Freund seine Worte für eitel
345 Ausflucht und ihn für einen verliebten Toren hielt.
347 Als die Freunde, in dies Gespräch vertieft, in dem breiten und
348 kahlen, widerhallenden Gange auf und ab gingen, vernahmen sie
349 plötzlich den Gesang einer Männerstimme und blieben augenblicklich,
350 von dem Glanz derselben betroffen, stehen. Es war ein Volkslied,
351 das mit so viel Kraft und Sicherheit gesungen wurde, als ob es von
352 der Bühne eines großen Theaters her tönte, und mit so viel
353 Leidenschaft, als gälte es, ein zauderndes Mädchen zu einer
354 Entführung willig zu machen. Mazzamori und Orazio sahen einander,
355 vor Staunen und Vergnügen errötend, an, und als der Sänger dem
356 Abschluß einer Strophe eine Kadenz folgen ließ, hielten sie den
357 Atem an, besorgt, ob die schwindelnde Figur auch zu einem
358 glücklichen Ende gebracht würde.
360 \pagenum{[66]}Während der Dauer des Liedes näherte sich ein
361 wachehabender Soldat und machte Miene, dem Sänger Schweigen zu
362 gebieten, wie das den Vorschriften des Gefängnisses entsprochen
363 hätte, trat jedoch willig zurück, als die beiden Herrschaften ihm
364 einen Wink gaben, sich ruhig zu verhalten. Diesen riefen sie heran,
365 sowie das Lied zu Ende war, um Auskunft über die Wundererscheinung
366 zu erhalten. Der Sänger sei ein Bauer, meldete der Soldat, dem
367 wegen mehrfachen Mordes der Prozeß gemacht werde; er sei ein wilder
368 und böser Kerl, der den Mund nur zum Fluchen öffne, aber der
369 unerforschliche Gott habe für gut befunden, ihn mit einer Stimme zu
370 begnaden, wie kein Engel der himmlischen Heerscharen sie herrlicher
371 besitzen könne. Niemand habe den Mut, ein solches Wunder der Natur
372 zu unterdrücken, darum ließe man ihn singen, womit auch der
373 Direktor einverstanden sei, der manchmal selbst, wenn er in der
374 Nähe sei, stehenbleibe, um zuzuhören.
376 Ob man ihn nicht veranlassen könne, weiterzusingen? fragte Don
377 Orazio. Nein, sagte der Soldat, wenn man ihn um etwas bäte, würde
378 er es deswegen unterlassen, weil er bösartig und mißtrauisch sei.
379 Es könne ein Tag vorübergehen, ohne daß er die Stimme erhebe,
380 andere Male höre er stundenlang nicht auf; das sei von seiner Laune
381 abhängig.
383 »Ich kann mich nicht begnügen, von der Stelle zu gehen, ohne ihn
384 noch einmal gehört zu haben,« sagte Don Orazio, »sonst würde ich
385 morgen wähnen, daß mich meine Einbildungskraft geneckt hätte.«
387 Auch der Kardinal zeigte sich nach einer Wiederholung des Genusses
388 begierig. Sie erwogen eben, ob sie nicht dennoch versuchen sollten,
389 den Gefangenen zu einem Vortrage zu bewegen, als der Gesang von
390 neuem begann, um sie nicht minder als der erste zu entzücken.
392 \pagenum{[67]}»Ich habe einen Tenor wie diesen noch nie in meiner
393 Kapelle besessen,« sagte Don Orazio.
395 Der Kardinal stimmte ihm bei; er habe zwar die unvergleichliche
396 Schulung des berühmten Mignotta nicht, die Unfehlbarkeit des
397 Ansatzes und die Gleichmäßigkeit des Organs beim An- und
398 Abschwellen des Tones, aber an Kraft, Schmelz und Süßigkeit lasse
399 er alle anderen hinter sich. »Ich würde jederzeit«, so schloß er,
400 »eine Stunde lang auf einem Beine stehen, um ein solches Konzert in
401 mich aufnehmen zu können.«
403 »Mein Freund,« sagte Don Orazio, »ich habe keine Ruhe, bevor ich
404 nicht Näheres über diesen Mann erfahren habe; begleite mich
405 augenblicklich zum Direktor, damit wir Schritte tun können, um uns
406 dieser Kostbarkeit zu versichern.«
408 Der Direktor bestätigte die Aussage des Soldaten und führte sie
409 dahin aus, daß es sich in diesem Falle um einen erwiesenen
410 mehrfachen Mord aus Rachsucht handle; es habe nämlich der
411 Verbrecher, Ronco mit Namen, die Gewohnheit gehabt, nachts die Kühe
412 seines Nachbarn zu melken, und wie nun ein junger Bube, der Sohn
413 eines in der Nähe wohnenden Pächters, dem Geheimnis auf die Spur
414 gekommen sei und den Geschädigten, dessen rätselhafter Milchmangel
415 im Dorfe bekannt geworden sei, darauf aufmerksam gemacht habe, so
416 habe er sich anfänglich ruhig verhalten, als ob die Sache nur ein
417 Scherz und des Aufhebens nicht wert sei, aber nach acht Tagen nicht
418 nur den Buben, der ihn angegeben, sondern auch dessen Vater und
419 Mutter sowie eine alte Großmutter, die alle dieselbe Hütte
420 bewohnten, mit einem Messer umgebracht. Die Entrüstung über die Tat
421 sei allgemein, und der Mensch habe den Tod verdient und werde ihm
422 nicht entgehen; auch sei ihm nichts daran gelegen, der Kerl sei so
423 wild, daß er kaum einen Unterschied zwischen Leben und Tod zu
424 machen wisse.
426 \pagenum{[68]}Das sei ein seltsamer Bericht, sagte Don Orazio; man
427 müsse doch annehmen, daß ein alter Hader zwischen den Familien
428 bestanden habe, wie es bei solchen Rachehandlungen meistens der
429 Fall sei, und unüberlegt und empfindlich müsse der Mann auch sein.
430 Er hätte Lust, einmal selber mit ihm zu reden, um der Sache auf den
431 Grund zu kommen.
433 Der Direktor zuckte die Achseln und sagte, die Herren Richter
434 hätten sich schon genug Mühe mit ihm gegeben, die Bestie sei dessen
435 nicht wert; jedoch sei er bereit, die Herrschaften hinzuführen,
436 möchte ihnen aber raten, nicht ohne einen Wärter hineinzugehen, da
437 man sich von einem solchen Patron des Schlimmsten müsse gewärtig
438 sein.
440 An diesen Rat hätte der Kardinal sich gern gehalten, allein Don
441 Orazio lachte hoch aus und sagte, seine kräftige Gestalt reckend
442 und seine breite Brust aufblähend, er getraue sich wohl, es mit
443 einem maisfressenden Bauern aufzunehmen.
445 Auch war es in der Tat nicht eben Furcht, was den Meister der
446 Kapelle überlief, als er mit seinem Freunde dem Unhold
447 gegenüberstand, der sie mit einem schnellen Blick mißtrauischen
448 Hasses streifte, um sogleich wieder stumpfsinnig vor sich
449 hinzustieren; sondern vielmehr ein unwillkürliches Grauen vor dem
450 bösen Blick, dessen das Scheusal mächtig sein konnte. Vorher
451 getroffener Verabredung gemäß begann der Kardinal, nachdem er
452 verschiedenemal angesetzt hatte, und sagte, sie seien im Begriff,
453 die Ordnung der Gefängnisse zu untersuchen; ob er, der Gefangene,
454 über irgend etwas Klage zu führen habe? ob er den Besuch eines
455 Geistlichen empfangen habe? ob er geneigt sei, irgendwelche
456 Geständnisse zu machen oder seine Reue in den Schoß einer
457 vertrauenswürdigen Person geistlichen Charakters zu ergießen?
459 \pagenum{[69]}Die Antwort Roncos auf die sorgfältige Anrede des
460 Kardinals bestand darin, daß er knurrte und mit dem Daumen nach der
461 Tür deutete, worauf der Kardinal von neuem einigemal ansetzte und
462 fortfuhr, er, Ronco, sei eines grausamen und unerklärlichen
463 Verbrechens angeklagt; ob er vielleicht zur Erhärtung seiner
464 Unschuld oder zur Verminderung seiner Schuld etwas beizubringen
465 habe, was Verwirrung oder Scham den Inquisitoren gegenüber ihn
466 vielleicht gehindert hätte auszusprechen? Der Heilige Vater habe
467 viel mehr Freude an einer erlösten Unschuld als an der Bestrafung
468 eines Schuldigen und dehne seine Milde auch über diejenigen aus,
469 die durch Unbesonnenheit, Jähzorn oder Anstiftung des Teufels wider
470 ihren Willen zu einer bösen Tat hingerissen worden seien.
472 »Pest und Krebs über den päpstlichen Saustall!« zischte Ronco
473 zwischen den Zähnen hervor, indem er einen wilden Blick auf die Tür
474 warf und wiederum nach der Tür deutete, so daß der Kardinal
475 unwillkürlich einen Schritt zurückwich, wie um einen Platz jenseits
476 der Hörweite solcher Schimpfworte zu gewinnen.
478 Don Orazio, der das Bedürfnis fühlte, seinem Freunde zu Hilfe zu
479 kommen, sagte: »Weder der Heilige Vater noch seine Diener, mein
480 Freund, wollen dir übel, wie du vorauszusetzen scheinst. Wir wären
481 nicht an dieser Stelle, wenn wir deinen Tod suchten, den du
482 allerdings verdient zu haben scheinst. Gott der Allwissende hat
483 dich mit einer schönen Stimme begabt und dich dadurch nach
484 unerforschlichem Beschluß ausgezeichnet. Wie wäre es, wenn du uns
485 noch eine Probe dieser wunderherrlichen Kunst gäbest, der du
486 mächtig bist, und die beweist, daß mehr Göttlichkeit in dir wohnt,
487 als deine Taten, deine Worte und selbst dein Anblick vermuten
488 lassen.«
490 \pagenum{[70]}Ob nun Ronco diese Worte als eine Verhöhnung
491 auffaßte, oder ob er das Gespräch überhaupt als eine Belästigung
492 empfand, er schrie in ausgelassener Wut: »Hinaus! hinaus! Oder ich
493 werde euch etwas singen, daß euch die Lumpenschädel zerplatzen
494 sollen!« und begleitete die Aufforderung mit einer so drohenden
495 Gebärde, daß die beiden Herren es für das beste hielten, sich
496 zunächst zu bescheiden und den Rückzug anzutreten. Mit dem Schwunge
497 des Triumphes und der Verachtung spuckte Ronco hinter ihnen her.
499 Kardinal Mazzamori war so erschrocken, daß er nicht sofort
500 weitergehen konnte, sondern an dem nächsten Fenster des Ganges
501 stehenblieb, um Luft zu schöpfen und sich ein wenig zu erholen.
503 »Was für ein Tier!« sagte Orazio. »Man muß zugeben, daß unsere
504 Bauern nicht viel mehr als Vieh sind und die Anforderungen, die man
505 an sie stellt, danach bemessen.«
507 »Er hat eine wölfische Physiognomie,« sagte der Kardinal, »und ich
508 möchte wetten, daß er ein echtes Wolfsgebiß besitzt. Es scheint in
509 der Tat nötig, daß die Menschheit vor einem solchen Wüterich
510 beschützt werde.«
512 Seine letzten Worte wurden durch die Stimme Roncos übertönt, der
513 eben jetzt wieder zu singen begann, vielleicht aus Trotz, oder weil
514 ihm die Lobsprüche der vornehmen Herren dennoch geschmeichelt
515 hatten.
517 »Göttlich, göttlich!« flüsterte Don Orazio. »Dieses Wunderwerk von
518 Stimme darf nicht zerstört werden! Ich werde nicht Mühe noch Kosten
519 scheuen, sie mir zu retten.«
521 Unter den geschlossenen Augenlidern des lauschenden Kardinals
522 perlten Tränen hervor. »Welcher Wohllaut quillt noch aus dem Rachen
523 der Hölle!« hauchte er. »O Geheimnisse der Allmacht! Jeder Ton ist
524 rein, weich und lauter, wie ein\pagenum{[71]} Tropfen Tau, der
525 sich in der Frühe auf Knospen wiegt. Was wird Seine Heiligkeit
526 sagen, wenn sie diesen Gesang hört!«
528 In großer Erregung verließen die Herren das Gefängnis und ließen
529 sich in der bereitgehaltenen Sänfte zu dem Palast des Kardinals
530 tragen, um über die zunächst vorzunehmenden Schritte zu beraten;
531 denn darin stimmten sie überein, daß der rare Vogel für die
532 päpstliche Kapelle durchaus erworben werden müsse. Nachdem sie sich
533 bei einem Glase guten Weins in einem kleinen wohnlichen Gemach,
534 dessen Wände mit schönen Teppichen aus Arezzo verhängt waren, von
535 den verschiedenen heftigen Eindrücken des Vormittags erholt hatten,
536 schien es ihnen nicht unmöglich, das Tribunal zu einem Freispruch
537 des kostbaren Ronco zu bewegen. Sie hatten in Erfahrung gebracht,
538 daß ein gewisser Guidobaldo die Verteidigung des Verbrechers führe,
539 und mit diesem beschlossen sie sich zunächst ins Vernehmen zu
540 setzen. Don Orazio nämlich hatte ihn in einem befreundeten Hause
541 kennengelernt und sich gut mit ihm unterhalten, obwohl der Advokat
542 ein Freidenker und Feind des Klerus war. Da er aber seine Ansichten
543 nicht äußerte, außer wenn es am Platze war, die Formen der Religion
544 mit großem Anstand in acht nahm, sobald er sich beobachtet wußte,
545 und dazu ein fröhlicher und gewandter Mann war, so konnten auch
546 Geistliche seinen vorurteilslosen Verstand und seine geselligen
547 Gaben genießen und waren es zufrieden, einstweilen in gutem
548 Einvernehmen mit ihm zu bleiben. Es traf sich glücklich, daß der
549 Advokat gerade damals im Sinn hatte, eine Villa zu kaufen, deren
550 ausgedehnter Garten sich den Janikulus hinaufzog, daß er aber den
551 hohen Preis, der dafür gefordert wurde, nicht zahlen konnte oder
552 wollte; denn dadurch bot sich die erwünschte Gelegenheit, den
553 nützlichen Mann durch eine\pagenum{[72]} Gefälligkeit zu gewinnen.
554 Ohne Zaudern suchten die Freunde den Advokaten noch am selben Tage
555 auf und baten ihn, an die Bekanntschaft mit Don Orazio knüpfend,
556 ihm die Summe, deren er zum Erwerb der Villa benötige, vorstrecken
557 zu dürfen. Sie hofften, sagte Don Orazio, sich dadurch ein Anrecht
558 auf gütiges Entgegenkommen seinerseits zu verdienen, wenn sich das,
559 was sie von ihm wünschten, mit seiner Ehre und anderen Rücksichten
560 vereinigen ließe. Nach dieser Einleitung erzählte er von seinem
561 Funde im Gefängnis, sprach von der Vorliebe des Papstes für Musik,
562 insbesondere die menschliche Stimme, und von seinem Wunsch, eine so
563 überaus seltene Kraft für die päpstliche Kapelle zu gewinnen, zumal
564 damit ein Menschenleben gerettet und auf eine nutzbringende,
565 vielleicht ruhmvolle Bahn gebracht würde.
567 Der Advokat erwiderte, er habe bereits von der schönen Stimme des
568 Ronco gehört, sich aber nicht sonderlich dafür interessiert; er
569 trage jedoch gern dazu bei, dem Heiligen Vater ein Vergnügen zu
570 bereiten, auch sei es sowieso seines Amtes, die Verbrecher zu
571 verteidigen und womöglich zu retten. Immerhin sei das im
572 vorliegenden Falle schwierig, weil der Bauer überwiesen und
573 geständig sei und viel zu stumpfsinnig oder zu roh, um Schritte zu
574 seiner Rettung zu tun oder zu unterstützen, wenn solche überhaupt
575 erfindlich wären. Nach einigem Besinnen fuhr er fort, es ließen
576 sich wohl Wege zum Ziel ausdenken, wenn man fest entschlossen sei;
577 es sei schon mancher freigesprochen, der den Tod ebensowohl wie der
578 schlimme Ronco verdient hätte; von dem Präsidenten des Tribunals,
579 Monsignor Aloisio, sei es nur allzu bekannt, daß seine Stimme feil
580 sei, freilich um kein Geringes, wohingegen der weltliche Beisitzer
581 für ein billiges Trinkgeld zu haben sei. Da sei aber Don
582 \pagenum{[73]}Petronio, ein unzugänglicher Mann, dessen einzige
583 Eitelkeit und Liebhaberei seine Unbestechlichkeit sei, der stets
584 den Sittenrichter spiele und emsig aufpasse, damit ja nicht etwa
585 unter seiner Mitwirkung etwas Ungebührliches unterliefe. Wenn man
586 sich diesem mit wohlgemeinten Anerbietungen irgendwelcher Art
587 näherte, so würde man von vornherein alles verderben; wie man ihn
588 aber umgehen oder überlisten könne, dazu könne er noch keinen Plan
589 absehen, wolle die Sache aber bedenken. Ein Übelstand sei es auch,
590 daß der Prozeß im vollen Gange sei und nur noch ein Verhör
591 stattzufinden habe, worauf der Urteilsspruch bei der Klarheit des
592 Falles nicht auf sich warten lassen würde. Indessen ermutigte er
593 die beiden Bittsteller damit, daß guter Rat sich oft über Nacht
594 einstelle, und gab ihnen anheim, sich einstweilen mit dem
595 Präsidenten in Übereinstimmung zu setzen, offen gegen ihn zu sein
596 und etwa eine Art Mitwissen des Papstes anzudeuten, was seiner
597 Beflissenheit einen gedeihlichen Schwung geben würde.
599 Monsignor Aloisio war ein prachtliebender Mann und heiteren
600 Temperaments, der gern gut lebte und auch anderen Gutes gönnte,
601 wenn er nur Geld genug zur Verfügung hatte, dessen Mangel das
602 einzige war, was seine Laune auf die Dauer zu trüben vermochte. Als
603 er innewurde, daß Kardinal Mazzamori und Don Orazio ihm einen
604 erheblichen Zufluß des geschätzten Metalls zu eröffnen gedachten,
605 nahm er sie mit lauter und glänzender Gastlichkeit auf, führte sie
606 durch die pomphaft ausgestatteten Räume seines Hauses, zeigte ihnen
607 eine Sammlung chinesischer Porzellane und versprach für seine
608 Person, einem so billigen und harmlosen Wunsche ohne kleinliche
609 Bedenken entgegenzukommen, führte aber, wie der Advokat, den
610 unbestechlichen Don Petronio ins Feld, der, seiner schrullenhaften
611 Eitelkeit zuliebe, jeden Versuch, den armen Sünder\pagenum{[74]}
612 durchschlüpfen zu lassen, vereiteln würde. »Nach meiner Meinung«,
613 sagte er behaglich, »ist die Gerechtigkeit bei Gott, der es nicht
614 immer für gut findet, uns zu erleuchten. Wie kurz ist die Kette von
615 Ursache und Wirkungen, der wir folgen können! Nun ja, man urteilt
616 nach seiner Kurzsichtigkeit und glaubt, etwas Großes getan zu
617 haben, wenn man einen Dieb oder Räuber aufhängt. Wie oft dieser ein
618 frommes Herz im Busen hatte, ein guter Vater oder edler Freund war,
619 während sein sogenanntes Opfer auf dem Grunde der Seele, wohin kein
620 sterbliches Auge blicken kann, die Farbe der Hölle trug, wer mag
621 das wissen? Unser guter Petronio hingegen begreift nur den
622 Buchstaben und meint, unsere Erde zu verbessern, wenn die
623 Paragraphen recht in Anwendung kommen.«
625 Nachdem verschiedene Einfälle, um zum Ziele zu gelangen,
626 vorgebracht und verworfen waren, trennten sich die Herren, ohne zu
627 einem Schluß gekommen zu sein, mit der Befürchtung, daß ihnen der
628 Sänger dennoch entgehen würde. Indessen empfing Don Orazio noch zu
629 später Abendstunde einen Brief des Präsidenten, der so lautete: Es
630 sei ihm plötzlich ein eigenartiger, aber wohl tunlicher Einfall
631 gekommen. Wenn man nämlich den Petronio könnte glauben machen,
632 Richter und Advokat seien bestochen, um den Ronco, der zwar ein
633 ungebildeter Bauer, aber brav und nichts als das Opfer tückischer
634 Ränke sei, an den Galgen zu bringen, und sie alle ihre Rolle gut
635 spielten, auch der Advokat sich willig finden lasse, so sei zu
636 verhoffen, daß Don Petronio seine Kraft einsetze, die vermeintliche
637 Unschuld zu retten, so daß ihnen nach einem Kampfe von gewisser
638 Dauer nichts erübrige, als zu ihren eigenen Gunsten nachzugeben.
640 Das Einverständnis der Beteiligten wurde schleunig hergestellt.
641 Mazzamori und Don Orazio kargten nicht mit dem\pagenum{[75]}
642 Gelde, indem sie nicht zweifelten, der Heilige Vater würde ihnen am
643 Schluß reichlich ersetzen, was sie auf die Ausbildung eines so
644 erlesenen Sängers würden verwendet haben. Guidobaldo, der Advokat,
645 trug Sorge, daß Don Petronio durch eine anonyme Zuschrift auf das
646 Unwesen aufmerksam gemacht wurde, dem diesmal ein hilfloser Bauer
647 zum Opfer fallen sollte, und daß die Nachricht von seinem Hauskauf
648 sich verbreitete, und nahm den launigen Glückwunsch, den der
649 Präsident ihm in Gegenwart des versammelten Tribunals dazu machte,
650 händereibend entgegen. Er selbst, sagte der Präsident, habe auch im
651 Sinne, sich eine bescheidene Freude zu machen. Der französische
652 Gesandte, der von seinem König abberufen sei und Rom zu verlassen
653 gedenke, wolle eine goldene Karosse mit vier Pferden verkaufen, und
654 er habe ein Angebot darauf gemacht, wisse aber noch nicht, ob es
655 angenommen sei. Die Summe flüsterte er dem Advokaten lächelnd ins
656 Ohr, wie er denn überhaupt es so einrichtete, daß die Mitteilung
657 als eine vertrauliche, durch den zufälligen Lauf des Gesprächs
658 entlockte erscheinen mußte. Petronio, der die Herren scharf
659 beobachtete, säumte nicht, ihre so plötzlich auftretende
660 Verschwendung mit der schmachvollen Rechtsbeugung in Einklang zu
661 bringen, zu der sie sich dem empfangenen Briefe nach hatten
662 bereitfinden lassen. Um sicher zu gehen, lenkte er selbst die Rede
663 auf Ronco und sagte, mit dem würden sie hoffentlich heute zu Ende
664 kommen; denn man solle darauf halten, in einer so klaren Sache
665 wenigstens keine Zeit zu verlieren. Der Präsident stimmte bei, und
666 der Advokat fügte mit liebenswürdig scherzender Ironie hinzu, er
667 wisse wohl, daß er die Herren Richter, die gern Zeugen einer
668 breiten Entfaltung seiner Beredsamkeit wären, damit enttäuschte,
669 habe aber doch beschlossen,\pagenum{[76]} diesmal schlechtweg ohne
670 weitere Worte um ein gnädiges Urteil zu bitten, da er sich mit der
671 Verteidigung eines so verworfenen Übeltäters nicht verunzieren
672 wolle. Das töne anders, sagte Petronio mit Nachdruck, als er,
673 Guidobaldo, sich zuvor habe vernehmen lassen. Er habe damals
674 gesagt, der Grund, der den Ronco zum Morde getrieben haben solle,
675 sei zu geringfügig, um eine solche Untat zu erklären, auch würde
676 ein gemeiner Verbrecher die Bluttat zu leugnen versuchen, um sein
677 Leben zu retten; es lasse sich also erwägen, ob nicht der
678 augenscheinlich halb blödsinnig gemachte Bauer das Werkzeug
679 Mächtiger sei, die sich nebst ihren Absichten und Mitteln im
680 Hintergrunde hielten.
682 Der Advokat lachte künstlich verlegen: »Da sehen die Herren,« sagte
683 er, »wie weit ich den Pflichteifer getrieben habe! Nun aber scheint
684 es mir besser, an der Grenze der Höflichkeit haltzumachen, die ich
685 euch schulde, Männern, die leicht einsehen, daß Mächtigen nicht mit
686 der Ermordung einer unschuldigen Pächterfamilie noch mit der
687 Hinrichtung eines Ronco gedient sein kann, und daß das, was ich
688 damit vorbrachte, nichts als die Redensarten und Mutmaßungen waren,
689 die ein geübter Advokat stets im Vorrat haben muß.«
691 »Sie, mein Teurer,« sagte der Präsident mit heiterer Miene gegen
692 Don Petronio, »wittern überall Ungerechtigkeiten, weil Ihr
693 großmütiger Trieb, Verfolgten beizustehen, sich die Gelegenheit zum
694 Handeln schaffen muß. Ach, die Schlechtigkeit ist weniger
695 interessant, als Sie meinen! Erleben wir es nicht alle Tage, daß
696 das rohe Gesindel untereinander rauft und sticht? Wir brauchen
697 keine Fabeln zu erfinden, um das begreiflich zu machen.«
699 Don Petronio, den nichts mehr beleidigte als wenn man ihn nicht
700 ernst nahm, begann nun einen unmittelbaren Angriff,\pagenum{[77]}
701 wobei er sich fortwährend das Ansehen eines ruhigen,
702 unbeeinflußbaren Geistes zu geben suchte. An dem Schicksal des
703 Ronco sei nichts gelegen, sagte er, das sei sonnenklar. Er sei
704 nicht viel mehr als ein Tier, sei es nun, daß Stumpfsinn oder daß
705 Roheit seine Menschlichkeit gestört habe. Man möge nicht glauben,
706 daß er Teilnahme für Ronco habe, für ihn selbst wie für andere sei
707 es vielleicht das beste, wenn er der Zeitlichkeit enthoben würde.
708 Solche Rücksichten würden ihn aber niemals abhalten, der Wahrheit
709 nachzutrachten und das Recht in Ausübung zu setzen. Nur um Recht
710 und Wahrheit handele es sich für alle, nicht um das Wohl von
711 Klägern oder Beklagten, vor allen Dingen nicht um das eigene. Er
712 wolle nichts von jenem Ronco wissen, wolle nicht wissen, ob er Weib
713 und Kind, Verwandte oder Freunde habe. Eine derartige Gesinnung sei
714 zwar dem jetzigen Zeitalter fremd, um so mehr werde er daran
715 festhalten. Er werde niemals Landgüter kaufen oder Kunstsammlungen
716 anlegen können, vielleicht stifte er nicht einmal Gutes mit seiner
717 Handlungsweise; es sei ihm genug, der Wahrheit und Gerechtigkeit,
718 auf die er verpflichtet sei, ohne Gewinn gedient zu haben.
720 Die Gegner ließen eine gewisse Gereiztheit merken, und es entspann
721 sich ein Streit, der noch im Gange war, als Ronco vorgeführt wurde.
722 Dieser hatte sich zuvor nie so in Anspruch genommen gesehen, denn
723 Don Petronio ließ jeder Frage, die der Präsident an ihn richtete,
724 eine anders gesetzte folgen, die den Zweck hatte, die bisher listig
725 verschüttete Wahrheit ans Licht zu fördern. So viel hatte der Wilde
726 inzwischen gemerkt, daß man sich von hoher Seite seiner anzunehmen
727 begonnen hatte, ja geradezu auf seine Befreiung hinarbeitete, und
728 seine vielberedete Stumpf- und Roheit hinderte ihn nicht, diese
729 Aussicht als angenehm zu empfinden\pagenum{[78]} und seinen
730 Helfern, soweit er sie verstand, in die Hände zu arbeiten. Zuweilen
731 begriff er den Sinn der kreuz und quer an ihn gestellten Fragen so
732 gut, daß er Antworten gab, die die Richtigkeit seiner früheren
733 Aussagen in Frage stellten und eine böse Verwirrung in den bisher
734 so glatten Prozeß brachten. Bei solchen Gelegenheiten warf Don
735 Petronio jedesmal einen ernsten, leidenschaftlich forschenden Blick
736 auf seine Widersacher, die sich scheinbar mehr verwickelten und
737 erhitzten und gegen Ronco heftig und beinahe drohend losfuhren,
738 wodurch sie ihn in eine solche Gemütslage versetzten, die für ihren
739 Zweck eben die richtige war. Denn er fing allmählich an, sich für
740 eine ansehnliche Person zu halten, und wenn er schon vorher mit
741 sich und seiner Untat durchaus zufrieden gewesen war, so glaubte er
742 jetzt vollends, daß er sich nichts von dem großmäuligen Tribunal
743 brauche gefallen zu lassen, das keineswegs besser und
744 wahrscheinlich dümmer sei als er. Er gab nun zwar keine
745 Erklärungen, mit denen sich etwas hätte anfangen lassen, aber er
746 bejahte das, was ihm Don Petronio fleißig in den Mund legte, daß er
747 das Verbrechen nicht aus eigenem Antriebe begangen habe, sondern,
748 daß er dazu angestiftet, eigentlich gezwungen worden sei, aber
749 nicht sagen dürfe, von wem, und schloß damit, man möge ihn zum Tode
750 verurteilen, er sei es zufrieden, doch sei er unschuldig und
751 weniger ein Mörder, als diejenigen sein würden, die ihn an den
752 Galgen brächten.
754 So schnell indessen gaben die Verschwörer nicht nach, vielmehr
755 stellten sie sich an, als wären sie erpicht darauf, den Ronco zu
756 liefern, und erhoben gegen Don Petronio den Vorwurf, als habe er
757 dem Fuchs, der schon in der Falle gewesen sei, ein Türlein geöffnet
758 und halte sie unnützerweise bei einer nebensächlichen und üblen
759 Sache auf.\pagenum{[79]} Dadurch reizten sie diesen immer mehr, so
760 daß er sich fest vornahm, der hehren Wahrheit zum Siege zu helfen,
761 was es ihm auch für Mühe und Verdrießlichkeiten eintragen möchte.
763 Der Zufall wollte, daß es Don Petronio gelang, einen bisher nicht
764 bekannt gewordenen Umstand zu ermitteln, daß nämlich sowohl der
765 Mörder wie der Ermordete Besitzer freien Bauerngutes waren und vor
766 Jahren einmal mit dem Herrn, von dem sie das Land in Pacht hatten,
767 in Streit gewesen waren, weil er sie ganz und gar zu abhängigen
768 Pächtern hatte herabdrücken wollen. Es unterlag für Petronio kaum
769 einem Zweifel, daß dieser Herr, ein Aldobrandini, sich der beiden
770 halsstarrigen Männer, die ihm zu trotzen wagten, auf einmal zu
771 entledigen versucht hatte, indem er sie gegeneinanderhetzte, und
772 obwohl er darauf verzichtete, den Schuldigen zu entlarven, der
773 jedenfalls zu mächtig, schlau und gerissen war, um sich fangen zu
774 lassen, so wollte er ihm doch das Opfer abjagen, so wenig es an
775 sich der Teilnahme wert sein mochte.
777 Mittlerweile hatte der Meister der Kapelle, Don Orazio, eine
778 endgültige Aussprache mit Ronco, der sich auf vieles Zureden
779 bereitfinden ließ, wenn er freigesprochen sein würde, als Sänger in
780 den Dienst des Heiligen Vaters zu treten. Er vermochte nunmehr
781 seine Rolle besser zu spielen und gebärdete sich tagtäglich
782 dreister, so daß das gesamte Tribunal endlich den Augenblick
783 herbeisehnte, wo es die Bürde seines Schützlings würde abwerfen
784 können. Die Freude und Genugtuung war auf allen Seiten gleich groß,
785 als der Freispruch erfolgte, wenn auch der Präsident und der
786 Advokat sich nichts davon merken ließen, sondern Ingrimm und
787 Beschämung zu verhehlen schienen, um sich desto besser zu
788 belustigen, wenn sie unter sich waren.
790 \pagenum{[80]}Einzig Kardinal Mazzamori machte böse Zeiten durch;
791 denn die üble Laune seiner Herrin Olimpia nahm zu, seit er in der
792 Angelegenheit ihres jungen Vetters nichts ausgerichtet hatte. Er
793 mochte noch so sehr beteuern, daß er alles Erdenkliche unternommen
794 habe, ihn zu retten, daß aber die Gerechtigkeit ihren Lauf hätte
795 nehmen müssen, und daß es ihn nicht minder als sie betrübe: sie
796 beharrte dabei, er hätte es sich keine Mühe kosten lassen, weil
797 seine Liebe zu ihr selbstischer Natur sei und nur genießen, nicht
798 wirken oder opfern wolle, und sie bestrafte ihn durch eine durch
799 nichts zu erhellende Traurigkeit. Der Jammer ihrer unglücklichen
800 Tante, sagte sie, habe ihr auf einmal die Augen für das Elend des
801 Lebens eröffnet, so daß sie sich an den irdischen Dingen nicht mehr
802 ergötzen und nur in der Hingebung an Gott einigen Trost finden
803 könne. Wirklich war sie selten mehr zu Hause anzutreffen, sondern
804 hielt sich schwarz gekleidet in Kirchen auf, wo sie bald vor
805 diesem, bald vor jenem Altar sich in Tränen auflöste. Empfing sie
806 den Freund einmal, so forderte sie ihn auf, von geistlichen Dingen
807 mit ihr zu reden, und wenn er ihr auf diesem Gebiete nicht genugtun
808 konnte, hielt sie ihm mit großer Bitterkeit vor, daß er seinen
809 Beruf nicht verstehe, und ließ ihn merken, daß er nicht viel
810 Besseres als ein Heuchler und Betrüger sei. Sie fühlte sich
811 tiefunglücklich und alles dessen beraubt, was früher ihrem Dasein
812 Halt und Inhalt gegeben hatte. Es schien ihr, als sei ihr Mann, von
813 dem sie nun schon lange getrennt lebte, im Grunde viel annehmbarer
814 gewesen als der Kardinal, insofern, als er sich doch für nichts
815 Höheres ausgegeben hatte als er war. Wenn sie sich die Zeit
816 zurückrief, wo Mazzamori ihre Liebe erregt hatte, so vermochte sie
817 in allen jenen Szenen, die zwischen\pagenum{[81]} ihnen
818 vorgefallen waren, den Zauber der Poesie nicht mehr zu finden, der
819 sie früher in ihrer Einbildung vergoldet hatte. Was war daran, so
820 dachte sie nun, anderes und Edleres gewesen, als was sich
821 alltäglich in jedem Winkel abspielt und oft genug zu Gelächter und
822 Ekel reizt? Wie sehr sie sich bemühte, etwas Besonderes und
823 Ausgezeichnetes an dem Kardinal zu finden, ihr Gewissen wollte ihr
824 nichts sagen, als daß er eine unkeusche Bestie sei wie die anderen
825 Männer auch, mit dem Unterschiede, daß sein geistlicher Beruf ihn
826 noch dazu zu einem gleisnerischen Lügner machte. Sie hätte ihn am
827 liebsten nicht mehr gesehen; wenn sie ihn zuweilen dennoch
828 herbeiwünschte und seinen Besuch annahm, so tat sie es
829 hauptsächlich, um ihn fühlen zu lassen, was sie von ihm dachte, und
830 wie unglücklich sie sei.
832 Ein schweres Verhängnis war es für den Kardinal, daß der
833 verdüsterte Gemütszustand der schönen Olimpia sie ihm noch weit
834 liebenswerter erscheinen ließ als früher. Ihr Blick, da er so
835 seelenvoll geworden war, zog ihn mehr an, als es je ihr sinnlich
836 erglühender getan hatte, und ihre demütige Trauer, die ihn hätte
837 abwehren sollen, reizte mit seinem Mitleid und seiner Bewunderung
838 zugleich seine aufrichtigsten Liebesempfindungen. Wieviel reicher
839 und erhabener erschien sie ihm, seit sie seiner nicht mehr
840 bedurfte! Wenn er zusah, wie milde und verständnisvoll sie mit
841 armen Leuten umging – denn sie suchte nun Gelegenheiten, um sich
842 Notleidenden wohltätig zu erweisen –, wenn er hörte, wie klug und
843 frei sie über alle Verhältnisse des Lebens zu reden wußte, so kam
844 sie ihm wie eine Wiedergeborene vor, ihm weit entrückt und doppelt
845 begehrenswert. Er gab sich Mühe, auf ihre neuen Gedankengänge
846 einzugehen, ohne daß er etwas anderes als Spott und Bitterkeit
847 dabei\pagenum{[82]} geerntet hätte. Olimpia fand diese
848 Bestrebungen, die nicht der Sache galten, sondern nur ein Ausfluß
849 seiner Verliebtheit waren, lächerlich oder gar abstoßend und wurde
850 durch sie in der Meinung bestärkt, daß der Kardinal ein seichter
851 Heuchler sei.
853 In der Hoffnung, die ihm Entschlüpfende zu fesseln und ihre
854 weltlichen Interessen wieder ein wenig anzufachen, erzählte der
855 Kardinal ihr von dem wunderwürdigen Sänger, den sein Freund Don
856 Orazio kürzlich kennengelernt und für den päpstlichen Dienst
857 erworben habe. Dieser Sänger sei, erzählte er, durch widrige
858 Schicksalsfälle verfolgt und unter höchst seltsamen Umständen von
859 Don Orazio entdeckt worden, die auch ihm noch Geheimnis wären.
860 Gewiß sei, daß er die herrlichste Stimme besitze, die je ein
861 italienisches Ohr bezaubert habe, und die durch die sorgfältige
862 Ausbildung, der sie jetzt unterzogen werde, noch gewinnen solle.
863 Die Mittel dazu hätten Orazio und er hergegeben, da der Sänger
864 durch die erwähnten Schicksalsschläge mittellos geworden sei; es
865 reue sie aber das Opfer nicht, da jeder Ton aus der gesegneten
866 Kehle edleres Gold als das sei, was sie dafür ausgegeben hätten.
867 Wenn Olimpia ihn zu hören geneigt sei, so wolle er eine Gelegenheit
868 dazu in seinem Hause veranstalten.
870 Indessen Olimpia war zu sehr in ihre schwermütigen Anschauungen
871 versenkt, um sich irgendwelche Zerstreuungen gefallen lassen zu
872 mögen; nichts war ihr recht, was sie davon entfernte, nur das
873 willkommen, was sie darin bestärkte. Schöner Gesang wäre ihr wohl
874 lieb, sagte sie, aber zu teuer erkauft, wenn sie ihn im Beisein
875 anderer, etwa sogar unter geselligen Zurüstungen hören müsse. Könne
876 der Sänger sie aufsuchen und ihr seine Kunst vorführen, ohne sie in
877 ihrer einsamen Beschaulichkeit zu stören, so wäre es möglich, daß
878 sie Genuß daran hätte. Das wußte der Kardinal nun nicht
879 \pagenum{[83]}einzurichten; denn einmal wußte er nicht, ob Ronco,
880 der sich übermütig und habgierig entfaltete, sich ohne weiteres und
881 namentlich ohne die Aussicht beträchtlicher Vorteile dazu verstehen
882 würde, und zudem hätte er für das Benehmen seines Schützlings nicht
883 einzustehen gewagt, wenn derselbe ohne Zwang und Aufsicht allein
884 mit einer Dame gewesen wäre. So mußte er auf eine Gelegenheit
885 warten, um Olimpia mit dem Wundermanne bekannt zu machen, und eine
886 solche bot sich denn auch, als der Gesangmeister, der ihm
887 Unterricht erteilte, seine Stimme für so geschult erklärte, daß
888 seiner Vorstellung bei Hofe nichts mehr im Wege stehe.
890 Der Papst hatte zur Teilnahme an dem Konzert, das in seinen
891 Gemächern stattfinden sollte, einen kleinen gewählten Kreis
892 musikliebender Freunde um sich versammelt, unter denen Kardinal
893 Mazzamori, als um den Fund so sehr verdient, nicht fehlen durfte.
894 Auch war ihm bereitwillig gestattet worden, seine Freundin Olimpia
895 mitzubringen, die eine Einladung des Heiligen Stuhls auszuschlagen
896 sich denn doch nicht getraute. Sie wählte zwar eine Frisur und
897 Kleidung, die, dunkel und schlicht, gegen die früher von ihr
898 geliebte reichliche Ausschmückung weit abstach, und hielt sich auch
899 bescheiden und fast schamhaft im Hintergrunde; aber daß ihr zartes
900 Fleisch um so lieblicher aus dem Schatten hervorleuchtete, hatte
901 sie durch diese Veranstaltung doch nicht hindern können.
903 Innozenz war ein feiner, kleiner alter Herr mit einem zierlichen
904 Gesicht, mit etwas undeutlichen Augen, einer gebogenen zugespitzten
905 Nase und einem dünnlippigen, meist freundlichen Munde. Er nahm die
906 Huldigung der Gäste geschwind entgegen und ließ einem jeden einige
907 scherzende Worte zukommen, wobei ihm aber die Ungeduld wegen der
908 bevorstehenden Vorführung anzumerken war. Als es eine
909 \pagenum{[84]}Minute über die Zeit war, auf welche man den Sänger
910 bestellt hatte, wurde ein nervöses Zucken um seine Augen sichtbar,
911 und Mazzamori blickte ängstlich von der kostbar verzierten Uhr, die
912 auf dem Marmorkamine stand, zur Flügeltür; er atmete auf, als diese
913 sich öffnete und Don Orazio, eintretend, um die Ehre bat, den
914 Sänger Ronco vorstellen zu dürfen. Ronco hatte sich in der Zeit
915 seiner Vorbereitung eine Richtschnur seines künftigen Betragens
916 gemacht, die einfach, aber nichtsdestoweniger ausnehmend zweckmäßig
917 war: nämlich den Beifall des Papstes zu erwerben und einzig darauf
918 sein beständiges Augenmerk zu richten. Von diesem Vorsatz beseelt,
919 ging er stracks, die Augen mit einer gewissen eindringlichen
920 Heftigkeit auf das erhabene Ziel gestellt, auf den alten Herrn zu,
921 fiel vor ihm nieder, küßte ihm die Füße und verharrte in dieser
922 Stellung, indem er die Arme vor der Brust faltete. Diese kindliche
923 Gebärde inbrünstiger Hingebung rührte Innozenz so sehr, daß er
924 unwillkürlich die Lippen auf die Stirn und die Hände auf die
925 breiten Schultern des vor ihm knienden Mannes drückte, worauf er
926 ihn mit ermunternden Worten begrüßte und aufzustehen und sich zu
927 setzen aufforderte. Fast fürchtete der alte Herr, das erschütternde
928 Gefühl, sich zum erstenmal in seiner Gegenwart zu befinden, könne
929 den Sänger der Macht über seine Kehle berauben; es zeigte sich
930 aber, daß der starke Mann mit der Hingebung die Unbefangenheit
931 eines Kindes vereinte, denn ohne durch das leiseste Zittern
932 beeinträchtigt zu werden, rollten die ersten Töne wie große
933 glänzende Perlen in den Saal. Infolge einer Anordnung des Orazio
934 sang er zuerst das Volkslied, das er und Mazzamori im Gefängnis von
935 ihm gehört hatten, und das ohnehin als etwas Neues und
936 Befremdliches Aufsehen erregte und Eindruck machte.
938 \pagenum{[85]}Es war, als ob der Stab eines Zauberers die Herzen
939 der Zuhörer berührt habe; einem jeden tauchten liebe Träume auf,
940 allerschönste Augenblicke, deren sie sich erinnerten oder die sie
941 erhofften, und die einen süßeren Duft aushauchten, als der
942 zerkleinernden Wirklichkeit übrigzubleiben pflegt. Olimpia überkam
943 ein gewaltsamer Schmerz, der aber nicht niederdrückend war wie der,
944 dem sie seit vielen Wochen in wechselnder Art hingegeben war,
945 sondern durchdringend und angenehm, als eine Kraft, die sie über
946 das gemeine Leben emporzutragen schien. Sie fühlte, was sie einst
947 als Mädchen gewesen war, was sie von der Zukunft erwartet und was
948 sie selbst hätte leisten und erringen wollen, und mit der
949 schrecklichen Einsicht zugleich, wie weit sie von diesem Ziele
950 abgewichen war, glaubte sie zu wissen, daß es nur auf sie ankomme,
951 wieder die reine, starke und freudige Seele von damals zu werden.
952 Sie hörte nicht auf, ihre Beziehungen zu Mazzamori zu bereuen, aber
953 sie tadelte sich in diesem Augenblick, daß sie ihn mit Härte
954 behandelt hatte, da doch nicht er allein, sondern auch sie
955 gesündigt habe, und da er ihr doch nicht die Möglichkeit rauben
956 könne, aus den Irrwegen, auf die er sie geführt, zur Klarheit
957 aufzusteigen. Es erschien ihr wie ein Wunder, daß sie trotz ihres
958 Widerstrebens in die Nähe des Mannes gebracht worden war, dessen
959 Stimme ihr so tröstlich wurde, und der ihr dadurch fast wie ein
960 Abgesandter Gottes erscheinen wollte. Aus dem Winkel, wo sie Platz
961 genommen hatte, konnte sie ungestört seine heldenhafte Gestalt
962 bewundern und das dunkle Antlitz, dessen Wildheit sie erbeben
963 machte.
965 Ronco war bei der sorglichen Pflege, die er sich seit geraumer Zeit
966 hatte angedeihen lassen können, nur auf die Art schöner geworden,
967 wie aus einem schäbigen hungrigen\pagenum{[86]} Wolf ein
968 wohlgenährter wird; aber dies genügte um auf aller Augen einen
969 blendenden und überwältigenden Eindruck zu machen. Die Begeisterung
970 war allgemein; doch machte niemand dem Heiligen Vater das Recht
971 streitig, sie zuerst zu äußern. Der kleine Herr saß mit geröteten
972 Wangen da, klopfte hie und da in die Hände, rief: »Bravo! bravo!«,
973 wiegte den Kopf und unterbrach auch wohl den Gesang mit Ausrufen
974 des Entzückens: »Ah! Welcher Ansatz! Welche Süßigkeit! Welche
975 Erfindung!«, wenn die Kadenzen wie aus dem Füllhorn des Überflusses
976 aus seinem Munde strömten. Es vermehrte die Bewunderung Olimpias,
977 daß der Sänger keinen Blick auf die Gesellschaft, geschweige denn
978 in ihren Winkel warf; er schien nur für den Heiligen Vater da zu
979 sein und auf seinen Wink zu singen oder zu schweigen. Einem
980 Erzengel mußte sie ihn vergleichen, der, in voller Pracht gerüstet,
981 demutvoll den Befehl des Herrn der Heerscharen erwartet.
983 Erst als die Gesellschaft aufstand und auseinanderging, fiel ein
984 Blick des Sängers auf sie, der mehr als Gleichgültigkeit, der
985 niederschmetternde Verachtung auszudrücken schien. Sie schloß
986 daraus, daß er wisse, in welchen Beziehungen sie zu Kardinal
987 Mazzamori gestanden habe, ja seiner Meinung nach noch stehe, und
988 daß er sie aus diesem Grunde für eine Verworfene halte, was sie ja
989 im Grunde auch sei.
991 In Wirklichkeit hatte der Sänger weder sie noch sonst eine von den
992 Zuhörerinnen beachtet, da es ihm zunächst nur um den Papst zu tun
993 war und er überhaupt an den vornehmen Damen noch keinen Geschmack
994 gewonnen hatte. Allmählich jedoch stellte sich das Verständnis
995 dafür ein, und nunmehr konnte ihm die Verehrung nicht unbemerkt
996 bleiben, mit der die schöne Olimpia zu ihm aufblickte. Es
997 schmeichelte ihm nicht wenig, daß die Geliebte des Kardinals
998 Mazzamori\pagenum{[87]} ihn diesem angesehenen, einflußreichen,
999 liebenswürdigen und gebildeten Manne vorzog, den zu beleidigen er
1000 ohnehin einen lebhaften Antrieb in sich verspürte. Je mehr seine
1001 Stellung beim Papst und in Rom sich befestigte, desto unleidlicher
1002 wurden ihm die beiden Herren, denen seine Vergangenheit so
1003 wohlbekannt war, so daß er mit dem Gedanken umging, sie, wenn sich
1004 ein Anlaß böte, aus Rom zu entfernen.
1006 In den ersten Tagen, die dem Konzert folgten, war Mazzamori
1007 hochbeglückt über den Erfolg. Schien es doch die geliebte Frau
1008 weich und zugänglich gestimmt zu haben. Um so schneidender war
1009 seine Enttäuschung, als sie ihm, wenn auch in gütigen Worten, ihren
1010 unerschütterlichen Entschluß mitteilte, jeden Verkehr mit ihm
1011 abzubrechen, da sie ein neues, reineres Leben in Gott nunmehr
1012 beginnen wolle.
1014 Da er sah, daß jeder Versuch, sie ihrem Vorsatz abtrünnig zu
1015 machen, scheiterte, ergab er sich und rang bereits mit dem Plane,
1016 ihr nachzueifern, um ihr wenigstens in den Regionen der Entsagung
1017 wieder zu begegnen, als er durch Neckereien Bekannter auf die
1018 zarten Fäden aufmerksam gemacht wurde, die zwischen dem Sänger und
1019 der Büßerin hin und her gingen. War er auch überzeugt, daß bei
1020 Olimpia nichts vorlag als die Schwärmerei einer empfänglichen Seele
1021 für die Stimme, in der etwas Göttliches sinnfällig zu werden
1022 schien, so zweifelte er doch billig, ob der gewalttätige Bauer
1023 einer ähnlichen Erhabenheit der Empfindung fähig sei, dem er
1024 vielmehr die Absicht zutraute, das Weib in die Niederungen seiner
1025 Sinnlichkeit herabzuziehen.
1027 Dies wurde ihm zur Gewißheit, als verlautete, der Sänger habe vor
1028 einigen Tagen um Urlaub gebeten und solchen auch erhalten, um
1029 irgendwo am Meere oder im Gebirge seine Stimme zu schonen, was zu
1030 deren Erhaltung von\pagenum{[88]} den Ärzten für durchaus
1031 notwendig erklärt worden sei. Außer sich eilte der Kardinal zum
1032 Papste, um ihn darüber aufzuklären, welche Gefahr seiner Meinung
1033 nach eine edle Freundin bedrohe, und wie freventlich die Güte des
1034 huldvollen Gebieters mißbraucht werde.
1036 Der alte Herr merkte kaum, daß es sich um einen Angriff auf seinen
1037 Liebling handelte, als seine Lippen sich ärgerlich zusammenkniffen.
1038 Er selbst litt unter dessen bevorstehender Abwesenheit, hatte
1039 seiner Bitte aber dennoch willfahrt und ein Beispiel der
1040 Selbstverleugnung gegeben; mußte er dem geistvollen Zauberer nicht
1041 einmal ein Abenteuer, in dem er sich austobte, gestatten? War er
1042 doch selbst jung gewesen! Und wieviel mehr als ein anderer bedurfte
1043 der Feurige, der Zündende, der Verschwender Zufuhr neuer Kräfte,
1044 die ihm, dem Papst, und allen, die ihn hörten, wieder zuteil werden
1045 würden! Wenn er sich vorstellte, wie der löwenhafte Mann das
1046 erstemal, die Arme über der Brust gekreuzt, vor ihm niedergekniet
1047 war, so pflegten ihm Tränen in die Augen zu treten. Niemals war er
1048 seitdem von dieser kindlichen und ritterlichen Hingebung
1049 abgewichen. Obwohl hitzigen Temperaments und hochfahrenden Sinnes,
1050 wie er denn im Umgang mit anderen Menschen oft durch zügellose
1051 Laune und Grobheit überraschte, nahte er sich ihm, dem Heiligen
1052 Vater, dem zierlichen kleinen Manne, nie ohne Unterwürfigkeit, nahm
1053 er von ihm jeden Tadel mit Bescheidenheit und Geduld entgegen und
1054 rief in jeder Angelegenheit sein Urteil als das höchste, gleichsam
1055 von Gott selbst ausgefertigte an, dem sich zu beugen ihm
1056 augenscheinlich sowohl Lust wie Pflichtgebot war.
1058 Indem er sich in seinem Sessel zurücksetzte, betrachtete Innozenz
1059 den Kardinal erstaunt und bat um eine Erklärung des Anteils, den er
1060 an dem Urlaub und der Reise des\pagenum{[89]} Sängers nähme. Ein
1061 wenig errötend sagte der Kardinal, es sei dem Heiligen Vater
1062 vielleicht nicht bekannt, daß Ronco den Ausflug in Begleitung einer
1063 Dame zu machen gedenke, einer Dame, mit der er weder in
1064 verwandtschaftlicher noch in ehelicher Beziehung stehe, soviel ihm
1065 bekannt sei.
1067 »Und was weiter?« fragte der Papst kühl. »Sollten Sie, mein Freund,
1068 niemals, eine Reise mit Damen ohne verwandtschaftliche Beziehung
1069 unternommen haben? Oder wenn Sie, ein Geistlicher, ein Diener
1070 Gottes, es nicht getan haben, warum sollten Sie einem Sänger diese
1071 Freiheit mißgönnen?«
1073 Der Kardinal zitterte vor Verlegenheit, Angst und Enttäuschung.
1074 »Verzeihen mir Eure Herrlichkeit,« sagte er, »wenn die Sorge um
1075 eine Frau, die mir teuer ist, und über deren Heil zu wachen ich
1076 mich verpflichtet halte, mich zu weit hingerissen hat.«
1078 Bevor er noch mehreres hinzufügen konnte, unterbrach ihn der Papst,
1079 indem er sagte: »Gut, gut! Überlassen Sie es mündigen Frauen, sich
1080 selbst zu schützen, wenn sie überhaupt des Schutzes bedürfen oder
1081 ihn wünschen. Ich habe es stets so gehalten, daß ich meinen
1082 Untergebenen in Familiensachen freie Hand ließ, denn dies ist der
1083 Punkt, wo aus Herrschaft Tyrannei würde.«
1085 Nach dieser Zurechtweisung wurde der Kardinal nicht ungnädig
1086 entlassen; ja, der Heilige Vater zeichnete ihn beim nächsten
1087 Empfang mit liebenswürdigen Worten aus; aber als er nach einigen
1088 Tagen an die Spitze einer Mission zur Bekehrung der Heiden in Japan
1089 gestellt wurde, konnte er nicht umhin, darin mehr den Wunsch des
1090 Papstes, ihn zu entfernen, als einen Beweis seiner Hochachtung zu
1091 sehen.
1093 Das Bewußtsein seiner Untauglichkeit zu einer solchen Aufgabe war
1094 so stark in ihm, daß er es wagte, dem Papst\pagenum{[90]} seine
1095 Befürchtungen dieserhalb zu unterbreiten; doch beruhigte ihn dieser
1096 mit dem Hinweis auf seine mannigfachen Talente, denen, wenn sie der
1097 Glaubenseifer unterstütze, nichts unmöglich sein werde, und auf die
1098 Märtyrerkrone, die er sich im besten Fall erwerben könne.
1100 Don Orazio hielt sich etwas länger, schließlich jedoch wußte der
1101 unentwegte Ronco auch ihn zu stürzen, indem er ihn durch
1102 fortwährende Widersetzlichkeiten und Kränkungen dahin brachte, sich
1103 beim Heiligen Vater über ihn zu beklagen. Als dieser ihn damit
1104 abwies und ihm vielmehr empfahl, sich einem so herrlichen Künstler,
1105 der Zierde seines Hofs, gegenüber nicht zu überheben, brauste
1106 Orazio auf und rief aus: »Wie? Von diesem Vieh, das ich aus dem
1107 Morast gezogen habe, soll ich mich ungerecht verhöhnen lassen?«,
1108 mit welcher unbesonnenen Äußerung er die Gunst seines Herrn
1109 vollends verscherzte. Denn wie er sich wegen des beleidigenden
1110 Ausdrucks rechtfertigen wollte, bedachte er, daß er den wahren
1111 Hergang seiner Bekanntschaft mit Ronco nicht wohl enthüllen konnte,
1112 ohne sich in verhängnisvolle Mißhelligkeiten zu verwickeln, und
1113 mußte, da er sich über sein Benehmen nicht ausreden konnte, als
1114 verleumderischer Schwätzer oder ungezähmter Tollkopf dastehen. Die
1115 es gut mit ihm meinten, waren der Ansicht, daß er es noch für Gnade
1116 und Glücksfall ansehen müsse, als der Papst ihn nach dem kleinen
1117 Hofe von Lucca empfahl, wo er zwar in schmalen Verhältnissen, aber
1118 doch ohne Not und Gefährdung sein Dasein fristen konnte.
1120 Schlimmer und besser zugleich erging es seinem Freunde Mazzamori,
1121 der zwar mancherlei Entbehrungen und Todesgefahr zu bestehen hatte,
1122 aber, wenn solche vorübergegangen war, auch Augenblicke bisher
1123 unbekannter Seligkeit feierte,\pagenum{[91]} und über dessen liebe
1124 und traurige Vergangenheit die vielen absonderlichen Eindrücke, die
1125 er empfing, einen bunten Schleier webten, der sie undeutlich
1126 machte. Zuweilen, wenn er in fremder Einsamkeit am Gestade des
1127 Ozeans zwischen namenlosen Riesenbäumen und vorüberhuschendem
1128 Getier in der Dämmerung sich erging, erinnerte ihn, er wußte nicht
1129 wie, ein lieblicher Himmelsglanz zu seinen Häupten an die schmalen
1130 länglichen Cherubsaugen jenes jungen Lancelotto, mit denen er frei
1131 in paradiesischen Sphären auf die verlassene Erde hinabsehen
1132 wollte. Vielleicht, dachte er, lächelt er über die Verworrenheit,
1133 in die wir armen Toren verstrickt sind, wenn er sich nicht lange
1134 schon ermüdet weggewendet hat zu den gelösten Geheimnissen der
1135 Weltregierung. Auf Augenblicke schwieg dann das Heimweh nach der
1136 goldenen Küste Italiens, das ihn in Stunden, wo er allein war, zu
1137 beschleichen pflegte, und er dachte mit bänglicher Sehnsucht an die
1138 Märtyrerkrone, die seine Arbeit unter den bösen Heiden ihm
1139 eintragen konnte, und die vielleicht, von unsichtbaren Händen
1140 bereit gehalten, schon über ihm schwebte.
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