War of the Worlds: Fixes after reading
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16 \begin{document}
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19 \begin{Verbatim}[fontsize=\footnotesize]
20 The Project Gutenberg EBook of Die Stadt ohne Juden, by Hugo Bettauer
22 This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with
23 almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or
24 re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included
25 with this eBook or online at www.gutenberg.org
28 Title: Die Stadt ohne Juden
29 Ein Roman von übermorgen
31 Author: Hugo Bettauer
33 Illustrator: Martha von Wagner-Schidrowitz
35 Release Date: March 13, 2011 [EBook #35569]
37 Language: German
39 Character set encoding: UTF-8
41 *** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE STADT OHNE JUDEN ***
44 Produced by Jana Srna, Norbert H. Langkau and the Online
45 Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net.
46 \end{Verbatim}
48 \section{Anmerkungen zur Transkription}
50 Schreibweise und Interpunktion des Originaltextes wurden
51 übernommen; lediglich offensichtliche Druckfehler wurden
52 korrigiert. Änderungen sind im Source-Code
53 \erratum{so wie hier}{gekennzeichnet}.
55 \section{Typographische Anpassungen}
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58 Projekt Gutenberg Version einige Änderungen vorgenommen, um moderne
59 typographische Standards zu erfüllen.
61 Dieses Dokument versucht den Text wiederzugeben und nicht eine bestimmte
62 Ausgabe in allen Details zu reproduzieren, mit einer Ausnahme: Die
63 Zahlen im äußeren Rand der Buchseiten entsprechen den Seitenzahlen
64 in der Ausgabe vom Gloriette-Verlag, Wien -- Dritte Auflage. 11.-15. Tausend.
66 \title{Die\\Stadt ohne Juden}
68 \subtitle{Ein Roman von übermorgen}
70 \author{Von\\Hugo Bettauer}
72 %Gloriette-Verlag, Wien
74 %Alle Rechte vorbehalten
76 \date{Copyright by Gloriette-Verlag, Vienna 1922}
78 %Umschlag-Entwurf von Martha v. Wagner-Schidrowitz
80 %Dritte Auflage. 11.–15. Tausend
82 \maketitle
84 \chapter{Erster Teil.}
85 \pagenum{3}
87 Von der Universität bis zur Bellaria umlagerte das schöne, ruhige
88 und vornehme Parlamentsgebäude eine einzige Menschenmauer. Ganz
89 Wien schien sich an diesem Junitag um die zehnte Vormittagsstunde
90 versammelt zu haben, um dort zu sein, wo sich ein historisches
91 Ereignis von unabsehbarer Tragweite abspielen sollte. Bürger und
92 Arbeiter, Damen und Frauen aus dem Volke, halbwüchsige Burschen und
93 Greise, junge Mädchen, kleine Kinder, Kranke in Rollwagen, alles
94 quoll durcheinander, schrie, politisierte und schwitzte. Und immer
95 wieder fand sich ein Begeisterter, der plötzlich an den Kreis um
96 ihn herum eine Ansprache hielt und immer wieder brauste der Ruf
97 auf:
99 „Hinaus mit den Juden!“
101 Sonst pflegten bei ähnlichen Demonstrationen hier und dort Leute
102 mit gebogener Nase oder besonders schwarzem Haar weidlich
103 verprügelt zu werden; diesmal kam es zu keinem solchen
104 Zwischenfall, denn Jüdisches war weit und breit nicht zu sehen, und
105 zudem hatten die Kaffeehäuser und Bankgeschäfte am Franzens- und
106 Schottenring, in weiser Erkenntnis aller Möglichkeiten, ihre
107 Pforten geschlossen und die Rollbalken herabgezogen.
109 \pagenum{4}Plötzlich zerriß ein einziges Aufbrüllen die Luft.
111 „Hoch Doktor Karl Schwertfeger, hoch, hoch, hoch! Hoch der Befreier
112 Österreichs!“
114 Ein offenes Auto fuhr langsam mitten durch die Menschenmassen
115 hindurch, die zurückdrängten und Bahn machten. Im Auto saß ein
116 großer älterer Herr, dessen mächtiger Schädel mit willkürlichen
117 Büscheln weißer Haare bedeckt war.
119 Er nahm den grauen, weichen Schlapphut ab, nickte der jubelnden
120 Menschenmenge zu und verzerrte das Gesicht zu einem Lächeln. Aber
121 es war ein saures Lächeln, das von den zwei Falten, die von den
122 Mundwinkeln abwärts liefen, gewissermaßen dementiert wurde. Und die
123 tiefliegenden grauen Augen blickten eher finster als vergnügt
124 drein.
126 Lachende Mädchen drängten sich vor, schwangen sich auf das
127 Trittbrett, die eine warf dem Gefeierten Blumen zu, eine andere war
128 noch dreister, schlang ihren Arm um seinen Hals und küßte den
129 Doktor Schwertfeger auf die Wange. Als ob der Chauffeur ahnte, wie
130 seinem Herrn bei solchen Gefühlsausbrüchen zumute wurde, ließ er
131 das Auto vorwärts springen, so daß die Mädchen mit jähem Ruck nach
132 rückwärts fielen. Sie taten sich dabei nicht wehe, denn die
133 Menschenmauer fing sie auf.
135 Im Parlamentsgebäude herrschte nicht die laute Begeisterung der
136 Straße, sondern fieberhafte Erregung, zu stark, um Ausdruck nach
137 außen zu finden. Die Abgeordneten, die sich bis zum letzten Mann
138 eingefunden hatten, die Minister, die Saaldiener gingen schweigend
139 und unruhig umher, sogar die überfüllten Galerien verhielten sich
140 lautlos.
142 \pagenum{5}In der Journalistenloge, in der es sonst am
143 ungeniertesten zuzugehen pflegte, wurde nur im Flüsterton
144 gesprochen. Und eine bemerkenswerte räumliche Spaltung hatte sich
145 eingestellt. Die kompakte jüdische Majorität der Berichterstatter
146 drängte ihre Stühle zusammen, die Referenten der christlichsozialen
147 und deutschnationalen Blätter bildeten ihrerseits eine Gruppe.
148 Sonst mischten sich die jüdischen und christlichen Journalisten
149 fröhlich durcheinander, im Berufskreis war man nicht Parteigänger,
150 sondern nur der Herr Kollege, und da die jüdischen Journalisten
151 gewöhnlich mehr Neuigkeiten wußten und sie besser verwerten
152 konnten, standen die antisemitischen zu ihnen in einem starken
153 Abhängigkeitsverhältnis. Heute aber flogen hämische Blicke von der
154 christlichen Ecke in die jüdische, und als der kleine Karpeles von
155 der „Weltpost“, der eben erst eingetreten war, den Doktor Wiesel
156 von der „Wehr“ mit „Servus Herr Kollege!“ begrüßte, wandte ihm
157 dieser ohne Erwiderung den \discretionary{Rük-}{ken}{Rücken}.
159 Es drängten immer noch Journalisten herein, darunter Vertreter
160 ausländischer Zeitungen, die heute in Wien angekommen waren.
162 „Nicht rühren kann man sich“, brummte der Herglotz vom christlichen
163 „Tag“, worauf ihm ein Kollege mit kleinem, bärtigem Kopf und
164 mächtigem Bierbauch erwiderte:
166 „Na, ein paar Tage noch und wir werden hier Platz genug haben!“
168 Hüsteln, Lächeln, Lachen auf der einen Seite, gegenseitige
169 bedeutungsvolle Blicke auf der anderen.
171 \pagenum{6}Ein junger blonder Herr mit roten Backen machte nach
172 links und rechts eine leichte Verbeugung.
174 „Holborn vom \glq{}London Telegraph\grq{}! Bin eben vor einer Stunde
175 angekommen und kenne mich wahrhaftig nicht aus. Vorgestern kam ich
176 aus Sidney nach halbjähriger Abwesenheit in London an, eine Stunde
177 später saß ich wieder im Zug, um nach Wien zu fahren. Unser
178 Managing-Editor, das Kamel, hat mir nichts gesagt, als: In Wien
179 wird es jetzt lustig, da schmeißen sie die Juden hinaus! Fahren Sie
180 hin und berichten Sie, daß das Kabel reißt! Also bitte, wäre sehr
181 nett von Ihnen, wenn Sie mich rasch instruieren wollten.“
183 Das alles war in so drolligem Englisch-deutsch herausgekommen, daß
184 sich die Spannung ein wenig löste. Minkus vom „Tagesboten“
185 bemächtigte sich, heftig gestikulierend, des englischen Kollegen
186 und begann mit den Worten:
188 „Also, ich werde Ihnen alles genau erklären~–.“ Aber Doktor Wiesel
189 ließ ihn nicht weitersprechen. „Sie verzeihen, aber diese
190 Aufklärung wird besser von \emph{uns} ausgehen.“
192 Tonfall drohend, das „uns“ bedeutungsvoll unterstrichen.
194 Und schon befand sich Holborn in der christlichen Ecke, wo Wiesel
195 kurz und sachlich erklärte:
197 „Was geschehen soll, werden Sie sofort aus dem Munde unseres
198 Bundeskanzlers Dr. Karl Schwertfeger erfahren, der das Gesetz zur
199 Ausweisung aller Nichtarier aus Österreich eingehend begründen
200 wird. Die Vorgeschichte ist, kurz gesagt, folgende: Als die
201 österreichische Krone auf den Wert \pagenum{7} eines fünfzigstel
202 Centimes herabgesunken war, begann das Chaos einzutreten. Ein
203 Ministerium nach dem anderen mußte gehen, es entstanden Unruhen,
204 täglich kam es zu Plünderungen der Geschäfte, zu Pogroms, die Wut
205 und Verzweiflung der Bevölkerung kannte keine Grenzen mehr und
206 schließlich mußte zu Neuwahlen geschritten werden. Die
207 Sozialdemokraten traten ohne neues Programm in den Wahlkampf, die
208 Christlichsozialen hingegen scharten sich um ihren geistvollen
209 Führer Dr. Karl Schwertfeger, dessen Losungswort lautete: Hinaus
210 mit den Juden aus Österreich! Nun, vielleicht ist es Ihnen
211 bekannt,“ – Holborn nickte, obwohl er keine Ahnung hatte – „daß die
212 Wahlen den völligen Zusammenbruch der Sozialdemokraten, Kommunisten
213 und Liberalen brachten. Selbst die Arbeitermassen wählten unter der
214 Parole „Hinaus mit den Juden!“, und die sozialistische Partei,
215 vordem relativ die stärkste, konnte knapp elf Mandate retten. Die
216 Großdeutschen aber, die gut abschnitten, hatten sich ebenfalls auf
217 das „Hinaus mit den Juden!“ eingestellt.
219 Nun, der Genialität des Doktor Schwertfeger, seiner unerschrockenen
220 Energie, seiner kühnen Impetuosität und Beredsamkeit gelang es, dem
221 Völkerbund, der vor die Alternative Anschluß Österreichs an
222 Deutschland oder Gewährenlassen gestellt war, die Zustimmung zur
223 großen Judenausweisung abzuringen. Und jetzt wird Schwertfeger
224 selbst das Gesetz einbringen, das sicher angenommen werden wird.
225 Sie sind also Zeuge eines historischen~–.“
227 „Pst!“-Rufe wurden laut. Wiesel konnte nicht weiterreden, denn der
228 Präsident des Hauses, ein Tiroler mit \pagenum{8} rötlichem
229 Vollbart, schwang die Glocke und erteilte dem Bundeskanzler das
230 Wort.
232 Grabesstille, in die das Surren der Ventilatoren unheimlich klang.
233 Das leiseste Räuspern, das Rascheln der Papiere in der
234 Journalistenloge wurde gehört und empfunden.
236 Übergroß, trotz des vorgebeugten Schädels und gewölbten
237 \discretionary{Rük-}{kens}{Rückens},
238 stand der Bundeskanzler auf der Rednertribüne, die Hände, zu
239 Fäusten geballt, stützten sich auf das Pult, unter den grauen,
240 buschigen Brauen glitzerten die scharfen Augen über den Saal
241 hinweg. So stand er bewegungslos, bis er plötzlich den Schädel ins
242 Genick warf und mit seiner mächtigen Stimme, die sich in den
243 turbulentesten Versammlungen immer hatte Gehör erzwingen können,
244 begann.
246 „Verehrte Damen und Herren! Ich lege Ihnen jenes Gesetz und jene
247 Änderungen unserer Bundesverfassung vor, die gemeinsam nichts
248 weniger bezwecken, als die Ausweisung der nichtarischen, deutlicher
249 gesagt, der jüdischen Bevölkerung aus Österreich. Bevor ich das
250 tue, möchte ich aber einige rein persönliche Bemerkungen machen.
252 Seit fünf Jahren bin ich der Führer der christlichsozialen Partei,
253 seit einem Jahr durch den Willen der überwiegenden Mehrheit dieses
254 Hauses Bundeskanzler. Und durch diese fünf Jahre hindurch haben
255 mich die sogenannten liberalen Blätter wie die
256 sozialdemokratischen, mit einem Wort alle von Juden geschriebenen
257 Zeitungen, als eine Art Popanz dargestellt, als einen wütenden
258 \pagenum{9} Judenfeind, als einen fanatischen Hasser des
259 Judentums und der Juden. Nun, gerade heute, wo die Macht dieser
260 Presse ihrem unwiderruflichen Ende entgegengeht, drängt es mich, zu
261 erklären, daß das alles nicht so ist. Ja, ich habe den Mut, heute
262 von dieser Tribüne aus zu sagen, daß ich viel eher Judenfreund als
263 Judenfeind bin!“
265 Ein Murmeln und Surren ging durch den Saal, als flöge eine Schar
266 Vögel aus dem Felde auf.
268 „Ja, meine Damen und Herren, ich bin ein Schätzer der Juden, ich
269 habe, als ich noch nicht den heißen Boden der Politik betreten,
270 jüdische Freunde gehabt, ich saß einst in den Hörsälen unserer
271 \latein{Alma mater} zu Füßen jüdischer Lehrer, die ich verehrte und
272 noch immer verehre, ich bin jederzeit bereit, die autochthonen
273 jüdischen Tugenden, ihre außerordentliche Intelligenz, ihr Streben
274 nach aufwärts, ihren vorbildlichen Familiensinn, ihre
275 Internationalität, ihre Fähigkeit, sich jedem Milieu anzupassen,
276 anzuerkennen, ja zu bewundern!“
278 „Hört! Hört!“-Rufe wurden laut, sensationelle Spannung bemächtigte
279 sich der Abgeordneten und des Auditoriums, und der englische
280 Journalist Holborn, der nicht alles verstanden hatte, fragte
281 interessiert den Doktor Wiesel, ob der Mann da unten der Vertreter
282 der Judenschaft sei.
284 Der Kanzler fuhr fort.
286 „Trotzdem, ja gerade deshalb wuchs im Laufe der Jahre in mir immer
287 mehr und stärker die Überzeugung, daß wir Nichtjuden nicht länger
288 mit, unter und neben den Juden leben können, daß es entweder Biegen
289 oder \pagenum{10} Brechen heißt, daß wir entweder uns, unsere
290 christliche Art, unser Wesen und Sein oder aber die Juden aufgeben
291 müssen. Verehrtes Haus! Die Sache ist einfach die, daß wir
292 österreichische Arier den Juden nicht gewachsen sind, daß wir von
293 einer kleinen Minderheit beherrscht, unterdrückt, vergewaltigt
294 werden, weil eben diese Minderheit Eigenschaften besitzt, die uns
295 fehlen! Die Romanen, die Angelsachsen, der Yankee, ja sogar der
296 Norddeutsche wie der Schwabe – sie alle können die Juden verdauen,
297 weil sie an Agilität, Zähigkeit, Geschäftssinn und Energie den
298 Juden gleichen, oft sie sogar übertreffen. Wir aber können sie
299 nicht verdauen, uns bleiben sie Fremdkörper, die unsern Leib
300 überwuchern und uns schließlich versklaven. Unser Volk kommt zum
301 überwiegenden Teil aus den Bergen, unser Volk ist ein naives,
302 treuherziges Volk, verträumt, verspielt, unfruchtbaren Idealen
303 nachhängend, der Musik und stiller Naturbetrachtung ergeben, fromm
304 und bieder, gut und sinnig! Das sind schöne, wunderbare
305 Eigenschaften, aus denen eine herrliche Kultur, eine wunderbare
306 Lebensform sprießen kann, wenn man sie gewähren und sich entwickeln
307 läßt. Aber die Juden unter uns duldeten diese stille Entwicklung
308 nicht. Mit ihrer unheimlichen Verstandesschärfe, ihrem von
309 Tradition losgelösten Weltsinn, ihrer katzenartigen
310 Geschmeidigkeit, ihrer blitzschnellen Auffassung, ihren durch
311 jahrtausendelange Unterdrückung geschärften Fähigkeiten haben sie
312 uns überwältigt, sind unsere Herren geworden, haben das ganze
313 wirtschaftliche, geistige und kulturelle Leben unter ihre Macht
314 bekommen.“
316 \pagenum{11}Brausende „Bravo!“-Rufe; „Sehr richtig!“ „So ist
317 es!“
319 Doktor Schwertfeger führte mit der knochigen Rechten das Glas zu
320 den dünnen Lippen und sein halb spöttischer, halb befriedigter
321 Blick kreiste im Saal.
323 „Sehen wir dieses kleine Österreich von heute an. Wer hat die
324 Presse und damit die öffentliche Meinung in der Hand? Der Jude! Wer
325 hat seit dem unheilvollen Jahre 1914 Milliarden auf Milliarden
326 gehäuft? Der Jude! Wer kontrolliert den ungeheuren Banknotenumlauf,
327 sitzt an den leitenden Stellen in den Großbanken, wer steht an der
328 Spitze fast sämtlicher Industrieen? Der Jude! Wer besitzt unsere
329 Theater? Der Jude! Wer schreibt die Stücke, die aufgeführt werden?
330 Der Jude! Wer fährt im Automobil, wer praßt in den Nachtlokalen,
331 wer füllt die Kaffeehäuser, wer die vornehmen Restaurants, wer
332 behängt sich und seine Frau mit Juwelen und Perlen? Der Jude!
334 Verehrte Anwesende! Ich habe gesagt, daß ich den Juden, an sich und
335 objektiv betrachtet, für ein wertvolles Individuum halte und ich
336 bleibe dabei. Aber ist nicht auch der Rosenkäfer mit seinen
337 schimmernden Flügeln ein an sich schönes, wertvolles Geschöpf und
338 wird er von dem sorgsamen Gärtner nicht trotzdem vertilgt, weil ihm
339 die Rose näher steht als der Käfer? Ist nicht der Tiger ein
340 herrliches Tier, voll von Kraft, Mut und Intelligenz? Und wird er
341 nicht doch gejagt und verfolgt, weil es der Kampf um das eigene
342 Leben erfordert? Von diesem und nur von diesem Standpunkt kann bei
343 uns die Judenfrage \pagenum{12} betrachtet werden. Entweder wir
344 oder die Juden! Entweder wir, die wir neun Zehntel der Bevölkerung
345 ausmachen, müssen zugrunde gehen oder die Juden müssen
346 verschwinden! Und da wir jetzt endlich die Macht in den Händen
347 haben, wären wir Toren, nein, Verbrecher an uns und unseren
348 Kindern, wenn wir von dieser Macht nicht Gebrauch machen und die
349 kleine Minderheit, die uns vernichtet, nicht vertreiben wollten.
350 Hier handelt es sich nicht um Schlagworte und Phrasen, wie
351 Menschlichkeit, Gerechtigkeit, Toleranz, sondern um unsere
352 Existenz, unser Leben, das Leben der kommenden Generationen! Die
353 letzten Jahre haben unser Elend vertausendfacht, wir stehen mitten
354 im vollen Staatsbankrott, wir gehen der Auflösung entgegen, ein
355 paar Jahre noch und unsere Nachbarn werden unter dem Vorwand, bei
356 uns Ordnung schaffen zu müssen, über uns herfallen und unser
357 kleines Land auf Stücke zerreißen – unberührt von allen
358 Geschehnissen aber werden die Juden blühen, gedeihen, die Situation
359 beherrschen und, da sie ja nie Deutsche im Herzen und im Blut
360 waren, unter den geänderten Verhältnissen Herren bleiben, wenn wir
361 Sklaven sind!“
363 Das ganze Haus geriet jetzt in furchtbare Aufregung. Wilde Rufe
364 wurden ausgestoßen. „Das darf nicht sein! Retten wir uns und unsere
365 Kinder!“ Und als Echo klang es von der Straße her aus zehntausend
366 Kehlen: „Hinaus mit den Juden!“
368 Doktor Schwertfeger ließ die Erregung auslaufen, nahm von den
369 Ministerkollegen Händedrücke entgegen und sprach dann über die
370 Durchführung des Gesetzes. \pagenum{13} Gemäß den Forderungen
371 der Menschlichkeit und den Bedingungen des Völkerbundes würde mit
372 größter Milde und Gerechtigkeit vorgegangen werden. Jeder habe das
373 Recht, sein Vermögen mitzunehmen, soweit es aus Bargeld und
374 Wertpapieren oder Juwelen bestehe, Immobilien zu veräußern, sein
375 Geschäft freihändig zu verkaufen. Unternehmungen, die nicht
376 veräußerlich seien, würden vom Staat übernommen werden, und zwar
377 derart, daß nach dem Steuerbekenntnis des letzten Jahres der
378 Reinertrag fünfprozentig kapitalisiert werden würde. Hätte also zum
379 Beispiel ein Unternehmen im vergangenen Jahr eine halbe Million
380 Reinertrag aufgewiesen, so würde es mit zehn Millionen abgelöst
381 werden. Ein boshaftes Lächeln kräuselte die Lippen des Kanzlers.
383 „Natürlich sind sowohl bei diesen Ablösungen als auch bei der
384 Erlaubnis zur Mitnahme von Bargeld lediglich die Steuerbekenntnisse
385 maßgebend. Hat sich jemand als Vermögensloser bekannt, so darf er
386 kein Geld ausführen, besitzt er trotzdem Vermögen, so wird dieses
387 natürlich konfisziert. Hat jemand den Reinertrag seines Geschäftes
388 mit einer halben Million beziffert, so darf er zehn Millionen
389 mitnehmen, auch wenn sich herausstellen sollte, daß sein wirkliches
390 Einkommen zehnmal so groß war. Auf diese Art wird sich manche Sünde
391 bitter rächen~–“, bemerkte der Redner unter schallender Heiterkeit
392 der Anwesenden. Er fuhr dann fort:
394 „Festbesoldete und geistige Arbeiter, die tatsächlich vermögenslos
395 sind, wie zum Beispiel Ärzte, erhalten vom Staat den Betrag zur
396 Fortreise, den sie als Jahreseinkommen \pagenum{14} versteuert
397 hatten. Gab also ein Arzt sein Einkommen mit dreihunderttausend an,
398 so erhält er diese Summe. Um jede anderweitige Steuerflucht zu
399 verhüten, enthält das Gesetz die drakonische Bestimmung, daß der
400 Versuch, größere als erlaubte Summen fortzuschleppen, mit dem Tode
401 zu bestrafen sei. Ebenso ist die Todesstrafe über die Juden oder
402 Judenstämmlinge verhängt, die den Versuch machen, sich auch
403 weiterhin heimlich in Österreich aufzuhalten.
405 Das Gesetz soll in folgender Weise durchgeführt werden:
407 „Nichtprotokollierte Kaufleute, Händler und sogenannte Agenten
408 müssen innerhalb dreier Monate nach Annahme des Gesetzes die
409 Grenzen verlassen, protokollierte Firmeninhaber, Angestellte,
410 Beamte und manuelle Arbeiter innerhalb von vier Monaten, Künstler,
411 Gelehrte, Ärzte, Rechtsanwälte und so weiter innerhalb von fünf
412 Monaten. Direktoren von Aktienunternehmungen, Banken und
413 Industrien, die im letzten Jahre ein Einkommen von mehr als sechs
414 Millionen versteuert haben, ist eine Frist von einem halben Jahr
415 \erratum{gegeben.}{gegeben.“}
417 Und nun komme ich zu einem wichtigen Punkt, dem ich die volle
418 Aufmerksamkeit zu schenken bitte. Wie Sie wissen, bezieht sich das
419 Ausweisungsgesetz nicht nur auf Juden und getaufte Juden, sondern
420 auch auf Judenstämmlinge. Als Judenstämmling gelten die Kinder aus
421 Mischehen. Hat also zum Beispiel eine Christin rein deutscharischer
422 Abstammung einen Juden geheiratet, so trifft die Ausweisung ihn und
423 die Kinder aus dieser Ehe, während es \pagenum{15} der Frau
424 unbenommen bleibt, in Österreich zu verweilen. Nach reiflicher
425 Überlegung hat die Regierung beschlossen, die Kindeskinder aus
426 Mischehen nicht mehr als Judenstämmlinge, sondern als Arier zu
427 betrachten. Hat also ein Christ eine Jüdin geheiratet, so werden
428 wohl die Kinder ausgewiesen, die Kindeskinder aber, vorausgesetzt,
429 daß die Eltern sich nicht wieder mit Juden gemischt haben, können
430 im Lande bleiben. Dies ist aber auch die absolut einzige
431 Konzession, die das Gesetz macht. Andere Ausnahmen sind nicht
432 zulässig. Von vielen Seiten wurde uns nahegelegt, gewisse Ausnahmen
433 gelten zu lassen. So sollte das Gesetz Leute über ein gewisses
434 Alter hinaus, Kranke, Schwächliche und solche Juden, die besondere
435 Verdienste um den Staat haben, nicht treffen.
437 Meine Damen und Herren! Hätte ich diesen Ratgebern nachgegeben, so
438 würde das ganze Gesetz zur Posse geworden sein. Das jüdische Geld,
439 jüdischer Einfluß hätten Tag und Nacht gearbeitet, zehntausende von
440 Ausnahmsfällen würden konstruiert werden und in fünfzig Jahren
441 wären wir genau so weit wie heute. Nein, es gibt keine Ausnahme, es
442 gibt keine Protektion, es gibt kein Mitleid und kein
443 Augenzudrücken! Für Hinfällige und Kranke wird die Regierung
444 prachtvolle Spitalzüge zur Verfügung stellen, und nur solche Juden,
445 die nach gerichtsärztlichem Gutachten absolut nicht transportfähig
446 sind, werden hier ihre Genesung oder ihren Tod abwarten dürfen.“
448 Doktor Schwertfeger verbeugte sich leicht und ließ sich
449 schwerfällig auf seinem Sitz nieder. Die Wirkung seiner letzten
450 Eröffnung war aber ganz eigenartig gewesen. \pagenum{16} Nur
451 vereinzelte Bravo-Rufe waren laut geworden, eine gewisse
452 Beklommenheit machte sich fast körperlich fühlbar, auf vielen
453 Gesichtern malte sich deutlich Schrecken und Angst, auf der Galerie
454 entstand Unruhe, eine Frau fiel mit dem Ruf: „Meine Kinder!“
455 ohnmächtig zusammen, und als der Kanzler geendet, erdröhnte zwar
456 starker Beifall, aber die kleine Gruppe der Sozialdemokraten schrie
457 unisono „Unerhört! Pfui! Skandal!“
459 Und nun erteilte der Präsident mit dem roten Bart dem
460 Finanzminister Professor Trumm das Wort. Trumm war klein, verhuzelt
461 wie eine halbgedörrte Pflaume, er sprach im Diskant und mußte sich
462 jedesmal unterbrechen, wenn seine Zunge zwischen dem Gaumen und dem
463 oberen Rand des falschen Gebisses stecken blieb. Unter großer
464 Spannung erörterte er die finanzielle Seite des
465 Ausweisungsgesetzes. Natürlich würde die Ablösung der jüdischen
466 Geschäfte und Immobilien nicht nur das christliche Privatkapital,
467 sondern auch die Mittel des Staates stark in Anspruch nehmen.
468 Hunderte von Milliarden Kronen würden kaum ausreichen, und man
469 dürfe sich nicht verhehlen, daß die Ausweisung der Juden zunächst
470 allerlei finanzielle Schwierigkeiten im Gefolge haben werde.
472 „Aber, gottlob,“ – der Finanzminister bekreuzigte sich – „wir
473 werden in den kommenden schweren Tagen nicht allein stehen! Ich
474 kann dem hohen Hause die erfreuliche Mitteilung machen, daß sich
475 das echte wahre Christentum der ganzen Welt gesammelt hat, um uns
476 zu helfen. Nicht nur, daß die österreichische Regierung seit
477 Monaten internationale Verhandlungen führt, auch der Piusverein hat
478 \pagenum{17} in aller Stille eine mächtige Agitation entfaltet,
479 die glänzende Früchte trägt. Der Verband des erwachten Christentums
480 der skandinavischen Länder, dem viele große Bankiers und Kaufleute
481 angehören, stellt uns einen gewaltigen Kredit in dänischer,
482 schwedischer und norwegischer Valuta zur Verfügung, der
483 amerikanische Industriekönig Jonathan Huxtable, einer der reichsten
484 Männer der Welt und ein begeisterter Streiter in Christo, hat sich
485 bereit erklärt, zwanzig Millionen Dollars in Österreich anzulegen,
486 der französische Christenbund macht hundert Millionen Francs mobil
487 – kurzum, es werden Milliarden Kronen ins Ausland wandern müssen
488 und dafür Milliarden in Gold einströmen!“
490 Riesige Begeisterung im ganzen Hause. Einige Dutzend Abgeordnete
491 verließen fluchtartig den Sitzungssaal und stürmten die Telephone,
492 um ihren Banken Verkaufsorders für fremde Valuten zu geben. Die
493 Hauszentrale konnte das stürmische Begehren nach Verbindungen mit
494 „Karpeles \& Co.“, „Veilchenfeld \& Sohn“, „Rosenstrauch \&
495 Butterfaß“, „Kohn, Cohn \& Kohen“ und wie alle die großen
496 Bankhäuser hießen, kaum bewältigen. Während aber der
497 Finanzminister, der eine volle Minute gebraucht hatte, um seine
498 eingeklemmte Zunge zu befreien, fortfuhr, erzählte der Engländer
499 Holborn in der Journalistenloge grinsend:
501 „Jonathan Huxtable ist ein frommer Kerl! Er spuckt Gift und Galle
502 gegen die Juden, seitdem ihm seine Frau mit einem jüdischen
503 Preisboxer durchgegangen ist. Er ist ein strenger Temperenzler,
504 aber er besauft sich jeden Tag mit Magentropfen, die er aus der
505 Apotheke bezieht. Einmal \pagenum{18} hat man gesehen, wie er
506 eine ganze Flasche Eau de Cologne auf einen Zug austrank. Und wenn
507 er hier zwanzig Millionen investieren wird, will er sicher fünfzig
508 daran verdienen.“
510 Doktor Wiesel schnitt ein abweisendes Gesicht, während die
511 jüdischen Journalisten sich rasch Notizen machten, um letzte
512 Bosheiten zu publizieren.
514 Die Pro- und Kontra-Redner meldeten sich zum Wort. Die
515 Sozialdemokraten sprachen gegen das Gesetz. Als aber ihr Führer
516 Weitherz in ruhigen und sachlichen Worten seiner Entrüstung
517 Ausdruck gab und den Gesetzentwurf als ein Dokument menschlicher
518 Schmach bezeichnete, entstand ein furchtbarer Tumult, die Galerie
519 warf mit Schlüsseln und Papierknäueln nach den Sozialdemokraten, es
520 kam zu einer Prügelei und die kleine Opposition verließ unter
521 Protest den Saal. Der christlichsoziale Abgeordnete Pfarrer
522 Zweibacher pries Doktor Schwertfeger als modernen Apostel, der
523 würdig sei, dereinst heilig gesprochen zu werden, die großdeutschen
524 Abgeordneten Wondratschek und Jiratschek aber beleuchteten das
525 Gesetz lediglich vom Rassenstandpunkt, und Jiratschek, der stark
526 mit böhmischem Akzent sprach, schluchzte vor Ergriffenheit und
527 schloß mit den Worten:
529 „Wotan weilt unter uns!“
531 Als letzter Redner ergriff unter Hepp! Hepp!-Rufen und höhnischem
532 Aih-Wai!-Geschrei der einzige zionistische Abgeordnete, Ingenieur
533 Minkus Wassertrilling, das Wort. Der schlanke, große und hübsche
534 junge Mann wartete \pagenum{19} mit verschränkten Armen ab, bis
535 Ruhe eintrat, dann sagte er:
537 „Verehrte Jünger jenes Juden, der sich, um die Menschheit zu
538 erlösen, törichterweise ans Kreuz hatte schlagen lassen!“
540 Stürmische Unterbrechung: „Hinaus mit den Juden!“
542 „Jawohl, meine Herren, ich stimme mit Ihnen in den Ruf: „Hinaus mit
543 den Juden!“ ein und werde mit freudigem Herzen dem Gesetz meine
544 Stimme geben. Wir Zionisten begrüßen dieses Gesetz, das ganz
545 unseren Zielen und Tendenzen entspricht. Von der halben Million
546 Juden, die das Gesetz trifft, wird sich wohl die Hälfte unter dem
547 zionistischen Banner vereinigen, die anderen werden, wie ich weiß,
548 in Frankreich und England, in Italien und Amerika, in Spanien und
549 den Balkanländern willig Aufnahme finden. Mir ist um das Schicksal
550 meines Volkes nicht bange, zum Segen wird das werden, was hier
551 gehässige Bosheit und Dummheit als Fluch gedacht hat.“
553 Der Tumult, der sich erhob, verschlang die weiteren Worte und
554 schließlich wurde auch der Zionist aus dem Saal gedrängt.
556 So ergab denn die Abstimmung, die namentlich erfolgte, die
557 einstimmige Annahme des Gesetzes, das noch am selben Tag durch den
558 Ausschuß und die zweite und dritte Lesung gepeitscht wurde.
560 Als die Abgeordneten spät abends endlich das Haus verlassen
561 konnten, sahen sie ein festlich beleuchtetes Wien. Von allen
562 öffentlichen Gebäuden wehten die weiß-roten Fahnen, Feuerwerke
563 wurden abgebrannt, bis lange nach \pagenum{20} Mitternacht
564 dauerten die Umzüge der Menschenmassen, die immer vor das
565 Kanzlerpalais marschierten, um Doktor Schwertfeger hoch leben zu
566 lassen und als Befreier Österreichs zu preisen~–~–~–
568 \tb{* * *}
569 Als der Nationalrat, Gemeinderat, Armenrat und Gewerberat Antonius
570 Schneuzel am nächsten Vormittag – es war ein Sonntag – infolge der
571 endlosen Siegesfeier arg verkatert am häuslichen Frühstückstisch
572 erschien, fand er eine recht unbehagliche Stimmung vor. Seine
573 Gattin hatte eine nadelspitze Nase, was auf Sturm deutete, seine
574 Tochter, Frau Corroni, saß mit verquollenen Augen da, ihr Gatte,
575 der Prokurist Alois Corroni, lächelte den Schwiegervater
576 impertinent und verächtlich an, und die beiden Enkelkinder Lintschi
577 und Hansl stießen ein furchtbares Geheul aus, als Herr Schneuzel
578 seine kleinen Äuglein verwirrt und ängstlich um den Tisch kreisen
579 ließ.
581 „Ja, was is denn da los?“
583 Frau Schneuzel stemmte die Arme in die Seite.
585 „Was los is, du Fallot, du? Gar nichts is los, als daß du alter
586 Tepp geholfen hast, deine Tochter und die Enkelkinder aus dem Land
587 zu treiben!“
589 „Ja, wieso denn?“ stammelte Herr Schneuzel, aber schon dämmerte ihm
590 grauenhafte Wahrheit. Richtig, er hatte im Laufe der Jahrzehnte
591 total vergessen, daß sein Schwiegersohn, Herr Alois Corroni, in
592 frühester Jugend Sami Cohn geheißen und erst stehend und aufrecht
593 die \pagenum{21} Taufe empfangen. Also mußte er ja hinaus und
594 mit ihm die beiden Kinder, die Judenstämmlinge waren!
596 „So eine Gemeinheit,“ schluchzte Frau Corroni in ihr Taschentuch
597 hinein, „was soll ich jetzt mit den Kindern anfangen? Nach Zion
598 auswandern vielleicht, du Rabenvater, du?“
600 „Jawohl, es ist ein starkes Stückchen,“ erklärte nun Herr Corroni
601 mit scharfer Betonung jedes Wortes, „einen Mann wie ich, der
602 behaupten darf, mindestens ein ebenso guter Christ zu sein als
603 tausend andere, die den ganzen Tag im Wirtshaus herumsitzen, einen
604 Mann wie ich, dessen Kinder im christlichen Glauben groß geworden
605 sind, aus dem Lande zu jagen wie einen tollen Hund!“
607 Herr Schneuzel wollte eine Erwiderung machen und murmelte etwas von
608 großer, heiliger Sache, Prinzipien, die auf Einzelfälle keine
609 Rücksicht nehmen können. Aber schon saß die Hand der Gattin in
610 seinen spärlichen Haaren und ließ nicht locker, bevor sie sich mit
611 einem ganzen Büschel des immer rarer werdenden Gewächses
612 zurückziehen konnte.
614 „Viecher seids Ihr alle zusammen! Gestohlen könnts Ihr mir werden
615 mit eurem Christentum! Hat der Loisl unser Annerl nicht immer gut
616 behandelt? Hat sie nicht einen Bisampelz von ihm bekommen, läßt er
617 die Kinder nicht aufwachsen wie die Prinzen? Dem lieben Gott sollst
618 du danken, daß sie einen Juden bekommen hat und nicht einen Kerl,
619 wie dich, einen Saufbruder und Skandalmacher!“
621 \pagenum{22}„I geh? net nach Zion“, heulte Lintscherl, während
622 Hans die Gelegenheit benützte, von Großvaters Teller weg den
623 Sonntagsgugelhupf zu grapsen.
625 Im Moment höchster Aufregung kam die Köchin Pepi herein, räumte
626 resolut den Tisch ab und erklärte seelenruhig:
628 „I geh?! I heirat? mein? Isidor, der was Kommis im Konsumverein is,
629 und wann er auswandern muß, wander? i mit ihm aus! Von mir aus
630 können sich die Herrn Nationenräte mitsamt dem Kränzler alle
631 zusammen aufhängen.“
633 Nachdem sich die Aufregung gelegt, erörterte Herr Corroni sachlich
634 die Situation.
636 „Ich denke natürlich gar nicht daran, nach Palästina auszuwandern,
637 schon deshalb nicht, weil man mich als getauften Juden gar nicht
638 hineinließe. Nein, ich habe einen Bruder in Hamburg, den Onkel
639 Eduard, wie Ihr wißt, und wenn er auch eben meiner Taufe halber bös
640 mit mir ist, so wird er mich jetzt nicht im Stich lassen – Juden
641 haben ja, gottlob, Familiensinn“ – diese Worte begleitete ein
642 stechender Blick gegen Schneuzel – „und ich werde eben dort für
643 mich und meine Familie eine neue Zukunft aufbauen. Es sei denn, daß
644 Annerl lieber bei euch bleiben will“.
646 Worauf Frau Anna, müde und verblüht, wie man es nach
647 fünfzehnjähriger Ehe zu sein pflegt, rosige Wangen bekam, ihre Arme
648 zärtlich um den Hals des Alois Corroni, rekte Sami Cohn, schlang,
649 ihn küßte wie eine Braut ihren Bräutigam und wirklich wie ein
650 junges Mädchen \pagenum{23} aussah. Und schließlich mußte sich
651 Herr Schneuzel völlig verstört und verzweifelt verpflichten, dem
652 Schwiegersohn so gewissermaßen als Fundament für die neue Zukunft
653 eine Million mit nach Hamburg zu geben.
655 Nachmittags ging der National-, Gemeinde- und Armenrat Schneuzel
656 allein zum Heurigen nach Sievering, fing dort mit einer
657 Gesellschaft, die noch immer „Hinaus mit den Juden!“ schrie, Streit
658 an, zerbrach seine Flasche an dem Schädel des einen Schreiers und
659 wurde furchtbar verprügelt.
661 \tb{* * *}
662 Gespräch in einer Fensternische des Kaffee Wögerer, gegenüber der
663 Börse, zwischen Herrn Strauß, Inhaber eines Bankhauses, und seinem
664 Neffen, dem Mediziner Siegfried Steiner. Solche und ähnliche
665 Gespräche fanden aber an allen Tischen statt, es wurde an diesem
666 Tage nicht lärmend, sondern fast lautlos mit Zuhilfenahme der Hände
667 geredet.
669 Der Neffe schüttelte dem Onkel die Hand.
671 „Lieber Onkel, ich danke dir dafür, daß du mich mit nach London
672 nehmen wirst. Das ist ein großer Trost für mich, denn unter uns
673 gesagt – Zion – ne, ist nichts für mich! Nur Juden, nicht
674 auszudenken!“
676 Der Onkel lächelte behaglich. „Zion kann mir gestohlen werden. In
677 London werde ich mich mit meinem alten Freunde Moe Seegward, der
678 dort eine Wechselstube in bester Lage hat, associieren.“
680 Siegfried Steiner beugte sich vor und flüsterte:
682 \pagenum{24}„Aber sag? mir eines, Onkel, du hast doch sicher
683 nicht der Steuerbehörde dein wirkliches Vermögen und Einkommen
684 angegeben. Wie wirst du nun dein Geld herüberkriegen, da doch seit
685 gestern Briefzensur eingeführt ist?“
687 Der Onkel ließ die Zigarrenasche auf seine Weste fallen.
689 „Chammer! Wozu hat man christliche Freunde? Ich war heute schon bei
690 dem Fabrikanten Schuster, habe ihm, unter uns gesagt, zwanzig
691 Millionen in Effekten und Bargeld gebracht und dafür von ihm eine
692 Anweisung auf eine Londoner Bank bekommen. Natürlich tut es der
693 Ganef nicht umsonst, sondern er verdient eine koschere Million
694 dabei.“
696 Der Neffe nickt befriedigt und an dreißig anderen Tischen endigten
697 verschiedene Gespräche ebenfalls mit einem zufriedenen Nicken.
699 Ein alter Hebräer mit Kaftan und Lockerln kam herein und sagte von
700 Tisch zu Tisch sein Sprüchlein auf: „Ein Almosen für einen alten
701 Juden, der beim Pogrom in Lemberg um Hab und Gut gekommen ist.“
703 Von einem Tisch wurde er angerufen: „Na, Alter, wohin werden Sie
704 auswandern?“
706 Der Jude wackelte mit dem Kopf. „Herrleben, wenn ich aus dem
707 brennenden Ghetto von Lemberg nach Wien gekommen bin, wer? ich auch
708 aus Wien wieder irgendwohin kommen. Ob ich schnorr? in Wien oder in
709 Berlin oder Paris, ist gleichgültig. Nur wer? ich dann nichts
710 erzählen mehr vom Pogrom, sondern davon, daß man hat mich alten
711 Juden ausgewiesen. Aber sagen Sie, Herrleben, \pagenum{25}
712 glauben Sie, man soll noch kaufen vor Torschluß Julisüd oder is
713 besser Siemens?“
715 \tb{* * *}
716 In der Villa des Schriftstellers Herbert Villoner in Alt-Aussee war
717 der Freundeskreis versammelt. Literaten von bekanntem Namen, Maler,
718 Bildhauer, Musiker, Verleger. Sonst pflegten sie erst im Hochsommer
719 die Sommerfrische aufzusuchen, diesmal hatten sie schon im Juni die
720 Stadtflucht ergriffen, um von den politischen Schmutzwellen
721 wenigstens nicht unmittelbar bespritzt zu werden.
723 Es war nach dem Abendessen, man saß in Korbstühlen auf der
724 Terrasse, blickte auf den lieblichen See, in dem sich der Mond
725 spiegelte, der Rauch der Zigaretten kräuselte in der unbeweglichen
726 Luft empor, jeder war in seine Gedanken versunken. Villoner
727 unterbrach das tiefe Schweigen.
729 „So ist denn kein Zweifel mehr, daß die meisten von uns zum
730 letztenmal den Sommer in Aussee verbringen werden und daß wir wie
731 vagabundierende Strolche den Staub von unseren Stiefeln werden
732 schütteln und in die Fremde gehen müssen. Wie seltsam! Mein Vater,
733 ein berühmter Kliniker, der nicht wenig zum Ruhm der Wiener
734 medizinischen Schule beitrug, mein Großvater, schon ein
735 erbangesessener Kaufmann vom Mariahilfer Grund und ich selbst –~–
736 Nun, man behauptet, daß ich in meinen Dramen und Romanen das Wiener
737 Wesen tief erfaßt und wie kein anderer die Wiener Jugend, das süße
738 Mädel erkannt und geschildert habe. Und nun ist das alles nichts
739 gewesen, ich bin einfach ein fremder Jude, der hinaus \pagenum{26}{
740 } muß wie irgend ein galizischer Flüchtling, den eine
741 Spekulationswelle nach Wien verschlagen!“
743 „Immerhin,“ sagte der junge Lyriker Max Seider leise mit zitternder
744 Stimme, „immerhin, Sie werden auch fern von der undankbaren Heimat
745 sich wohl fühlen können. Berlin wird Sie mit offenen Armen
746 aufnehmen, schon sind dort unter den Intellektuellen besondere
747 Ehrungen für Sie geplant, und Sie sind so reif und stark, daß Sie
748 mächtige Zweige werden treiben können, wo immer Sie sind. Aber was
749 soll ich tun? Ich bin erst am Anfang, und ich kann nur leben und
750 arbeiten, wenn ich durch das grüne Gelände des Wienerwaldes
751 schlendere, wenn ich als Wegweiser die zierliche Silhouette des
752 Kahlenberges vor mir sehe. Aus Ihnen strömt des Lebens Quelle in
753 unerschöpflichem Maß, ich muß um jede Zeile, um jeden Vers mit mir
754 ringen und kämpfen und das kann ich nur in Wien.“
756 „Ach was,“ schrie der Komponist Wallner ergrimmt, „der Teufel soll
757 dieses Wien mit seiner vertrottelten Bevölkerung holen! Ich geh?
758 nach Süddeutschland, miete mir ein Häuschen im Schwarzwald und
759 werde dort mit meiner Lene herrlich leben. Was, Schatz?“
761 Seine blonde junge Frau ließ es ruhig geschehen, daß der Gatte ihr
762 Madonnenköpfchen an seine Schulter zog, aber ein boshaftes Lächeln
763 huschte über den üppigen Mund und ihre Blicke kreuzten sich
764 verständnisvoll mit denen des Schriftstellers Walter Haberer.
765 Diesem schwellte Triumph die Brust. Er wußte, die Frau des
766 Komponisten blieb hier, niemand konnte sie zwingen, mit ihrem
767 Gatten ins Exil zu gehen, und verabredetermaßen würde sie endlich,
768 wenn \pagenum{27} der Mann erst fort, sein werden. Sein würde
769 aber nicht nur sie werden, sondern ganz Wien, ganz Österreich!
770 Denn sie alle, hinter denen er zurückstehen mußte, sie alle, deren
771 Theaterstücke aufgeführt wurden, während die seinen jahrelang in
772 den Schubladen der Dramaturgen schliefen, sie alle, die gestern
773 noch die großen Modeschriftsteller gewesen waren, sie alle, der
774 Villoner und der Seider, der Hoff und der Thal, der Meier und der
775 Marich, sie alle mußten fort und er blieb allein als Herrscher im
776 Reiche der Musen!
778 Frau Lene nickte ihm lächelnd zu, während der Gatte ihr liebkosend
779 die Wangen streichelte.
781 Donnernd und polternd lachte der große Schauspieler Armin Horch
782 auf.
784 „Meine Herrschaften, nun muß es heraus! Auch ich werde Österreich
785 verlassen müssen! Denn ich, den die „Wehr“ und andere Zeitungen
786 immer als den Verkörperer des christlichen Schönheitsideals
787 gepriesen haben, ich bin ein ganz gewöhnlicher Judenstämmling! Mein
788 Vater stammte aus Brody und hieß nicht Horch, sondern Storch!“
790 Schallendes Gelächter ringsumher, Galgenhumor quoll auf, Scherze,
791 die zur Situation paßten, wurden erzählt.
793 „Na und Sie, Herr Pinkus, wohin werden Sie Ihren Buchverlag
794 transferieren?“ fragte einer den dicken, kleinen Verleger mit den
795 krummen Beinen und dem prononciert jüdischen Gesicht.
797 „Ich? Ich bleibe! Ich bin doch Urchrist!“
799 Und als alles lachte, sagte er behaglich schmunzelnd:
801 \pagenum{28}„Spaß beiseite, ich bin ein waschechter Goi! Mein
802 Großvater Amsel Pinkus war ein Tuchhändler in Frankfurt am Main und
803 ein braver, frommer Jude. Als er sich aber in meine Großmutter,
804 Christine Haberle, eine kleine Sängerin aus Stuttgart, verliebte,
805 ließ er sich, da sie anders nicht die Seine werden wollte, taufen.
806 Nun, mein Vater heiratete wieder eine Christin und so bin ich
807 Christ in dritter Generation, also werde ich nicht ausgewiesen,
808 obwohl ich in Art und Äußerem ganz entschieden ein Duplikat meines
809 Großvaters bin.“
811 „Es lebe der Urchrist Pinkus,“ rief der Hausherr belustigt und alle
812 hoben lachend die Gläser. Da klang vom See her ein Knall wie ein
813 Peitschenhieb. Und von seltsamer Ahnung ergriffen, rief Villoner:
814 „Wo ist Seider?“
816 Aber schon brachten Leute die Leiche des jungen Lyrikers. Er hatte
817 sich unten am See erschossen, um seine müde, empfindsame Seele
818 nicht in der Fremde frieren lassen zu müssen.
820 \tb{* * *}
821 Bei der Lona in der Gumpendorferstraße herrschte geradezu
822 Panikstimmung. Acht junge Damen, eine schöner als die andere, waren
823 schon versammelt und immer wieder mußte die dicke Wirtschafterin,
824 Frau Kathi Schoberlechner, die Wohnungstür öffnen und ein Fräulein
825 hereinlassen. Im Salon roch es außerordentlich kräftig nach
826 Houbigant, Ambre, Coty, Rouge und Zigaretten, und es leuchtete und
827 funkelte von hellblonden, rotblonden, schwefelgelben und schwarzen
828 Haaren, Diamanten und Perlen. Alle waren in \pagenum{29} Spitzen
829 und Seide gekleidet, nur die Lona trug einen duftigen Schlafrock,
830 der vorn offen war, so daß ihr der schneeweiße Busen fast entquoll,
831 und ihre nackten Füße steckten in roten Pantöffelchen.
833 Die schwarze Yvonne weinte zum Herzzerbrechen, die rote Margit aber
834 schlug auf den Tisch und schrie erbost:
836 „Mir müssen demonschtrieren! Wann i? so an Nationalpülcher
837 derwisch, kratz? i eahm die scheangleten Augen aus!“
839 „A so a Gemeinheit! Was soll?n mir denn machen, wann s? die Juden
840 hinausschmeißen?“
842 Yvonne weinte noch heftiger. „Und grad jetzt, wo mir der Fredi
843 Pollak a neuches Automobil bestellt hat.“
845 „Mir gibt der Reizes, mit dem was ich seit zwei Wochen geh?,
846 fünfhundert Fetzen im Monat! Möcht? wissen, ob die Herren Christen
847 auch so splendid sein wer?n?“
849 „Ihr wißt ja eh, ich hab? den Zwitterbauch aus Mährisch-Ostrau, der
850 mich ganz aushält und nur amal im Monat auf a Wochen nach Wien
851 kummt!“
853 Eine üppige Juno mit gelben Haaren schlug die starken, aber schönen
854 Beine übereinander, daß man die blauseidenen Strumpfhalter sah,
855 leerte ein Gläschen Cointreau und sagte mit klingender Altstimme:
857 „Kinder, am meisten Erfahrung habe wohl ich im Leben! Und ich kann
858 nur sagen, wenn die Juden verschwunden sind, müssen wir alle
859 verhungern oder uns um Stellen als Klosettfrauen in Kaffeehäusern
860 umsehen. Geld lassen tun nur die Juden, die anderen wollen alle
861 viel Liebe und wenig Spesen! Zehn Jahre bin ich mit dem
862 \pagenum{30} Baron Stummerl vom Auswärtigen Amt gegangen, und in
863 diesen zehn Jahren hat er mir ein goldenes Armband, einen
864 Pelzkragen und tausend Gulden geschenkt. Ein Glück, daß ich dabei
865 noch den Herschmann von der Anglobank gehabt habe, sonst hätte ich
866 am Ende noch arbeiten müssen. Seither flieg? ich nur auf die
867 Israeliten!“
869 Claire spielte nervös mit dem goldenen, diamantbesetzten Kreuz, das
870 sie an einer Platinkette trug. „Was wohl der Karl sagen wird, wenn
871 ich vom Doktor Baruch nichts mehr bekomm?!“
873 Neue Klagen erhoben sich, Wehrufe wurden laut. Daran hatte man im
874 Drange der Geschehnisse noch gar nicht gedacht! Was sollte mit den
875 Freunden werden, die man liebte und aushielt, wenn die Freunde, die
876 zahlten, nicht mehr waren?
878 Da führte die Frau Kathi einen dieser Freunde herein. Pepi war das
879 Ideal eines feschen Kerls. Tiptop vom staubgrauen Samthut über die
880 gestrickte Krawatte hinweg bis zu den gelben Halbschuhen, über
881 denen man sanft getönte, blaue Seidenstrümpfe sah.
883 Schluchzend warf sich die reizende schwarze Yvonne in die Arme
884 ihres Herzensfreundes. Alle begrüßten ihn stürmisch, ein Hagel von
885 Rufen und Fragen ergoß sich über ihn. Pepi ließ sich ruhig in einen
886 Fauteuil fallen, zog Yvonne auf seine Knie, zwickte die neben ihm
887 sitzende Lona in die nackten Waden und sagte, nachdem er sich eine
888 Zigarette hatte in den Mund stecken lassen:
890 „Kinder, da kann man halt nichts machen, als auch auswandern!“
892 \pagenum{31}„Ja, woher wirst an? Auslandspaß kriegen und wer
893 laßt dich denn hinein?“, entgegnete die kluge goldblonde Carola.
895 „Sehr einfach“, lachte Pepi. „Morgen geh? ich aufs Rathaus, werde
896 konfessionslos, übermorgen geh? ich zur israelitischen
897 Kultusgemeinde, erkläre mich solidarisch mit dem mißhandelten
898 Judentum und werde Israelit. Hoffentlich ohne Operation. Dann
899 heiraten wir, bekommen unser Ablösegeld vom Staat und können nach
900 den Bestimmungen des Völkerbundes uns anderswo ansiedeln. Wir gehen
901 nach Paris oder nach Brüssel oder sonst wohin, wo was los ist.“
903 Yvonne lachte unter Tränen. „Geh?, was soll ich denn in Paris als
904 verheiratete Frau machen?“
906 „Tschapperl! Braucht ja niemand zu erfahren, daß wir verheiratet
907 sind! Nimmst dir eine Wohnung, suchst einen Freund, der dich
908 ordentlich aushält und ich bin so wie jetzt fürs Herz da!“
910 In den nächsten Tagen wußten die liberalen Blätter zu berichten,
911 daß hunderte von wackeren christlichen Jünglingen, empört über das
912 den Juden angetane Unrecht, demonstrativ ihren Übertritt zum
913 Judentum beschlossen hätten, um das Schicksal dieses schwer
914 geprüften Volkes zu teilen.
916 \tb{* * *}
917 \pagenum{32}Der Bundeskanzler, der auch Minister für auswärtige
918 Angelegenheiten war und seine Wohnung im Auswärtigen Amte hatte,
919 stand an einem milden Septembertag an der offenen Balkontüre und
920 sah über die Straße hinweg auf das Getriebe des Volksgartens. Aber
921 dieses Treiben schien ihm weniger lebhaft zu sein als in den
922 vergangenen Jahren, die weißlackierten Kinderwägelchen rollten nur
923 vereinzelt durch die Alleen, die Sesselreihen und Bänke waren trotz
924 des warmen Wetters nur spärlich besetzt.
926 Es klopfte, der Kanzler rief scharf: „Herein!“ und stand nun seinem
927 Präsidialchef, dem Doktor Fronz, gegenüber.
929 Schwertfeger war Ende Juni, kurz nach der Annahme des
930 Ausweisungsgesetzes, nach Tirol gefahren, um seine unter der Last
931 der Verantwortung und Arbeit fast zusammengebrochenen Nerven zu
932 erholen. In einem Dorf am Arlberg blieb er mehr als zwei Monate
933 inkognito, niemand außer seinem Präsidialchef kannte seinen
934 Aufenthalt, er ließ sich weder Briefe noch Akten nachschicken,
935 kümmerte sich nicht um die Zeitereignisse, und nur von ganz eminent
936 wichtigen Vorfällen durfte ihm Fronz schriftlich Mitteilung machen.
937 Tatsächlich war ja für alles vorgesorgt, der Wiener
938 Polizeipräsident wie die Bezirkshauptleute hatten ihre genauen
939 Instruktionen, das Parlament war bis zum Herbst vertagt, also
940 fühlte sich Doktor Schwertfeger entbehrlich, ja er hielt es für
941 seine Pflicht, neue Kräfte zu sammeln, um der kommenden Arbeit
942 frisch und stark gegenübertreten zu können. Heute vormittag war er
943 nach Wien zurückgekehrt und nun mußte ihm Fronz gründlich
944 referieren. \pagenum{33} Nachdem verschiedene
945 Personalangelegenheiten erledigt waren, ließ sich Schwertfeger
946 schwer und wuchtig vor seinem Schreibtisch nieder, nahm Papier und
947 Feder, um sich stenographische Notizen zu machen und sagte
948 äußerlich ruhig und kalt, während vor Spannung jeder Nerv in ihm
949 vibrierte:
951 „Nun, lieber Freund, berichten Sie mir über den bisherigen Vollzug
952 des neuen Gesetzes und seine sichtbaren Folgen. Wie ist unsere
953 Finanzlage? Sie wissen, ich bin völlig unorientiert.“
955 Doktor Fronz räusperte sich und begann:
957 „Finanztechnisch verläuft nicht alles so glatt, wie wir hofften.
958 Zuerst stieg unsere Krone in Zürich sprunghaft bis auf ein
959 Zwanzigstel Centime, dann traten leise, wenn auch unbedeutende
960 Schwankungen ein, seit Ende Juli rührt sich trotz des starken
961 Goldzustromes aus den Tresors der großen christlichen Vereine und
962 des Bankiers Huxtable unsere Krone nicht, sie beharrt auf dem Kurs
963 von 0.02. Merkwürdigerweise erfüllen sich vorläufig unsere
964 Hoffnungen auf enorme Geldabgaben seitens der Ausgewiesenen nicht.
965 Es fließen den Steuerämtern weder große Beträge in Kronen noch in
966 fremden Währungen zu. Es scheint, daß sich unter unseren
967 christlichen Mitbürgern tausende von Parasiten befinden, die in
968 gewissenloser Weise die überschüssigen, der Besteuerung
969 hinterzogenen Vermögen der Juden an sich nehmen und den Juden dafür
970 Abstandsummen in Gestalt von Anweisungen an ausländische Banken
971 geben.“
973 \pagenum{34}„Das war nicht anders zu erwarten“, sagte der
974 Kanzler, während ein verächtliches Lächeln um seine
975 zusammengekniffenen Lippen spielte. „Ob Jud? oder Christ –
976 habgierig und selbstsüchtig sind sie alle!“
978 Das dürften die Judenblätter nicht erfahren, dachte Fronz und fuhr
979 fort:
981 „Wie ich aus dem sehr pessimistischen Referat des Finanzministers
982 Professor Trumm folgern darf, wird uns die Ausweisung der Juden mit
983 ungeheuren Schulden, in Gold rückzahlbar, belasten, unseren
984 Banknotenumlauf aber in keiner nennenswerten Weise vermindern.“
986 „Geht die Liquidierung und Übergabe der Finanzinstitute, Banken
987 und Aktiengesellschaften glatt vor sich?“
989 „In dieser Beziehung ist alles in vollem Gange, aber leider zeigt
990 es sich, daß unsere einheimischen Kapitalisten entweder nicht
991 willens oder nicht in der Lage sind, die großen Unternehmungen an
992 sich zu reißen, so daß überwiegend Ausländer als Übernehmer in
993 Betracht kommen. Die Länderbank, die Kreditanstalt, die Anglobank,
994 die Escompte-Gesellschaft und andere Großbanken gehören bereits
995 Italienern, Engländern, Franzosen, Tschechoslowaken und so weiter,
996 desgleichen unsere großen Industrieunternehmungen. Eben hat ein
997 holländisches Konsortium die Simmeringer Lokomotivfabrik
998 übernommen. Wir passen natürlich höllisch auf, daß sich auf solchem
999 Umweg nicht ausländische Juden hier einnisten, und jeder
1000 Kaufvertrag weist nachdrücklich auf die Klausel hin, wonach auch
1001 ausländische Juden keinerlei Aufenthaltsrecht in Österreich
1002 genießen, weder dauerndes noch vorübergehendes. Daß \pagenum{35}
1003 die Aktionäre und Direktoren der fremden Gesellschaften, die hier
1004 aufkaufen, zum Teile Juden sind, läßt sich aber nicht vermeiden.“
1006 Der Kanzler stützte die mächtige, gewölbte Stirne in die knochige
1007 Hand, wischte dann peinliche Gedanken mit einer Handbewegung fort
1008 und sagte gleichmütig:
1010 „Übergangserscheinungen, denen späterhin abzuhelfen sein wird! Wie
1011 vollzieht sich die Ausweisung?“
1013 „Genau nach den Durchführungsbestimmungen des Gesetzes! Sowohl die
1014 Polizei als auch das Verkehrsamt arbeiten vortrefflich, täglich
1015 verlassen ungefähr zehn Züge mit Ausgewiesenen Österreich nach
1016 allen Richtungen und bis heute haben etwa vierhunderttausend Juden
1017 das Land verlassen.“
1019 Schwertfeger blickte überrascht auf. „Wie ist das möglich? Wir
1020 haben an ungefähr eine halbe Million Auszuweisender gedacht! Also
1021 waren jetzt, nach einem Drittel der präliminierten Zeit, vier
1022 Fünftel erledigt?“
1024 Doktor Fronz lächelte dünn. „Wir haben eben die große Zahl der
1025 Konvertiten und Judenstämmlinge unterschätzt! Heute hat die
1026 Staatspolizei mehr Überblick und sie rechnet nun nicht mehr mit
1027 einer halben Million, sondern mit achthunderttausend, vielleicht
1028 sogar mit einer Million Menschen, die unter das Gesetz fallen! Bei
1029 dieser Gelegenheit möchte ich bemerken, daß sich gewisse
1030 devastierende, oft sehr peinliche oder auch nur groteske Folgen der
1031 Ausweisung zeigen. Zehn christlichsoziale Nationalräte müssen als
1032 Judenstämmlinge landesverwiesen werden, beinahe ein Drittel der
1033 christlichen Journalisten wird entweder \pagenum{36} direkt oder
1034 in seinen Familienmitgliedern betroffen, es stellt sich heraus, daß
1035 unsere besten christlichen Bürger vom Judentum durchtränkt sind,
1036 uralte Familien werden auseinandergerissen, ja es hat sich etwas
1037 ereignet, was schallendes Gelächter nicht nur in den Judenblättern,
1038 die ja noch bis zum letzten Augenblick hetzen werden, erregt,
1039 sondern auch in der Presse des Auslandes. Eine Schwester des
1040 Fürsterzbischofs von Österreich, Kardinal Rößl, ist mit einem
1041 Juden verheiratet, sein Bruder aber mit einer Jüdin, so daß seine
1042 Eminenz durch das Gesetz sämtlicher Neffen, Nichten und Geschwister
1043 beraubt wird. Vielleicht wird es sich doch empfehlen, unter solchen
1044 Umständen der Nationalversammlung ein Amendement zu dem Gesetz zu
1045 unterbreiten, durch das die Ausweisung von Judenstämmlingen unter
1046 gewissen Umständen unterbleiben darf~–~–.“
1048 Der Bundeskanzler sprang in die Höhe und schlug mit der geballten
1049 Faust auf den Schreibtisch, daß die Tinte hochspritzte.
1051 „Nie und nimmer, wenigstens nicht, solang ich im Amte bin! Eine
1052 solche Ausnahmebestimmung würde das ganze Gesetz zum Weltwitz
1053 machen, wir wären bis auf die Knochen blamiert, das internationale
1054 Judentum würde triumphieren wie noch nie in seiner Geschichte, der
1055 Korruption, der Bestechlichkeit wäre Tür und Tor geöffnet! Sie
1056 kennen ja die gewissen Herren Hof- und Sektions- und Regierungsräte
1057 mit den offenen Händen und leeren Taschen! Nein, es darf keine
1058 Ausnahmen geben, das Leid und der Kummer einzelner Familien darf an
1059 den Grundmauern des Gesetzes nicht rütteln! Im Namen der Habsburger
1060 \pagenum{37} wurde ein Krieg geführt, der einer Million Männer
1061 das Leben gekostet hat und man hat nicht zu mucksen gewagt! Was ist
1062 im Vergleich dazu die Tatsache, daß ein paar tausend oder
1063 vielleicht hunderttausend Menschen Unbequemlichkeit und Ärger
1064 verursacht wird? Ich bitte Sie, in diesem Sinne die christlichen
1065 Blätter zu instruieren. Besser noch, wenn die politische
1066 Korrespondenz sofort eine diesbezügliche Enunziation der Regierung
1067 den Blättern zugehen läßt. Und Sie bitte ich dringend, sich nicht
1068 mehr zum Sprachrohr solcher Einflüsterungen machen zu lassen!“
1070 Doktor Fronz verbeugte sich erblassend.
1072 „Dann ist es ja auch überflüssig, wenn ich Eurer Exzellenz von
1073 furchtbaren Jammerszenen berichte, die sich täglich bei der Abfahrt
1074 der Evakuierungszüge beobachten lassen und die oft solche
1075 Dimensionen annehmen, daß selbst der Straßenpöbel, der sich zur
1076 Abfahrt der Züge mit der Absicht einzufinden pflegt, die
1077 Ausgewiesenen zu beschimpfen, ergriffen schweigt und Tränen
1078 vergießt~–~–.“
1080 „Solche Szenen waren vorhergesehen und sind unvermeidlich!
1081 Instruieren Sie sofort die Polizei dahin, daß die Bahnhöfe
1082 abgesperrt werden, die Abfahrt der Züge tunlichst nur zur Nachtzeit
1083 erfolgt und nicht von den Hauptbahnhöfen, sondern von den außerhalb
1084 der Stadt gelegenen Rangierbahnhöfen. Und nun nur noch eine Frage:
1085 Wie nimmt die Bevölkerung im allgemeinen die Durchführung des
1086 Gesetzes auf?“
1088 „Mit größter Begeisterung natürlich! Die Polizei läßt hundert
1089 geschickte Agenten sich anonym in die Volksmengen mischen und
1090 Beobachtungen sammeln. Nun, die Berichte \pagenum{38} gehen
1091 übereinstimmend dahin, daß die christliche Bevölkerung sich
1092 geradezu in einem Freudentaumel befindet, eine baldige Sanierung
1093 der Verhältnisse, Verbilligung der Lebensmittel und gleichmäßigere
1094 Verbreitung des Wohlstandes erwartet. Auch innerhalb der noch
1095 sozialdemokratisch organisierten Arbeiterschaft ist die
1096 Befriedigung über den Fortzug der Juden groß. Aber anderseits läßt
1097 sich nicht verhehlen, daß die Bevölkerung erregt und unsicher ist.
1098 Niemand weiß, was die Zukunft bringen wird, die Massen leben in den
1099 Tag hinein, eine ganz staunenswerte Verschwendungssucht in den
1100 unteren Klassen macht sich bemerkbar und die Zahl der
1101 Trunkenheitsexzesse mehrt sich von Tag zu Tag.
1103 Zur Gehobenheit der Stimmung trägt aber sehr wesentlich der Umstand
1104 bei, daß die Wohnungsnot mit einem Schlage aufgehört hat. Allein in
1105 Wien sind seit Beginn des Monates Juli vierzigtausend Wohnungen,
1106 die bisher Juden inne hatten, frei geworden. Eine direkte Folge
1107 davon ist, daß eine wahre Hochflut von Trauungen eingesetzt hat und
1108 die Priester zehn und zwanzig Paare gleichzeitig einsegnen
1109 müssen.“
1111 Schwertfeger, der Junggeselle geblieben war, nickte befriedigt
1112 lächelnd. „Damit wären wir also für heute fertig. Ich bin nun
1113 halbwegs im Bilde und werde jetzt die Referate der einzelnen
1114 Bundesministerien durchstudieren.“
1116 Ein Kopfnicken und der Präsidialchef war entlassen. Fronz blieb
1117 aber noch stehen und lenkte die Aufmerksamkeit \pagenum{39} des
1118 Kanzlers, der schon ein Aktenfaszikel aufgeschlagen hatte, durch
1119 diskretes Räuspern auf sich.
1121 „Ich möchte Exzellenz noch darauf aufmerksam machen, daß der Wiener
1122 Gemeinderat mit großer Stimmenmehrheit beschlossen hat, den
1123 Schottenring in Dr. Karl Schwertfeger-Ring umzutaufen und daß
1124 seitens dreihundert österreichischer Gemeinden ähnliche Umtaufungen
1125 von Plätzen und Straßen beschlossen wurden. In Innsbruck hat sich
1126 sogar ein Denkmalkomitee gebildet, das Eurer Exzellenz im nächsten
1127 Jahr schon ein Denkmal aus Laaser Marmor errichten will.“
1129 Der Kanzler stand auf, ging zum Balkon, sah wieder auf den
1130 Volksgarten hinab, schritt mit wuchtigen Tritten schwer und plump
1131 zweimal durch den großen Raum und sagte dann:
1133 „Inhibieren Sie alle solchen Ehrungen! Sie sollen verschoben werden
1134 bis zum zehnjährigen Jubiläum der Befreiung Wiens von den Juden!“
1136 \tb{* * *}
1137 Weihnachtsabend im Hause des Hofrates Franz Spineder. Weit draußen
1138 in Grinzing, außerhalb der Endstation der Straßenbahn, lag das
1139 kleine, gelbe Backsteinhäuschen, das der Hofrat noch von seinem
1140 Großvater ererbt hatte. Von außen sah das einstöckige Haus mit dem
1141 großen grün gestrichenen Holztor und den grünen Jalousien fast
1142 primitiv aus, aber wenn man das Tor öffnete und in den Hof mit dem
1143 altertümlichen Ziehbrunnen trat, \pagenum{40} blieb man
1144 überrascht und entzückt stehen. Der Hof ging in einen sanft
1145 ansteigenden Garten über, der schier endlos war. Im Sommer
1146 leuchteten die Levkojen, Tulpen, Rosen und Nelken in südlicher
1147 Pracht, hinter dem Ziergarten kamen Hunderte von Bäumen, die unter
1148 der Last der Äpfel, Birnen, Aprikosen, Pflaumen und Kirschen sich
1149 tief zur Erde beugten, und wenn man auch die Obstbäume hinter sich
1150 hatte, so war man noch immer nicht am Ende des Gartens, sondern
1151 ging steil durch einen Weinberg, um endlich ganz oben auf ein
1152 altwienerisches Lusthäuschen mit bunten Scheiben zu stoßen.
1154 Köstlich wie der unvermutete Garten war auch die Einrichtung der
1155 Wohnzimmer. Uralte, behagliche, steife und graziöse Möbel aus der
1156 Barock-, Kongreß- und Biedermeierzeit, kostbare Stiche und Bilder
1157 an den Wänden, zwei echte Waldmüller, ein Schwind im Salon, bunte,
1158 schöne Gläser, Altwiener Porzellan, funkelndes Silbergerät in den
1159 Vitrinen und Kredenzen, und man brauchte nur die Augen zu
1160 schließen, um die Männer und Frauen im Kostüm der Maria
1161 Theresianischen Zeit und Biedermeierrock vor sich zu sehen.
1163 Franz Spineder war Beamter, wie es sein Vater und sein Großvater
1164 gewesen, aber er war auf den Gehalt eines Hofrates im
1165 Unterrichtsministerium nicht angewiesen, sondern recht vermögend,
1166 und schon das Haus mit dem riesigen Garten und der kostbaren
1167 Einrichtung repräsentierte heute einen nach vielen Millionen
1168 zählenden Wert. Außerdem aber war seine Frau eine geborene
1169 Halbhuber, deren Urgroßväter schon als Gerber und Lederfabrikanten
1170 soliden \pagenum{41} Reichtum erworben hatten. Und da das
1171 Ehepaar Spineder nur mehr ein Kind, die jetzt knapp achtzehnjährige
1172 Lotte, besaß, so konnte es inmitten der Wirrnisse einer zerrissenen
1173 Zeit und aller Teuerung zum Trotz sein behagliches Leben führen.
1175 Schweigend schmückten Lotte und Frau Spineder den Weihnachtsbaum,
1176 befestigten an den duftenden Zweigen die Schokoladekringel,
1177 Bonbons, Glaskugeln und Kerzen. Frau Spineder, noch immer eine
1178 hübsche, runde Frau, sah die blonde, schlanke, auffallend schöne
1179 und liebreizende Tochter von der Seite an.
1181 „Lotte, nun hast du schon wieder Tränen in den Augen! Bedenk? doch,
1182 daß Papa heute wenigstens fröhliche Gesichter sehen will und mach?
1183 dem armen Leo das Herz nicht noch schwerer.“
1185 Lotte ließ einen kleinen Rauchfangkehrer aus Schokolade fallen, daß
1186 sein Kopf fortrollte, schlug die Hände vor das Gesicht, lehnte sich
1187 an die Schulter der Mutter und begann bitterlich zu schluchzen.
1189 „Mutter, mir bricht das Herz! Du wirst sehen, ich werde es nicht
1190 überleben, daß Leo in die Fremde fort muß! Mutter, laßt mich doch
1191 mit ihm ziehen!“
1193 Frau Spineder, der selbst das Wasser in den Augen stand,
1194 streichelte zärtlich das weiche, wie Gold leuchtende Haar der
1195 Tochter.
1197 „Lotte, es geht nicht! Bedenk? doch, Papa ist sechzig und er hat,
1198 seit uns der unselige Krieg den Sohn genommen, niemanden als dich.
1199 Du kannst es ihm nicht \pagenum{42} zumuten, daß er dich in die
1200 ungewisse Zukunft ziehen läßt, so gern er ja auch den Leo hat.
1201 Schau nur, Leo wird nach Paris ziehen; bei der Entwertung der Krone
1202 könnten wir euch unmöglich mit Francs unterstützen und ihr würdet
1203 vielleicht ins Elend kommen, ohne daß Papa helfen kann. Leo wird
1204 sich allein schon durchschlagen und ihr seid ja noch beide so jung,
1205 daß ihr auf andere, bessere Zeiten warten könnt?. Still jetzt, der
1206 Vater kommt! Und es klingelt, der Leo wird auch schon da sein.“
1208 Herr Spineder, der jetzt eintrat, um die Kerzen anzuzünden, war der
1209 Typus des alten österreichischen Hofrates in seiner besten Art.
1210 Musik liebend und ausübend, voll innerlicher Kultur, gepflegt von
1211 außen und innen, ein Schönheitssucher, Lebensfreund und
1212 Lebensbejaher, rechtlich, gewissenhaft, tolerant und dabei doch ein
1213 wenig beschränkt, bedächtig und zögernd. Er trug auch jetzt noch
1214 den veralteten Kaiserbart, weil er es unter seiner Würde hielt, dem
1215 Umschwung der Verhältnisse an seiner Person Konzessionen zu machen,
1216 er war Demokrat durch und durch, ein treuer Diener der Republik,
1217 aber das schöne Kaiserbild von Angeli hing noch immer über seinem
1218 Schreibtisch. Wie er jetzt eintrat, war der alte Herr mit den
1219 schlohweißen Haaren und den milden, graublauen Augen der echte
1220 Altösterreicher, den man bald nur mehr aus Büchern kennen wird.
1222 „Leo ist draußen und kratzt sich den Schnee von den Sohlen ab“,
1223 sagte Hofrat Spineder, während er die Kerzen bedächtig anzündete.
1224 „Geht hinauf zu ihm, ich werde die Bescherung machen und klingeln,
1225 wenn es so weit \erratum{ist.“.}{ist.“}
1227 \pagenum{43}Frau Spineder sah noch rasch in die Küche nach dem
1228 Karpfen, der Sachertorte und den Krapfen; Lotte hing aber schon am
1229 Halse Leos und schluchzte wortlos an seiner Brust.
1231 Leo Strakosch, schlank, dunkelhaarig, glattrasiert, mit lebhaften
1232 braunen Augen, aus denen Klugheit und Humor blitzten, war um zehn
1233 Jahre älter als Lotte. Im letzten Kriegsjahre war er als
1234 Einjähriger eingerückt und im Felde hatte er den gleichaltrigen
1235 Rudolf Spineder, den Sohn des Hofrates, kennen und als Freund
1236 lieben und schätzen gelernt. In der letzten Piaveschlacht hatte
1237 Rudolf einen Kopfschuß bekommen und in den Armen des Freundes seine
1238 junge Seele ausgehaucht, nachdem er ihn gebeten, die Eltern und das
1239 Schwesterchen zu grüßen. So war Leo in das Haus des Hofrates
1240 gekommen, der arme Sohn eines kleinen Agenten, fühlte sich in dem
1241 vornehm-bürgerlichen Milieu unendlich wohl, und als Lotte aus einem
1242 Kinde ein blühendes, schönes Mädchen wurde, stand es in ihm fest:
1243 Diese oder keine! Lotte erwiderte die Liebe des lebhaften,
1244 geistvollen, begabten jungen Mannes von ganzem Herzen.
1246 Hofrat Spineder sah die Entwicklung dieser Liebe und hatte nichts
1247 einzuwenden. Leo Strakosch war Radierer, in jungen Jahren schon
1248 ganz außerordentlich erfolgreich, man begann sich um seine
1249 Zeichnungen zu reißen, eine vor einem Jahr erschienene Leo
1250 Strakosch-Mappe erregte Aufsehen auch im Ausland, und der Hofrat
1251 wie seine Frau sagten sich mit Recht, daß sie ihr Kind in keine
1252 besseren Hände würden geben können, als in die Leos, den sie nach
1253 und \pagenum{44} nach liebten wie ihren eigenen Sohn. Daß Leo
1254 Jude war, focht den Hofrat nicht im mindesten an. In seinem Hause
1255 verkehrten viele Musiker, Literaten, Maler, die Mehrzahl von ihnen
1256 waren Juden, und der verstorbene Rechtsanwalt Viktor Rosen war
1257 sogar der intimste Freund Spineders gewesen.
1259 Als vor Jahresfrist zuerst in politischen Kreisen von dem Plan des
1260 Führers der Christlichsozialen, ein Antijudengesetz durchzubringen,
1261 geraunt wurde, hatte Hofrat Spineder daran nicht glauben wollen und
1262 können. Und als er daran glauben mußte, war seine Empörung maßlos
1263 gewesen. Und noch größer sein Schmerz über den Schicksalsschlag,
1264 den die bevorstehende Ausweisung Leos für seine Tochter bedeutete.
1265 Den Gedanken aber, seine Lotte mit Leo ins Exil ziehen zu lassen,
1266 wies er weit von sich, die Liebe zu seinem einzigen Kind und der
1267 Egoismus des Alternden vereinigten sich hier und
1268 \erratum{machte}{machten} ihn absolut unerbittlich.
1270 \tb{* * *}
1271 Die Bescherung war sehr reichlich ausgefallen, Lotte von den Eltern
1272 freigebig bedacht worden, aber sie schenkte dem Pelzkragen, den
1273 Seidenstrümpfen, den Büchern und Noten kaum einen Blick, sondern
1274 preßte immer wieder das kleine Bild Leos, das er ihr in einem
1275 goldenen Medaillon geschenkt, an die zuckenden Lippen. Man saß nun
1276 beim festlich geschmückten Tisch, aber es herrschte eher Trauer als
1277 Feststimmung und vergeblich versuchte der Hofrat ein leichtes
1278 Gespräch zu entwickeln. Als dann der \pagenum{45}
1279 selbstgekelterte goldgelbe Wein kredenzt wurde, erhob Hofrat
1280 Spineder sein Glas und sagte mit bewegter Stimme:
1282 „Dein Wohl, Leo! Möge das Glück dich auch in der Fremde begleiten,
1283 möge das Schicksal in absehbarer Zeit uns alle wieder vereinigen!
1284 Kinder, ich weiß, daß ihr mir grollt und ich kann doch nichts tun,
1285 als mit euch leiden. Seht, Mutter und ich haben den besten Teil des
1286 Lebens hinter uns, ich stehe an der Schwelle des Greisenalters, und
1287 so ist es doch nur natürlich, wenn wir uns mit allen Fasern dagegen
1288 sträuben, den letzten Sonnenstrahl, der uns noch leuchtet,
1289 fortziehen zu lassen. Aber selbst wenn wir solcher schier
1290 übermenschlicher Selbstlosigkeit fähig wären, würde mich das
1291 Pflichtgefühl davon abhalten. Lebten wir in normalen Zeiten, so
1292 ließ ich euch ziehen und würde sagen, daß wir ja schließlich
1293 alljährlich ein paar Monate bei euch in Paris zubringen können.
1294 Aber das ist heute unmöglich, da die Krone fast wertlos ist. Nur
1295 Spekulanten können sich noch solchen Luxus leisten, und ihr wißt,
1296 daß wir in guten, geordneten Verhältnissen leben, aber doch mit
1297 jedem Tausendkronenschein rechnen müssen. Würde Lotte jetzt mit dir
1298 in die Fremde gehen, so müßte sie das Elternhaus für immer
1299 verlieren. Und nicht nur sie, sondern auch euere Kinder wären
1300 entwurzelt, vaterlandslos, würden nicht wissen, wo ihre Großeltern
1301 in der Erde ruhen. Und wer weiß, es würde der Tag vielleicht
1302 kommen, wo du, Lotte, von solcher Heimatssehnsucht erfüllt wärest,
1303 daß sie deine Liebe zum Gatten verdrängen und dein ganzes Wesen
1304 sich in einen bitteren Vorwurf gegen den, dem du in die Verbannung
1305 gefolgt, wandeln würde. Ihr seid beide \pagenum{46} jung, du,
1306 Lotte, bist fast noch ein Kind, du Leo, ein Jüngling und das ganze
1307 Leben liegt vor euch. Lasset ein paar Jahre vergehen, vielleicht
1308 seid ihr dann voneinander losgekommen oder aber es traten
1309 Entwicklungen ein, die euch doch noch vereinigen.“
1311 Während Lotte fassungslos weinte und mit ihr ihre Mutter, hob nun
1312 auch Leo sein Glas.
1314 „Vater, so darf ich dich ja doch wohl noch nennen, ich muß die
1315 Gründe deiner Weigerung, Lotte mit mir ziehen zu lassen, würdigen,
1316 wahrscheinlich würde ich an deiner Stelle nicht anders handeln.
1317 Aber eines sage ich dir, sage ich Lotte, die ich nie aufhören werde
1318 zu lieben: Mein Leben wird von nun an ein einziger Kampf werden!
1319 Man sagt meinem Volke Zähigkeit nach – nun so will ich die ganze
1320 Fähigkeit meines Volkes in mir vereinigen. Mit Kopf und Herz, mit
1321 meinem ganzen Können und Wollen werde ich darauf hinarbeiten, Lotte
1322 zu gewinnen, so oder so! Man kann mich vertreiben wie einen
1323 räudigen Hund, man kann aber den Willen in mir nicht töten! Und ich
1324 leere mein Glas auf euer Wohl und auf unsere Vereinigung, die
1325 früher kommen wird als wir alle heute zu hoffen wagen!“
1327 Am nächsten Tage fuhr Leo Strakosch mit einem Zuge fort, der sich
1328 zum großen Teil aus geistigen Arbeitern und Künstlern
1329 zusammensetzte. Hofrat Spineder, Frau Spineder und Lotte gaben ihm
1330 das Geleite. Außer ihnen ließ Leo nichts zurück, was ihm wert war,
1331 da seine Eltern längst nicht mehr lebten.
1333 \tb{* * *}
1334 \pagenum{47}Der letzte Jahrestag wurde für Wien zu einem
1335 Festtag, wie ihn die lustige und leichtsinnige Stadt noch nie
1336 erlebt hatte. Unter Aufbietung aller Verkehrsmittel, mit Hilfe von
1337 Lokomotiven, die aus den Nachbarstaaten entliehen waren, bei
1338 Einstellung jedes sonstigen Personen- und Güterverkehrs war es
1339 gelungen, an diesem Tag in dreißig riesigen Trains die letzten
1340 Juden fortzubringen. Vormittags fuhren die Direktoren und leitenden
1341 Funktionäre der Großbanken, mittags die jüdischen Journalisten mit
1342 ihren Familien. Sie hatten bis zum letzten Augenblicke ausgeharrt,
1343 noch die Abendblätter waren von ihnen geschrieben und redigiert
1344 worden, und erst als die feuchten Blätter aus den
1345 Rotationsmaschinen flogen, rückten die neuen Herren in die
1346 Redaktionsstuben ein. Die Mehrzahl der Wiener Journalisten hatte
1347 Engagements bei reichsdeutschen und deutschböhmischen Blättern
1348 gefunden, viele wanderten nach Amerika aus, einige wenige
1349 beschlossen, sich anderen Berufen zuzuwenden. Der Herausgeber der
1350 großen „Weltpresse“ aber übersiedelte mit einem kleinen Stabe von
1351 Mitarbeitern nach London, um dort unter dem Titel „Im Exil“ eine
1352 deutsche Wochenschrift, die sich in erster Linie mit Österreich
1353 befassen sollte, erscheinen zu lassen.
1355 Um ein Uhr mittags verkündeten Sirenentöne, daß der letzte Zug mit
1356 Juden Wien verlassen, um sechs Uhr abends läuteten sämtliche
1357 Kirchenglocken zum Zeichen, daß in ganz Österreich kein Jude mehr
1358 weilte.
1360 In diesem Augenblicke begann Wien sein großes Befreiungsfest zu
1361 feiern. Von hunderttausend Häusergiebeln wurden die rot-weiß-roten
1362 Fahnen gehißt, Tücher in diesen \pagenum{48} Farben schmückten
1363 alle Geschäfte, Lampions vor allen Fenstern wurden entzündet, und
1364 bei sternenheller Frostnacht zog eine Million Menschen über den
1365 knisternden Schnee, um sich zu Zügen zu vereinigen. Männer, Frauen
1366 und Kinder trugen Lampions, Musikkapellen marschierten den
1367 einzelnen Bezirksgruppen voran, ein Jauchzen und Jubeln ertönte,
1368 und immer wieder zerriß der Ruf: „Es lebe das christliche Wien“,
1369 die Luft!
1371 Treffpunkt aller Züge war das Rathaus. In feenhafter Pracht lag der
1372 schöne, gotische Bau Meister Schmidts da. Millionen elektrischer
1373 Lichter ließen ihn wie eine einzige Flamme leuchten. Auf einer
1374 Tribüne spielten die unvergleichlichen Wiener Philharmoniker, von
1375 Juden gesäubert und daher ein wenig reduziert, volkstümliche
1376 Weisen, und der Wiener Männergesangverein bot seine besten Lieder
1377 dar. Die Volkshalle, der große Platz vor dem Rathaus, der Ring vom
1378 Schottentor bis zur Bellaria bildeten eine einzige Menschenmauer,
1379 und um acht Uhr war es kein Rufen mehr, sondern ein Heulen aus
1380 einer Million Kehlen, das immer wieder erdröhnte.
1382 Endlich kam der große Moment. Bürgermeister Karl Maria Laberl
1383 erschien mit dem Bundeskanzler Doktor Schwertfeger auf dem Balkon.
1384 Der Bundeskanzler ergriff zuerst mit machtvoller Stimme, die sich
1385 bis jenseits des Ringes Gehör verschaffte, das Wort. Er sprach
1386 kurz, trocken, aber um so wirkungsvoller:
1388 „Mitbürger, ein ungeheures Werk ist vollendet! Alles das, was in
1389 seinem innersten Wesen nicht österreichisch ist, \pagenum{49}
1390 hat die Grenzen unseres kleinen, aber schönen Vaterlandes
1391 verlassen! Wir sind nun allein unter uns, eine einzige Familie, wir
1392 sind fürderhin auf uns und unsere Eigenart gestellt, mit eigener
1393 Kraft werden wir unser gesäubertes Haus frisch bestellen, morsche
1394 Mauern stützen, geborstene Pfeiler aufbauen. Wiener und Brüder aus
1395 dem ganzen Bundesstaat! Wir feiern heute ein Fest, wie es noch nie
1396 gefeiert wurde. Morgen beginnt ein neues Jahr und für uns alle ein
1397 neues Leben. Morgen dürfen wir noch ruhen und uns beschaulich
1398 besinnen. Dann aber müssen wir arbeiten, wie wir noch nie
1399 gearbeitet haben. Unser ganzes Können müssen wir unserem Vaterlande
1400 widmen, jede Stunde muß genützt werden. Wir werden der ganzen Welt
1401 zeigen müssen, daß Österreich auch ohne Juden leben kann, ja daß
1402 wir eben deshalb gesunden, weil wir das Fremde aus unserem
1403 Blutkreislauf entfernt haben. Mitbürger, schwört es mir in dieser
1404 feierlichen Stunde in die Hand, daß wir alle nicht mehr schwelgend
1405 in den Tag hineinleben wollen, sondern arbeiten, arbeiten und
1406 nichts als arbeiten, bis uns die Früchte unserer Arbeit erblüht
1407 sind.“
1409 Und der Ruf: „Wir schwören es!“ brauste auf, fremde Menschen
1410 schüttelten einander die Hände, Männer und Frauen sanken einander
1411 weinend und lachend in die Arme, die neue Volkshymne wurde
1412 intoniert und mitgesungen und dann erklang ohne Verabredung und
1413 doch wie aus einem Munde das „Hoch unser Doktor Schwertfeger, der
1414 Befreier Österreichs!“
1416 \pagenum{50}Als sich der Jubel und Tumult ein wenig gelegt
1417 hatte, kam endlich auch Bürgermeister Herr Karl Maria Laberl zum
1418 Wort. Er begann seine Ansprache mit den Worten:
1420 „Meine lieben Christen!~–~–“
1422 Aber viel mehr vernahm die Menge nicht, denn dem warmen Föhn, der
1423 seit Minuten durch die vorher noch so kalte Nacht fegte, folgte in
1424 diesem Augenblick ein Regenguß, und schreiend, kreischend
1425 zerstreute sich die Menschenmasse, um durch ein Meer von Kot und
1426 zerflossenem Schnee zu den Straßenbahnen zu eilen.
1428 \chapter{Zweiter Teil.}
1429 \pagenum{51}
1431 \begin{center}
1432 \textit{Lotte Spineder an Leo Strakosch, Paris, Rue Foch 22.}
1434 \end{center}
1435 Mein Lieber, nun ist genau ein Jahr vergangen, seitdem ich Dir auf
1436 dem Westbahnhofe mit meinem von Tränen ganz durchnäßten Taschentuch
1437 nachgewinkt habe. Und das erste Weihnachtsfest, das ich als Deine
1438 Braut ohne Dich verbringen mußte, liegt hinter mir. Es war wieder
1439 recht traurig, und Papa meinte sehr besorgt, daß ich noch ganz
1440 krank und elend werden würde, wenn ich mich meinem Schmerz so
1441 hingebe. Ich bin jetzt nämlich immer sehr blaß, schlafe schlecht,
1442 habe viel Kopfschmerz und werde gleich so müde. Unser Hausarzt
1443 meint, es sei Bleichsucht und hat mir Guberquelle verordnet, aber
1444 ich weiß, daß es nur meine Sehnsucht nach Dir ist, die mich schwach
1445 und krank macht.
1447 Unsagbare Freude hat mir Deine wundervolle Mappe bereitet, die
1448 gerade am Weihnachtsabend eingetroffen ist. Du bist jetzt, wie man
1449 aus diesen herrlichen Stichen sieht, ein ganz großer Künstler;
1450 Papa, der doch so viel davon versteht, meint, daß Du schon zu den
1451 ersten Meistern gehörst und hat furchtbar auf unsere Regierung
1452 geschimpft, die solche Männer, statt sie zu ehren, aus dem Lande
1453 jagt. \pagenum{52} Dein Brief, in dem Du von Deinen großen
1454 Erfolgen berichtest, hat mich natürlich sehr beglückt, und Papa hat
1455 umgerechnet, daß die dreißigtausend Francs, die Du für diese Mappe
1456 bekommen hast, viele Millionen österreichischer Kronen sind. Die
1457 Krone ist nämlich wieder riesig gefallen. Nur als ich las, daß Du
1458 so viel in Gesellschaft verkehrst und dich der Einladungen in die
1459 feinsten Häuser kaum erwehren kannst, bekam ich ordentlich
1460 Herzklopfen. Wirst Du bei den schönen Pariserinnen nicht Deine
1461 arme, kleine Lotte ganz vergessen? O Leo, was soll nur aus uns
1462 werden, wann werde ich wieder meinen Kopf an Deine Schulter legen
1463 können? Weißt Du, Leo, neulich flog ein großer Äroplan über den
1464 Kahlenberg westwärts, und da habe ich gedacht, daß ich, wenn ich
1465 die Möglichkeit dazu hätte, gleich zu Dir nach Paris fliegen würde,
1466 ob meine Eltern es nun erlauben oder nicht. Überhaupt, wenn ich
1467 wüßte, wie man, ohne daß es jemand erfährt, einen Paß bekommt,
1468 würde ich mir von Dir Geld schicken lassen und heimlich zu Dir
1469 kommen. Ich weiß, daß ich Papa und die Mutter damit furchtbar
1470 kränken würde, aber meine Sehnsucht nach Dir ist so groß, daß ich
1471 ganz schlecht und grausam geworden bin.
1473 Du bittest mich, ich möge Dir in großen Zügen die Entwicklung der
1474 Dinge schildern, seitdem die Israeliten fort sind, da Du aus den
1475 farblosen und langweiligen Wiener Zeitungen kein richtiges Bild
1476 bekommen kannst. Nun, ich will versuchen, Dir alles zu erzählen,
1477 was ich selbst sehe oder von den anderen weiß; aber wenn es dumm
1478 wird, so darfst Du mich nicht auslachen.
1480 \pagenum{53}Also, von dem großen Jubel und den Festzügen am
1481 Silvestertage, als die letzten Israeliten Wien und Österreich
1482 verlassen hatten, wirst Du ja ohnedies alles aus den Zeitungen
1483 ersehen haben. Nun, den ganzen Januar hielt diese Stimmung an, die
1484 Leute machten alle fröhliche Gesichter, ein Festkonzert folgte dem
1485 anderen und immer wieder zogen die Massen vor das Rathaus oder das
1486 Kanzlerpalais, um dem Bürgermeister Laberl und dem Doktor
1487 Schwertfeger zu huldigen. Mir selbst ist es aufgefallen, daß die
1488 Wiener in der Elektrischen viel freundlicher und netter waren als
1489 vorher, und der Hofrat Tumpel, der bei uns verkehrt, Du weißt, der
1490 mit dem blonden Vollbart, den Du nie leiden mochtest, sagte
1491 triumphierend zu uns:
1493 „Sehen Sie, das Wiener sonnige Gemüt, das so lange von all dem
1494 Fremden überschattet worden war, bricht sich wieder Bahn.“
1496 „Ja, Schnecken,“ brummte der Vater, „das ist nur, weil den Wienern
1497 das Ganze eine Riesenhetz ist und weil die Lebensmittel billiger
1498 und wieder Wohnungen zu haben sind.“ Tumpel meinte aber: „Oho,
1499 lieber Freund, das ist es nicht allein, sondern die indogermanische
1500 Naivität unseres Volkes wagt sich wieder heraus!“
1502 Die Lebensmittel waren wirklich viel billiger geworden, weil unsere
1503 Krone damals sehr gut, nämlich auf 0·02 Centime stand. Ich erinnere
1504 mich, daß Mama im Winter einmal ganz froh nach Hause kam und sagte,
1505 man könne jetzt wieder existieren, das Schweineschmalz kostet nur
1506 mehr zehntausend Kronen per Kilogramm. Und das mit den
1507 \pagenum{54} Wohnungen hat den Wienern wirklich so viel Freude
1508 gemacht. Stelle Dir nur vor: Plötzlich hingen fast an allen
1509 Haustoren Zettel, auf denen Wohnungen und möblierte Zimmer
1510 angeboten wurden. Die Leute gingen rein zum Zeitvertreib von Haus
1511 zu Haus, um die Wohnungen zu besichtigen. Und den ganzen Tag sah
1512 man Möbelwagen durch die Straßen fahren.
1514 Das dauerte so bis zum Fasching, aber dann war die gute Laune weg.
1515 Plötzlich begann große Arbeitslosigkeit zu herrschen. Die ganze
1516 Konfektionsindustrie stand still, und jeden Augenblick hörte man,
1517 daß dieses oder jenes Geschäft abgekracht sei. Die Blätter
1518 schrieben, man müsse die ehrlichen christlichen Kaufleute, die die
1519 alten jüdischen Geschäfte übernommen hatten und ihrer Aufgabe noch
1520 nicht gewachsen seien, von Staats wegen unterstützen. Die
1521 Arbeitslosen machten aber großen Krawall, zogen über den Ring,
1522 demolierten ein paar Geschäfte, schlugen Fensterscheiben ein und
1523 setzten es durch, daß ihnen der Staat zehntausend Kronen täglich
1524 Arbeitslosenunterstützung zahlte. Da begann die Krone zu fallen,
1525 weil, wie Papa mir erklärte, der Banknotenumlauf enorm stieg. Auf
1526 ja und nein stand die Krone wieder auf 0·01 Centime und die
1527 Lebensmittel wurden wieder so teuer und noch teurer als früher.
1528 Heute erzählte Mama ganz aufgeregt, daß die Butter schon
1529 dreißigtausend Kronen kostet. Seit dem Frühjahr sind die Leute
1530 wieder sehr mürrisch und in der Elektrischen wird viel geschimpft.
1531 Hauptsächlich auf die Schieber, die alles verteuern, aber man
1532 spricht nicht von jüdischen Schiebern, sondern nur so im
1533 allgemeinen.
1535 \pagenum{55}Du fragst, ob ich viel ins Theater gehe? Ach nein,
1536 lieber Leo, wenn man die Oper ausnimmt, so ist in den Theatern gar
1537 nichts mehr los. In den Schauspielhäusern wird ununterbrochen
1538 Ganghofer und Anzengruber gespielt, weil man von Israeliten nichts
1539 aufführen darf und die Klassiker ja doch nicht ziehen. Eine
1540 Zeitlang hat man auch viel von Shaw gegeben; seitdem er aber in
1541 einer englischen Zeitung erklärt hat, Wien sei ein internationales
1542 Dummheitsmuseum geworden, ist er verpönt. Hauptsächlich aber
1543 deshalb, weil er auch gesagt hat, ein gescheiter Jude sei ihm
1544 lieber als zehn dumme Christen. Die Operettentheater sind alle
1545 pleite. (Erinnerst Du Dich, wie ich lachen mußte, als ich von Dir
1546 zum erstenmal das Wort pleite hörte?) Es hat sich nämlich
1547 herausgestellt, daß sämtliche alte und neue Operetten von Juden
1548 entweder komponiert oder geschrieben sind, meistens beides. Auch
1549 fehlt es an Kräften, denn fast alle Tenore mußten ja auswandern.
1550 Wohl sind rasch ein paar ganz arische Operetten herausgebracht
1551 worden, aber das Publikum hat gezischt, weil es ein furchtbarer
1552 Schmarren war. Der Hofrat Tumpel meinte, daß sich die christliche
1553 Kunst eben nur für seriöse Sachen eigne, nicht für frivoles Zeug.
1554 Worauf Papa schmunzelte und sagte, man würde bald einsehen, daß
1555 sich die Juden und Christen hierzulande sehr gut ergänzt haben.
1557 Neulich ist mir mittags am Graben aufgefallen, daß man heuer viel
1558 weniger elegante Herren und Damen sieht als früher. Es wird eben
1559 gar kein Modeluxus mehr getrieben. Allerdings muß ich sagen, daß
1560 mir die widerlichen jüdischen Schiebergesichter, über die Du Dich
1561 auch immer so \pagenum{56} geärgert hast, gar nicht fehlen.
1562 Dafür machen sich auf dem Korso sehr viele junge Lackeln, die wie
1563 Bauern aussehen und unmöglich angezogen sind, mit mächtigen
1564 Uhrketten und Diamantringen an den dicken Fingern, breit.
1565 Überhaupt scheint unser ganzer Fremdenverkehr nur mehr aus Bauern
1566 zu bestehen. Der Besitzer vom Hotel Imperial hat neulich in einer
1567 Zeitung geklagt, daß er jetzt Gäste habe, die sich mit den
1568 genagelten Schuhen ins Bett legen und ihre Jägerwäsche in der
1569 Badewanne waschen. Wenn Du durch die Kärntnerstraße gehen würdest,
1570 so würdest Du schauen, wie wenig elegant die Geschäfte jetzt sind!
1571 Nun muß ich aber schließen, weil es schon ein Uhr nachts ist und
1572 ich auch nichts Besonderes mehr weiß. Lebe wohl, mein Geliebter,
1573 und denke was aus, damit wir bald wieder beisammen sind, weil ich
1574 sonst gar nicht mehr leben mag. Es küßt Dich vieltausendmal Deine
1575 ganz verzagte
1577 \unterschrift{
1578 Lotte.“
1581 \tb{* * *}
1582 Herr Habietnik ging düster, schweigend, mit gerunzelter Stirne
1583 durch die prunkvollen Verkaufsräume des großen Modehauses in der
1584 Kärntnerstraße, das einst Zwieback geheißen und jetzt den Namen
1585 Wilhelm Habietnik trug. Herr Habietnik war der erste Verkäufer in
1586 der Damenmaßabteilung gewesen, und mit Hilfe der Mittelbank
1587 deutscher Sparkassen war es ihm gelungen, bei der großen
1588 Judenvertreibung das Haus an sich zu bringen. Herr Habietnik ging
1589 nun, wie gesagt, von Saal zu Saal, wechselte in jedem ein paar
1590 Worte mit dem Rayonchef, sein \pagenum{57} Antlitz wurde immer
1591 finsterer und er stieß unwillige Rufe aus. Durch die ganz in Weiß
1592 und Rosa gehaltene Abteilung für Babywäsche schritt er, ohne sich
1593 aufzuhalten, in den entzückenden Konditoreisalon, der vollständig
1594 leer war, warf er nur einen schiefen Blick, dann stürmte er in sein
1595 Privatkontor und ließ sich den Prokuristen Smetana kommen.
1597 „Sie, Herr Smetana, so geht das nicht weiter, da muß etwas
1598 geschehen! Wir stehen vor Ostern, früher war das die Hochsaison und
1599 man konnte vor Gedränge gar nicht durch das Haus gehen, und jetzt
1600 habe ich auf meinem Rundgang drei alte Weiber gefunden, von denen
1601 zwei zusammen eine Chenillepelerine, wie sie gar nicht mehr
1602 existieren, kaufen wollten und eine einen Barchentunterrock. Wenn
1603 wir so weitermachen, können wir sperren. Sagen Sie, wie groß ist
1604 das Betriebsdefizit, seitdem ich die Firma übernommen habe?“
1606 Der Prokurist Smetana lächelte sauer:
1608 „Na, so an die hundert Millionen, das wird wohl reichen!“
1610 Herr Habietnik ging aufgeregt auf und ab. „Ich versteh? das nicht!
1611 Wir haben früher, wie die Juden noch da waren, doch auch eine Menge
1612 christliche Käuferinnen gehabt! Wo sind denn die hingekommen?“
1614 Smetana, der früher in der Buchhaltung gesessen und die Rechnungen
1615 ausgeschrieben hatte, lächelte.
1617 „Herr Habietnik, mit den christlichen Kundschaften war es nie weit
1618 her, und wenn es schon Christinnen waren, so hatte ihr Christentum
1619 doch irgendwo ein Klampferl. Entweder sie waren die Frauen oder die
1620 Maitressen von Juden. \pagenum{58} Bitt? Sie, da erinnere ich
1621 mich an die schöne Gräfin Wurmdorf, die was zuletzt noch eine
1622 Redoutentoilette für eineinhalb Millionen bei uns hat machen
1623 lassen. Na, wer aber hat sie gezahlt? Der Herr Gemahl vielleicht?
1624 Keine Spur! Der reiche Eisler von der Firma Eisler und Breisler!
1625 Und die Manoni von der Oper, die was die Tochter von einer
1626 waschechten christlichen Waschfrau ist und zehn gute Millionen im
1627 Jahr bei uns gelassen hat? Na, bei der hat die ganze israelitische
1628 Kultusgemeinde herhalten müssen! Und die~–“
1630 Herr Habietnik winkte ab. „Trotzdem, es gab genug Damen ohne
1631 Liebhaber, die ganz schön eingekauft haben. Ich weiß das besser,
1632 weil ich doch gerade die Maßabteilung unter mir hatte.“
1634 „Ja, sehen Sie, Herr Habietnik, wenn es schon keine Jüdinnen waren,
1635 so war es eben die Konkurrenz der Judenfrauen, die uns geholfen
1636 hat. Wenn die Jüdinnen fein und elegant gekleidet waren, so wollten
1637 die christlichen Damen der guten Gesellschaft nicht zurückstehen.“
1639 „Da können Sie recht haben“, meinte der Chef nachdenklich. „Neulich
1640 habe ich selbst gehört, wie die Frau Artander die Preise
1641 bekrittelte und ohne zu bestellen mit den Worten wegging: „Ach was,
1642 heutzutage hat man es ja gottlob nicht mehr notwendig, sich so
1643 aufzutackeln und jede Modedummheit mitzumachen. Ich werde eben die
1644 alten Sachen herrichten lassen.“
1646 Herr Habietnik bekam einen roten Kopf und schlug mit der Hand auf
1647 den Tisch. „Ich habe Sie aber nicht gerufen, um mit Ihnen zu
1648 schmusen, sondern weil ich einen \pagenum{59} Rat von Ihnen
1649 will! Dazu zahl? ich Ihnen ja den hohen Gehalt!“
1651 Smetana knickte zusammen. „Eine Idee hätt? ich schon, Herr von
1652 Habietnik. Die Leut? tragen jetzt so viel Loden und andere solide
1653 Sachen. Sie haben es ja selbst gesehen, sogar nach Barchent ist
1654 Nachfrage. Wie wäre es, wenn wir ein paar Fenster mit Lodenstoffen,
1655 Lodenröcken, Barchent- und Flanellwäsche füllen würden? Und dazu
1656 eine schöne Tafel und viel Inserate mit der Ankündigung: Loden,
1657 Barchent, Baumwolle und Flanell – die hohe Pariser Mode!“
1659 Herr Habietnik bekam einen Lachkrampf und krümmte sich so lange,
1660 bis ihm die Tränen über die Backen liefen. „Flanell und Loden – die
1661 große Pariser Mode! Sie, wenn das die Frau Ella Zwieback, die jetzt
1662 in Brüssel lebt, erfährt, so glaubt sie, daß wir in Wien alle
1663 zusammen verrückt geworden sind! Aber meinethalben, mich ekelt die
1664 ganze Geschichte schon an, ich bekomme Platzangst, wenn ich durch
1665 das leere Haus gehe! Gut, machen Sie Lodenfenster! Und
1666 Steirerhüteln dazu nicht vergessen und genagelte Schuhe! Und die
1667 Konditorei verwandeln wir langsam, aber sicher in eine
1668 Stehbierhalle mit heißen Würsteln. Mir ist schon alles egal, so
1669 kapores oder so!“
1671 Zehn Tage später sah man richtig hinter einem der Fenster rote,
1672 blaue und gemusterte Flanellröcke, Hosen, gestrickte
1673 Miederleibchen, hinter einem anderen Baumwollstrümpfe und solides
1674 Schuhzeug und in einer der Auslagen türmten sich Lodenstoffe in
1675 Braun, Grau und Schwarz zu Bergen. Und die Verkaufsräume füllten
1676 sich, bis der \pagenum{60} Bedarf der weitesten Kreise gedeckt
1677 war und die Verkäuferinnen wieder verstohlen hinter ihren schwarzen
1678 Seidenschürzen gähnten oder Engelhornromane lasen.
1680 \tb{* * *}
1681 Im Kaffee Imperial saß der Rechtsanwalt Dr. Haberfeld und schob die
1682 Zeitungen, die ihm der alte Zahlmarkör Josef gebracht hatte,
1683 unwirsch beiseite.
1685 „Sie, Josef, leer ist es jetzt bei euch, daß man neben dem Ofen
1686 friert! Früher hat man mühsam sein Platzerl ergattern können und
1687 jetzt, jetzt könnt? man bei euch das Traberderby abhalten, weil eh?
1688 kein Mensch im Weg steht!“
1690 Josef strich die ergrauten Bartkoteletten, machte tieftraurige
1691 Augen, wischte mit der Serviette über den Tisch und sagte
1692 sorgenvoll:
1694 „Es geht eh? ein Ringkaffee nach dem andern ein, ich glaub?, lang?
1695 wer?n mir?s auch net mehr machen. Wissen S?, Herr Doktor, was die
1696 Herren Israeliten – pardon, die Juden, waren, die sind halt alle
1697 gern in die feinen Lokale gegangen, wo was los ist und man was
1698 sieht. Aber die christlichen Herrschaften, die geh?n ins
1699 Vorstadtkaffeehaus und spielen ihr Tarock oder machen eine
1700 Billardpartie und gehen sonst lieber zum Heurigen oder ins
1701 Wirtshaus. ?s ist halt eine andere Zeit jetzt!“
1703 „Das merkt ein Blinder, der taubstumm ist“, brummte der Anwalt.
1704 „Sie, Josef, wir zwei kennen einander ja schon lange genug und
1705 brauchen uns keine Komödie vorzuspielen. Mir g?fallt halt die ganze
1706 G?schicht net! Wien versumpert ohne Juden!“
1708 \pagenum{61}Josef fuhr erschreckt zusammen und sah sich
1709 ängstlich um.
1711 „Ah was, es hört uns eh? niemand! Wien versumpert, sag? ich Ihnen,
1712 und wenn ich als alter, graduierter Antisemit das sag?, so ist es
1713 wahr, sag? ich Ihnen! Ich wer? Ihnen was sagen, Josef. Wenn ich
1714 gegessen hab?, muß ich, Sie wissen?s ja am besten, immer mein
1715 Soda-Bikarbonat nehmen, um die elendige Magensäure zu bekämpfen.
1716 Wenn ich aber gar keine Magensäure hätt?, so könnt? ich überhaupt
1717 nichts verdauen und müßt? krepieren. Und wissen S?, der
1718 Antisemitismus, der war das Soda zur Bekämpfung der Juden, damit
1719 sie nicht lästig werden! Jetzt haben wir aber keine Magensäure, das
1720 heißt, keine Juden, sondern nur Soda, und ich glaub?, daran wer?n
1721 wir noch zugrund? geh?n!“
1723 Josef, der mit atemloser und ehrfürchtiger Spannung gelauscht
1724 hatte, schlug verzweifelt mit der Serviette auf einen Stuhl und
1725 flüsterte beklommen:
1727 „Recht haben S?, Herr Doktor, wenn man sich auch net traut, es laut
1728 zu sagen. Mit dem Zugrundegehen aber fang? ich schon an! Ich habe
1729 im letzten Halbjahr die Hälfte von meinem Ersparten aufgebraucht.
1730 Herr Doktor, unter uns gesagt, und weil Sie selbst ein nobler Herr
1731 sein, den was es nicht treffen tut: Die Herren Israeliten, pardon,
1732 ich mein? die Juden, waren nobel im Trinkgeldgeben!“
1734 Josef räumte die Zeitungen fort, die dem Doktor Haberfeld zu
1735 langweilig waren, brachte auf seinen Wunsch das Prager und das
1736 Berliner Tagblatt und wandte sich \pagenum{62} anderen, eben
1737 eingetretenen Gästen zu, die sich je ein Viertel Wein bestellten.
1739 „Wie in einem Beisel“, raunte Josef dem Rechtsanwalt im
1740 Vorübergehen zu. Und dieser nickte verständnisvoll, zündete sich
1741 eine Zigarre an und gedachte der Zeiten, da er allabendlich im
1742 Kreise jüdischer Kollegen hier gesessen und trotz aller politischen
1743 Gegnerschaft manch? klugen und guten Gedanken mit ihnen
1744 ausgetauscht hatte~\ldots{}
1746 \tb{* * *}
1747 Der Frühlingsbeginn, der seit jeher als politisch aufgeregte Zeit
1748 gegolten hat, brachte auch diesmal den Wienern unruhige Tage. Die
1749 Arbeitslosigkeit griff erschreckend um sich, eine Fabrik nach der
1750 anderen stellte den Betrieb ein, aber auch die Konkurse der
1751 Detailgeschäfte häuften sich und allenthalben gab es lärmende
1752 Kundgebungen, nicht nur der Arbeiter, für die der Staat halbwegs
1753 sorgte, sondern auch der entlassenen Kommis und Verkäuferinnen,
1754 Buchhalter und Tippmädels, bis in bewegter Ministerratssitzung
1755 beschlossen wurde, auch diesen Kategorien für die Zeit ihrer
1756 Stellenlosigkeit Zuschüsse zu gewähren. Der Finanzminister hatte
1757 sich mit Händen und Füßen dagegen gesträubt, der Kanzler, Doktor
1758 Schwertfeger, aber schließlich seinen Willen durchgesetzt. Doktor
1759 Schwertfeger, der noch starrer, knochiger, härter geworden war,
1760 erklärte, daß auch diese neue Belastung getragen werden müsse.
1762 „Wir dürfen es nicht dazu kommen lassen, daß eines Tages der
1763 Ausweisung der Juden die Schuld an Not und \pagenum{63} Elend
1764 gegeben wird. Wir haben bis heute die „Arbeiter-Zeitung“, die jetzt
1765 zwar von Christen, aber doch noch im jüdischen Geiste geschrieben
1766 wird, bewegen können, jede Kritik des Antijuden-Gesetzes zu
1767 unterlassen. Erfüllen wir die Forderungen der Stellungslosen im
1768 kaufmännischen Betriebe nicht, so wird ihr die Geduld reißen und
1769 sie wird, schon um diese Leute in ihr Lager zu drängen, eine
1770 Polemik eröffnen, die verderblich werden kann, weil wir die
1771 Übergangszeit von der Judenherrschaft zur Befreiung noch nicht
1772 hinter uns haben.“
1774 „Und unsere Krone?“ wandte der Finanzminister Professor Trumm
1775 höhnisch ein.
1777 „Wir müssen uns an unsere christlichen Freunde im Auslande wenden
1778 und ihnen unsere Bedrängnis klar machen. Am besten, Sie fahren
1779 gleich nach Paris und London.“
1781 Trumm lachte laut auf. „Ganz vergeblich! Schon von der ersten
1782 Bittfahrt vor drei Monaten bin ich mit leeren Händen gekommen! Die
1783 Leute geben nichts mehr, haben ja sogar ihre festen Versprechungen
1784 nicht ganz gehalten. Sie unterschätzen den Einfluß unserer früheren
1785 Konnationalen, der österreichischen Juden, die zum Teil heute in
1786 den ausländischen Banken sitzen! Und abgesehen davon, der
1787 christliche Begeisterungstaumel ist vorbei und man steht wieder auf
1788 dem kalt-geschäftlichen Standpunkt. Sogar Mister Huxtable hat
1789 abgewinkt. Also meinethalben, bewilligen wir die Forderungen der
1790 stellenlosen kaufmännischen Angestellten! Aber ich wasche meine
1791 Hände in Unschuld.“
1793 \pagenum{64}Am nächsten Tag wurde der Kabinettsbeschluß
1794 verlautbart, es trat wieder Ruhe ein, aber am zweitnächsten Tag
1795 fiel die Krone an der Züricher Börse um dreißig Prozent. Und die
1796 „Neue Züricher Zeitung“ veröffentlichte einen Artikel, in dem sie
1797 ziffernmäßig nachwies, daß Wien langsam aber sicher aufhöre,
1798 irgendwelche Bedeutung für den mitteleuropäischen Handelsverkehr zu
1799 haben und der Rivalität Prags und Budapests unterliege. „In Ungarn
1800 ist man nach dem Ende des Horthy-Regimes ebenso schlau wie in Prag
1801 gewesen. Man hat gewisse Kategorien von anständigen Juden mit
1802 offenen Armen aus Wien aufgenommen und dadurch den Handel an sich
1803 gerissen. Die Einkäufer der ganzen Welt können, weil sie zum großen
1804 Teil Juden sind, ohnedies Wien nicht mehr besuchen, sie gehen nach
1805 Prag, Brünn und Budapest, in erster Linie natürlich nach Berlin,
1806 das reißt die christlichen Einkäufer mit, die österreichischen
1807 Erzeuger von Fertigfabrikaten, wie Ledergalanterie, Schuhe, Keramik
1808 und so weiter, müssen, statt die Einkäufer bei sich zu empfangen,
1809 mit dem Musterkoffer nach dem Ausland reisen, kurzum, es werden
1810 trotz des beispiellos niedrigen Standes der Krone in Wien keine
1811 nennenswerten Geschäfte gemacht. Damit hat naturgemäß in Wien auch
1812 das Schiebertum in Valuten sein Ende erreicht, aber wie es scheint,
1813 auf Kosten des österreichischen Organismus. Der geniale
1814 Bundeskanzler Doktor Schwertfeger hat mit seinem Gesetz keine
1815 große, sondern eine allzugroße Tat getan!“
1817 Und wie zur Bekräftigung der Wahrheit dieses Artikels begann sich
1818 in Wien eine völlige Deroutierung des \pagenum{65} Bankenwesens
1819 einzustellen. Die ausländischen Konsortien, die die Wiener
1820 Großbanken übernommen hatten, sahen sich in ihren Hoffnungen bitter
1821 enttäuscht. Ihr Umsatz wurde immer geringer, mit dem Fortgang der
1822 Juden hatte auch das Börsenspiel einen beträchtlichen Rückgang
1823 aufzuweisen, und die Banken waren genötigt, wenn sie nicht mit
1824 Verlust arbeiten wollten, eine der Tausenden von Bankfilialen, mit
1825 denen Wien überfüllt war, nach der anderen aufzulassen. Vergebens
1826 legte die Organisation der Bankbeamten dagegen Protest ein, daß ein
1827 Teil ihrer Mitglieder brotlos gemacht wurde. Die Banken steckten
1828 sich hinter ihre Gesandtschaften, es kam zu peinlichen
1829 diplomatischen Interventionen, die damit endeten, daß die
1830 österreichische Regierung, statt ihre eigenen Beamten abzubauen,
1831 noch die stellenlosen Bankangestellten in ihren Dienst nehmen
1832 mußte. Und die Krone fiel auf ein Tausendstel Centime.
1834 \tb{* * *}
1835 An einem schönen, sommerlich warmen Maimorgen kam vom Westbahnhof
1836 her ein Automobil vor das Hotel Bristol gefahren, dem ein
1837 eleganter, schlanker, dunkelhaariger Herr entstieg. Der
1838 Hoteldirektor musterte mit geübtem Blick den schweren Lederkoffer
1839 und das Handgepäck und dann erst den Fremden, dem ein kleines
1840 Knebelbärtchen im Verein mit dem aufgezwirbelten und in Wien sehr
1841 unmodernen Schnurrbart einen exotischen Anstrich verlieh.
1842 Südfranzose! taxierte der Direktor, rechnete rasch im Kopf
1843 französische Franken in Kronen um, und beschloß, dem erstaunlichen
1844 Resultat gemäß, den Zimmerpreis zu \pagenum{66} stellen. Auf die
1845 französisch vorgebrachte Frage, ob ein Zimmer frei sei, erwiderte
1846 er, ein ironisches Lächeln mühsam unterdrückend:
1848 „Jawohl, Monsieur, ein einzelnes Zimmer gefällig oder ein
1849 Appartement mit Bad? Mit Aussicht auf den Ring oder nach
1850 rückwärts?“
1852 Der Passagier ließ vor Erstaunen das eingeklemmte Monokel fallen.
1854 „Ja, wie ist denn das? Früher konnte man doch ohne vorherige
1855 Anmeldung nirgends unterkommen!“
1857 „Mein Herr,“ seufzte der Direktor jetzt tief und ehrlich, „Sie
1858 waren wahrscheinlich anderthalb Jahre oder länger nicht mehr in
1859 Wien! Seither hat sich viel verändert!“
1861 Der Fremde war sofort im Bilde, nickte verständnisvoll, forderte
1862 ein Appartement auf die Ringstraße hinaus und füllte dann den
1863 Meldezettel aus.
1865 „Henry Dufresne, Kunstmaler aus Paris, 29 Jahre alt, katholisch,
1866 ledig.“
1868 Monsieur Dufresne nahm ein Bad, kleidete sich um, pfiff dabei
1869 vergnügt einen Pariser Gassenhauer vor sich hin, ließ sich ein
1870 vorzügliches Frühstück auf dem Zimmer servieren und verließ dann so
1871 gegen zehn Uhr vormittags ersichtlich aufgeräumt das Hotel.
1873 Der Franzose mit dem Knebelbärtchen kannte sich in Wien entschieden
1874 gut aus, denn er schwang sich ohne jemanden zu fragen, auf einen
1875 Straßenbahnwagen, und er mußte auch die deutsche Sprache vorzüglich
1876 beherrschen, denn man sah ihm an, daß er den Gesprächen der
1877 Umstehenden interessiert lauschte. Als eine alte Frau über die
1878 Teuerung zu \pagenum{67} jammern begann und arg auf die hohe
1879 Obrigkeit schimpfte, klopfte Herr Dufresne sie auf die Schulter und
1880 meinte in tadellosem Deutsch und wienerischem Akzent besänftigend:
1882 „Wie kann man nur so was sagen, Mutterl, wir müssen doch alle froh
1883 und glücklich sein, weil wir die Juden losgeworden sind.“
1885 Aber das Mutterl begehrte jetzt erst recht auf.
1887 „Mir ham? die Juden nie was g?tan! Wegen meiner hätten s? in Wien
1888 bleiben können. A so a gute Bedienung hab? i bei an jüdischen Herrn
1889 g?habt und alleweil, wann er a Madl mit nach Haus g?bracht und an
1890 Unordnung g?macht hat, hat er mir an Hunderter extra g?schenkt.
1891 Leben und leben lassen, hat er immer g?sagt und recht hat er
1892 g?habt!“
1894 Die Leute auf der Plattform lachten und ein biederer Mann mit einer
1895 weinselig funkelnden Nase meinte bestätigend:
1897 „Ja, das derf man schon sagen, es hat auch anständige Leut? unter
1898 den Juden ?geben!“
1900 Ein eigenartiges Lächeln spielte um den Mund des Franzosen, der nun
1901 ausstieg und langsam zu Fuß die Währingerstraße entlang
1902 schlenderte, dann in die Nußdorferstraße einbog, mitunter vor einer
1903 Auslage kopfschüttelnd stehen blieb, die Preise der ausgestellten
1904 Waren zur Kenntnis nahm und so schließlich in die Billrothstraße
1905 kam, die im weiteren Verlauf nach den rebenreichen Vororten
1906 Sievering und Grinzing führt.
1908 Ein Zettel am Haustor eines modernen Zinspalastes in der
1909 Billrothstraße fesselte seine Aufmerksamkeit.
1911 \pagenum{68}„Kleine, elegant möblierte Wohnung mit Atelier
1912 sofort zu vermieten. Auskunft erteilt der Portier.“
1914 Kurz entschlossen betrat Herr Dufresne das Haus und suchte den
1915 Portier auf, der ihn mittelst Lift nach dem fünften Stock führte
1916 und die Wohnung zeigte. Sie bestand aus einem Schlafzimmer, einem
1917 als Herrenzimmer eingerichteten Salon, an den sich ein
1918 atelierartiger, großer Raum mit Glasdach schloß. Auch ein
1919 Badezimmer war vorhanden.
1921 „Wie kommt es, daß die Wohnung leer steht?“
1923 „I, du meine Güte,“ rief der Portier, „in Wien stehen jetzt an die
1924 zwanzigtausend Wohnungen leer! Diese da hat ein Architekt, ein Herr
1925 Rosenbaum, gehabt, der mit den anderen Juden fort mußte. Der
1926 Hausherr hat ihm die Möbel abgekauft, konnte aber bis heute keinen
1927 Mieter finden, weil keine Küche dabei ist.“
1929 Nach weiteren fünf Minuten hielt der Portier einen
1930 Zehntausendkronenschein als Angabe in der Hand, und Herr Dufresne
1931 war Besitzer der Wohnung. Als er jetzt mit beschleunigten Schritten
1932 gegen Grinzing ging, wirbelte er vergnügt sein Spazierstöckchen in
1933 der Luft und murmelte vor sich hin: „Der Anfang ist gut, besser
1934 hätte ich es mit der Wohnung gar nicht treffen können.“ Je näher er
1935 aber Grinzing kam, desto erregter wurde er, seine Wangen färbten
1936 sich rot und seine braunen lustigen Augen leuchteten wie im Fieber.
1937 Nun hatte er die Kobenzlgasse erreicht und seine Schritte wurden
1938 langsam, fast schleppend, wie die eines Mannes, der einem
1939 schicksalsschweren Augenblick entgegengeht. Vor dem Hause des
1940 Hofrates Spineder blieb \pagenum{69} er tiefatmend stehen und
1941 zog sich den grauen Kalabreserhut in die Stirne, daß man nur mehr
1942 seinen Knebelbart und das Kinn sah. Unschlüssig ging er auf und ab,
1943 mitunter nervös auf die Armbanduhr sehend, die auf halb zwölf wies.
1944 Gerade als er wieder vor dem grünen Tor stand, ging dieses auf und
1945 ein Dienstmädchen verließ das Haus. Und eben in diesem Augenblick,
1946 als das Tor offen stand, sah Herr Dufresne, wie von der links im
1947 Hofe gelegenen Wohnungstür ein junges, weißgekleidetes Mädchen mit
1948 goldblonden Haaren, die kein Hut verdeckte, in der Hand ein Buch,
1949 den Hof nach rückwärts durchschritt und den Garten aufwärts ging.
1951 „Hurra!“ schrie der Mann mit dem Knebelbart in sich hinein und sein
1952 Kriegsplan war fertig. Rechts vom Spinederschen Grundstück lag, von
1953 ihm durch einen Holzzaun getrennt, ein langer, leerer Bauplatz,
1954 seit dem Kriege provisorisch in einen riesigen Gemüsegarten
1955 verwandelt. Der Länge nach zog sich dieser Gemüsegarten bis hoch
1956 hinauf zum Lusthäuschen auf der höchsten Stelle des
1957 Spinedergartens. Auf der anderen Längsseite war das Grundstück
1958 ebenfalls durch einen Holzzaun von einer Nebengasse der
1959 Kobenzlgasse getrennt, aber dieser Zaun war verwahrlost und wies
1960 mehrfach Unterbrechungen auf. Durch eines der Löcher kroch nun der
1961 Franzose, eilte mit langen Sätzen den Gemüsegarten aufwärts, wobei
1962 er links von sich das blonde Mädchen gehen sah und es bald hinter
1963 sich ließ. Nun war Herr Dufresne ganz oben, mit einem Ruck schwang
1964 er sich über den Zaun in den Garten des Hofrates Spineder hinüber
1965 und versteckte sich hinter einem mächtigen Lindenbaum,
1966 \pagenum{70} der mitten im Weingarten stand. Einige Minuten
1967 später war das Mädchen beim Baum angelangt, aber es konnte den Mann
1968 hinter dem Baum nicht sehen. Bis plötzlich Unerwartetes geschah.
1969 Herr Dufresne rief halblaut: „Lotte!“ Und als Lotte Spineder
1970 erschreckt und verwirrt stehen blieb und sich umsah, rief er
1971 wieder: „Lotte! Ich bin es, um Himmelswillen erschrick nicht!“
1973 Im nächsten Augenblick hielt der Herr mit dem Knebelbart Lotte, die
1974 schneeweiß geworden war und zu schwanken begonnen hatte, in seinem
1975 Arm. Und immer wieder preßte er seinen Mund auf ihre kalten Lippen,
1976 bis sich ihre Wangen färbten und sie ihn, am ganzen Körper bebend,
1977 fest umklammerte, als wollte man ihn ihr entreißen.
1979 Und nun saßen sie im Lusthäuschen, Leo Strakosch hielt Lotte auf
1980 seinem Schoß und erzählte in fliegenden Worten:
1982 „Ja, Lottchen, ich bin es, und dir zuliebe habe ich mir diesen
1983 entsetzlichen Napoleonbart plus Schnurrbart wachsen lassen. Ich
1984 habe es einfach vor Sehnsucht nach dir nicht mehr ausgehalten, und
1985 als mir dein Vater schrieb, daß er ernstlich um deine Gesundheit
1986 besorgt sei und es für richtiger halte, wenn wir den Briefwechsel,
1987 der in dir alle Wunden immer wieder aufreiße, einstellen würden,
1988 war mein Plan gefaßt. Ich vertraute mich einem lieben, guten
1989 Kameraden, Henry Dufresne, der für mich ins Feuer gehen würde, an,
1990 ließ mir den Knebelbart, wie er ihn hat, stehen und bekam von ihm
1991 sämtliche Papiere, als da sind: Taufschein, Heimatschein,
1992 Militärzeugnis und den ordnungsgemäß von der österreichischen
1993 Gesandtschaft in Paris \pagenum{71} vidierten Paß. Wir sahen
1994 durch den Bart einander so ziemlich ähnlich, so daß er es riskieren
1995 konnte, sich seinen Paß mit meiner Photographie zu besorgen. Und
1996 meine Unterschrift hat er nachgemacht und nicht ich seine. Der gute
1997 Junge hat natürlich allen Freunden und Bekannten erzählt, daß er
1998 nach Wien fährt, in Wirklichkeit ist er auf das Gut seines Onkels
1999 in Südfrankreich gegangen, wo er ein Jahr bleibt. Und genau so
2000 lange, als er dort ist, kann ich hier in Wien als Henry Dufresne
2001 leben.“
2003 Lotte schluchzte und lachte in einem Atem.
2005 „Leo, ich bin ja so namenlos glücklich! Aber ich habe auch solche
2006 Angst um dich! Du weißt, es steht die Todesstrafe auf die verbotene
2007 Rückkehr – was, wenn sie dich erwischen?!“
2009 „Ganz ausgeschlossen, mein Lieb! Die wenigen Freunde, die ich
2010 hatte, sind Juden und mußten so wie ich das Land verlassen.
2011 Außerdem bin ich tatsächlich durch den Bart unkenntlich, besonders,
2012 wenn ich ein Monokel trage. Und selbst wenn jemand käme und
2013 behaupten würde, daß ich Leo Strakosch bin – ich würde einfach
2014 leugnen und niemand könnte mich überführen, denn mein Paß ist echt,
2015 die Unterschrift ist echt, und wenn man bei der Polizei in Paris
2016 anfragen sollte, so würde man die Auskunft bekommen, daß Henry
2017 Dufresne mit Reisepaß nach Wien abgereist sei.“
2019 „Aber Papa und Mama?“ fragte Lotte nach etlichen herzhaften Küssen,
2020 die ihr trotz Schnurrbart und Mouche wohl taten.
2022 \pagenum{72}„Die dürfen natürlich nicht ein Sterbenswörtchen
2023 erfahren, Lotte“, meinte Leo ernst. „Nicht, daß sie mich anzeigen
2024 würden! Aber dein Papa ist zu sehr Beamter und Hofrat, um mir eine
2025 solche Mystifikation nicht übel zu nehmen, und außerdem würde er
2026 unter keinen Umständen dulden, daß wir zusammenkommen, sondern mich
2027 beschwören, wieder fortzufahren. So aber werden wir uns täglich
2028 sehen, nicht wahr, Lotte?“
2030 Und Leo erzählte ihr von der behaglichen, kleinen Wohnung, die er
2031 eben gemietet und schilderte, wie sie dort täglich ein paar
2032 Stunden, so lange Lotte sich eben würde freimachen können, zusammen
2033 verbringen würden. Lotte war nur über und über rot geworden, aber
2034 sie sah in die ehrlichen und treuen Augen ihres Bräutigams und
2035 wußte, daß sie auch ganz allein mit ihm in guter Hut sein würde.
2037 Lotte konnte jeden Augenblick im Garten gesucht werden und Leo
2038 mußte verschwinden. Bevor sie aber Abschied nahmen, bewölkte sich
2039 wieder die weiße Stirne des Mädchens.
2041 „Leo, du hast nun deine glänzende Karriere in Paris aufgegeben! Was
2042 aber willst du hier in Wien tun, wie bei dieser schrecklichen
2043 Teuerung, über die nun auch Papa zu klagen beginnt, deinen
2044 Unterhalt bestreiten?“
2046 Leo lachte so vergnügt und laut, daß ihm Lotte erschreckt die
2047 Finger auf den Mund legte. Was er für eine Aufforderung nahm, die
2048 kleinen rosigen Finger zu küssen. Er tat es reichlich und sagte
2049 dann:
2051 „Mein Liebes, was ich hier tun werde? Arbeiten, und zwar tüchtig,
2052 und ungeheuer viel Geld sparen, weil diese \pagenum{73} Wiener
2053 Teuerung, in Franken umgerechnet, lächerlich billig ist. Du mußt
2054 nämlich wissen, daß ich von der größten Pariser Verlagsfirma den
2055 Auftrag bekommen habe, eine neue Gesamtausgabe der Werke Zolas zu
2056 illustrieren. Glänzende Bedingungen, sage ich dir. Sechzigtausend
2057 Francs, wovon ich die Hälfte bei Abschluß der Vertrages bekommen
2058 habe. Die andere Hälfte erhalte ich, wenn ich die zweihundert
2059 Zeichnungen abliefere, und das muß in einem Jahr sein. Also, du
2060 siehst wieder einmal: Wir Juden sind schlau und wissen, wo unser
2061 Vorteil bleibt!“
2063 Leo kroch über den Zaun zurück und Herr Dufresne besorgte noch am
2064 selben Tag seinen Umzug nach der Billrothstraße. Hofrat Spineder
2065 und seine Gattin stellten aber mit Befriedigung fest, daß ihr
2066 Töchterchen zum erstenmal seit Jahr und Tag guter Laune war und
2067 heiter vor sich hinsang.
2069 „Du wirst sehen,“ sagte der Hofrat seiner Gattin, „Lotte schlägt
2070 sich nach und nach die ganze traurige Geschichte aus dem Kopf! Der
2071 arme Bursch? tut mir ja leid, aber es ist besser so. Übrigens hat
2072 er mir ja auch ganz vernünftig geschrieben und versprochen, den
2073 Briefwechsel mit Lotte aufzugeben.“
2075 Die Frau Hofrätin schüttelte verwundert das Haupt und dachte: Wie
2076 doch die Mädchen von heute ganz anders sind! Ich würde an Lottes
2077 Stelle meine Liebe nicht überwunden haben!
2079 \tb{* * *}
2080 \pagenum{74}Die „Weltpresse“, einst das Blatt des liberalen
2081 Bürgertums, jetzt das Hauptorgan der christlichsozialen Partei,
2082 erhielt eine Zuschrift von dem Besitzer des Hauses Billrothstraße
2083 19, in der in scharfer und logischer Weise gegen den Fortbestand
2084 des Mieterschutzgesetzes Stellung genommen wurde. „Das
2085 Mieterschutzgesetz“, hieß es in der Zuschrift, „hatte Zweck und
2086 Sinn, als Wohnungsnot herrschte und die Bevölkerung davor geschützt
2087 werden mußte, durch die Habgier einzelner Hausbesitzer obdachlos
2088 gemacht zu werden. Heute gibt es keinen Mangel an Wohnungen mehr;
2089 dank dem segensreichen Antijudengesetz unseres hochverehrten
2090 Bundeskanzlers sind wieder normale Verhältnisse eingetreten, es ist
2091 der notwendige Überschuß an Wohnungen vorhanden, und so erübrigt
2092 sich dieses Mieterschutzgesetz, das nur mehr einen brutalen
2093 Eingriff in die Rechte der Hausbesitzer bildet, ja sogar einen
2094 Verfassungsbruch. Sicher werden nach Aufhebung des Gesetzes
2095 Steigerungen der Mietzinse eintreten, was nur gerechtfertigt wäre
2096 und schließlich der Allgemeinheit zugute käme, denn von den höheren
2097 Mietzinsen sind höhere Steuern zu zahlen und mit höheren
2098 Mietpreisen steigt der Wert der Häuser. Es ist charakteristisch,
2099 daß es ein in meinem Hause wohnender, vornehmer französischer
2100 Künstler ist, der mir sein Entsetzen über dieses Mieterschutzgesetz
2101 ausdrückte. Er erklärte, daß man sich in französischen
2102 Kapitalistenkreisen über dieses Gesetz lustig mache, das unter
2103 anderem auch verhindert, daß Ausländer ihr Geld in Wiener Häusern
2104 anlegen. Also fort mit dem Mieterschutzgesetz! Die vornehme
2105 christliche Gesinnung der Wiener Hausbesitzer, vor allem aber das
2106 Gesetz \pagenum{75} von Angebot und Nachfrage werden automatisch
2107 ein allzu starkes Hinaufschnellen der Mietpreise verhindern.“
2109 Die Zuschrift erschien an auffallender Stelle in der „Weltpresse“
2110 mit einem redaktionellen Zusatz, in dem sehr vorsichtig die Ansicht
2111 des geehrten Einsenders gebilligt, ihr aber gleichzeitig auch sanft
2112 widersprochen wurde. Denn man wollte weder die Hausbesitzer noch
2113 die Mieter vor den Kopf stoßen.
2115 Von da an begann ein lebhafter öffentlicher Gedankenaustausch, es
2116 hagelte von Zuschriften und immer stürmischer wurde der Ruf der
2117 Hausbesitzer nach Aufhebung des Mieterschutzgesetzes, Einräumung
2118 des Kündigungsrechtes und der individuellen Mietsteigerung. Herr
2119 Windholz, der Besitzer des Hauses in der Billrothstraße, war
2120 plötzlich eine gewichtige Persönlichkeit geworden, der Verein der
2121 Hausbesitzer wählte ihn zum Vorstand und täglich kam er zu seinem
2122 vornehmen französischen Mieter, Herrn Dufresne, um sich bei ihm Rat
2123 zu holen. Herr Strakosch, \latein{alias} Dufresne, aber hetzte
2124 munter weiter und sagte eines Tages mit Emphase:
2126 „Wenn sich die Hausbesitzer noch weiter diese Versklavung gefallen
2127 lassen, so halte ich sie alle zusammen für alberne Waschlappen und
2128 ich werde eine Stadt verlassen, in der solche Zustände möglich
2129 sind.“
2131 „Ja, was sollen wir nur tun,“ meinte Herr Windholz kleinmütig,
2132 „wenn die Regierung absolut unseren Wünschen nicht entsprechen
2133 will?“
2135 „Was Sie tun sollen? Ich werde es Ihnen sagen! Heute noch trommeln
2136 Sie Ihren Verein zusammen und \pagenum{76} fassen den Beschluß,
2137 der Regierung ein dreitägiges Ultimatum zu stellen. Stellt sie bis
2138 dahin die Freizügigkeit im Wohnungsverkehr nicht wieder her, so
2139 wird von den Hausbesitzern gestreikt! Sie führen keine Steuern ab,
2140 unterlassen die Hausbeleuchtung und Reinigung, verweigern die
2141 Bezahlung der Hypothekarzinsen, kurzum, Sie sabotieren den Staat!“
2143 Herr Windholz war begeistert, umarmte den Franzosen und versicherte
2144 ihm, daß er keinesfalls im Zinse gesteigert werden würde.
2146 Es geschah ganz nach dem Programm des Herrn Dufresne. Der Verein
2147 der Wiener Hausbesitzer beschloß einstimmig das Ultimatum und die
2148 Regierung fiel um. Vergebens versicherte Doktor Schwertfeger, daß
2149 die Aufhebung des Mieterschutzgesetzes die unheilvollsten Folgen
2150 haben werde, er wurde von seinen Ministerkollegen überstimmt. Wie
2151 die „Arbeiter-Zeitung“ boshaft behauptete, in erster Linie deshalb,
2152 weil der Finanzminister, der Unterrichtsminister und der
2153 Handelsminister mehrfache Hausbesitzer waren.
2155 Das Mieterschutzgesetz, das den Hausbesitzern sowohl die Kündigung
2156 der Mieter als die willkürliche Erhöhung der Mietpreise untersagte,
2157 fiel also, und vierundzwanzig Stunden später fand eine stürmische
2158 Generalversammlung der Hausbesitzer statt, in der beschlossen
2159 wurde, die derzeitigen Mietpreise der Teuerung halbwegs
2160 entsprechend auf das Tausendfache zu erhöhen. Eine Art Rütlischwur
2161 verpflichtete zur unbedingten Einhaltung dieses Beschlusses.
2163 \pagenum{77}Die Bevölkerung, die ja nur zum geringsten Teile aus
2164 Hausbesitzern besteht, geriet in Tobsucht. Arbeiterfamilien mußten
2165 nunmehr eine halbe Million im Jahr für ihre Wohnung bezahlen, eine
2166 kleine Mittelstandswohnung kostete nicht unter einer ganzen
2167 Million! Die Organisation der Hausfrauen, die Gewerkschaften, der
2168 Verband der Festangestellten, die Kriegsinvaliden und Kriegswitwen,
2169 der Bund der Gewerbetreibenden, sie alle veranstalteten
2170 Massendemonstrationen, und durch volle acht Tage wurde in Wien und
2171 den Provinzstädten überhaupt nicht gearbeitet, sondern vom Morgen
2172 bis in die Nacht demonstriert. Die Zahl der eingeschlagenen
2173 Fensterscheiben wuchs erschreckend, und zum erstenmal seit einer
2174 geraumen Anzahl von Jahren hörte man auf der Straße den Ruf:
2176 „Nieder mit der Regierung!“
2178 Die christlichen Blätter ebenso wie die deutschnationalen verloren
2179 massenhaft Leser, während der Weizen der „Arbeiter-Zeitung“ wieder
2180 zu blühen begann.
2182 \tb{* * *}
2183 Herr \Zwickerl{} war schlechter Laune und stocherte wütend in seinem
2184 Kirschenstrudel umher, der auf dem Teller vor ihm lag. Frau
2185 \Zwickerl{} sah Sturm kommen und beugte vor.
2187 „Anton, was is dir denn wieder über die Leber gelaufen? Geht das
2188 Geschäft nicht?“
2190 Das war für Herrn \Zwickerl{} zu viel. Er schob den Kirschenstrudel
2191 fort, wurde röter im Gesicht als die Kirschen im Strudel und
2192 brüllte:
2194 \pagenum{78}„Oh ja, das G?schäft geht! Zum Teufel nämlich geht
2195 es! Damit du nur weißt, Konkurs muß ich ansagen!“
2197 „Jessasmariandjosef!“ kreischte Frau \Zwickerl{} auf. „Wie ist denn
2198 das möglich?! Es ist doch immer g?steckt voll im Laden und alle
2199 Leut? glauben, daß du eine Goldgruben von dem Juden, dem Leßner,
2200 übernommen hast!“
2202 „Ja,“ höhnte \Zwickerl{}, „eine Goldgruben voll mit Dreck! Je mehr die
2203 Leut? kaufen, desto mehr verlier? ich! Weißt was? Daran san die
2204 verfluchten Valuten schuld! Kronen, schäbige Kronen krieg? ich
2205 herein und Mark und tschechische Kronen und Franken fliegen hinaus.
2206 Zehntausend Meter Batist kauf? ich in Reichenberg und nach acht
2207 Tagen kommt der Verkäufer von der Abteilung und strahlt über das
2208 ganze blöde Gesicht und sagt: „Herr \Zwickerl{}, die Ware fliegt einem
2209 nur so aus der Hand! Morgen haben wir nicht mehr einen Meter im
2210 Haus!“
2212 „Schön, denk? ich mir und geh? in die Buchhaltung, und wie wir
2213 nachrechnen, sehen wir, daß ich, weil die tschechische Krone wieder
2214 gestiegen ist, bei jedem Meter tausend Kronen verloren hab?. Und
2215 das ist nur ein Beispiel von hunderten. Ich schlag? eh? bei jeder
2216 War? schon dreihundert Prozent auf und trotzdem, die Krone fällt
2217 rascher, als ich aufschlagen kann, Verluste, nichts als Verluste,
2218 und die Länderbank, die mir das Kapital zur Übernahme gegeben hat,
2219 fordert Rückzahlung und ich kann nicht zahlen, weil ich ein
2220 riesiges Defizit habe. Im Gegenteil, ich brauche wieder hundert
2221 Millionen, weil ich sonst nicht einkaufen kann!“
2223 \pagenum{79}Herr \Zwickerl{} hatte sich Luft gemacht und war
2224 besänftigt. Er zog den Kirschenstrudel an sich heran und machte ein
2225 pfiffiges Gesicht:
2227 „Weißt, Alte, wir braucheten einfach ein paar jüdische Banken, das
2228 ist alles! Früher, als ich noch mein kleines Geschäft in der
2229 Stumpergassen gehabt habe, da bin ich alleweil, wenn ich im Ausland
2230 kaufen mußte, zum krummen Kohn von der Hermesbank gegangen, wo mein
2231 Konto war, und der hat gesagt: Herr \Zwickerl{}, hat er gesagt, Sie
2232 müssen sich jetzt mit Mark eindecken, weil die Mark steigen wird;
2233 oder: die Krone wird fester kommen, hat er gesagt, kaufen Sie
2234 Kronen. Und immer ist es richtig so gewesen und ich hab? nicht nur
2235 an der Ware, sondern auch noch an der Valuta verdient! Aber jetzt –
2236 die Affen, die jetzt in der Bank beieinandersitzen, kennen sich
2237 selber net aus und i kenn? mi? auch net aus und alles geht kaput,
2238 sag? ich dir!“
2240 Herr \Zwickerl{} gehörte zu den vielen kleinen Geschäftsleuten, die
2241 durch das Antijudengesetz mächtig in die Höhe gekommen waren. Mit
2242 Hilfe der urchristlich gewordenen Länderbank hatte er, der kleine
2243 Dutzendkaufmann, das große Warenhaus in der Mariahilferstraße an
2244 sich bringen können, und das erste Halbjahr war alles eitel Wonne
2245 gewesen. Wenn Herr \Zwickerl{} auf der Galerie des Kaufhauses stand
2246 und auf den Menschenschwarm hinabsah, kam er sich wie ein kleiner
2247 König vor und er berauschte sich ordentlich an dem Klingeln der
2248 Registrierkassen, dem Knistern der Seide und dem Stimmengewirr. Und
2249 allabendlich leerte er beim Nachtessen sein Weinglas auf das
2250 \pagenum{80} Wohl des Schwertfeger, und immer wieder sagte er zu
2251 seiner Frau, die jetzt nur mehr in Glacéhandschuhen kochte:
2253 „Alte, da sieht man es am besten, wie uns die Juden ausgesaugt
2254 haben! Die Juden haben die großen Geschäfte gehabt und wir Christen
2255 konnten im finsteren Laden schuften und darben. Gottlob, daß das
2256 aufgehört hat!“
2258 Aber schon die erste Semestralbilanz brachte dem Herrn \Zwickerl{}
2259 arge Enttäuschung. Trotz der enormen Umsätze und des gefüllten
2260 Kaufhauses war von einem Gewinn keine Rede, immer wieder hatte man
2261 sich beim Einkauf im Ausland so oder so verspekuliert. Und mehr als
2262 einmal hatte Herr \Zwickerl{} in sich hineingeseufzt: An ordentlichen
2263 Juden, wenn ich hätt?, der was mich beraten tät?!
2265 Herr \Zwickerl{} mußte tatsächlich Konkurs anmelden, das Geschäft
2266 wurde geschlossen und von einem Grundbesitzer aus der
2267 Gumpoldskirchner Gegend übernommen, der aus dem großen Haus eine
2268 riesige Stehweinhalle machte.
2270 In den Jahren, die dem Kriegsende und dem Umsturz gefolgt waren,
2271 hatte sich Wien immer mehr zur Zentrale des mitteleuropäischen
2272 Luxus entwickelt und das Leben gewisser Schichten eine Üppigkeit
2273 angenommen, die in der ganzen Welt als beispiellos besprochen
2274 wurde. Die breiten Massen der Wiener Bevölkerung aber, nicht nur
2275 die Arbeiter, sondern auch das mittlere Bürgertum, hatten
2276 zähneknirschend gesehen, wie sich die fremden Elemente, vor allem
2277 die Juden aus Galizien, Rumänien und Ungarn, als Herren Wiens
2278 aufspielten, mit dem für sie fast wertlosen österreichischen Geld
2279 um sich warfen, Champagner tranken, wo der kleine Mann kaum noch
2280 das Glas Bier \pagenum{81} zahlen konnte, ihre Weiber mit Perlen
2281 und Pelzen behängten, während die wirklich gute Gesellschaft den
2282 alten Familienschmuck stückweise verkaufen mußte, in prachtvollen
2283 Luxusautomobilen durch die Straßen rasten, den bodenständigen
2284 Wienern die Wohnungen wegnahmen und mit ihrem lärmenden protzigen
2285 Gehaben die alte kultivierte Stadt erfüllten.
2287 Als die Juden fortgetrieben waren, änderte sich das alles von Tag
2288 zu Tag auf das gründlichste. Der sinnbetörende Luxus verschwand,
2289 der Wiener Ausverkauf stockte, man mußte sich nicht mehr anstellen,
2290 um einen Platz im Opernhaus zu ergattern, das Leben wurde stiller,
2291 solider, einfacher. Bis es sich zeigte, daß eine Stadt wie Wien
2292 ohne Luxus nicht leben kann. Zuerst hatten die christlichen
2293 Geschäftsleute, die die Kaufläden der Juden übernahmen, sich auch
2294 deren Automobile bemächtigt, es schien der Wohlstand derselbe
2295 geblieben zu sein und nur eine Umgruppierung erfahren zu haben, und
2296 der Jubel, mit dem die Wiener es begrüßten, daß sie nicht bei jedem
2297 Schritt auf jüdische Schieber stoßen mußten, war ebenso ehrlich als
2298 begreiflich. Als dann aber bald die Krone wieder ins Uferlose fiel
2299 und die Teuerung neue Wellen zog, als alles das, was eben auf
2300 äußersten Luxus eingestellt war, wie die vornehmen Geschäfte, die
2301 Kabaretts, die Theater, die fürstlichen Restaurants und Bars,
2302 einging, als die Arbeitslosigkeit um sich griff und der Export nach
2303 dem Ausland immer geringer wurde, da begann auch das äußere Leben
2304 flügellahm zu werden. Die Zehntausende von Automobilen, die aus
2305 jüdischen Händen in christliche \pagenum{82} übergegangen waren,
2306 wurden für eine Handvoll Lire oder Franken ins Ausland verkauft,
2307 weil bei dem schlechten Geschäftsgang das Benzin unerschwinglich
2308 wurde, die Kunsthändler klagten über völlige Geschäftslosigkeit,
2309 das Defizit der Staatstheater wuchs riesenhaft, christliche
2310 Künstler und Gelehrte von Ruf, vor allem aber die großen Ärzte,
2311 zogen ins Ausland, weil das Inland ihnen nicht mehr die Honorare
2312 bezahlen konnte und wollte, die sie von den jüdischen Zeiten her
2313 gewohnt waren.
2315 Und unaufhaltsam griffen Mißmut, Unzufriedenheit und die
2316 Erkenntnis, auf einer abschüssigen Bahn zu gehen, um sich.
2318 \tb{* * *}
2319 An einem herrlichen Junitag ging Leo Strakosch als Franzose
2320 Dufresne nach dem Stadtpark, um wieder einmal Fühlung zum Wien von
2321 heute zu bekommen. Sonst verließ er den neunzehnten Bezirk kaum, da
2322 er entweder in seinem Atelier arbeitete oder aber mit Lotte
2323 ausgedehnte Spaziergänge im Wienerwald unternahm. Als er heute nun
2324 zwischen den dichtbesetzten Tischen um den Kursalon herum
2325 spazierte, war er so belustigt, daß er laut auflachte.
2327 „Um Himmels willen, was ist aus meinem schönen eleganten Wien
2328 geworden!“
2330 Die Mode des Alpenkleides und Touristenanzuges schien allgemein
2331 geworden zu sein; so weit das Auge reichte, sah er alte und junge
2332 Herren in Loden, Kniehosen und mit dem grünen Steirerhütl auf dem
2333 Kopf. Und die \pagenum{83} Damen! Die Mehrzahl trug
2334 Dirndlkostüme, die ja im freien Gelände sehr nett und anmutend
2335 wirken, hier aber wie Karikaturen, wie schlechte Witze erschienen.
2336 Man war eben sehr bescheiden geworden, und vor allem bildete man ja
2337 eine einzige große Familie, war unter sich und hatte es nicht
2338 notwendig, sich „herzurichten“.
2340 Hie und da sah man auch noch elegant gekleidete Damen und Herren;
2341 sie fielen aber auf, man konnte von den Älpler-Tischen bissige
2342 Bemerkungen über sie hören, und Strakosch wurde es fast unheimlich
2343 zumute, als er sah, wie ihn dieses oder jenes „Dirndl“ durch ein
2344 Lorgnon anstierte, wahrscheinlich nur deshalb, weil sein
2345 dunkelblauer Anzug, die Lackstiefel und die kostbare Seidenkrawatte
2346 auffielen.
2348 Die elektrische Straßenbahn, städtische Musik und Dirndln, die ein
2349 Lorgnon tragen – Leo schüttelte sich. Er eilte aus dem Stadtpark
2350 fort über die Ringstraße, fand auch das Bild, das die Kaffeehäuser
2351 boten, trostlos, grinste, als er wahrnahm, daß die meisten Leute
2352 einander mit „Heil“ begrüßten und mußte lange suchen, bis er ein
2353 Autotaxi fand. Denn auch diese Mietwagen waren ein Luxus geworden,
2354 der so wenig Benutzer hatte, daß die meisten ihr Geschäft
2355 aufgaben.
2357 Spät abends, als die Sonne schon langsam unterging, traf er Lotte
2358 verabredetermaßen am Rande des Kobenzlwaldes. Sie ließen sich auf
2359 einer Bank nieder, und nachdem sie sich sattgeküßt, erzählte Lotte,
2360 daß ihre Eltern beschlossen hatten, schon in der nächsten Woche
2361 nach ihrer kleinen Villa am Wolfgangsee zu übersiedeln.
2363 \pagenum{84}„Was soll nur aus uns werden,“ klagte Lotte, „wie
2364 soll ich es ertragen, dich den ganzen Sommer nicht zu sehen?“
2366 „Davon kann auch keine Rede sein, Lieb. Ich werde eben auch
2367 ausspannen, und wenn du in St. Gilgen bist, werde ich in Wolfgang
2368 wohnen und jeden Tag wirst du herüberkommen und wir werden
2369 wenigstens eine Stunde beisammen sein.“
2371 „Hm,“ meinte Lotte vergnügt, „das läßt sich ja hören! Aber jetzt
2372 muß ich dir auch sagen, daß ich gestern eine Auseinandersetzung mit
2373 Papa hatte. Stelle dir nur vor, plötzlich sah mich Papa scharf an
2374 und sagte sehr ernst: Lotte, wo treibst du dich eigentlich
2375 neuerdings immer stundenlang allein herum? Du weißt, wir lassen dir
2376 alle mögliche Freiheit, aber was zu viel ist, ist zu viel!
2378 Also, ich fühlte, wie ich blutrot wurde und dachte, das beste ist,
2379 ich beichte.“
2381 „Was,“ unterbrach sie Leo entsetzt, „du hast deinem Vater
2382 erzählt\ldots{}?“
2384 „Ausreden lassen, Aff?“, lachte Lotte und zwickte ihn in das Ohr.
2385 „Ich beichtete also, aber natürlich nur das, was mir paßte. Ich
2386 sagte dem Papa, daß ich bei der Erna einen sehr feinen jungen Mann
2387 kennen gelernt habe, den ich ebenso gut leiden mag, wie er mich und
2388 daß ich ihn oft treffe, um mit ihm spazieren zu gehen. Er sei ein
2389 Franzose, namens Henry Dufresne, der hier große Geschäfte mache.
2391 Der Papa war zuerst ganz sprachlos, dann fragte er mich, warum ich
2392 den Franzosen nicht zu uns einlade. \pagenum{85} Darauf
2393 erwiderte ich, daß ich meiner Gefühle noch nicht sicher sei und
2394 deshalb der Sache keinen offiziellen Anstrich geben wolle. Und zum
2395 Schlusse meinte ich ganz empört:
2397 Papa, du weißt doch, daß du dich auf mich verlassen kannst! Ich tue
2398 sicher nichts Unrechtes, und wenn ich es für gut und notwendig
2399 halten werde, so wird Henry schon zu euch kommen! Jetzt aber laßt
2400 mich meine Wege allein gehen.
2402 Papa war darauf sehr lieb und nett und Mama auch, und später hörte
2403 ich, wie der Papa der Mama sagte: „Ich hätte nicht gedacht, daß
2404 Lotte den armen Leo so rasch und gründlich vergessen würde. Aber
2405 ich bin sehr glücklich darüber, daß sie eine neue Neigung gefaßt
2406 hat und wir wollen ihr nichts in den Weg legen.“
2408 Und Mama, die dich doch so gerne hat, meinte kopfschüttelnd: „Ich
2409 versteh? das Mädel gar nicht! Sie hat wirklich schon wieder rote
2410 Wangen bekommen und trällert den ganzen Tag umher, als wäre ihr nie
2411 ein Herzleid widerfahren.“
2413 Weißt du, Leo, es ist sicher nicht schön von uns, daß wir meine
2414 Eltern so an der Nase herumführen, aber ich bin ja so glücklich,
2415 daß du hier in Wien bist!“
2417 Leo zog Lotte an sich, küßte sie gründlich ab und sagte dann mit
2418 wichtiger Miene:
2420 „Jetzt gehen wir aufs Land, und wenn ich dann wieder hier bin, dann
2421 werde ich die ganze Stadt an der Nase herumzerren, aber tüchtig,
2422 sage ich dir! Mehr kann \pagenum{86} ich dir heute noch nicht
2423 verraten, aber du wirst deine Wunder erleben!“
2425 Dieser Sommer tröstete die Wiener zum zweitenmal für das viele
2426 Ungemach und die argen Enttäuschungen, die sie erleben mußten.
2427 Gerade die schönsten Plätze und Orte in dem klein gewordenen
2428 Österreich waren in den früheren Jahren zum Pachtgut der Juden
2429 geworden. Das ganze herrliche Salzkammergut, das Semmeringgebiet,
2430 sogar Tirol, soweit es einigen Komfort bot, waren von
2431 österreichischen, tschechoslowakischen und ungarischen Juden
2432 überflutet gewesen; in Ischl, Gmunden, Wolfgang, Gilgen, Strobl, am
2433 Attersee und in Aussee erregte es direkt Aufsehen, wenn Leute
2434 auftauchten, die im Verdacht standen, Arier zu sein. Die
2435 christliche Bevölkerung, zum Teil weniger im Überfluß schwelgend,
2436 zum Teil auch großen Geldausgaben konservativer gegenüberstehend,
2437 fühlte sich nicht ohne Unrecht verdrängt und mußte mit den
2438 billigeren, aber auch weniger schönen Gegenden in Niederösterreich,
2439 Steiermark oder in entlegenen Tiroler Dörfern vorlieb nehmen. Das
2440 war seit der Judenvertreibung anders geworden. Es gab in den
2441 schönsten Sommerfrischen keine Überfüllung, die Städter bekamen
2442 auf ihre Nachfragen höfliche und eilige Antworten, und trotz der
2443 sonstigen Teuerung waren die Wohnungs- und Zimmerpreise erheblich
2444 billiger als vor zwei Jahren. Und so schwärmte denn alles, was Geld
2445 und Zeit hatte, in jene Gegenden, die dem bodenständigen Wiener
2446 früher verleidet worden waren.
2448 Die Besitzer der großen Etablissements, Kuranstalten und
2449 sogenannten Sanatorien schnitten allerdings sauere \pagenum{87}
2450 Mienen. Sie hatten immer von dem internationalen Judentum gelebt,
2451 ihr ganzer Betrieb war auf jene Menschen eingestellt, die nicht
2452 rechnen, wenn es sich um ihre Behaglichkeit handelt, und nun fanden
2453 sie, da sie auch bei gutem Willen nicht billig sein konnten, nicht
2454 genügend Gäste. Die großen Semmeringhotels eröffneten ihre Betriebe
2455 überhaupt nicht mehr und viele Hotels im Salzkammergut und Tirol
2456 sahen sich mitten im Sommer genötigt, zu sperren und ihr Personal
2457 zu entlassen. Das war ein Wermuttropfen im Becher der Freude und
2458 machte böses Blut unter der Landbevölkerung, die gewohnt war, ihre
2459 Produkte zu enormen Preisen den großen Hotels zu verkaufen und ihre
2460 Töchter und Söhne im Sommer ein schweres Stück Geld als
2461 Stubenmädchen und Hausdiener verdienen zu lassen.
2463 Der Bürgermeister von Semmering hatte den Mut, es in einer
2464 Gemeinderatssitzung offen herauszusagen:
2466 „Mit den Juden hat man bei uns den Wohlstand vertrieben, ein paar
2467 Jahre noch und wir werden zwar gute Christen, aber bettelarm
2468 sein!“
2470 \tb{* * *}
2471 Als der Sommer vorüber war und der Herbst die Blätter färbte,
2472 begann in fast schon gewohnter Weise die Krone neuerlich zu fallen
2473 und die Teuerung anzusteigen. Die Preise wurden phantastisch,
2474 selbst reiche Leute scheuten die Anschaffung eines neuen
2475 Kleidungsstückes, die Arbeiter, die Angestellten, ja auch die
2476 Arbeitslosen stellten neue Forderungen, eine Fahrt auf der
2477 Straßenbahn kostete \pagenum{88} schon tausend Kronen und ein
2478 Kilogramm Butter fünfzigtausend.
2480 Unter allgemeiner Verbitterung, Nervosität und Unruhe trat im
2481 Oktober die Nationalversammlung zusammen, und das Gesicht des
2482 Kanzlers Doktor Schwertfeger sah zerklüftet, durchfurcht, vergrämt
2483 aus. Als er sprach, herrschte nicht jene weihevolle Ruhe wie
2484 früher, sondern es wurden Rufe, Zwischenbemerkungen laut, sogar die
2485 Galerie machte sich durch Oho-Rufe bemerkbar und die kleine
2486 Opposition der Sozialdemokraten ließ sich nicht mehr einschüchtern,
2487 sondern griff immer wieder in die Debatte ein.
2489 Schwertfeger gab einen Überblick über die trostlose finanzielle
2490 Lage des Landes und fuhr dann fort:
2492 „Ich muß es rund heraussagen: Große und schwere Opfer stehen der
2493 christlichen Bevölkerung Österreichs bevor. (Zwischenruf von der
2494 Galerie: Natürlich nur den Christen, da wir ja die Juden
2495 hinausgeschmissen haben!) Opfer, die mit Mannesmut und Bürgertreue
2496 geleistet werden müssen! Die Regierung braucht zur Fortführung der
2497 Geschäfte Geld, und da wir vom Auslande keine weiteren Kredite
2498 bekommen können, müssen wir die Unsummen, die die Verwaltung, die
2499 Verzinsung der Schulden und die Unterstützung der Arbeitslosen
2500 verschlingt, durch neue Steuern, direkte und indirekte,
2501 hereinbringen. (Große Unruhe im ganzen Hause.)
2503 \erratum{„Meine}{Meine} Herren und Damen, ich weiß, daß die
2504 Bevölkerung schwer enttäuscht ist und ich bin es mit ihr. Wir alle
2505 haben eben die Schwierigkeit der Übergangswirtschaft unterschätzt,
2506 wir alle dachten, daß die christlichen \pagenum{89} Bürger sich
2507 besser auf die Beherrschung der Finanzen und des Geschäftslebens
2508 einstellen würden, die ganz in Händen der Juden waren. Aber was
2509 sind solche Enttäuschungen gegenüber dem ungeheuren Ziel, das wir
2510 uns gesteckt haben, dem Ziel, Österreich seiner arischen
2511 Bevölkerung wiederzugeben, ein Land aufzurichten, das frei von
2512 Wuchergeist, frei von jüdischem Skeptizismus, frei von jenen
2513 zersetzenden Eigenschaften und Elementen ist, die das Judentum
2514 repräsentieren!“
2516 Zum Schluß stellte der Kanzler mit erhobener Stimme die
2517 Vertrauensfrage.
2519 Im Namen der kleinen sozialistischen Fraktion sprach Doktor Wolters
2520 gegen die Kreditgewährung, gegen die Gutheißung der
2521 Regierungspläne, gegen das Vertrauensvotum. In krassen Farben
2522 schilderte er die zunehmende Verelendung, die Gefahr des
2523 unmittelbar bevorstehenden Staatsbankerottes, die Verödung des
2524 wirtschaftlichen und geistigen Lebens. Er sagte unter anderem:
2526 „Der Herr Bundeskanzler hat vor mehr als zwei Jahren, als er sein
2527 Antijudengesetz begründete, unsere Bevölkerung bieder, einfältig
2528 und ehrlich genannt und behauptet, daß sie der Konkurrenz der
2529 überlegenen Juden nicht gewachsen sei. Er hat nur eines übersehen:
2530 Daß wir biederen, ehrlichen und einfachen Österreicher auch ohne
2531 Juden von Völkern umgeben sein werden, die uns jetzt, wo wir die
2532 Juden nicht mehr haben, erst recht überlegen sind. Wo ist der
2533 mitteleuropäische Handel hingekommen, seitdem die Juden weg sind?
2534 Wir haben ihn verloren, denn die Juden haben ihn nach Prag und
2535 Budapest mitgenommen. \pagenum{90} Was ist aus der blühenden
2536 Konfektions-, Galanterie- und Mode-Industrie geworden? Sie ist fast
2537 spurlos verschwunden, weil sie von der Biederkeit und Ehrlichkeit
2538 allein nicht leben kann, sondern den jüdischen Konsumenten aus
2539 aller Herren Länder braucht, der das leicht verdiente Geld auch
2540 leicht wieder ausgibt. Heute zeigt es sich, daß wir der Juden nicht
2541 entraten können~–~–.“
2543 Stürmische Rufe unterbrachen den sozialistischen Führer. Die
2544 Christlichsozialen und Deutschnationalen tobten, schrien „Hinaus
2545 mit dem gekauften Judenknecht“ und der Tumult wurde so groß, daß
2546 der Präsident, der Tiroler mit dem roten Bart, die Sitzung
2547 unterbrechen mußte. Als er sie wieder eröffnete, erteilte er dem
2548 Doktor Wolters eine Rüge, weil er durch seine Worte das christliche
2549 Gefühl der Abgeordneten schwer verletzt und den Versuch gemacht
2550 habe, die Grundfesten des neuen Staates zu erschüttern.
2552 Schließlich wurden alle Regierungsanträge gegen die Stimmen der
2553 Sozialisten angenommen. Aber viele Abgeordnete hatten sich vor der
2554 Abstimmung entfernt und Schwertfeger sagte später seinem
2555 Präsidialisten mit grimmigem Lächeln:
2557 „Diesmal sind sie davongelaufen, das nächstemal werden sie gegen
2558 mich stimmen, die Erfolghascher, Konjunkturisten, die gestern
2559 Hosianna schrieen und morgen \latein{crucifige} rufen werden!“
2561 \tb{* * *}
2562 \pagenum{91}Seltsame, mysteriöse Dinge ereigneten sich. Eines
2563 Morgens standen am Schottentor vor einer Litfaßsäule, desgleichen
2564 vor der Oper, am Stubenring und an anderen Plätzen Hunderte von
2565 Männern und Frauen vor kleinen, mit einem Reisnagel befestigten
2566 Plakaten im Oktavformat, die folgende Inschriften enthielten:
2568 „Wiener, Österreicher! Rafft euch auf, bevor Ihr alle zugrunde
2569 gegangen seid! Mit den Juden habt Ihr den Wohlstand, die Hoffnung,
2570 die Zukunftsmöglichkeit ausgewiesen! Fluch den Volksverführern, die
2571 euch irregeleitet haben!
2573 \unterschrift{
2574 Der Bund wahrhaftiger Christen.“
2577 Die Menschen lasen einander die frechen Worte vor, viele schimpften
2578 und behaupteten, daß Freimaurer das getan haben mußten, andere
2579 entfernten sich wortlos, wieder andere hatten den Mut, zustimmende
2580 Äußerungen zu tun und die Anderssprechenden trotzig anzusehen.
2582 Nach einigen Tagen erschienen an verschiedenen Plätzen neue Plakate
2583 mit den Worten:
2585 „Wien verdorft! Wiener, seht Ihr es denn nicht? Noch ein paar Jahre
2586 und aus der alten, ehemaligen Kaiserstadt wird ein schäbiges,
2587 vergessenes Nest geworden sein!“
2589 Das ging den Leuten, die nun den Inhalt des Plakates auch aus der
2590 „Arbeiter-Zeitung“ vernahmen, auf die Nerven, allenthalben wurde
2591 man unruhig. War nicht etwas Wahres an dieser neuen Behauptung des
2592 mysteriösen Bundes wahrhaftiger Christen? Leidenschaftliche
2593 Diskussionen wurden darüber in Versammlungen, im Wirtshaus, in der
2594 Straßenbahn geführt, aber das Wort \pagenum{92} von der
2595 Verdorfung Wiens blieb irgendwie in der Luft hängen, wurde
2596 geflügelt, man bekam es überall zu hören, ja sogar die christliche
2597 „Weltpresse“ schrieb am Schluß eines Leitartikels ganz
2598 unwillkürlich: „Wir müssen alles tun, um der Verdorfung zu
2599 entgehen!“
2601 Die Polizei wurde von der erbosten Regierung aufgefordert, den
2602 Übeltäter aufzuspüren, der die Plakate anschlug. Vergebliche Mühe!
2603 Alle paar Tage kamen neue zum Vorschein, immer an anderen Plätzen,
2604 an Haustoren, Kirchenportalen, ja einmal hing je eines an den Toren
2605 des Kanzlerpalais, des Polizeipräsidiums und des Parlamentes. Und
2606 immer enthielt das kleine Plakat in wenigen Worten eine wirksame
2607 Polemik gegen die Regierung, eine suggestive Aufhetzung der
2608 Bevölkerung. Die „Arbeiter-Zeitung“ war jedesmal in der Lage, schon
2609 in ihrer Morgenausgabe den Inhalt des Pamphlets, das heute
2610 angeschlagen werden würde, zu veröffentlichen, weil ihr ein
2611 Exemplar schon am Tage vorher mit der Post gebracht wurde.
2613 Schließlich geriet ganz Wien in Aufregung, man sprach fast von
2614 nichts anderem, zerbrach sich den Kopf darüber, wer hinter diesem
2615 geheimnisvollen Bund wohl stecken möge, die Zahl derer, die dem
2616 Inhalte der kleinen Aufrufe zustimmten, wuchs von Woche zu Woche,
2617 die sozialdemokratischen Versammlungen bekamen wieder einen
2618 ungeheuren Zulauf und der Nimbus des Kanzlers sank ersichtlich.
2620 Lotte war eines Nachmittags früher zu Leo gekommen, als er sie
2621 erwartet hatte. Da sie einen eigenen \pagenum{93} Schlüssel zu
2622 der Wohnung besaß und Leo sie nicht wie sonst im Wohnzimmer
2623 erwartete, ging sie direkt in das Atelier. Leo warf rasch ein Tuch
2624 über einen kleinen Holztisch und begrüßte sie dann ein wenig
2625 verlegen.
2627 Lotte zog ihn beim Knebelbärtchen, sah ihm in die braunen Augen und
2628 sagte dann:
2630 „Du, Leo, du hast da soeben etwas vor mir verbergen wollen! Was
2631 befindet sich dort unter dem Tuch?“
2633 Leo lachte herzlich.
2635 „Mädel, du hast Augen wie ein Luchs! Also, dann will ich dir mein
2636 Geheimnis eben schon heute anvertrauen.“
2638 Er zog das Tuch fort und Lotte erblickte neben einem Typenkasten
2639 und einer Miniatur-Handpresse einen Stoß frisch gedruckter Zettel.
2640 Erstaunt las sie:
2642 „Wiener, geht es euch heute besser oder schlechter als zur Zeit der
2643 Juden? Überlegt in Ruhe und Ihr werdet euch die richtige Antwort
2644 geben! Wir alle haben einst geschrien: „Hinaus mit den Juden!“ So
2645 schreien wir heute: „Herein mit jenen Juden, die ehrlich und treu
2646 mit uns arbeiten \erratum{wollen.}{wollen.“}
2648 \unterschrift{
2649 Der Bund der wahrhaftigen Christen.“
2652 Verblüfft, verwirrt, verständnislos ließ Lotte das Papier fallen
2653 und ergriff einen anderen Zettel, auf dem gedruckt stand:
2655 „Wir sehnen uns nicht nach den kulturfernen Ostjuden. Aber die
2656 intelligenten, klugen, wertvollen Juden, die schon vor dem Jahre
2657 1914 unsere Mitbürger waren, müssen \pagenum{94} wir wieder mit
2658 offenen Armen aufnehmen, wenn wir nicht rettungslos verelenden
2659 wollen! Auf zur Tat, bevor es zu spät ist!
2661 \unterschrift{
2662 Der Bund der wahrhaftigen Christen.“
2665 Fragend sah Lotte ihren Bräutigam an.
2667 Dieser hob sie zu sich empor, küßte sie auf die Nasenspitze und
2668 lachte wieder aus vollem Halse.
2670 „Na, Tschapperl, verstehst du noch immer nicht? Der Bund der
2671 wahrhaftigen Christen, der seit Wochen Wien verrückt macht, bin
2672 ich! Und ich werde nicht aufhören, bevor nicht der große Wirbel
2673 eingetreten ist. Die zwei neuen Plakate werden wirken, sag ich dir!
2674 Das sind meine Gas-, Stink- und Leuchtbomben, mit denen ich töte,
2675 ersticke und erleuchte.“
2677 Lotte zitterte.
2679 „Leo, wenn du dabei erwischt wirst, so ist es um dich geschehen!“
2681 „Wenn, wenn! Aber man wird nicht! Ich habe eine wunderbare Technik
2682 beim Befestigen der Zettel! Ich schlendere morgens an einem Tor
2683 oder einer Wand vorbei, und im Gehen, ohne auch nur eine Sekunde
2684 mich aufzuhalten, treibe ich den Nagel ein, an dem der Zettel schon
2685 hängt! Und selbst, wenn die Polizei die Zettel wenige Minuten
2686 später wieder abreißt, so schadet das nicht, weil die
2687 „Arbeiter-Zeitung“ den Inhalt schon abgedruckt hat. Verlaß dich auf
2688 mich, mein Lieb, es muß das geschehen, ich gehe einen genau
2689 vorgezeichneten Weg und nehme mich ohnedies höllisch in acht.“
2691 \pagenum{95}Lotte saß auf dem großen Zeichentisch, baumelte mit
2692 den schlanken Beinen und sagte nachdenklich:
2694 „Weißt du, Leo, du hast schon sehr viel erreicht, glaube ich.
2695 Gestern war bei uns größere Gesellschaft. Zehn Herren und Damen
2696 waren da und es wurde fast ununterbrochen von der Judenausweisung
2697 und ihren Folgen gesprochen. Und alle, darunter auch der Hofrat
2698 Tumpel, waren darin einig, daß man sich mit der Ausweisung eines
2699 Teiles der Ostjuden, und zwar jenes Teiles, der eine anständige
2700 Beschäftigung nicht nachweist, hätte begnügen müssen. Hofrat
2701 Tumpel, der vor einem Jahr noch wütend wurde, wenn man mit dem
2702 Bundeskanzler nicht ganz einverstanden war, sagte schließlich:
2704 „Ja, ja, es scheint, als wenn man da in einen höchst komplizierten
2705 Mechanismus allzu brutal eingegriffen hätte! Gewisse nicht zu
2706 unterschätzende jüdische Eigenschaften fehlen uns ganz
2707 bedenklich!“
2709 \erratum{„Dazu}{Dazu} ist allerdings zu bemerken, daß der Bruder
2710 des Hofrates die Buchhandlung in der Seilergasse besitzt, die sich
2711 nur mit dem Vertrieb von Luxusbüchern und Kunstdrucken befaßt. Seit
2712 die Juden weg sind, macht er gar keine Geschäfte mehr und sein
2713 Bruder, der Hofrat, hat schon zweimal große Summen opfern müssen,
2714 um ihn vor dem Bankerott zu bewahren. Und noch etwas, Leo: Ich
2715 halte doch immer, in der Früh?, wenn ich einkaufe, und im Konzert
2716 und in der Oper und der Straßenbahn die Augen und Ohren offen. Und
2717 ich höre, wie die Leute immer mehr mit Wehmut an die Vergangenheit
2718 zurückdenken und von ihr wie von etwas sehr Schönem sprechen.
2719 \pagenum{96} „Damals, wie die Juden noch da waren“, das kann man
2720 täglich zehnmal in allen Tonarten nur in keiner gehässigen, hören.
2721 \erratum{„Weißt}{Weißt} du, ich glaub?, die Leute bekommen
2722 ordentlich Sehnsucht nach den Juden!“
2724 Leo preßte das kluge Mädchen an sich. „Und ich will das Meinige
2725 tun, um diese Sehnsucht unwiderstehlich zu machen.“
2727 „Aber sei recht vorsichtig, Leo, bedenk?, daß, wenn man dich
2728 umbringt, es auch mein Leben kostet!“
2730 \tb{* * *}
2731 Traurigere Weihnachten hatte Wien noch nie erlebt. Der
2732 ungeheuerlichen Teuerung stand der vollständige Stillstand des
2733 Lebens gegenüber. Die Teuerung allein hätte die guten Phäaken nicht
2734 anfechten können. Sie waren sie ja schon seit einem Dezennium
2735 gewöhnt, und ob das Viertel Wein nun zehntausend oder fünftausend
2736 Kronen kostete, war schließlich egal, wenn man genug verdiente,
2737 wenn der Arbeiter hohen Lohn bekam und der Kaufmann abends die
2738 Kasse voll mit Zehntausendern hatte. Jetzt war das aber nicht mehr
2739 der Fall. Die enormen Banknotenmassen blieben bei den Bauern
2740 liegen, in den Städten herrschte vollständige Kaufunlust, ein
2741 großer Teil der Arbeiter feierte und war auf die staatliche
2742 Unterstützung angewiesen, und in der Weihnachtsnummer
2743 veröffentlichten die Zeitungen Statistiken, aus denen hervorging,
2744 daß seit zwei Jahren allein in Wien an die fünftausend
2745 Bankfilialen, Kaffeehäuser, Restaurants und Geschäfte geschlossen
2746 hatten. Neuerdings trat ein Riesenkrach nach dem anderen in der
2747 \pagenum{97} Industrie ein, Aktiengesellschaften, die man noch
2748 vor kurzem für bombensicher gehalten hatte, erklärten sich
2749 insolvent und man sprach sogar von dem baldigen Zusammenbruch
2750 zweier Großbanken.
2752 Was nutzte es den Wienern unter solchen Umständen, daß sie überall
2753 Platz hatten, sogar an den Weihnachtsfeiertagen die Theater nicht
2754 ausverkauft waren und man nicht mehr den aufreizenden Judennasen
2755 begegnete? Was nutzte es, daß man zur christlichen Einfachheit
2756 zurückgekehrt war und sich den Vollbart wachsen ließ, wenn die
2757 Friseurgehilfen massenhaft entlassen werden mußten, weil es keine
2758 Arbeit mehr für sie gab?
2760 Am schlimmsten waren die Juweliere daran. Die meisten waren Juden
2761 gewesen und hatten auswandern müssen, und nun führten diese
2762 Geschäfte ehemalige kleine Uhrmacher und andere sicher sehr
2763 ehrenwerte Leute, die aber zum holländischen Edelsteinmarkt, der
2764 fast ausschließlich in jüdischen Händen liegt, keinerlei
2765 Beziehungen hatten und bei jedem Einkauf über die Ohren gehauen
2766 wurden. Schließlich hatte der Einkauf im Ausland ganz aufgehört,
2767 weil niemand mehr Schmuck wollte, wohl aber der Andrang derer, die
2768 verkaufen mußten, immer stärker wurde. Langsam aber sicher wanderte
2769 ein großer Teil des inländischen Juwelenbesitzes in die
2770 Nachbarstaaten, nach England, Frankreich und Amerika, und auch
2771 dabei waren die Juweliere, die diesen Export betrieben, die
2772 Leidtragenden. Wenn ein Juwelier heute eine Perlenschnur für zehn
2773 Millionen aus privatem Besitz kaufte und sie bald darauf für
2774 dreißig Millionen einem Amerikaner anhängte, so \pagenum{98}
2775 bildete er sich ein, ein glänzendes Geschäft gemacht zu haben und
2776 begoß seine Freude mit Wein, lobte den Doktor Schwertfeger und
2777 kaufte eine Fettgans, die nun nicht mehr das Privilegium der Juden
2778 war. Bevor er aber noch die schwere Gansleber verdauen hatte
2779 können, waren seine dreißig Millionen nicht einmal die zehn wert,
2780 die er ausgegeben und er besaß kein Geld mehr zu neuen Ankäufen.
2782 So war es wahrhaftig kein Wunder, wenn zu Weihnachten eine Welle
2783 der Erbitterung und Unzufriedenheit durch Wien ging und die
2784 Silvesternacht nicht mit Jubel und Radau wie sonst, sondern in
2785 Verdrossenheit und Mutlosigkeit gefeiert wurde.
2787 Und wenn der Bundeskanzler das Gespräch mitangehört hätte, das in
2788 der Weihnachtswoche der Herr Habietnik, Besitzer des großen
2789 Modehauses in der Kärntnerstraße, und der Herr Mauler, Inhaber des
2790 großen Juweliergeschäftes am Graben, miteinander führten, so wäre
2791 sein Ingrimm noch größer gewesen, als er es ohnedies war.
2793 Herr Habietnik und Herr Mauler saßen im Grabenkaffee und klagten
2794 beide über das elende Weihnachtsgeschäft, das den Ruin Tausender
2795 von Geschäftsleuten besiegeln mußte. Plötzlich beugte sich Herr
2796 Habietnik zu Herrn Mauler und erzählte ihm von einem Traum, den er
2797 in der vergangenen Nacht gehabt.
2799 „Stellen Sie sich vor, Herr Mauler, i hab? g?träumt, daß plötzlich
2800 zu mir ins Geschäft lauter Juden und Jüdinnen gekommen san. Alle
2801 waren hochelegant und haben Banknotenbündel in den Händen gehalten
2802 und es ist ein Riesenwirbel entstanden. Die Madeln konnten die
2803 Pelze \pagenum{99} und Stoffe, die Mäntel und Kostüme gar nicht
2804 schnell genug herbeibringen und die ganze Modeabteilung war von
2805 Seide und Samt, von Spitzen und Stickereien gefüllt. Und nichts war
2806 den Jüdinnen gut genug und eine sehr eine fesche jüdische Dame hat
2807 immer geschrien: „Das ist gar nichts! Wir kommen aus Paris und
2808 Palästina, wo die neuesten Moden sind, zeigen Sie das Beste, was
2809 Sie haben.“ Und da hat meine erste Verkäuferin plötzlich eine
2810 Barchenthose gebracht und hat gesagt: „Aber meine verehrte gnädige
2811 Israelitin, das ist doch das Neueste aus Paris!“ Und da ist ein
2812 furchtbares Gelächter entstanden, so daß ich aufgewacht bin!
2813 Glauben \erratum{'s}{S?} nicht, Herr Mauler, daß der Traum was zu
2814 bedeuten \erratum{hat?}{hat?“}
2816 Herr Mauler aber meinte grinsend:
2818 „Ja, er hat zu bedeuten, daß bald die ganze Welt über uns lachen
2819 wird und wir uns in Flanell und Barchent einwickeln werden, bevor
2820 wir begraben werden. Aber das eine weiß ich, Herr Habietnik, wenn
2821 so plötzlich vor meinem Laden ein Automobil vorfahren würde mit
2822 einem jüdischen Ehepaar, so tät ich sie beide abküssen und hätt?
2823 noch einmal eine Freude am Leben! Wissen Sie, Herr Habietnik, wie
2824 ich früher noch Kommis beim Herrn Zwirner war, der mein Geschäft
2825 gehabt hat, da hab? ich mir oft gedacht, daß es eigentlich eine
2826 Schand? ist, daß fast nur die Juden Geld genug haben, um Brillanten
2827 und Perlen zu kaufen. Und einmal habe ich das auch laut gesagt. Da
2828 hat mich der Herr Zwirner angelacht und gesagt: „Herr Mauler, sein
2829 Sie kein Narr, sondern froh darüber, daß die Juden kaufen und das
2830 Geld unter die Leute bringen. Oder möchten \pagenum{100} Sie es
2831 lieber haben, daß auch die Juden ihr Geld vergraben und verstecken
2832 wie die Bauern? Sie werden sehen, wenn das mit dem Antisemitismus
2833 so weitergeht, so werden die reichen Juden auswandern und dann
2834 können die Geschäftsleute sperren!“
2836 Na und jetzt sind nicht nur die reichen, sondern auch die armen
2837 Juden ausgewandert und wir sind richtig alle
2838 \erratum{kapores!}{kapores!“}
2840 \tb{* * *}
2841 Bei Spineders war der heilige Abend in der gewohnten
2842 patriarchalischen Weise gefeiert worden. Die Stimmung war aber
2843 nicht die beste. Der Hofrat begann ernstliche Sorgen materieller
2844 Art zu haben, die ihm die Entwertung seines Vermögens bereitete;
2845 Frau Spineder konnte sich noch immer von dem Schrecken nicht
2846 erholen, den ihr die Tatsache eingejagt, daß sie für den
2847 Weihnachtskarpfen fünfzigtausend Kronen und für die Weihnachtsgans
2848 hunderttausend hatte zahlen müssen, und Lotte war unruhig, weil sie
2849 ohne Nachricht von Leo war und doch gehofft hatte, daß er sich
2850 irgendwie wenigstens mit einem Glückwunsch melden würde.
2852 Gerade als mit Andacht der kostbare Fisch verzehrt wurde, läutete
2853 die Haustorglocke und das Stubenmädchen meldete, ein Mann sei da,
2854 der dem gnädigen Fräulein etwas persönlich zu überbringen habe.
2855 Lotte stürzte hinaus, und der in einen Pelz gehüllte Mann, der ihr
2856 etwas zu übergeben hatte, küßte sie im dunklen Hausflur wie
2857 \pagenum{101} verrückt ab, um ihr dann ein winziges Päckchen in
2858 die Hand zu drücken und eilends wieder zu verschwinden.
2860 Im Speisezimmer wickelte Lotte das kleine Paket aus und entnahm
2861 einem Lederetui einen Ring mit einer köstlichen, haselnußgroßen
2862 Perle.
2864 „Ein Weihnachtsgeschenk von Herrn Henry Dufresne“, sagte Lotte, die
2865 purpurrot geworden war, und ein unendliches Glücksgefühl
2866 durchströmte ihr junges Herz, als sie den Ring über den Finger
2867 zog.
2869 Der Herr Hofrat aber war betreten und erklärte kategorisch:
2871 „Lotte, nun aber muß dieser Herr Dufresne sich uns doch endlich
2872 vorstellen und um deine Hand anhalten. Denn ein solcher Ring, den
2873 man einem Mädchen schenkt, ist einfach ein Verlobungsring.“
2875 Lachend küßte Lotte ihren Vater.
2877 „Habt noch ein wenig Geduld! Leo – Henry sagt, daß er sehr bald zu
2878 euch kommen werde.“
2880 Die Mama aber schüttelte wieder den Kopf und dachte:
2882 „Seltsame Zeiten, seltsame Jugend! Liebt einen, vergißt ihn und
2883 verwechselt dann seinen Namen mit dem des Nachfolgers!“
2885 Im Januar vereinigten sich mehrere große Konsumentenorganisationen
2886 zu einer Massenversammlung in der Volkshalle des Rathauses unter
2887 der Devise: „Wir können nicht weiter!“ Zehntausende von Menschen
2888 waren der Einladung gefolgt und trotz der außerordentlichen Kälte
2889 standen vor dem Rathaus ungeheure Menschenmassen, die in der
2890 Volkshalle nicht mehr Platz gefunden hatten.
2892 \pagenum{102}Die Versammlung bot ein merkwürdiges Bild. Leo
2893 Strakosch, der sich ebenfalls eingefunden hatte, konstatierte, noch
2894 niemals so viele vollbärtige Männer gesehen und noch nie so viele
2895 Heilrufe gehört zu haben. Eine andere Staffage und man hätte an
2896 eine Tiroler Bauernversammlung zur Zeit des Andreas Hofer denken
2897 können. Auch Weiblichkeit war massenhaft vertreten, aber wahrhaftig
2898 nicht die lieblichste, die Wien aufzuweisen hat. Unter allgemeinem
2899 Heil-Gebrüll eröffnete der Apotheker Doktor Njedestjenski die
2900 Versammlung mit der Feststellung, daß es so nicht weitergehen
2901 könne. Er vermied es sorgfältig, die Notlage und Teuerung mit der
2902 Judenausweisung in Zusammenhang zu bringen, sondern gab sich höchst
2903 deutschnational und behauptete, nur die Tatsache, daß Österreich
2904 sich nicht an Deutschland anschließen könne, sei schuld an dem
2905 jammervollen Niedergang Wiens. Worauf ein Arbeiter unter
2906 schallender Heiterkeit dazwischen rief:
2908 „Wir können uns ja gar nicht mehr anschließen, oder glauben Sie,
2909 daß die Deutschen auch solche Trotteln wie wir sind und ihre Juden
2910 hinausschmeißen werden?“
2912 Das brachte den Apotheker aus dem Konzept, er stammelte noch etwas
2913 von deutscher Einheit und deutschem Volksbewußtsein, schrie „Heil“
2914 und gab den Rednern das Wort. Worauf fast nur mehr über die Juden
2915 gesprochen wurde. Und zwar so, daß ein Unkundiger hätte glauben
2916 müssen, Wien sei die judenfreundlichste Stadt der Welt. Als ein
2917 Weinhändler antisemitische Töne anschlug, wurde er direkt
2918 niedergeschrieen und ein Zwischenruf: „Hätten wir lieber von den
2919 Juden gelernt, als sie hinauszujagen!“ \pagenum{103} fand großen
2920 Beifall. Leo konnte sich nicht länger beherrschen. Mit bedenklichem
2921 Herzklopfen meldete er sich bei dem Vorsitzenden zum Wort und
2922 bestieg die Rednertribüne, während er dachte: Nun, Frechheit, steh?
2923 mir bei! Er tat, als würde er die deutsche Sprache nur unvollkommen
2924 beherrschen, betonte immer wieder, daß er als Franzose eigentlich
2925 nicht befugt sei, sich in die Angelegenheiten Österreichs zu
2926 mischen, aber von Wohlwollen für diese unvergleichlich schöne und
2927 liebreizende Stadt, der schönsten nach oder mit Paris, erfüllt,
2928 doch nicht umhin könne, seiner Meinung Ausdruck zu geben. Worauf
2929 die anwesenden Vollbärte geschmeichelt und die Frauen, von dem
2930 schlanken, hübschen Mann trotz des Knebelbartes entzückt „Heil!“
2931 schrieen. Und dann fuhr Leo mit französischem Akzent fort:
2933 „Auch wir in Paris haben sehr viele Juden, gute und schlechte,
2934 wertvolle und schädliche. Jedenfalls sind viele darunter, die alle
2935 Hochachtung verdienen und dem Land von großem Nutzen sind.
2936 Niemandem aber würde es bei uns einfallen, die Juden ausweisen zu
2937 wollen, sondern jeder versucht, ihre guten Eigenschaften
2938 auszunützen. Ich bin hier nicht zu Hause und kenne daher die Wiener
2939 Juden nicht so genau, kann aber sagen, daß ich in Paris mit sehr
2940 vielen aus Wien Ausgewiesenen verkehrt habe, die einen
2941 vortrefflichen Eindruck gemacht haben und sicher sehr bald gute
2942 Franzosen sein werden. Es ist möglich, daß zwischen den
2943 österreichischen Christen und den Juden ein größerer Unterschied
2944 ist, als zwischen den leichtbeweglichen und temperamentvollen
2945 Franzosen und den Juden. Aber gerade deshalb müßte doch eine gute
2946 Ergänzung möglich sein. \pagenum{104} Ich höre, daß man den
2947 Juden hierzulande den Vorwurf gemacht hat, das Kapital zu
2948 beherrschen und relativ mehr Geld zu besitzen als die christlichen
2949 Bürger. Ja, meine Verehrten, daraus geht doch nur hervor, daß sie
2950 rascher im Denken und Handeln sind, und eine kluge Regierung müßte
2951 solche Eigenschaften für die Allgemeinheit zu benutzen verstehen.“
2953 Stürmische Zurufe von allen Seiten: „Jawohl, eine gescheite
2954 Regierung, aber wir haben eben eine blöde! Recht hat er! Heil!
2955 Heil!“
2957 „Meine Verehrten,“ sagte Leo lächelnd, „ob einem die Juden
2958 sympathisch sind oder nicht, ist eigentlich gleichgültig. Der
2959 Sauerteig, der dem Brotmehl beigegeben wird, schmeckt an sich recht
2960 abscheulich und doch kann ohne ihn kein Brot gemacht werden. So
2961 müßte man auch die Juden betrachten. Sauerteig, an sich wenig
2962 erfreulich und in zu großen Quantitäten schädlich, aber in der
2963 richtigen Mischung unentbehrlich für das tägliche Brot. Und ich
2964 glaube, daß Ihr Brot sitzen bleibt, weil ihm der Sauerteig fehlt!
2966 Nun heißt es aber nicht räsonieren und das, was geschehen ist,
2967 beklagen, sondern zusehen, wie Abhilfe geschaffen werden kann. Wie
2968 das in Österreich möglich sein wird, weiß ich nicht. In Frankreich
2969 würde in solchem Falle die Bevölkerung auf Neuwahlen dringen, die
2970 zeigen müßten, ob das Volk mit den herrschenden Zuständen zufrieden
2971 ist oder sie ändern will!“
2973 Damit trat Leo ab, um rasch in der Menge zu verschwinden. Der
2974 Versammlung hatte sich eine ungeheure Aufregung bemächtigt. Wie ein
2975 Funke in ein Dynamitfaß, so \pagenum{105} hatte das Wort
2976 „Neuwahlen“ in die Menschenmassen eingeschlagen, die riesige Halle
2977 erdröhnte von diesem aus dreißigtausend Kehlen geschrieenen Wort,
2978 das sich auf die Straße fortpflanzte und zum Schlagwort der
2979 kommenden Zeit wurde.
2981 Am folgenden Tage fand in der Redaktion der „Arbeiter-Zeitung“ eine
2982 Konferenz der Hauptredakteure und der Vertrauensmänner der Partei
2983 statt, in der zum erstenmal seit Jahren wieder beschlossen wurde,
2984 aktive, energische Politik zu machen und mit dieser Politik aus den
2985 geschlossenen Räumen auf die Straße zu gehen. Der Chefredakteur der
2986 „Arbeiter-Zeitung“, der ehemalige Federnschmücker Wunderlich, der
2987 nach bestem Gewissen das Erbe Viktor Adlers verwaltete, kam zu
2988 folgender Konklusion:
2990 „Wir müssen das Schlagwort dieses merkwürdigen französischen
2991 Malers, der unmöglich Diefreß heißen kann, wie ihn der Trottel von
2992 Vorsitzenden niedergeschrieben hat, aufgreifen. Von heute an werden
2993 wir in unseren Blättern, in unseren Versammlungen und Beratungen
2994 immer wieder Neuwahlen fordern. Und nun werden wir unsere Freunde
2995 in Frankreich, Holland, der Tschechoslowakei, in England und
2996 Amerika in Aktion setzen und sie veranlassen, alles zu tun, damit
2997 große Kronenbeträge auf den Markt geworfen werden. Fällt die Krone
2998 neuerdings empfindlich, steigt die Teuerung, die derzeit stagniert,
2999 wieder an, so ist die Lage reif für uns und wir werden, wenn es
3000 sein muß, die Auflösung der Nationalversammlung mit Gewalt
3001 erzwingen.“
3003 \tb{* * *}
3004 \pagenum{106}In den nächsten Tagen ereignete sich noch etwas,
3005 was in den stramm-christlichsozialen Kreisen große Bestürzung
3006 erregte. Der Bürgermeister von Wien, nach Schwertfeger der
3007 mächtigste Mann im Reiche, Herr Karl Maria Laberl, fiel sozusagen
3008 um. Nicht aus eigenem Willen allerdings, sondern weil ihm sein
3009 Präsidialist Herr Kallop ein Bein stellte. Von diesem Herrn Kallop
3010 wußte man längst im Rathause, daß er eigentlich umgekehrt, das
3011 heißt Pollak, heißen müßte, weil dies der Name seines Großvaters
3012 war. Und als die Juden noch in Wien gewesen, erzählte man in ihren
3013 Kreisen, daß der alte Pollak ein aus Galizien eingewanderter
3014 Getreidehändler wäre, der eine Christin geheiratet habe und sich
3015 deshalb taufen ließ. Sein Sohn habe schon den Namen Kallop
3016 angenommen, war ein in christlichen Kreisen angesehener Advokat,
3017 der wieder eine Christin heiratete, so daß die Enkelkinder des
3018 alten Pollak nach dem Schwertfegerschen Gesetz als Vollarier
3019 anzusehen waren. Josef Kallop, der Sohn des Advokaten, taugte in
3020 seiner Jugend nichts, konnte seine juristischen Studien nicht
3021 beenden und wurde daher mit Erfolg Magistratsbeamter. An Schlauheit
3022 den meisten seiner Kollegen turmhoch überlegen, brachte er es bald
3023 zum Präsidialisten und seit geraumer Zeit war er die rechte Hand
3024 des Bürgermeisters Laberl.
3026 Herr Kallop also war es, der den Bürgermeister zum Umfallen
3027 brachte. Er machte ihm klar, daß ein großer Umschwung bevorstehe.
3029 „So geht es nicht weiter, Herr Laberl, das ist Ihnen doch ganz
3030 klar. Es wird demnächst Unruhen geben, ernste \pagenum{107}
3031 Unruhen sogar, und eines Tages wird die Regierung sozusagen
3032 flötengehen. Wenn Sie nicht mit flötengehen wollen, so müssen Sie
3033 sich beizeiten ein wenig umdrehen.
3034 \discretionary{Rük-}{ken}{Rücken} Sie von Schwertfeger ab,
3035 geben Sie zu, daß man bei der Judenausweisung zu weit gegangen ist,
3036 und ganz Wien wird plötzlich inmitten des Rummels, der kommen muß
3037 und wird, sagen: Unser Bürgermeister, das ist ein Gescheiter, der
3038 lenkt ein und wird uns noch herausreißen.“
3040 Herr Karl Maria Laberl nickte, strich sich den schönen, weißen
3041 Bart, war von seinem überlegenen Verstand schon ganz durchdrungen,
3042 fragte aber einigermaßen ängstlich:
3044 „Lieber Kallop, das ist ja ganz richtig, was Sie da sagen und
3045 entspricht dem, was ich mir schon längst gedacht habe. Aber wie
3046 soll ich denn das machen?“
3048 „Sehr einfach, Herr Bürgermeister. Wir berufen eine Versammlung der
3049 christlichsozialen Bürgervereinigung des, na, sagen wir ersten
3050 Bezirkes ein, weil dort unter den Geschäftsleuten geradezu eine
3051 Panikstimmung herrscht. Und dann halten Sie eben eine Rede, die wir
3052 zusammen ausarbeiten werden.“
3054 Und so geschah es, nur daß das „Zusammenausarbeiten“ darin bestand,
3055 daß Herr Laberl die Rede, die sein Präsidialist niederschrieb,
3056 auswendig lernen mußte. Als dann die Versammlung der
3057 Bürgervereinigung abgehalten wurde, begrüßte sie Herr Laberl sehr
3058 feierlich, sprach von dem Ernst der Zeiten, von den Zuständen, die
3059 man nicht mehr ertragen könne und sagte schließlich:
3061 „Der Ruf nach Neuwahlen wird immer ungestümer und ich bin der
3062 letzte, der den Ruf nicht hören will. Im \pagenum{108}
3063 Gegenteil, ich persönlich bin dafür, daß man tut, was das Volk will
3064 und durch Neuwahlen feststellt, ob die Bevölkerung Österreichs
3065 auch jetzt noch gutheißt, was die Regierung vor mehr als zwei
3066 Jahren getan, oder ob sie eine radikale Änderung wünscht. Ich und
3067 wohl mit mir Sie alle, meine Herren, haben nur ein Ziel vor Augen:
3068 Den Wiederaufbau möglich zu machen, das unglückliche Volk aus dem
3069 Labyrinth, in das die Entente aber vielleicht auch schwerwiegende
3070 eigene Irrtümer es gestoßen haben, wieder ans Licht des Tages zu
3071 führen. Keine Dogmatik, kein Fanatismus, keine persönliche
3072 Antipathie oder Sympathie darf uns leiten, meine Herren, sondern
3073 lediglich der Nützlichkeitsgedanke!“
3075 Kallop sorgte dafür, daß die Rathauskorrespondenz noch in derselben
3076 Nacht die Rede des Bürgermeisters im Wortlaut den Zeitungen
3077 übermittelte, und am nächsten Tag wußte es sogar der dümmste Kerl
3078 von Wien, daß Karl Maria Laberl den Bundeskanzler im geeigneten
3079 Moment \erratum{in}{im} Stich lassen werde.
3081 Als Doktor Schwertfeger in den Morgenblättern die nur von der
3082 „Arbeiter-Zeitung“ entsprechend kommentierte Rede des
3083 Bürgermeisters las, stieg ihm gallbitterer Speichel in den Mund und
3084 er spie aus. Dann warf er einen langen, verlorenen, glanzlosen
3085 Blick vom Fenster über den Volksgarten, den jetzt ein weißes
3086 Leichentuch bedeckte.
3088 Herr Kallop aber rieb sich im Rathaus vergnügt die Hände. Und
3089 nachdem er sich vergewissert, daß weder ein Kollege noch ein
3090 Amtsdiener im Zimmer war, sagte er laut und vernehmlich:
3091 „Maseltoff!“ und klopfte dreimal unter \pagenum{109} den Tisch.
3092 Wobei zu bemerken ist, daß Herr Kallop eine üppige, zwar schon
3093 zweimal geschiedene, aber dafür mit zahlreichen Millionen gesegnete
3094 Jüdin verehrte, die in Prag im Exil lebte. Und er wünschte nichts
3095 sehnlicher, als ihre und ihrer Millionen Rückkehr ins teure
3096 Vaterland, schon deshalb, weil er mit seinem Gehalt als
3097 Präsidialchef unmöglich die Teuerung länger aushalten konnte und
3098 außerdem falsch in polnischer Mark spekuliert hatte.
3100 \tb{* * *}
3101 Der Fasching dieses Jahres konnte die Laune der Wiener nicht
3102 verbessern. Grimmige Kälte, viel Schnee, ungeheizte Zimmer, weil
3103 der Meterzentner Kohle hunderttausend Kronen kostete, eine Pleite
3104 nach der anderen, der Zusammenbruch eines großen Bankkonzerns, bei
3105 dem viele ihr Geld liegen hatten.
3107 Die Bälle und Redouten standen vollständig unter dem Zeichen des
3108 Dirndlkostüms. Da der Toilettenluxus fehlte, machte man aus der Not
3109 eine Tugend, veranstaltete fast nur Bauernbälle, so daß Wien eher
3110 einem „Kirtag“ glich als einer Großstadt.
3112 Dazu kam, daß Wien vollständig aufgehört hatte, eine Theaterstadt
3113 zu sein. Die ersten Kräfte der Staatsoper gastierten unaufhörlich
3114 im Ausland, die Philharmoniker absolvierten eben eine Tournee in
3115 Südamerika, die Privattheater hatten sich in Provinzschmieren mit
3116 unzulänglicher Regie, minderen Kräften und veralteten Spielplänen
3117 verwandelt, von auswärts kamen längst keine Konzertgäste mehr, weil
3118 ihnen Wien die großen Gagen nicht zahlen \pagenum{110} konnte,
3119 Zeitungen waren neuerdings eingegangen, weil die Zahl der Leser
3120 immer mehr abnahm und plötzlich ertönte wieder der Alarmruf: „Die
3121 Krone fällt!“
3123 An den ausländischen Börsen fanden enorme Kronenabgaben statt, so
3124 daß Zürich sie bald nur mehr auf ein Dreißigtausendstel Centime
3125 bewertete. Demgemäß stiegen alle Preise und die Bevölkerung begann
3126 in Verzweiflung zu geraten. Als das Kilogramm Fett eine
3127 Viertelmillion Kronen kostete, erschien wieder das geheimnisvolle
3128 kleine Plakat des Bundes der wahrhaftigen Christen mit den Worten:
3130 „Wie lange noch, Wiener, werdet Ihr diese Regierung dulden? Wann
3131 endlich wollt Ihr die Nationalversammlung auseinandertreiben und
3132 Neuwahlen erzwingen?“
3134 In den Morgenstunden des nächsten Tages kam es zu Plünderungen auf
3135 den Märkten, die erbitterten Hausfrauen stürmten die Stände,
3136 verprügelten die Marktfrauen und bemächtigten sich der Waren. In
3137 Favoriten nahm der Tumult einen revolutionären Charakter an, es
3138 mußte die Reichswehr aufgeboten werden, die sich aber weigerte,
3139 gegen die Frauen vorzugehen.
3141 In der Nationalversammlung, die eben tagte, richteten nicht nur die
3142 Sozialdemokraten, sondern auch einzelne Christlichsoziale und
3143 Großdeutsche Interpellationen an die Regierung, in denen gefragt
3144 wurde, was man zu tun gedenke, um der verzweifelten Bevölkerung zu
3145 helfen. Die Sozialdemokraten stellten einen Dringlichkeitsantrag,
3146 die Regierung möge sofort Neuwahlen ausschreiben, damit das
3147 \pagenum{111} Volk selbst entscheiden könne, ob es bereit sei,
3148 die herrschenden Zustände noch länger zu dulden.
3150 Totenbleich erhob sich der Bundeskanzler zu einer Entgegnung:
3152 „In diesem Augenblick der allgemeinen Verwirrung Neuwahlen
3153 ausschreiben, hieße das Geschick des Landes den radikalen Elementen
3154 ausliefern und den Juden wieder Tor und Türe öffnen! Das stolzeste
3155 und größte Werk, das die österreichische Legislatur jemals
3156 geschaffen, würde zusammenbrechen, weil wir nicht genug Geduld und
3157 Aufopferungsfähigkeit haben, um auszuhalten und die gegenwärtigen
3158 Schwierigkeiten zu überwinden. Ich weiß, daß das internationale
3159 Judentum am Werke ist und sicher arbeiten Agitatoren, von jüdischem
3160 Gelde bestochen, daran~–“
3162 Die weiteren Worte des Kanzlers gingen in dem ungeheuren Tumult
3163 verloren, der nun folgte. Die Sozialdemokraten klopften mit den
3164 Pultdeckeln, die Galerie tobte und schrie, sogar aus den Reihen der
3165 Gesinnungsgenossen kamen Zurufe, wie: „Haben Sie Beweise für Ihre
3166 Behauptungen?“
3168 Um sechs Uhr abends wurde noch immer über den Dringlichkeitsantrag
3169 der Sozialdemokraten gesprochen, die ersichtlicherweise alles
3170 taten, um die Sitzung in die Länge zu ziehen. Jeder Redner sprach
3171 stundenlang; hatte der eine geendet, so meldete sich ein anderer
3172 zum Wort, die meisten Abgeordneten hörten längst nicht mehr zu,
3173 sondern stärkten sich am Büfett, auch die Ministerbank war leer
3174 geworden, nur Schwertfeger saß mit verschränkten Armen starr und
3175 düster auf seinem Sitz.
3177 \pagenum{112}Plötzlich kam neues Leben in das Haus. Das Gerücht
3178 verbreitete sich, daß Arbeitermassen im Anzuge seien, gleich darauf
3179 hörte man aus weiter Ferne die Klänge des Arbeiterliedes, das
3180 Jauchzen und Toben erregter Menschenmassen, bis plötzlich ein
3181 einziger Ruf von ungeheurer Stärke durch die geschlossenen Fenster
3182 drang:
3184 Nieder mit der Regierung! Fort mit der Nationalversammlung! Wir
3185 wollen Neuwahlen!
3187 Und schon umzingelten dichte Menschenmassen mit ihren Fahnen und
3188 Standarten das Abgeordnetenhaus und immer neue Züge kamen an, die
3189 gesamte Arbeiterschaft Groß-Wiens, die Angestellten und Beamten
3190 waren von den Fabriken und Werkstätten, Bureaus und Ämtern in
3191 geschlossenen Gruppen anmarschiert.
3193 Schon donnerten mächtige Schläge gegen die Tore des Hauses, die
3194 rasch geschlossen worden waren, schon prasselte ein Steinhagel
3195 gegen die Fenster, schon hatte sich eine Deputation der Arbeiter
3196 gewaltsam Einlaß verschafft. Ihr Führer, ein Eisenarbeiter namens
3197 Stürmer, ein gewaltiger Kerl mit klugen Augen und riesigem Schädel,
3198 stellte sich mitten unter die Abgeordneten, die, von Panik
3199 ergriffen, wie die Schafe beim Gewitter einen geschlossenen Haufen
3200 bildeten, und erklärte kurz und bündig:
3202 „Das Militär hält zu uns, die Jungmannschaft unter den Polizisten
3203 ebenfalls! Entweder die Regierung löst innerhalb zehn Minuten das
3204 Haus auf und erklärt, daß sofort Neuwahlen ausgeschrieben werden,
3205 oder die Massen gehen mit Gewalt vor. Die Erbitterung der Leute
3206 kennt \pagenum{113} keine Grenzen, hinter den Arbeitern steht
3207 diesmal das Bürgertum, es handelt sich um keine politische
3208 Angelegenheit, sondern um Taten der Verzweiflung. Am wildesten sind
3209 die Frauen, hören \erratum{sie}{Sie} nur, wie sie schreien, man
3210 möge das Parlament anzünden! Gibt die Regierung nicht nach, so
3211 können wir für nichts garantieren!“
3213 Und es geschah, was geschehen mußte. Die Minister erklärten nach
3214 kurzer Beratung mit den christlichsozialen und großdeutschen
3215 Parteiführern, sich dem Terror zu fügen, das Haus auflösen und
3216 Neuwahlen sofort ausschreiben zu wollen. Der Bundeskanzler bot
3217 gleich seine Demission an, aber seine Kollegen und die Parteigrößen
3218 beschworen ihn, sie in diesem kritischen Augenblick nicht zu
3219 verlassen und so willigte er denn ein, die Zügel der Regierung noch
3220 bis zu den Wahlen in seinen Händen zu behalten.
3222 Als dem erregten Volke Mitteilung von der Auflösung der
3223 Nationalversammlung gemacht wurde, löste sich die Spannung in
3224 ungeheuren Jubel auf und in der kommenden Nacht wurden die
3225 Weinvorräte Wiens ganz erheblich gelichtet.
3227 Sogar der Franzose Henry Dufresne, der der denkwürdigen Sitzung auf
3228 der Galerie beigewohnt hatte, trank sich allein in seinem Atelier
3229 einen ordentlichen Rausch an. Am nächsten Morgen aber war er wieder
3230 frisch und munter, entwarf eine geniale Skizze, die das Titelbild
3231 des Warenhausromanes von Zola bilden sollte und schwenkte Lotte,
3232 die vormittags schneebedeckt mit kalten roten Backen zu ihm kam, in
3233 seinen Armen durch die Luft.
3235 \pagenum{114}Lotte war in ausgelassener Laune wie er, denn ihr
3236 Papa hatte nach der Lektüre der Morgenblätter sehr ernst gesagt:
3238 „Mein Kind, ich sehe schwere Konflikte für dich kommen! Wenn nicht
3239 alles trügt, so wird Leo Strakosch bald die Möglichkeit haben, nach
3240 Wien zurückzukehren und dann wirst du dich entscheiden müssen:
3241 Entweder er, den du so sehr geliebt hast und der mir ein
3242 willkommener Sohn wäre oder dieser mysteriöse Franzose, den wir
3243 noch immer nicht kennen gelernt haben!“
3245 Als Lotte darauf lächelnd erwidert hatte, sie würde am liebsten
3246 beide, Leo und den Franzosen nehmen, da war Hofrat Spineder
3247 ernstlich böse geworden und hatte sie für frivol und unmoralisch
3248 erklärt. Sie mußte ihre ganze Verführungskunst aufwenden, um ihn zu
3249 besänftigen.
3251 Und nun saß sie auf dem Schoß ihres Geliebten und küßte Henry
3252 Dufresne und Leo Strakosch in einer Person mit Feuereifer ab.
3254 \tb{* * *}
3255 Leo, der fast nie Gelegenheit fand, mit irgend jemandem außer mit
3256 Lotte und seiner Aufwartefrau zu sprechen, hatte in der letzten
3257 Zeit zwei Bekanntschaften gemacht, die ihm wichtig dünkten. Die
3258 eine bestand in der Person des Nationalrates Wenzel Krötzl, die
3259 andere war der Inhaber des großen Modehauses in der Kärntnerstraße,
3260 Herr Habietnik.
3262 Mit Krötzl war Leo auf folgende Weise bekannt geworden: Als er
3263 einmal spät nachts aus dem Kaffeehaus, \pagenum{115} in dem er
3264 die Zeitungen und Zeitschriften zu lesen pflegte, nach Hause
3265 gekommen war, fand er auf dem letzten Treppenabsatz einen
3266 stockbesoffenen Mann liegen, der jämmerlich weinte und sich
3267 vergeblich bemühte, aufzustehen. Leo half ihm in die Wohnung, die
3268 unterhalb seines Ateliers gelegen war und erfuhr bei dieser
3269 Gelegenheit, daß er den ehrsamen Nationalrat Wenzel Krötzl vor sich
3270 hatte, seines Zeichens im Nebenberuf Häuserschieber. Nicht nur, daß
3271 dies auf dem Türschild vermerkt stand, Herr Krötzl schrie auch,
3272 während er hin- und hertaumelte, immerzu:
3274 „Wann aner sagt, daß i b?soffen bin, so is er a jüdischer Gauner! I
3275 bin a g?wählter Nationalrat, an Abgeordneter und hab? fufzich
3276 Häuser zum verkaufen, die was früher denen Saujuden g?hört ham!“
3278 Leo hatte dann im Laufe der Zeit Gelegenheit, zu erfahren, daß Herr
3279 Krötzl nicht nur einer der wütendsten Antisemiten sei, sondern auch
3280 ein notorischer Trunkenbold, der sich gewöhnlich schon am Büfett
3281 des Parlaments seinen Frühstücksrausch kaufte. Nebenbei hatte er
3282 eine gewisse Beredsamkeit und genoß infolge seiner derben
3283 Ausdrucksweise viel Popularität unter seinen Wählern. Er war Witwer
3284 und beherbergte von Zeit zu Zeit eine angebliche Wirtschafterin bei
3285 sich, mitunter solche, die knapp das straffreie Alter von vierzehn
3286 Jahren besaßen.
3288 Die Bekanntschaft des Herrn Habietnik hatte Leo auf wesentlich
3289 bürgerlichere Art gemacht. Leo pflegte seinen Bedarf an Krawatten
3290 und Wäschestücken in dem Modehaus zu decken, das trotz seiner
3291 „Verloderung“ noch immer die besten Waren führte, und bei solcher
3292 Gelegenheit war er \pagenum{116} einmal mit Herrn Habietnik ins
3293 Gespräch gekommen. Herr Habietnik war entzückt, einen Franzosen von
3294 Distinktion zu bedienen, der sich tadellos trug und genau wußte,
3295 daß zu einem blauen Cheviotanzug eine perlengraue Seidenkrawatte am
3296 besten paßte, es kam zu einem angeregten Gespräch, im Verlaufe
3297 dessen Leo erkannte, wie sehr der intelligente Kaufmann unter den
3298 herrschenden Verhältnissen litt, und von da an trafen sich die
3299 beiden öfters in dem Laden, schließlich vereinbarten sie sogar hie
3300 und da eine Zusammenkunft im Graben-Café.
3302 Nach der Auflösung der Nationalversammlung beeilte sich Leo, mit
3303 Herrn Habietnik wieder in Fühlung zu kommen, und im Laufe der
3304 Unterhaltung fragte er ihn um seine Meinung über die künftige
3305 Entwicklung.
3307 Herr Habietnik schüttelte sorgenvoll das Haupt:
3309 „Also die Sozis arbeiten wieder mit Volldampf und werden die
3310 Stimmen, die sie das letztemal verloren hatten, zurückgewinnen. Die
3311 Christlichsozialen und Großdeutschen haben den Kopf verloren, sind
3312 mit ihrem Programm noch nicht herausgekommen, aber schließlich wird
3313 jeder, der nicht Sozialdemokrat ist, doch für eine der beiden
3314 Parteien stimmen müssen.“
3316 „So daß also vielleicht gar das Judengesetz in Kraft bleiben
3317 wird?“
3319 „Kann sein, wenn die Sozialisten nicht die Zweidrittelmehrheit, die
3320 zu jeder Verfassungsänderung notwendig ist, bekommen. Denn ich
3321 fürchte, daß die Christlichsozialen und Großdeutschen doch nicht
3322 den Mut haben werden, das Ausnahmsgesetz gegen die Juden
3323 aufzuheben. Das heißt, \pagenum{117} eigentlich müßte ich sagen,
3324 ich hoffe, denn wenn die Juden wieder kommen, so wird man mir am
3325 Ende gar das Geschäft wieder nehmen~–~–.“
3327 „Unsinn“, erklärte Leo energisch. „Was Sie haben, kann man Ihnen
3328 nicht mehr nehmen! Vielleicht, daß man es Ihnen abkaufen oder daß
3329 der frühere Firmeninhaber sich mit Ihnen zu einer Teilhaberschaft
3330 bequemen würde. Die Hauptsache ist aber doch wohl, daß Sie die
3331 Jagerhütln und die Lodenröcke wieder hinausschmeißen und Ihre
3332 Auslagen so arrangieren können, wie sie einst waren.“
3334 Begeisterung glomm in den Augen Habietniks auf und mit warmem,
3335 ehrlichem Ton erwiderte er:
3337 „Jawohl! Das ist die Hauptsache! Wenn ich daran denke, daß hier
3338 wieder einmal Leben und Luxus herrschen könnte, wie einst – nein,
3339 das ist ein zu schöner Traum, um wahr zu sein.“
3341 „Hören Sie, Herr Habietnik,“ sagte Leo, indem er seine Hand auf den
3342 Arm des Kaufmannes legte, „Sie sind der Mann, um den Traum wahr zu
3343 machen! Noch trennen uns Wochen von den Neuwahlen. Das genügt, um
3344 eine bürgerliche Partei, bestehend aus den fortgeschrittenen
3345 Elementen, den angesehenen Kaufleuten, den Gelehrten,
3346 Rechtsanwälten, Künstlern und Fabrikanten zu bilden, mit der
3347 offenen und ungeschminkten Parole: Aufhebung des Ausnahmegesetzes
3348 gegen die Juden! Nehmen Sie das heute noch in Angriff, bilden Sie
3349 ein zwölfgliedriges Komitee, in dem drei Kaufleute, drei
3350 Industrielle, drei Festangestellte und drei Leute mit freiem,
3351 akademischem Beruf sitzen, lassen Sie, da Sie noch keine Zeitung
3352 zur Verfügung haben, zehntausend \pagenum{118} Plakate drucken,
3353 gründen Sie dann Bezirkskomitees, betreiben Sie Propaganda von
3354 Straße zu Straße, von Haus zu Haus und der Erfolg kann nicht
3355 ausbleiben. Ich bin ein Fremder, kenne die Verhältnisse nicht so
3356 genau wie Sie, aber dafür bin ich objektiver und ich weiß ganz
3357 sicher, daß ein erheblicher Teil der Bevölkerung die neue Partei
3358 stürmisch begrüßen wird.“
3360 Herr Habietnik war Feuer und Flamme. Am selben Abend noch trommelte
3361 er ein halbes Hundert Kaufleute aus der Inneren Stadt, Fabrikanten,
3362 Rechtsanwälte zusammen, und um ein Uhr morgens war das Komitee
3363 konstituiert, dem ein gemeinsam gezeichnetes Millionenkapital zur
3364 Verfügung stand.
3366 Die neue Partei hieß „Partei der tätigen Bürger Österreichs“,
3367 stellte sich auf ein absolut bürgerlich-freisinniges Programm und
3368 begann mit einer lebhaften und temperamentvollen Agitation. Daß der
3369 Franzose Dufresne die Flugzettel und Aufrufe verfaßte, das wußte
3370 niemand als Herr Habietnik.
3372 Der Erfolg übertraf die kühnsten Erwartungen. Früher war die
3373 Bevölkerung jedem Versuch, eine demokratische Bürgerpartei zu
3374 gründen, mit größtem Mißtrauen entgegengetreten, weil sich in
3375 solcher Partei immer wieder die Juden vordrängten. Diesmal war das
3376 eine rein christliche Angelegenheit, die Namen der Parteiführer
3377 bürgten dafür, daß es sich nicht um eine von auswärtigen Juden
3378 angezettelte Verschwörung handelte, und alle die Leute, die durch
3379 das Judengesetz geschädigt worden waren, drängten sich in die
3380 Komiteelokale, um Mitglieder der neuen Partei zu werden.
3381 \pagenum{119} In hellen Scharen kamen die Kaufleute, die
3382 Juweliere, die Stückmeister der großen Schneider, die brotlos
3383 gewordenen Chauffeure, sie brachten ihre Frauen mit, immer größer
3384 wurde der Ansturm, trotz des Zeter- und Mordiogeschreies der
3385 christlichsozialen Blätter. Die „Arbeiter-Zeitung“ verhielt sich
3386 zurückhaltend und durchaus nicht aggressiv. Man sagte sich dort,
3387 daß zweifellos die Partei der tätigen Bürger den Sozialdemokraten
3388 Tausende von Stimmen entziehen würde, andererseits aber dorthin
3389 alle jene Stimmen strömen würden, die sonst sich der Wahl
3390 enthielten oder doch wieder den Christlichsozialen oder
3391 Großdeutschen zuliefen. Also beschränkte sie sich darauf, hier und
3392 dort gegen das Programm der Bürgerlichen zu polemisieren, im
3393 geheimen aber wurden in zweifelhaften Bezirken sogar Vereinbarungen
3394 geschlossen.
3396 Und der Tag der Wahlen, die auf den 3. April festgesetzt worden
3397 waren, rückte näher und näher, die ganze Welt begann sich für sie
3398 zu interessieren, die fremden Börsen nahmen eine abwartende Haltung
3399 ein und ließen die Krone auf ihrem Tiefstand ruhen, und Wiens
3400 bemächtigte sich zunehmende Aufregung, die wiederholt zu Exzessen
3401 und bösartigen Tumulten führte. Denn alle Parteien arbeiteten mit
3402 jedem verfügbaren Mittel: die antisemitischen schrien „Verrat!“ und
3403 erzählten Schauergeschichten von der Verschwörung des
3404 internationalen Judentums; die Sozialdemokraten hetzten gegen die
3405 Bauern, die die arbeitende Stadtbevölkerung ausplündern und gegen
3406 die christliche Demagogie, die sich nur selbst durch die Ausweisung
3407 der Juden hatte bereichern wollen; die neue Bürgerpartei aber
3408 führte immer wieder \pagenum{120} auf riesengroßen Plakaten
3409 Ziffern auf, die bewiesen, wie furchtbar die Verelendung Wiens seit
3410 der Ausweisung der Juden, wie Wien tatsächlich zu einem Riesendorf
3411 geworden, wie jeder Schwung und Zug ins Große geschwunden. Und
3412 immer wieder versicherte sie in allen Variationen und Tonarten:
3414 „Das Ausnahmsgesetz gegen die Juden muß aufgehoben werden, aber
3415 gleichzeitig wird es Sache einer klugen, gewissenhaften Regierung
3416 sein, alle jene Elemente, die nicht schon vor dem Weltkrieg in Wien
3417 seßhaft waren, fern zu halten, es sei denn, sie können vor einem
3418 zuständigen, aus Bürgern und Arbeitern zusammengesetzten
3419 Gerichtshof nachweisen, daß sie willens und fähig sind, in
3420 Österreich nutzbringende, produktive, werterzeugende, dem
3421 Gesamtwohl notwendige Arbeit zu leisten.“
3423 Beim Bundeskanzler fanden täglich bis in die Nacht währende
3424 Sitzungen statt, in denen beraten wurde, wie man am besten der
3425 neuen Partei und dem wieder erstarkten Sozialismus entgegenarbeiten
3426 könnte. Schwertfeger hatte die richtige Empfindung gehabt. Es mußte
3427 ein neuer, mächtiger Geldkredit aufgebracht werden, die Krone mußte
3428 steigen, die Bevölkerung erfahren, daß das Christentum der ganzen
3429 Welt mit ihr solidarisch sei – dann würde die Regierung den Sieg
3430 erringen. Und der Finanzminister Professor Trumm hatte sich gleich
3431 nach der Auflösung des Hauses auf die Beine gemacht und war nach
3432 Berlin, Paris und London gefahren, um zu betteln und zu beschwören.
3433 Vergebens! Die großen christlichen Vereinigungen im Ausland, die
3434 französischen Antisemiten, die holländischen Christen
3435 \pagenum{121} – sie alle hatten Worte des Mitempfindens und der
3436 Sympathie, erkundigten sich lebhaft nach dem Schicksal der vielen
3437 Millionen, die sie der guten Sache schon
3438 \erratum{geopfert}{geopfert,} und hielten die Taschen fest zu. Die
3439 größte Enttäuschung bildete das Verhalten des amerikanischen
3440 Billionärs Mister Huxtable, auf den man am sichersten gerechnet
3441 hatte. Er ließ alle Telegramme und Bittschriften unbeantwortet, und
3442 zehn Tage vor den Wahlen kam ein Kabeltelegramm des
3443 Vertrauensmannes der österreichischen Regierung in Newyork, das
3444 folgenden niederschmetternden Wortlaut hatte:
3446 „Huxtable unnahbar. Hat sich heimlich mit einer jungen Jüdin aus
3447 Chicago vermählt. Beabsichtigt, den der österreichischen Regierung
3448 vor drei Jahren eingeräumten Kredit der jüdischen Großbank „Kuhn
3449 und Loeb“ um ein Viertel zu verkaufen.“
3451 Schwertfeger begann in Düsterkeit zu erstarren, die antisemitischen
3452 Häuptlinge verloren vollends den Kopf. Bürgermeister Laberl aber
3453 tat etwas, was die ungeheuerste Sensation erregte. Drei Tage vor
3454 den Wahlen trat er aus dem christlichsozialen Bürgerklub aus und
3455 der Partei der tätigen Bürger bei. Und seinem Beispiel folgte mehr
3456 als die Hälfte der Gemeinderäte.
3458 An diesem Tage wehte ein warmer Wind die letzten Schneemassen von
3459 den Abhängen der Wiener Berge fort und oben im Atelier in der
3460 Billrothstraße hielten sich zwei junge Menschenkinder heiß und
3461 sehnsuchtsvoll umfangen. Und er flüsterte:
3463 „Oh, wärst du schon mein!“
3465 Und sie erwiderte traumverloren:
3467 \pagenum{122}„Wenn du dir schon den Knebelbart abnehmen
3468 könntest; er kitzelt so arg!“
3470 \tb{* * *}
3471 Die Wahlen vollzogen sich unter einer Beteiligung, wie sie kaum
3472 jemals auf der Welt erlebt worden. Greise, Kranke, Lahme kamen zu
3473 den Urnen, und nachmittags, als die Wahllokale geschlossen wurden,
3474 wußte man, daß in Wien 99 Prozent der Wahlberechtigten ihre
3475 Bürgerpflicht getan. Dann begann im ganzen Lande die Zählung der
3476 Stimmen, die bis in die frühen Morgenstunden währte, und vormittags
3477 verkündeten Extra-Ausgaben der „Arbeiter-Zeitung“ und der
3478 „Weltpresse“ das staunenswerte Resultat.
3480 Den Christlichsozialen und Großdeutschen waren nur die Landbewohner
3481 treu geblieben, Wien hatte fast ausschließlich die Kandidaten der
3482 Sozialisten und der Bürgervereinigung gewählt, ebenso die kleinen
3483 Städte und das österreichische Industriegebiet. Und so setzte sich
3484 denn das neue Parlament folgendermaßen zusammen: Siebzig
3485 Sozialdemokraten, sechsunddreißig Mitglieder der Vereinigung der
3486 tätigen Bürger, dreißig Christlichsoziale und vierundzwanzig
3487 Großdeutsche. Das ergab \erratum{160}{106} Stimmen für die
3488 Aufhebung des Ausnahmsgesetzes gegen die Juden, vierundfünfzig für
3489 die Aufrechterhaltung. Und damit schien der schöne Traum Leos, der
3490 freisinnigen Bürger und Sozialdemokraten zerstört, denn es fehlte
3491 ihnen genau eine Stimme zur Zweidrittelmajorität, ohne die eine
3492 Änderung der Verfassung nicht vorgenommen werden konnte. Trotz
3493 ihrer vernichtenden Niederlage, trotz der Tatsache, \pagenum{123}{
3494 } daß die Regierung sofort demissionieren und einer
3495 sozialistisch-demokratischen weichen mußte, jubelten die
3496 Antisemiten, sie veranstalteten Kundgebungen unter der Parole „Die
3497 Juden bleiben draußen!“
3499 Eine einzige Angst beherrschte die besiegten Sieger: Die Mehrheit
3500 hatte verkündet, daß sie schon in der zweiten Sitzung des
3501 neugewählten Hauses, die in acht Tagen stattzufinden hatte, den
3502 Dringlichkeitsantrag auf Aufhebung des Judengesetzes und
3503 Wiederherstellung der Freizügigkeit für jedermann stellen würde.
3504 Wie nun, wenn ein Christlichsozialer oder großdeutscher Nationalrat
3505 der Sitzung fernbleiben würde? An ein beabsichtigtes Fernbleiben
3506 war nicht zu denken, aber schließlich konnte einer der Abgeordneten
3507 vom Lande krank werden oder einen Unfall erleiden und dieser eine
3508 würde den Gegnern die Zweidrittelmajorität sichern. Die
3509 unterlegenen Parteien ließen daher für sämtliche gewählte
3510 Nationalräte aus ihrem Lager am Tage vor dem Zusammentritt des
3511 Hauses Extrazüge mit je einem begleitenden Arzt bereitstellen. Auf
3512 diese Weise glaubten sie sich vor jedem verhängnisvollen
3513 Zwischenfall sicher. Für Wien selbst waren Vorsichtsmaßregeln nicht
3514 notwendig, denn in Wien war einzig und allein der Häuseragent Herr
3515 Wenzel Krötzl von den Weinbauern und Wirten des neunzehnten
3516 Bezirkes, denen es in dem judenreinen Wien sehr gut ging, gewählt
3517 worden. Seiner war man in jeder Beziehung sicher und er
3518 \erratum{erfreut}{erfreute} sich einer vorzüglichen Gesundheit.
3520 Dieser Herr Krötzl bildete nun die einzige und letzte Hoffnung
3521 Leos, während Lotte unter der schweren Enttäuschung \pagenum{124}{
3522 } fast zusammenbrach. Sie weinte den ganzen Tag, kaum daß sie noch
3523 die Energie aufbrachte, täglich zu Leo zu eilen, der sich vergebens
3524 bemühte, ihr Mut und Hoffnung einzuflößen. Hofrat Spineder, der
3525 selbst durch den Fortbestand des Judengesetzes schwer gekränkt und
3526 enttäuscht wurde, kannte sich in seiner Tochter nicht mehr aus und
3527 begann ernstlich an ihrem Verstand zu zweifeln. Sorgenvoll besprach
3528 er ihr merkwürdiges Verhalten mit seiner Gattin.
3530 „Was soll das alles heißen? Hat Leo vergessen, verbringt halbe Tage
3531 mit einem neuen Verlobten, diesem Franzosen, den ich zu hassen
3532 beginne, ohne ihn zu kennen, läßt sich von ihm beschenken, erklärt
3533 plötzlich, daß sie am liebsten beide, den Leo und den Dufresne,
3534 nehmen würde, und nun, da Leo nicht zurückkommen kann, sitzt sie da
3535 und weint sich die Augen aus dem Kopf. Ich glaube, das Mädel ist
3536 übergeschnappt!“
3538 Frau Spineder seufzte tief.
3540 „Mein Lieber, ich kenne selbst mein Kind nicht mehr und habe keine
3541 Ahnung, was in seinem Herzen vorgeht. Jedenfalls müssen wir, wenn
3542 sich zeigt, daß das Judengesetz bestehen bleibt, darauf dringen,
3543 diesen Herrn Dufresne kennen zu lernen.“
3545 Hofrat Spineder nickte.
3547 „Jawohl! Und sollte sich Lotte abermals weigern oder die Sache
3548 hinauszuschieben versuchen, so schicken wir sie zu Tante Minna nach
3549 Klagenfurt!“
3551 Leo überlegte Tag und Nacht und hatte schließlich einen festen Plan
3552 gefaßt, einen Plan, der entscheiden sollte, ob er \pagenum{125}
3553 weiterhin mit offenem Visier in Wien bleiben konnte oder zurück
3554 nach Paris mußte. Fiel das Gesetz nicht, so wurde seine Rückreise
3555 zwingende Notwendigkeit, da sein Freund Henry Dufresne, dessen
3556 Namen er führte, jetzt selbst aus Südfrankreich wieder nach Paris
3557 übersiedeln wollte und von da an die Gefahr einer Aufdeckung seines
3558 verwegenen Spiels vorlag.
3560 \tb{* * *}
3561 Am Tage der Eröffnung der Nationalversammlung, also einen Tag vor
3562 der ersten entscheidenden Sitzung, besorgte Leo Strakosch, mit
3563 einem Handkoffer bewaffnet, allerlei Einkäufe. Bei Sacher kaufte er
3564 für einen phantastischen Preis, für den man einmal ein ganzes
3565 Ringstraßenhaus bekommen hätte, eine Straßburger Gänseleberpastete
3566 in der Terrine, im Hotel Imperial ließ er sich drei Flaschen eines
3567 köstlichen weißen Burgunders, drei Flaschen des schwersten und
3568 kostbarsten Bordeauxweines geben, außerdem eine Flasche uralten
3569 französischen Kognaks. Abends lauerte er dann vor dem Haustor dem
3570 Herrn Krötzl auf, der sich gerade nach der feierlichen
3571 Eröffnungssitzung des Hauses ins Wirtshaus begeben wollte,
3572 gratulierte ihm herzlich zu seiner Wiederwahl und sagte:
3574 „Lieber Herr Nationalrat, ich möchte morgen auch der historischen
3575 Tagung des Hauses beiwohnen. Um elf ist der Beginn der Sitzung,
3576 also werde ich auf zehn Uhr mein Auto bestellen und Sie, wenn es
3577 Ihnen recht ist, mitnehmen.“
3579 Herr Krötzl fühlte sich durch die Liebenswürdigkeit des vornehmen
3580 und, wie es schien, sehr reichen jungen Franzosen \pagenum{126}
3581 höchst geschmeichelt, er nahm die Einladung dankend an und fügte
3582 hinzu:
3584 „Bin Ihnen sogar sehr verbunden, wenn Sie um zehn Uhr zu mir
3585 kommen, weil i? dann net riskier?, zu verschlafen. Meine
3586 Wirtschafterin, das dumme Luder, vergißt am End? noch, mich zu
3587 wecken, und i? hab? an so schweren Schlaf, daß i die Weckuhr net
3588 hör?. Dös wär? aber a schöne G?schicht?, wann i morgen verschlafen
3589 tät. Nachher hätten mir in vierundzwanzig Stunden die Saujuden, die
3590 verfluchten, wieder in Wien!“
3592 Henry Dufresne nahm die übernommene Pflicht, Österreich vor den
3593 Juden zu schützen, sehr ernst, denn er läutete schon um halb zehn
3594 Uhr bei Herrn Krötzl an. Ein schlumpiges, zwar ungewaschenes, aber
3595 noch geschminktes junges Ding öffnete ihm und ließ den ihr
3596 wohlbekannten hübschen Franzosen, der eine mächtige Schachtel trug,
3597 ohneweiters ein, ein wenig enttäuscht, daß er ihr und ihren
3598 reichlichen Blößen nicht die geringste Aufmerksamkeit schenkte,
3599 sondern sich damit begnügte, ihr eine Banknote zu geben und sie zu
3600 bitten, gleich die Morgenblätter aus der Trafik zu holen.
3602 Leo packte im Vorzimmer umständlich die Schachtel aus, dann, als
3603 das Mädchen gegangen war, um seinen Auftrag auszuführen, begab er
3604 sich rasch in die Küche, rückte den Stundenzeiger der Kuckucksuhr
3605 um eine volle Stunde zurück, schlich sich auf den Zehenspitzen in
3606 das Wohnzimmer, bearbeitete dort die große Pendeluhr in gleicher
3607 Weise und öffnete schließlich, ohne anzuklopfen, leise die Türe zum
3608 Schlafzimmer des Herrn Nationalrates. Richtig lag dieser mit
3609 offenem Maul sägend und schnarchend in seinem Bett \pagenum{127}
3610 und auf dem Nachtkästchen erblickte Leo sofort die goldene
3611 Taschenuhr, die eben auf ein viertel vor zehn wies. Blitzschnell
3612 war auch sie auf ein viertel vor neun gestellt und dann machte sich
3613 der Franzose an die unerquickliche Arbeit, Herrn Krötzl, das Wiener
3614 Postament der christlichsozialen Partei, zu wecken. Es dauerte
3615 geraume Zeit, bevor Krötzl endlich die verquollenen Äuglein
3616 aufschlug und die Situation begriff.
3618 „Jessas, der Herr Dufresne, is? schon so spät?“ Und dann, mit einem
3619 Blick auf die Taschenuhr, brummend: „Noch net amal Neun is?! Da
3620 hätt? i? noch a ganze Stund? schlafen können!“
3622 „Jawohl,“ sagte Leo lachend, „wenn ich nicht eine bessere
3623 Unterhaltung für Sie und mich wüßte. Stellen Sie sich nur vor, wie
3624 ich gestern nacht nach Hause komme, finde ich ein Postpaket aus
3625 Paris vor mit den besten Weinen, die Frankreich besitzt. Na, und
3626 weil ich mich wirklich über Ihren Sieg von ganzem Herzen freue,
3627 denke ich, daß wir, bevor wir ins Parlament fahren, noch eine
3628 kleine Siegesfeier unter uns veranstalten können. Sie sind ja
3629 Kenner, Herr Nationalrat, und werden sehr bald zugeben, einen
3630 solchen Wein, wie ich ihn Ihnen kredenze, im Leben noch nicht
3631 genossen zu haben.“
3633 Wie elektrisiert sprang Herr Krötzl aus dem Bett, zog sich
3634 notdürftig an und streichelte dann bewundernd die eine der sechs
3635 Weinflaschen nach der anderen, die mit allen Zeichen des
3636 ehrwürdigen Alters vor ihm standen. Weißbrot war vorhanden, die
3637 Straßburger Pastete entlockte Herrn Krötzl ein rülpsendes Grunzen,
3638 das sich in einen Jubelhymnus \pagenum{128} verwandelte, als das
3639 erste Glas des goldgelben Burgunders durch seine Kehle rann.
3641 „A so a Weinerl! Wann man den immer hätt?, dann tät? man an anderer
3642 Mensch wer?n! Ka Wunder, wenn die Franzosen so an Schick zum Leben
3643 haben, wo ?s so an Wein bei ihnen gibt!“
3645 Das zweite Glas wurde auf den Sieg des Herrn Krötzl geleert, das
3646 dritte auf „Nieder mit den Juden“, das vierte auf „Hoch die schöne,
3647 judenreine Stadt Wien“. Dann wurde einer Flasche des blutroten
3648 Bordeaux der Hals gebrochen, und als sie zur Neige ging und Leo die
3649 dritte Flasche entkorkte, trug ihm Krötzl die Bruderschaft an. Bei
3650 der vierten Flasche machte er den Franzosen mit den Geheimnissen
3651 seines Sexuallebens bekannt und erklärte, daß Frauenzimmer über
3652 vierzehn eigentlich alte Weiber seien. Die sechste Flasche wurde
3653 von Leo, ohne daß Krötzl, dem sich die Welt vor den Augen zu drehen
3654 begann, es merkte, zur Hälfte mit Kognak gemischt, und nun hieß es
3655 – Schluß machen, weil der Herr Nationalrat sonst überhaupt nicht
3656 mehr die Treppen hinuntergebracht hätte werden können und die
3657 richtiggehende Uhr auf zwölf ging, also die Gefahr bestand, daß
3658 jeden Augenblick die Parteigenossen Krötzls nach ihm fahnden
3659 würden. Daß Leo bei solcher Zecherei selbst vollständig nüchtern
3660 geblieben war, verdankte er lediglich dem Umstand, daß er den
3661 Inhalt seines Glases regelmäßig unter den Tisch auf den schönen
3662 Perserteppich gegossen hatte.
3664 Mit ungeheurer Anstrengung beendigte Leo die Toilettierung des
3665 Nationalrates, dann trug er ihn fast die vielen Treppen hinunter
3666 und beförderte ihn mit Hilfe des \pagenum{129} Chauffeurs in das
3667 Innere des geschlossenen Automobils. Grinsend hatte der Chauffeur
3668 dem Franzosen, den er oft zu führen pflegte, zugenickt. Leo stieg
3669 ein, setzte sich neben Krötzl, der schon als halbe Weinleiche in
3670 der Ecke lag, und in mäßigem Tempo ging es vorwärts.
3672 Am Tage vorher hatte Leo mit dem Chauffeur eine wichtige
3673 Unterredung gehabt, die mit der Frage begann:
3675 „Wollen Sie hundert französische Francs verdienen?“
3677 Der Chauffeur hatte ungeheure Augen gemacht, war blutrot geworden
3678 und erwiderte keuchend:
3680 „Herr, für hundert Francs führ? ich Sie auf den Mond!“
3682 Aber der Franzose erwies sich als wesentlich bescheidener. Er
3683 erklärte, daß es sich um eine Wette handle und er nichts weiter zu
3684 tun habe, als vor dem Haus in der Billrothstraße zu warten, bis er,
3685 Monsieur Dufresne, mit einem voraussichtlich schwergeladenen Herrn
3686 einsteigen werde. Daraufhin habe das Auto stadtwärts bis zur
3687 Volksoper zu fahren, wo er aussteigen werde. Nunmehr müsse die
3688 Fahrt weiter bis zur großen Irrenanstalt am Steinhof, die weit
3689 außerhalb im Südwesten der Stadt liegt, gehen. Dort müsse der
3690 Chauffeur so lange stehen bleiben, bis sein betrunkener Gast sich
3691 melde. Und dann folgten weitere ausführliche Instruktionen für den
3692 intelligenten, lustigen Chauffeur.
3694 Alles wickelte sich programmäßig ab. Bevor noch das Auto bei der
3695 Volksoper angelangt war, schlief Herr Krötzl, nachdem er sich
3696 heftig übergeben hatte, den Schlaf des gerechten Säufers und Leo
3697 konnte ungestört ausspringen. \pagenum{130} Während Leo nach dem
3698 Parlament eilte, setzte der Chauffeur die fast halbstündige Fahrt
3699 nach Steinhof fort, wo er auf offener Straße seelenruhig stehen
3700 blieb und eine der guten Zigaretten Leos nach der anderen rauchte.
3701 So wurde es schließlich nahezu zwei Uhr, als endlich Herr Krötzl
3702 mit schmerzendem Schädel erwachte. Minuten vergingen, bevor er die
3703 Situation begriff und sich endlich klar darüber war, daß er sich in
3704 total verunreinigtem Zustande allein in einem Automobil befand.
3705 Schließlich, nach weiteren Minuten, erkannte er sogar, daß er sich
3706 durchaus nicht vor dem Parlament, sondern in der unmittelbaren Nähe
3707 der Irrenanstalt am Steinhof aufhielt. Er sah verwirrt auf seine
3708 Uhr. Da sie zurückgerichtet war, wies sie auf eins. Entsetzt riß
3709 Krötzl den Wagenschlag auf, schimpfend und tobend drang er auf den
3710 Chauffeur ein, der gleichmütig erklärte, er habe als Fahrtziel
3711 Steinhof verstanden und der andere Herr sei unterwegs ausgestiegen.
3712 Mit den Fäusten fuhr sich Krötzl in die Haare, er weinte, schrie,
3713 bekam fast einen Tobsuchtsanfall, nannte den Chauffeur einen
3714 Staatsverbrecher, sprach von einer furchtbaren Verschwörung und
3715 Rache und flehte schließlich den Wagenlenker, der auch grob zu
3716 werden begann, an, er möge mit Windeseile nach dem Parlament
3717 fahren.
3719 Tausend Meter etwa fuhr dann auch das Auto, dann blieb es weit und
3720 breit von jeder Behausung entfernt stehen, und achselzuckend
3721 erklärte der Chauffeur, daß etwas am Motor in Unordnung sei und er
3722 nicht weiter könne.
3724 Im Galopp rannte der nüchtern gewordene Krötzl die tausend Meter
3725 nach der Irrenanstalt zurück. Dort benahm \pagenum{131} er sich
3726 dem Pförtner gegenüber so aufgeregt, daß dieser ihn für einen
3727 entsprungenen Insassen hielt und Wärter herbeirief. Es verging eine
3728 weitere halbe Stunde, bevor Krötzl zu einem Fernsprecher geführt
3729 wurde, er bekam natürlich keine Verbindung mit dem Parlament, da
3730 dort alle Nummern besetzt waren, und als er endlich die Verbindung
3731 hatte und der Parteisekretär zur Stelle gebracht war, schrie ihm
3732 dieser in die Ohren, daß er ein besoffenes Schwein sei; ein von den
3733 Juden gekaufter Gauner und bereits alles vorbei wäre.
3735 „Das Judengesetz ist gefallen!“ Mit diesen Worten läutete er dem
3736 unglücklichen Nationalrat in die Ohren, der daraufhin in eine
3737 lange, wohltätige Ohnmacht fiel.
3739 \tb{* * *}
3740 Als Leo das Parlamentsgebäude betrat, hatte der neugewählte
3741 Präsident eben die schon am Tage vorher an Stelle des
3742 zurückgetretenen Kabinetts gewählten Minister begrüßt und
3743 mitgeteilt, daß zwei Dringlichkeitsanträge eingebracht worden
3744 seien, dahingehend, den Paragraph 11 der Bundesverfassung, der den
3745 Juden und Judenabkömmlingen den Aufenthalt in Österreich
3746 untersagt, zu streichen.
3748 Ein sozialdemokratischer Nationalrat erhob sich und stellte den
3749 Antrag, über die gestellten Dringlichkeitsanträge sofort zu
3750 verhandeln. Trotz des tosenden Lärmens der Christlichsozialen und
3751 Großdeutschen pflichtete die Mehrheit bei, worauf der Präsident dem
3752 Führer der Sozialdemokraten, Doktor Wolters, als erstem Proredner
3753 das Wort erteilte.
3755 \pagenum{132}Wolters wies darauf hin, daß er und seine
3756 Parteikollegen schon vor fast drei Jahren gegen das Gesetz gewesen
3757 seien, das einen Faustschlag gegen die Menschenrechte, einen
3758 Rückfall in das finstere Mittelalter bedeutete. Damals sei die
3759 Opposition niedergeschrieen, beschimpft und aus dem Saal gedrängt
3760 worden, heute aber habe das verführte und berauschte Volk sie in
3761 solcher Zahl zurückgeführt, daß nunmehr die Macht in ihren und den
3762 Händen anderer freisinniger Männer liege. Wolters entwickelte dann
3763 die Ereignisse der letzten Jahre, wies den furchtbaren
3764 Zusammenbruch Österreichs nach, führte schlagende Ziffern an und
3765 schloß mit den Worten:
3767 „Das kühne, allzukühne Werk des Mannes, der sich göttliche Macht
3768 anmaßte und nun nicht einmal mehr einen Sitz in diesem Hause
3769 bekommen konnte, ist zusammengebrochen, und draußen warten
3770 hunderttausend Arbeitslose und mit ihnen alle tätigen, zur
3771 Verzweiflung getriebenen Kräfte, daß das neue Haus einer neuen
3772 Zukunft die Tore öffne und unseren jüdischen Mitbürgern die
3773 Möglichkeit gebe, wieder an unserer Seite nicht gegen uns, sondern
3774 mit uns ihre Intelligenz, ihre Emsigkeit und schöpferische
3775 Arbeitskraft im Interesse des schwergeprüften und fast ruinierten
3776 Landes zu betätigen.“
3778 Nachdem der Beifallssturm, an dem sich auch die Galerie beteiligte,
3779 verklungen war, ergriff der zweite Pro-Redner, Herr Habietnik, der
3780 von den Geschäftsleuten der Inneren Stadt sein Mandat bekommen
3781 hatte, das Wort. In launiger, oft durch schallende Heiterkeit
3782 unterbrochener Rede schilderte \pagenum{133} er das verarmte,
3783 verdorfte Wien von heute, gab die Erfahrungen im eigenen Betriebe
3784 zum besten und sagte:
3786 „Posemukel ist eine Großstadt im Vergleiche zu Wien von heute. Wien
3787 ist ein ungeheures Dorf mit anderthalb Millionen Einwohnern
3788 geworden, und wenn wir die Juden nicht wieder hereinlassen, so
3789 werden wir es demnächst erleben, daß statt vornehmer Geschäfte in
3790 der Kärntnerstraße Jahrmarktsbuden stehen und auf dem Stephansplatz
3791 Viehmärkte werden abgehalten werden. Die Wiener sind in ihrem
3792 Tiefinnersten in Verzweiflung über diese Rückentwicklung, die sie
3793 nicht aufhalten können und nicht zuletzt haben die Wiener Frauen
3794 und Mädchen, indem sie die christlichsoziale Partei im Stich
3795 ließen, gezeigt, daß sie wieder ein blühendes, lustiges Wien voll
3796 Luxus, auch wenn es mitunter einen orientalischen Anstrich hat,
3797 haben wollen.“
3799 Die weiteren Ausführungen Habietniks gingen in einer seltsamen
3800 Unruhe verloren, die sich über das Haus verbreitete. Was war
3801 geschehen? Nun, man hatte endlich auf der rechten Seite des Hauses
3802 entdeckt, daß der Nationalrat Krötzl nicht anwesend war, und eine
3803 Katastrophenstimmung bemächtigte sich der Christlichsozialen und
3804 Großdeutschen. Sie hörten nicht einmal ihren eigenen Kontra-Redner
3805 an, die Diener wurden mit Automobilen ausgeschickt, um Krötzl aus
3806 seinem Bureau in der Inneren Stadt oder aus der Wohnung in der
3807 Billrothstraße zu holen.
3809 Noch wäre vielleicht die Situation zu retten gewesen, wenn man die
3810 Geistesgegenwart gehabt hatte, den Kontra-Redner zu veranlassen,
3811 stundenlang bis zum Eintreffen Krötzls zu sprechen. Aber man hatte
3812 total den Kopf verloren, \pagenum{134} der christlichsoziale
3813 Redner, Herr Wurm, kürzte, als er die Unruhe bemerkte und seine
3814 Genossen verschwinden sah, seine Rede sogar ab, und schon war ein
3815 bürgerlicher Antrag auf Schluß der Debatte und Abkürzung der
3816 weiteren Redezeiten auf fünf Minuten mit der erforderlichen
3817 Zweidrittelmehrheit angenommen.
3819 Vergebens schrieen die überrumpelten Antisemiten Zeter und Mordio,
3820 der sozialistische Präsident waltete mit eiserner Energie seines
3821 Amtes, entzog jedem der wenigen schon vorgemerkten Redner nach fünf
3822 Minuten das Wort und unter enormer Spannung und allgemeiner
3823 Aufregung strömten die Abgeordneten wieder in den Saal, um bei der
3824 kommenden namentlichen Abstimmung anwesend zu sein.
3826 Herr Krötzl war noch immer nicht da, die Diener konnten nur
3827 berichten, daß er in seinem Bureau überhaupt nicht gewesen und sein
3828 Wohnhaus in Begleitung eines anderen Herrn vormittags, ersichtlich
3829 angeheitert, verlassen habe.
3831 Ein Großdeutscher machte den letzten Rettungsversuch. Er erbat und
3832 erhielt das Wort, um zur Geschäftsordnung zu sprechen und sagte:
3834 „Der Nationalrat Herr Krötzl ist nicht anwesend und wir haben
3835 Anzeichen dafür, daß er mit Gewalt ferne gehalten wird, ja wir
3836 haben begründeten Anlaß zur Befürchtung, daß er das Opfer eines
3837 Verbrechens geworden ist. Unter solchen Umständen kann unmöglich
3838 über ein Gesetz abgestimmt werden, das über das Schicksal des
3839 Landes entscheiden wird. Wenn auf Seite der neuen Mehrheit dieses
3840 Hauses auch nur ein Funken Anstandsgefühl herrscht, so wird sie mit
3841 mir \pagenum{135} darin übereinstimmen, daß wir uns zunächst auf
3842 zwei Stunden vertagen. Bis dahin werden wir wohl Klarheit darüber
3843 haben, ob unser hochverehrter Kollege, Herr Nationalrat Krötzl,
3844 überhaupt noch unter den Lebenden weilt.“
3846 Totenstille entstand nach diesen Worten, die nicht zurückzuweisen
3847 waren.
3849 Sollte Krötzl wirklich mit Gewalt verhindert worden sein, an der
3850 Sitzung teilzunehmen, so mußte man wohl oder übel warten.
3852 In diesem höchst kritischen Augenblick schlich sich ein Herr mit
3853 Knebelbart unbeobachtet in den Sitzungssaal, winkte Herrn Habietnik
3854 zu sich heran und flüsterte vor Aufregung keuchend mit ihm, worauf
3855 sich Herr Habietnik zum Worte meldete.
3857 „Ich kann dem Hohen Haus auf Ehr? und Gewissen versichern, daß Herr
3858 Krötzl nicht ermordet und auf keinerlei gewaltsame Weise verhindert
3859 wurde, dieser so überaus wichtigen Sitzung beizuwohnen. Herr Krötzl
3860 \erratum{befinde}{befindet} sich irgendwo in einem Automobil, in
3861 dem er einen Kanonenrausch, von dem ihn der Chauffeur nicht
3862 erwecken kann, ausschläft. Der sehr ehrenwerte Herr Krötzl, diese
3863 einzige Wiener Zierde der christlichsozialen Partei, hat nämlich
3864 schon am frühen Morgen in Gesellschaft eines lustigen Kumpanen,
3865 seines Wohnungsnachbars, eine kleine Siegesfeier begangen und
3866 entschieden mehr getrunken, als er verträgt. Sein Nachbar, der mir
3867 diese Mitteilung macht und den ich persönlich als zuverlässigen
3868 Ehrenmann kenne, fuhr dann mit Krötzl in einem Autotaxi hieher,
3869 mußte aber vorzeitig aussteigen, weil er den Gestank im Wagen nicht
3870 aushielt. Herr Krötzl \pagenum{136} gehört nämlich zu jener
3871 alten Garde, die sich lieber übergibt als stirbt. Wo sich in diesem
3872 Augenblick die springlebendige Leiche des Herrn Krötzl befindet,
3873 weiß ich nicht, aber das geht uns auch nichts an und man wird
3874 unmöglich verlangen, daß wir uns vertagen, bis Herr Krötzl nüchtern
3875 geworden ist.“
3877 Tosende Heiterkeit erfüllte das Haus und es wurde nunmehr nach der
3878 Anordnung des Präsidenten zur Abstimmung geschritten.
3879 Hundertundsechs Nationalräte stimmten für die Eliminierung des
3880 Ausnahmsgesetzes, dreiundfünfzig dagegen – das Gesetz war gefallen!
3881 Und die hunderttausend Menschen, die sich auf der Straße vor dem
3882 Parlament angesammelt hatten, riefen diesmal nicht „Heil!“, sondern
3883 „Hurra!“ Sie waren nicht so begeistert wie vor drei Jahren, sondern
3884 ein wenig beschämt, hatten aber wieder ihren Humor gefunden und
3885 schon begannen Witze in der Luft zu schwirren.
3887 Leo hatte nur die Abstimmung abgewartet, dann stürzte er aus dem
3888 Parlamentsgebäude, warf sich in ein Autotaxi und fuhr nach der
3889 Linken Wienzeile zur „Arbeiter-Zeitung“. Dort ließ er sich in
3890 dringender Angelegenheit beim Chefredakteur melden, mit dem er eine
3891 halbstündige Unterredung ohne Zeugen hatte. Als er sich
3892 verabschiedete, schüttelte ihm der Redakteur kräftig beide Hände
3893 und sagte lachend:
3895 „Sie haben Außerordentliches geleistet und ich freue mich mit Ihnen
3896 von ganzem Herzen! Ihre Frechheit bewundere ich einfach! Man kann
3897 da wirklich nicht umhin, von~–“
3899 „Jüdischer Frechheit zu sprechen“, ergänzte Leo vergnügt und eilte
3900 die Treppen hinab.
3902 \tb{* * *}
3903 \pagenum{137}Kaum waren die Extra-Ausgaben der Zeitungen
3904 erschienen, die das Ende der Judenverbannung verkündeten, als auch
3905 schon eine zweite Extraausgabe der „Arbeiter-Zeitung“ ausgerufen
3906 wurde:
3908 \begin{center}
3909 \textit{Die Krone steigt!}
3911 \end{center}
3912 Zürich. Auf der hiesigen Börse wurden die drahtlich und
3913 telephonisch einlangenden Nachrichten von der entscheidenden
3914 Sitzung der Wiener Nationalversammlung mit fieberhaftem Interesse
3915 verfolgt. Kaum war das Fallen des Antijudengesetzes zur Gewißheit
3916 geworden, als auch schon umfangreiche Kronenankäufe, darunter
3917 solche von amerikanischen und englischen Finanzgruppen, erfolgten.
3918 Die österreichische gestempelte Krone ging sprunghaft auf das
3919 Doppelte, zum Börsenschluß sogar auf das Dreifache hinauf.
3921 Um sechs Uhr abends erschien eine dritte Extra-Ausgabe, die in ganz
3922 Wien Aufsehen und mit Galgenhumor gemischte Heiterkeit hervorrief.
3923 Die Nachricht lautete:
3925 \begin{center}
3926 \textit{Ankunft des ersten Juden in Wien.}
3928 \end{center}
3929 Wie wir mitteilen können, ist soeben der erste Jude aus dem Exil
3930 nach Wien zurückgekehrt. Es ist dies der junge, aber bereits
3931 weltberühmte Maler und Radierer Leo Strakosch, der die ganze Zeit
3932 von Heimweh erfüllt in Paris verbracht und sich vorgestern von dort
3933 an die österreichisch-mährische Grenze nach Lundenburg begeben
3934 hatte. Als er telephonisch von der Nichtigkeitserklärung des
3935 Ausweisungsgesetzes erfuhr, begab er sich sofort per Automobil nach
3936 seiner Vaterstadt Wien. Er hält sich derzeit im Hause seines
3937 zukünftigen Schwiegervaters, des Hofrates Spineder, in der
3938 \pagenum{138} Kobenzlgasse auf, wo er nach jahrelanger bitterer
3939 Trennung die in Treue und Liebe seiner harrende Braut umarmt.
3941 Diese Extra-Ausgabe bildete einen wohlwollend-boshaften Scherz des
3942 Chefredakteurs der „Arbeiter-Zeitung“. Gleich nach ihr erschien
3943 aber eine Extraausgabe der „Weltpresse“ mit zwei sensationellen
3944 Nachrichten. In der einen wurde angekündigt, daß sich der ehemalige
3945 Bundeskanzler Doktor Schwertfeger in Verzweiflung über das
3946 Scheitern seines so groß und ehrlich gedachten Werkes durch einen
3947 Revolverschuß entleibt habe. Anknüpfend daran machte die
3948 „Weltpresse“ die Mitteilung, daß sie, dem Willen der
3949 überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung Wiens folgend, vom
3950 heutigen Tage an als das Organ der neuen Partei der tätigen Bürger
3951 erscheinen werde.
3953 \tb{* * *}
3954 Leo war von der Redaktion der „Arbeiter-Zeitung“ aus tatsächlich
3955 direkt nach Grinzing gefahren. Lotte, die ebenso wie ihre Eltern
3956 von dem Verlauf der Parlamentssitzung bereits unterrichtet war,
3957 erwartete ihren Bräutigam am offenen Fenster im Parterregeschoß.
3958 Und als das Auto vorgefahren war und Leo sie erblickte, erschien
3959 ihm der Weg durch den Hausflur zu weitläufig, mit einem Satz
3960 schwang er sich auf das Fensterbrett und schon hielten die beiden
3961 jungen Leute einander lachend und weinend umschlungen. Da Leo aber
3962 trotz seiner turnerischen Gewandtheit bei seinem abgekürzten
3963 Eintrittsverfahren eine Fensterscheibe eingeschlagen hatte, was ein
3964 hörbares Klirren und Schmettern verursachte, kamen der Hofrat und
3965 seine Gattin aus dem \pagenum{139} nebengelegenen Wohnzimmer
3966 bestürzt herbei und blieben angesichts ihrer Tochter, die von einem
3967 fremden, knebelbärtigen Herrn unaufhörlich abgeküßt wurde,
3968 überrascht stehen. Bis der Hofrat so energisch zu husten begann,
3969 daß Lotte es vernahm und sich blutrot aus den Armen des Geliebten
3970 befreite, um ihn ihren Eltern vorzustellen:
3972 „Papa, Mama, dies ist mein Bräutigam, Henry Dufresne\ldots{}!“
3974 \latein{Recte} Leo Strakosch“, lautete die Ergänzung und Leo warf
3975 sich auch schon dem Hofrat und dann seiner zukünftigen
3976 Schwiegermutter in die Arme.
3978 Nachdem sich die erste Freude und Verwirrung gelegt, tat Herr
3979 Spineder das, was ein Hofrat in solcher Situation zu tun hatte. Er
3980 sagte:
3982 „Nun, Kinder, erzählt mir einmal alles ordentlich der Reihe nach.“
3984 Frau Spineder aber tat das, was jede andere ordentliche Hausfrau an
3985 ihrer Stelle getan hätte. Sie weinte, erklärte vor Aufregung nicht
3986 stehen und gehen zu können und lief nach der Küche, um für ein
3987 ordentliches Souper zu sorgen.
3989 Die Unterhaltung zwischen dem Hofrat, Lotte und Leo spielte sich
3990 indessen im Badezimmer ab, wo Leo sich zuerst mit einer
3991 Papierschere den Knebelbart abschnitt, um sich dann zu rasieren und
3992 gleichzeitig zu erzählen. Und das war sehr gut so, denn gerade als
3993 er rasiert und wieder ein schöner, glatter junger Mann war,
3994 ereignete sich ganz Unerwartetes.
3996 Ein Automobil mit Herrn Habietnik, einem sozialdemokratischen
3997 Nationalrat und einem bekehrten Gemeinderat \pagenum{140} fuhr
3998 vor und die Herren teilten Leo mit, daß er unbedingt mit ihnen zum
3999 Rathause fahren müsse, um sich der dort versammelten Menschenmenge
4000 zu zeigen und eine Ansprache des Bürgermeisters zu erdulden.
4002 Sträuben nützte nichts, Leo mußte mit, aber Lotte, die die Garantie
4003 dafür übernahm, daß sie rechtzeitig zum Abendessen zurück sein
4004 würden, fuhr mit ihm.
4006 Bis zum Schottentor verlief die Fahrt ganz glatt, dann stellte sich
4007 ein Hindernis ein. Die Menschenmassen standen hier so dicht
4008 aneinandergedrängt, daß das Auto nicht vorwärts kam. Worauf sich
4009 der Gemeinderat hinausbeugte und in bester Absicht, wenn auch mit
4010 wenig Zartgefühl den Leuten zuschrie:
4012 „Laßt?s uns durch! Der Herr Leo Strakosch, der erste Jud, der
4013 wieder in Wien ist, muß zum Rathaus!“
4015 Diese \erratum{Worten}{Worte} waren das Signal zu einem stürmischen
4016 Jubelschrei, und das Auto konnte zwar nicht durch, sondern mußte
4017 hier mit Lotte warten, aber Leo saß auch schon auf den Schultern
4018 zweier handfester Männer und wurde unter dem Jauchzen und Johlen
4019 und Hurra-Geschrei der Massen zum Rathaus getragen.
4021 Das schöne Rathaus war wieder illuminiert, sah wieder wie eine
4022 brennende Fackel aus und mühsam nur konnten sich die Männer mit Leo
4023 auf den Schultern Bahn machen. Fanfarenklänge, Trompetentöne, der
4024 Bürgermeister von Wien, Herr Karl Maria Laberl, betrat den Balkon,
4025 streckte segnend seine Arme aus und hielt eine zündende Ansprache,
4026 die mit den Worten begann:
4028 „Mein lieber Jude!~–~–“
4030 \begin{center}
4031 \textit{Ende.}
4033 \end{center}
4034 %„Corona“-Druck (G. Davis \& Co.), Wien IX.
4036 \begin{Verbatim}[fontsize=\footnotesize]
4039 End of the Project Gutenberg EBook of Die Stadt ohne Juden, by Hugo Bettauer
4041 *** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE STADT OHNE JUDEN ***
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4300 Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg-tm
4302 Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
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4304 including obsolete, old, middle-aged and new computers. It exists
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4308 Volunteers and financial support to provide volunteers with the
4309 assistance they need, are critical to reaching Project Gutenberg-tm?s
4310 goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
4311 remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
4312 Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
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4314 To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
4315 and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4
4316 and the Foundation web page at http://www.pglaf.org.
4319 Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive
4320 Foundation
4322 The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
4323 501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
4324 state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
4325 Revenue Service. The Foundation?s EIN or federal tax identification
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4327 http://pglaf.org/fundraising. Contributions to the Project Gutenberg
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4333 throughout numerous locations. Its business office is located at
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4339 For additional contact information:
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4346 Literary Archive Foundation
4348 Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
4349 spread public support and donations to carry out its mission of
4350 increasing the number of public domain and licensed works that can be
4351 freely distributed in machine readable form accessible by the widest
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4353 ($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
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4356 The Foundation is committed to complying with the laws regulating
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4358 States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
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4360 with these requirements. We do not solicit donations in locations
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4371 any statements concerning tax treatment of donations received from
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4377 To donate, please visit: http://pglaf.org/donate
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4385 with anyone. For thirty years, he produced and distributed Project
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