War of the Worlds: Fixes after reading
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9 \newcommand\bigpar\medskip
11 \begin{document}
12 \raggedbottom
13 \begin{center}
14 \textbf{\huge\textsf{Den Tod falsch einsortiert}}
16 \bigskip
18 Andreas Wolz
19 \end{center}
21 \bigskip
23 \begin{flushleft}
24 Dieser Text wurde erstmals veröffentlicht in:
25 \begin{center}
26 Die Steampunk-Chroniken\\
27 Band I -- Æthergarn
28 \end{center}
30 \bigskip
32 Der ganze Band steht unter einer
33 \href{http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.0/de/}{Creative-Commons-Lizenz.} \\
34 (CC BY-NC-ND)
36 \bigskip
38 Spenden werden auf der
39 \href{http://steampunk-chroniken.de/download}{Downloadseite}
40 des Projekts gerne entgegen genommen.
42 \vfill
44 Andreas Wolz wurde in Wilhelmshaven an der Nordseeküste geboren und
45 wuchs in Bayern auf, wo er noch heute mit seiner Familie lebt. Zum
46 Schreiben fand er sowohl privat als auch beruflich auf Umwegen.
47 Nach einer Bankkaufmannslehre landete er in der Marketing-Abteilung
48 einer großen deutschen Direktbank. Dort ist er Redaktionsmitglied
49 der Mitarbeiter-Zeitschrift. Und seit er als Jugendlicher bei einem
50 »Star Trek«-Story-Wettbewerb den ersten Preis gewann, ließ ihn das
51 Schreiben auch privat nicht mehr los.
53 In seine Geschichten lässt er gerne Science-Fiction-Elemente
54 einfließen und auch eine gehörige Portion Humor darf meist nicht
55 fehlen. Für die Teilnahme an den Steampunk-Chroniken hat er die
56 Arbeit an seinem aktuellen Projekt unterbrochen, einem Jugend-roman
57 mit SF-Touch.
58 \end{flushleft}
60 \section{Den Tod falsch einsortiert}
62 In weniger als 26 Stunden sind Sie und alle hier an Bord tot‹,
63 sagte der Kerl zu meiner Frau, als ihm der weiße Schaum aus dem
64 Mund quoll und er in ihren Armen starb.«
66 \bigpar
68 Salmon Wincover lehnte sich in dem bequemen Ledersessel zurück und
69 spürte das sanfte Vibrieren der Motoren des Ætherschiffes \textit{Halina}.
70 Manche Menschen störte es, doch auf ihn wirkte es beruhigend zu
71 spüren, dass die Zeppelinmotoren gleichmäßig arbeiteten. Er nippte
72 an dem Portwein und ließ die herb-fruchtige Flüssigkeit einen
73 Moment auf seiner Zunge wirken. Der Rote Salon der \textit{Halina II}, in
74 dem er gerade saß, befand sich direkt neben dem Präsentationssaal.
75 Dort hatte bis vor einer Viertelstunde Edgar Statson einen Vortrag
76 gehalten. Der Edgar Statson, der nun ihm gegenüber saß, und mit
77 jenem Satz über seine Frau damit begonnen hatte, eine sehr
78 spannende Geschichte zu erzählen. Und Salmon Wincover liebte den
79 Nervenkitzel.
81 Edgar Statson gehörte offensichtlich zu den Menschen, die einfach
82 nie aufhören konnten zu reden. Die immer Zuhörer brauchten. Er
83 hatte eben erst seinen Vortrag über »Integrale Ordnung in
84 strukturierten Zettelsammlungen durch die Unterstützung von
85 Suchanfragen mittels feinmotorischer Räderwerke« gehalten. Statson
86 hatte es verstanden, dieses trocken anmutende Thema zu einer
87 detektivischen Geschichte zu verwandeln. Als sich eine kleine
88 Gruppe seines Publikums anschließend in den Salon begab, war er ihr
89 gefolgt und hatte Ausschau gehalten. Ausschau nach weiteren
90 Zuhörern. Wincover kannte diese Sorte Menschen. Ohne Publikum
91 fielen sie in sich zusammen, waren sie nichts. Sie waren süchtig
92 danach, Menschen mit ihren Erzählungen zu manipulieren. Statson
93 dachte wohl, Wincover sei ein dankbares Opfer. Wenn er sich da nur
94 nicht täuschte.
96 »Wie reagierte Ihre Frau auf diese Drohung?«, fragte Wincover und
97 sah Statson neugierig an. Das Jackett sorgfältig zugeknöpft, Stoff
98 und Schnitt nicht sonderlich modisch. Aber Statsons sicherer
99 Geschmack bei der Wahl des Portweins war Wincover wichtiger.
101 Statson lächelte. Wincover meinte eine gewisse Bitterkeit in dem
102 Lächeln zu erkennen, aber er konnte sich auch täuschen. »Der Kerl
103 hatte vorgesorgt und Ann in eine Falle gelockt. Eine Woche zuvor
104 hatte er sie schon einmal auf dieselbe Weise bedroht. Mitten auf
105 halber Strecke des viermonatigen Linienflugs zum Saturnring-Hotel.
106 Meine Frau informierte sofort den Kapitän. Da sie die
107 Bordingenieurin war, glaubte man ihr sofort und leitete eine
108 aufwendige Suche ein. Am Ende fand man \ldots{} einen Koffer voller
109 kleiner Buddha-Figuren. Der Kapitän machte eine Bemerkung über die
110 fehlende Menschenkenntnis meiner Frau und ging zur Tagesordnung
111 über. Sie wusste, beim zweiten Mal hätte man ihr nicht mehr
112 geglaubt.«
114 \bigpar
116 Wincovers Blick wurde von einer Frau an der Theke angezogen. Mit
117 ihrer Geschäftskleidung, ihrem sicheren Auftreten und den streng
118 nach hinten gekämmten Haaren entsprach sie dem Bild, das er sich
119 von Statsons Frau Ann gemacht hatte. Er hätte sich nicht gewundert,
120 wenn sie auf sie zugekommen wäre, Statson von hinten umarmt und mit
121 einem gehauchten »Schatz« auf den Nacken geküsst hätte. Die
122 Weiblichkeit, die viele kühle Geschäftsfrauen ausstrahlten, hatte
123 schon immer eine Faszination auf Wincover ausgeübt.
125 »Was machte Ihre Frau denn so sicher, dass der Kerl dieses Mal eine
126 echte Bombe versteckt hatte?«
128 Statson nippte an seinem Port. Eine schwer verständliche Durchsage
129 ertönte über den Lautsprecher, während der Barkeeper der
130 Geschäftsfrau einen Cocktail hinstellte. Sie nahm ihn, ignorierte
131 den anzüglichen Blick des Barmannes und setzte sich in den hinteren
132 Bereich des Salons.
134 »Der Kerl hatte ihr gesagt, dass es von Anfang an sein Plan gewesen
135 war, ihre Glaubwürdigkeit zu zerstören. Damit sie sich allein auf
136 die Suche nach der Bombe machen musste. Er nannte ihr auch den
137 Grund: Er hatte eine Rechnung mit mir offen. Er wollte, dass der
138 Erfolg ihrer Suche auch von mir abhing – und der Misserfolg mich
139 mitschuldig an ihrem Tod machen würde. Alles hing von unserer
140 Verbindung über Ætherfunk ab.«
142 »Eine offene Rechnung?«
144 »Da muss ich kurz ausholen. Sie wissen, dass meine Firma Statson \&
145 Sun heißt?«
147 »Ja, das steht auf dem Plakat zu Ihrem Vortrag, das dort drüben an
148 der Wand hängt.«
150 Statson nickte. »Der Kerl, der meine Frau bedrohte, war Karl Suhn.
151 Ein österreichischer Erfinder, mit dem ich zusammen studiert und
152 erste Pläne zu einer feinmotorischen Suchmaschine entworfen hatte.
153 Wir gründeten die Firma und ließen für den Firmennamen in Karls
154 Nachnamen einfach das H weg, damit es besser klang. Anfangs lief es
155 gut, wir schlugen uns ganz ordentlich durch und kamen mit kleineren
156 Verkäufen finanziell über die Runden. Doch unsere Pläne zu dieser
157 einen großen, bahnbrechenden Erfindung führten in eine Sackgasse.
158 Wir kamen nicht voran und zerstritten uns darüber, wie wir aus
159 dieser verfahrenen Situation herauskommen konnten. Schließlich
160 schmiss er hin und verkaufte mir seine Anteile. Nun konnte ich
161 ungehindert meine Vorstellungen umsetzen und hatte schon bald
162 Erfolg. Dank der Entwicklung eines funktionierenden Prototypen
163 gelang mir ein Kooperationsvertrag mit einem Großhändler, der mir
164 regelmäßige Einnahmen sicherte. Karl dagegen ging es nicht so gut.
165 Das erfuhr ich, als er eines Tages wieder vor meiner Tür stand und
166 eine Gewinnbeteiligung forderte. Schließlich hätte ich auf unsere
167 gemeinsamen Plänen aufgebaut. Ich lehnte ab, da mir der Durchbruch
168 nur gelungen war, weil ich meine eigene Richtung eingeschlagen
169 hatte. Er ging sogar vor Gericht – und verlor. Von da an ging es
170 ihm immer schlechter. Die Schuld daran gab er mir. Er suchte nach
171 einem Weg, es mir heimzuzahlen.«
173 Statson machte eine Pause und holte Luft. Er hatte immer schneller
174 und leidenschaftlicher gesprochen. Wincover spürte Statsons Ärger
175 über seinen ehemaligen Geschäftspartner. »Nicht jeder Mensch, der
176 sich betrogen fühlt, wird zu einem Bombenleger«, warf Wincover ein.
177 »Gab es denn keine Anzeichen für seine radikalen Pläne? Mord ist in
178 der Regel erst der letzte Schritt. Davor gibt es andere, die
179 dorthin führen.«
181 Statson lächelte wieder dieses Lächeln, das Wincover nicht ganz
182 deuten konnte. »Ich gehe davon aus, dass Sie meinem Vortrag genauso
183 aufmerksam gefolgt sind, wie Sie jetzt zuhören. Also wissen Sie,
184 was für eine Maschine ich erfunden habe: Das Sammeln von
185 Informationen auf genormten Zetteln, das Einsortieren in
186 intelligente Strukturen, das Extrahieren neuer Informationen aus
187 der Kombination der Einzelinformationen. Ich habe das getan, weil
188 ich immer schon der Meinung war, dass der Mensch in seiner
189 Urteilskraft nicht zuverlässig ist. Er verarbeitet die ihm
190 gegebenen Informationen nicht objektiv. Er geht mit einem
191 vorgefassten Urteil an die Dinge heran und sucht nach Bestätigung
192 seiner Meinung. Wenn man etwas sucht, findet man es auch. Ich habe
193 für mich schon früh entschieden, dass es beispielsweise die
194 sogenannte Menschenkenntnis nicht gibt. Wer behauptet, einen
195 Menschen nach kurzer Zeit beurteilen zu können, handelt nicht
196 zielgerichteter als ein Horoskop. Er gibt ein paar Vermutungen ab,
197 die manchmal stimmen, manchmal nicht. Am Ende misst er sich nur an
198 seinen Erfolgen und denkt wirklich, er könne Menschen einschätzen.
199 Absurd!« Statson kippte mit einem angewiderten Blick seinen Port
200 hinunter und deutete mit dem leeren Glas auf Wincover. »Alles
201 Ammenmärchen, sage ich Ihnen. Der Mensch ist zu einer rationalen
202 Beurteilung nicht fähig. Dafür braucht man Maschinen, die völlig
203 vorurteilsfrei an eine Sache herangehen, nur dann bekommt man ein
204 stimmiges Ergebnis. So eine Maschine zu bauen, war schon immer mein
205 Traum. Wenn Sie also fragen, ob ich Karls Absichten früher hätte
206 erkennen können, sage ich nein. Für mich war Karl zwar ein hitziger
207 Ingenieur, aber eben doch ein Ingenieur, kein Verbrecher. Ich habe
208 seine Absichten nicht kommen sehen, da ich nicht im mindesten mit
209 ihnen gerechnet hätte.«
211 Er schüttelte den Kopf. »Im Nachhinein ist man immer klüger und
212 erkennt auf einmal die Zeichen. Aber man sieht sie nur mit dem
213 Wissen, was aus Karl geworden war.«
215 Wincover kippte nun auch seinen restlichen Port ganz gegen seine
216 Gewohnheit in einem Zug hinunter. Generell entsprachen die
217 Ansichten dieses Statsons so überhaupt nicht Wincovers
218 Überzeugungen. Man könne Menschen nicht einschätzen, dürfe seinem
219 Urteil nicht trauen? Sein halbes Leben hatte Wincover doch daran
220 verdient, Menschen einzuschätzen. Dieser Statson schien sich da in
221 etwas verrannt zu haben. Trotzdem war Wincover neugierig, wie die
222 Geschichte weiterging.
224 »Konnte Ihre Maschine Ihnen denn nicht bei der Einschätzung dieses
225 Kerls helfen?«
227 Statson lächelte ihn an. »Sie bekommen nur Antworten auf Fragen,
228 die Sie stellen. Karl war bis zu jenem Zeitpunkt nicht mehr
229 Bestandteil meines Lebens, daher hatte ich die Maschine nicht mit
230 Daten über ihn bestückt. Er war buchstäblich ein unbeschriebenes
231 Blatt für meine Maschine.«
233 »Also ist Ihre Maschine doch nicht allwissend.«
235 »Nein, aber das war von vorneherein klar. Das ist sozusagen der
236 Unterschied zwischen Intelligenz und Bildung. Auch ein
237 hochintelligenter Mensch kommt ums Lernen nicht herum. Die Frage
238 ist nur, was macht er aus den Dingen, die er gelernt hat? Und nutzt
239 er das Potenzial, das ihm sein Schöpfer mitgegeben hat?«
241 »Nutzt Ihre Maschine das Potenzial, dass Sie Ihr mitgegeben
242 haben?«
244 Statson fühlte sich bei diesem Vergleich sichtlich geschmeichelt.
245 »Ich würde mit Ja antworten, denn meine Maschine war mir in dieser
246 Sache immer noch von Hilfe. Zumindest bis zu einem gewissen
247 Punkt.«
249 »Inwiefern?«, fragte Wincover.
251 »Karls Plan war perfide, weil er meine Maschine bewusst einplante.
252 Wie sehr, konnte ich damals nicht ahnen. Er schickte Ann auf eine
253 einsame Schnitzeljagd nach der Bombe. An verschiedenen Orten an
254 Bord hatte er Zettel mit Informationshäppchen hinterlassen. Sie
255 alle verrieten Details zum Aufenthaltsort der Bombe und ihrer
256 Bauweise. Er wusste, dass meine Frau sich via Ætherfunk mit mir in
257 Verbindung setzen würde. Dass ich verzweifelt versuchen würde, ihr
258 Leben zu retten, und dass ich dazu eben jene Maschine einsetzen
259 würde, wegen der Karl und ich uns damals zerstritten hatten.«
261 Statson gab dem Kellner einen Wink mit dem Glas. Dieser kam sofort
262 mit der richtigen Flasche Portwein an und schenkte nach. Statson
263 drückte ihm ein Euro-Pfundstück in die Hand. Der Kellner verbeugte
264 sich elegant und nickte auch Wincover kurz zu, bevor er zur Bar
265 zurückging. Wincover schätzte diese Fluglinie und ihr Personal.
266 Ausgebildete Leute, die ihr Handwerk noch verstanden. Sie waren
267 immer zur Stelle, wenn man sie brauchte.
269 Statson bemerkte seinen Blick. »Gutes Personal, was? Meine Frau
270 flog damals übrigens mit derselben Fluglinie, auf der
271 \textit{Migdal}, einem Schwesterschiff der \textit{Halina II}. Sie kannte
272 viele der Angestellten. Etliche halfen ihr hinter dem Rücken des
273 Kapitäns und vertrauten ihrem Urteil trotz des ersten Fehlgriffs.
274 Gemeinsam arbeiteten wir ein Profil heraus, um uns zu den
275 vorhandenen Informationen von Karl weiter heranzutasten. Wie groß
276 eine Bombe sein musste, die man an Bord schmuggeln konnte, und ob
277 sie dort vielleicht erst zusammengebaut wurde. Wir kamen zu dem
278 Schluss, dass sie so oder so nicht sehr groß sein konnte. Wie viele
279 Orte also gab es, an denen eine relativ kleine Bombe platziert
280 werden musste, um in der Lage zu sein, das gesamte Schiff zu
281 zerstören? Denn davon hatte Karl ja gesprochen, von der Vernichtung
282 aller. Es gab nur wenige neuralgische Punkte, die diese Bedingung
283 erfüllten. Etliche halfen ihr bei der Suche, gingen mit uns die
284 Pläne noch einmal durch, als die erste Suche erfolglos blieb.«
286 Wincover stutzte. »Kann so eine Suche denn unbemerkt bleiben? Muss
287 der Kapitän da nicht irgendwann Lunte riechen?«\\ »Weiß Ihr
288 Vorgesetzter denn alles, was in der Firma vorgeht?«
290 »Ich arbeite eher im Außendienst, daher ist der Kontakt zu ihm eher
291 lose.«
293 Statson hob die Augenbrauen. »Nicht das Schlechteste, keineswegs.
294 Ich hatte in meiner Lehrzeit den Büroleiter in meinem Rücken
295 sitzen, da gab es Szenen, die habe ich bis heute nicht vergessen.
296 Aber lassen wir das. Betrachten Sie allein die Größe des Schiffes,
297 das uns beide in diesem Moment zur Station auf dem Jupitermond
298 Ganymed bringt. Spüren Sie die gewaltige Kraft der Turbinen, die
299 diesen Koloss antreiben. Dieses Schiff ist nichts anderes als eine
300 mobile Stadt. Bei diesen Dimensionen können Sie nicht alles
301 kontrollieren.«
303 Wincover wollte etwas entgegnen, verkniff es sich aber, als Statson
304 abwehrend die Hand hob. »Dieses Problem war sowieso zweitrangig, da
305 ein erheblicher Teil der Suche an der Außenwand des Schiffs
306 stattfand, an einem Ort also, an dem man selten von ungebetenen
307 Besuchern überrascht wird. In der Tat stellte sich schließlich
308 heraus, dass sich die Bombe auf einem der Außenträger mit den
309 Antriebspropellern befand. Sensible Dinger, die von den
310 Maschinisten jeden Tag geprüft werden. Jeden Tag muss einer auf
311 einem schmalen Laufsteg rausgehen und nachschauen, ob sie noch
312 einwandfrei laufen. Unterhalb des Laufstegs eines dieser Propeller
313 war die Bombe angebracht. So raffiniert, dass ihre Explosion an
314 dieser Stelle ein Loch in das Gerüst des zeppelinförmigen
315 Ætherschiffs reißen würde. Die \textit{Migdal} wäre nicht mehr gewesen als
316 ein unkontrolliert umherschwirrender Luftballon, der in sich
317 zusammenfällt. Hätte Karl doch seine Energie damals in die
318 richtigen Bahnen gelenkt, wie viel mehr hätten wir gemeinsam
319 erreichen können.«
321 \bigpar
323 In Statsons Rücken konnte Wincover erkennen, dass die blonde
324 Geschäftsfrau einen Mann getroffen und herzlich begrüßt hatte. Die
325 beiden verstanden sich offensichtlich gut und gingen mit einem Glas
326 in der Hand aus dem Salon. Fast bedauerte Wincover, dass er sich
327 auf das Gespräch mit Statson eingelassen hatte. Sonst wäre er jetzt
328 vielleicht der Begleiter der Frau gewesen. Aber wo dachte er hin,
329 das ließ sein Vorhaben auf Ganymed doch gar nicht zu. Und jetzt
330 wollte er schon gerne das Ende von Statsons Geschichte erfahren!
332 »Dann haben Sie die Bombe also rechtzeitig gefunden?«
334 »Wie man es nimmt«, antwortete Statson. »Wir hatten die Bombe
335 gefunden. Aber rechtzeitig? Wie lange brauchen Sie, um eine Bombe
336 zu entschärfen? Mussten Sie das schon einmal tun?« Wincover zuckte
337 mit den Achseln.
339 »Eben«, sagte Statson. »Da geht man nicht einfach ran und sucht
340 nach dem Knopf, den man drücken, nach dem Kabel, das man
341 durchschneiden muss. Entgegen der landläufigen Meinung funktioniert
342 das so nicht. Wenn man direkt vor so einer Bombe kniet, noch dazu
343 in einem Ætheranzug mit dicken Handschuhen, während alle möglichen
344 interstellaren Partikel an einem vorbeisausen, dann rüttelt man
345 nicht einfach mal so an einer Bombe. Was ich damit sagen will: Zu
346 jenem Zeitpunkt begann erst unsere eigentliche Aufgabe, jetzt
347 musste sich meine Maschine wirklich beweisen!«
349 Statson hob das Glas auf Augenhöhe, aber sein Blick ging durch die
350 rötliche Flüssigkeit hindurch. In diesem Moment wirkte er auf
351 Wincover wie ein Wahrsager, der in seine Glaskugel schaute und dort
352 nach Erkenntnissen suchte. War Statson nicht sogar eine Art
353 Wahrsager? Hatte er nicht etwas von den fahrenden Gauklern aus dem
354 Mittelalter, die ihrem Publikum trickreich vortäuschten, sie
355 könnten Gedanken lesen?
357 Statson blickte von seinem Glas zu Wincover, nun wieder ganz der
358 Wissenschaftler. »Sie müssen sich vergegenwärtigen, was eine Bombe
359 ist. Viele denken nur an den Moment der Explosion, dabei ist dieser
360 ja nur der Zeitpunkt, in dem sich die Mission der Bombe erfüllt.
361 Wer sie entschärfen will, darf daran nicht denken. Wer sie
362 entschärfen will, muss in ihr ein filigranes, maschinelles
363 Lebewesen sehen, das treu und zuverlässig die Zeit zählt. Ein Wesen
364 mit einer Bestimmung, das sich dem Schicksal ergeben wird, das sein
365 Schöpfer ihm zugedacht hat. Da surren die kleinen Zahnräder,
366 klicken die Hebel, vibriert die Unruh. Nur wer dieses Zusammenspiel
367 aller einzelnen Teile verstanden hat, kann eingreifen, kann das
368 Schicksal der Maschine, das auch sein Schicksal werden würde,
369 abwenden.«
371 Statson blickte Wincover entschuldigend an. »Verzeihen Sie, wenn
372 Ihnen das zu philosophisch ist. Wenn es Ihnen lieber ist, können
373 Sie die Bombe natürlich einfach als eine Maschine betrachten. Eine
374 Maschine aus bekannten Bauteilen in unbekannter Kombination. So gut
375 wie jede Bombe funktioniert nach bekannten Funktionen, das
376 gefährliche ist die unbekannte Kombination. Und genau da konnte die
377 Analyse meiner Maschine helfen. Meine Frau gab mir so viele
378 Beobachtungen zum Äußeren der Bombe durch wie möglich. Diese
379 Informationen verknüpfte ich mit allem Wissen, das ich zum Denken
380 und zur Arbeitsweise von Karl hatte. Auf diese Weise wollten wir
381 die Achillesferse finden, die Stelle, an der die Bombe verletzlich
382 war.«
384 Statson machte eine Pause und sah sich im Salon um. Etliche Sessel
385 hatten sich mittlerweile geleert. Im Speisesalon nebenan hatte das
386 Buffet eröffnet und lockte mit Delikatessen von drei verschiedenen
387 Planeten. An den kleinen, runden Fenstern des Salons klappte gerade
388 der Kellner die rot gepolsterte Läden halb vor, da laut Bordzeit
389 der Abend begann. Auf der \textit{Halina II} tat man alles, seinen
390 Passagieren einen Tagesrhythmus zu simulieren. Im freien Spalt
391 hinter den Läden konnte man Sterne vorbeihuschen sehen. Statson
392 machte eine Geste in ihre Richtung. »Wir Menschen sind Meister
393 darin, uns eine eigentlich tödliche Umgebung so anheimelnd
394 einzurichten, dass wir ganz vergessen, wie wenige Zentimeter uns
395 nur vom Tod trennen. Wir vergessen es so sehr, dass wir oft
396 leichtsinnig werden und ein noch größeres Risiko eingehen.«
398 Er schüttelte den Kopf. »Nein, meine Frau war nicht leichtsinnig.
399 Sie war hoch konzentriert. Sie wusste, was auf dem Spiel stand. Sie
400 wusste, wie viele hundert Leben auf der \textit{Migdal} von ihrem Handeln
401 abhängig waren. Punkt für Punkt ging sie die Skizze durch, die ich
402 von dem vermutlichen Innenleben der Bombe angefertigt hatte.
404 Wincover stutzte. »Wie konnte sie Ihre Skizze sehen?«, fragte er.
406 »Ach, das ist so eine andere kleine Erfindung von mir. Unter einem
407 Brett mit Glasdeckel befindet sich ein Metallgitter, das
408 magnetische Felder erzeugt. Auf dem Brett befinden sich feine
409 Metallspäne. Dieses Gerät steht in Ætherfunk-Verbindung mit einem
410 identischen Gerät. Wenn ich auf dem Zweitgerät mit Metallspänen
411 eine Zeichnung anfertige, tastet das Gitter unter dem Brett diese
412 ab, überträgt sie via Funk und bildet sie auf dem Empfängergerät
413 durch die magnetischen Felder nach. Glücklicherweise hatte meine
414 Frau den Prototypen in ihrer Kabine dabei, da wir die Reichweite
415 und die Zuverlässigkeit der Nachbildung testen wollten. Wir konnten
416 ja nicht ahnen, dass aus dem Test Ernst werden würde. Sie musste
417 die Skizze nur noch abzeichnen, dann konnte sie sie mit nach
418 draußen zur Bombe nehmen. Schneller geht es nicht.«
420 »Ein interessantes Gerät«, sagte Wincover anerkennend. »Warum haben
421 Sie das noch nicht veröffentlicht?«
423 Statson winkte ab. »Es ist sehr kompliziert zu bedienen, muss immer
424 völlig waagerecht aufgestellt werden und versagt leider oft den
425 Dienst. Wer will schon ein Gerät kaufen, das oft nicht
426 funktioniert? Bis zur Serienreife gibt es noch viel zu tun.«
428 »Aber dank dieses Geräts hatte Ihre Frau also den vermutlichen
429 Bauplan der Bombe?«
431 »Das kann man so sagen, ja.« Ein Mann kam mit unsicheren Schritten
432 in den Salon und ließ sich in einem Sessel unweit der beiden
433 nieder. Wincover war sich nicht ganz sicher, aber er glaubte in ihm
434 den Mann zu erkennen, der vorhin mit der kühlen Blonden weggegangen
435 war. Der hatte sich ja schnell betrunken, wenn er es war. Hatte sie
436 ihm eine Abfuhr gegeben? Stümper! Aber klar, sie war sicher eine
437 harte Nuss. Ob er sie geknackt hätte? Ach was. Er ärgerte sich,
438 dass er sich heute so leicht ablenken ließ. Es war nicht gut, so
439 leichtfertig zu werden. Nicht bei seinen Jobs.
441 »Was kam dann?«, fragte er Statson.
443 »Ann fing mit dem Entschärfen an«, antwortete dieser. »Meine
444 Erfindung hatte schließlich eine klare Empfehlung abgegeben. Meine
445 Frau arbeitete sich vor, löste Schraube um Schraube. Wir berieten
446 uns über jeden Schritt. Es fällt verdammt schwer, sich zu
447 konzentrieren, wenn das Leben der eigenen Frau auf dem Spiel steht
448 und man nicht bei ihr ist.«
450 »Karl hatte also erreicht, was er wollte«, sagte Wincover.
452 »Fast. Es fehlte nur noch das i-Tüpfelchen seines Plans. Er wollte
453 mir beweisen, dass ich einen Denkfehler gemacht hatte. Und er hatte
454 recht!«
456 Wincover wurde aus Statson nicht schlau. Er hatte versucht, wie man
457 das als Zuhörer automatisch tat, das Ende der Geschichte zu
458 erahnen. Erzählte Statson ihm hier eine Tragödie oder kam er im
459 allerletzten Moment mit einem Happy End um die Ecke? Statsons
460 Tonfall hatte den gleichen eifrigen und engagierten Klang, der
461 seinen Vortrag zu einem Genuss gemacht hatte. Aber was beim Vortrag
462 über eine Maschine angebracht war, wirkte bei der Geschichte über
463 die Todesgefahr, in der die eigene Frau geschwebt hatte, gefühllos.
464 Statson ließ sich einfach nicht in die Karten schauen.
466 »Nun spannen Sie mich nicht länger auf die Folter«, drängte
467 Wincover. »Ich gebe auch noch eine Runde Portwein aus.« Er winkte
468 dem Kellner zu, der sich an der Theke mit der Reinigung der
469 Mocca-Maschine die Zeit vertrieb.
471 Statson sah Wincover wie ein Professor an, der sich über einen
472 frechen Einwand eines seiner Studenten ärgerte. Dann gab er sich
473 einen Ruck. »Sie haben recht, ich sollte aus dieser Situation keine
474 heischende Geschichte machen.« Er räusperte sich. »Kurz und gut, am
475 Ende landeten wir doch bei der Frage ›Knopf oder Kabel?‹.
476 Beziehungsweise in diesem Fall: Soll Ann das kleine Rad blockieren
477 oder das große? Unglücklicherweise gab meine Maschine hierfür einen
478 expliziten Rat.«
480 »Unglücklicherweise?«\\ »Ja, denn wir folgten dem Rat, meine Frau
481 blockierte gerade das kleine Rad mit einem Draht und kommentierte
482 dies, als ein hohes Pfeifen scharf in meine Ohren drang, gefolgt
483 von einem geradezu wütenden Rauschen. Sie \ldots{} – sie \ldots{}« Statson
484 stockte heiser. Er konnte nur mit leiser Stimme fortfahren. »Ich
485 habe nie mehr von ihr gehört \ldots{} – die Bombe war explodiert und
486 hatte alle an Bord in den Tod gerissen.« Statson griff mit
487 zitternder Hand in seine Jackettasche. »Bitte entschuldigen Sie«,
488 sagte er und fuhr sich hektisch mit einem Taschentuch über die
489 Augen.
491 Wincover saß für einen Moment fassungslos da. Obwohl er mit diesem
492 Ende hätte rechnen müssen und Statsons Frau nicht kannte, ließ es
493 ihn nicht kalt.
495 »Warum hat man von dem Unglück nichts gehört?«
497 Statson hustete und hatte seine Stimme wieder etwas unter
498 Kontrolle. »Man wollte negative Auswirkungen auf den Tourismus
499 vermeiden und hat es buchstäblich totgeschwiegen.«
501 »Warum ist die Bombe explodiert? Sie sagten doch, Ihre Erfindung
502 hat ausdrücklich einen Rat zur Entschärfung gegeben.«
504 »Das hat sie. Basierend auf ihren Parametern war das auch die
505 richtige Entscheidung. Doch leider war mir bei der Konstruktion ein
506 elementarer Denkfehler unterlaufen.«
508 Wincover sah Statson fragend an.
510 »Karl wollte mich mit meinen eigenen Mitteln schlagen. Daher hatte
511 er die Bombe bewusst anders konzipiert, als es für ihn typisch
512 gewesen wäre – er hatte sich am Ende umentschieden. Ich hätte es
513 besser wissen müssen. Aber ich habe die menschliche Komponente
514 vernachlässigt und meiner Maschine blind vertraut. Einer Maschine,
515 die das Menschliche wegen mir auch nicht kannte. Eine Variable
516 fehlte, und so sortierte die Maschine die letzte Information falsch
517 ein. Man kann sagen, sie sortierte den Tod falsch ein.«
519 »Und trotz dieser Katastrophe halten Sie an Ihrer Erfindung
520 fest?«\\ »Warum nicht?«, sah ihn Statson beinahe erstaunt an. »Es
521 ist doch nur eine Maschine. Ich hatte auf drastische Weise einen
522 Konstruktionsfehler erkannt. Und war daher in der Lage, den Fehler
523 zu beheben. Nun ist die Maschine besser denn je.«
525 War Statson so herzlos? Oder war es seine Art, mit dem Verlust
526 fertig zu werden?
528 »Im Grunde habe ich nur eine Art Zufallsgenerator hinzugefügt«,
529 erklärte Statson. »Aber das angeblich so rationale Element des
530 menschlichen Denkens lässt sich mit einer irrationalen Komponente
531 sehr gut simulieren. Und das hat einen bittersüßen Geschmack von
532 Ironie.«
534 »Wünschen die Herren noch etwas?«, überraschte der auf leisen
535 Sohlen angeschlichene Kellner die beiden.
537 »Nein, danke«, sagte Statson. »Wir sind so gut wie fertig.«
539 Der Kellner verabschiedete sich und wünschte ihnen einen schönen
540 Abend. Wincover wollte sich dem anschließen. »Es hat mich gefreut,
541 Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben«, sagte er. »Vielen Dank für
542 Ihr Vertrauen, mir diese persönliche Geschichte erzählt zu haben.
543 Selbstverständlich werde ich das Wissen über dieses Unglück für
544 mich behalten!«
546 »Oh, das werden Sie! Denn meine Geschichte ist noch nicht ganz zu
547 Ende!«
549 »Nicht?«, sagte Wincover überrascht.
551 Statson beugte sich vor. »Was glauben Sie, warum ich Ihnen die
552 Geschichte erzählt habe? Weil ich unbedingt einen Zuhörer finden
553 wollte, um den Abend rumzubringen?«
555 »Nun \ldots{}«, setzte Wincover an und schluckte den Satz herunter, dass
556 er genau dies gedacht hatte. Unruhig fragte er sich, worauf Statson
557 anspielte.
559 »Dachten Sie, Sie wären zufällig mein Gesprächspartner an diesem
560 Abend geworden?«, sagte dieser und schüttelte den Kopf. »Ich habe
561 nach Ihnen gesucht. Denn vor genau drei Tagen hat meine Erfindung
562 Ihren Namen ausgespuckt.«
564 »Meinen Namen?« Wincover schaute sich um und suchte die Ausgänge
565 ab. Welcher Weg wäre der kürzeste, hier herauszukommen?
567 »Es war ursprünglich reiner Zufall. Ein Student wollte über diese
568 Reise berichten und hatte dazu Recherchen und statistische
569 Hochrechnungen angestellt. Er konnte ja nicht ahnen, dass er damit
570 einem Mord auf die Spur kam.«
572 »Ich denke, es wird am besten sein, wir beenden das Gespräch hier«,
573 sagte Wincover hart.
575 »Wenn Sie vorhaben, als freier Mann auf Ganymed dieses Schiff zu
576 verlassen, wäre es für Sie das Beste sitzenzubleiben«, sagte
577 Statson mit einem nicht minder harten Tonfall. »Sie haben vor zwei
578 Wochen einen Mann auf der Erde umgebracht, und Sie haben von einem
579 Ehepaar dafür eine Stange Geld erhalten.«
581 »Das ist doch \ldots{}«
583 »Bitte machen Sie sich nicht durch sinnloses Leugnen lächerlich.
584 Der Mann, den Sie umgebracht haben, hatte das Kind Ihrer
585 Auftraggeber entführt und getötet. Ihr Mord war Vergeltung.«
587 »Sie wollen doch nicht allen Ernstes behaupten, dass Ihre Maschine
588 all diese Dinge für Sie herausgefunden hat?« Wincover grinste
589 spöttisch.
591 Statson schüttelte erneut den Kopf. »Natürlich nicht. Aber sie hat
592 Sie mit dem Mordfall in enge Verbindung gebracht. Zusätzliche
593 Recherchen und weitere Eingaben in der Maschine haben dann meinen
594 aufgeregten Studenten und mich zu Ihrem Geheimnis geführt.«
596 »Wollen Sie mich jetzt etwa erpressen?«, fragte Wincover.
598 »Nein, ich will Ihnen eine Gelegenheit geben.«
600 »Was soll das heißen?«
602 »Sie haben nicht das erste Mal getötet. Sie haben sich auf
603 Vergeltungsmorde spezialisiert. Der erste war für Sie persönlich,
604 nachdem man Ihre hochschwangere Frau ermordet hatte. Als die
605 Polizei wegen Ermittlungsfehlern den Täter laufen lassen musste,
606 haben Sie das Heft in die Hand genommen. Ich möchte, dass Sie
607 weitermachen.«
609 Wincover sah Statson ungläubig an. »Das ist nicht ihr Ernst. Dafür
610 sind Sie nicht der Typ!«
612 »Sagt wer? Ihre Menschenkenntnis? Ich habe Karl einen Massenmord
613 auch nicht zugetraut. Aber man wird nicht gerade ein besserer
614 Mensch, wenn man hilflos miterlebt, wie die eigene Frau getötet
615 wird. Und man droht daran zugrunde zu gehen, wenn man den Täter
616 nicht zur Rechenschaft ziehen kann, weil er sich der Vergeltung
617 entzogen hat. Ich weiß nicht, warum Karl sich mit einer Giftkapsel
618 getötet hat, anstatt von Bord zu fliehen. Vielleicht, weil er
619 gewusst hat, dass ich ihn gejagt hätte. Weil er mir die Genugtuung
620 nicht gönnte, ihn eines Tages doch zu fangen. Nun gut, dann müssen
621 eben andere daran glauben. Nennen Sie es ruhig eine perfide Art,
622 dafür zu sorgen, dass sie nicht umsonst gestorben ist. Aber ich bin
623 nun einmal nicht der Mensch, der mildtätige Stiftungen ins Leben
624 ruft, um ihrem Tod einen Sinn zu geben.«
626 Wincover suchte in Statsons Blick die Ironie oder den Sarkasmus,
627 fand aber keinen. Dieser Mann meinte wirklich, was er sagte.
629 »Sie lassen mich also gehen?«
631 »Ja, aber ich möchte Sie warnen. Man ist Ihnen auf der Spur.
632 Bekanntlich schätzt das Gesetz es nicht, wenn man ihm eigenmächtig
633 die Arbeit abnimmt. An Bord sind zwei Polizisten, die sie bei der
634 Landung festnehmen wollen.«
636 »Wer? Woran erkenne ich sie?«
638 »Sie waren vorhin hier. Vielleicht sind sie Ihnen aufgefallen. Eine
639 blonde Frau und ein Mann. Sie hat die kühle Geschäftsfrau gespielt,
640 er ihren Verehrer. Er kam vorhin noch einmal zurück, um zu schauen,
641 ob Sie noch hier sind.«
643 Wincover fiel es wie Schuppen von den Augen. Das verliebte Paar!
644 Wie dumm war er nur gewesen, nicht Lunte zu riechen. Er drehte sich
645 ruckartig zu dem Sessel um, in den sich der Mann bei seiner
646 Rückkehr vermeintlich angetrunken hatte fallen lassen. Der Sessel
647 war leer. Wieso hatte er die beiden nicht erkannt? Er wurde
648 nachlässig.
650 »Ich sehe, sie sind Ihnen aufgefallen«, sagte Statson. »Es war
651 nicht ganz einfach, aber meine Maschine hat mir auch dabei
652 geholfen, die beiden zu entdecken. Das ist alles, was ich für Sie
653 tun kann. Jetzt sind Ihre Fähigkeiten gefragt, wie Sie sich aus
654 dieser Situation herauswinden. Ich bitte Sie nur um eines!«
656 »Das wäre?«, fragte Wincover. Seine Gedanken begannen schon zu
657 rotieren, welche Möglichkeiten ihm blieben.
659 »Bringen Sie die beiden Polizisten nicht um. Ich möchte nicht für
660 den Tod dieser Menschen verantwortlich sein.«
662 »Keine Sorge«, beruhigte ihn Statson. »Polizistenmord ist schon
663 seit jeher kein kluger Schachzug für einen Menschen, der nicht auf
664 allen Planeten dieses Universums von Gesetzeshütern gejagt werden
665 möchte.«
667 \bigpar
669 Statson richtete sich im Sessel auf und zog sich das Jacket glatt.
670 »Nun, dann wäre alles gesagt und wir können unserer Wege gehen.« Er
671 streckte Wincover die Hand entgegen. »Es hat mich gefreut, Ihre
672 Bekanntschaft gemacht zu haben. Ich hätte mich gerne mit Ihnen über
673 Ihren ungewöhnlichen Beruf unterhalten, aber ich denke, es ist am
674 besten, wenn ich darüber so wenig wie möglich weiß.«
676 Wincover ergriff die Hand. Das Händeschütteln war für ihn eine
677 Vertragsbesiegelung unter zwei Ehrenmännern. Dabei sah er sich und
678 seinen Beruf schon lange nicht mehr als Ehrensache. Eher als die
679 Müllabfuhr der Gerechtigkeit. »Auf eine merkwürdige Weise hat es
680 mich auch gefreut«, sagte er. Hoffentlich überlegen Sie es sich
681 nicht noch anders.«
683 »Sie wissen, ich bin ein Mensch der Zahlen. Wenn ich zu einem
684 Ergebnis gekommen bin, das meiner Meinung nach stimmt, dann stehe
685 ich dazu!« Der Kellner nickte ihnen von der Theke aus zu und dimmte
686 das Licht. Sie gaben sich einen Ruck. »Wir sollten den Salon durch
687 verschiedene Ausgänge verlassen und nicht mehr miteinander reden«,
688 sagte Statson. Wincover stimmte nickend zu.
690 »Leben Sie wohl«, sagte Statson.
692 »Leben Sie wohl«, antwortete Wincover.
694 \bigpar
696 Die beiden Männer drehten sich um und verließen den Salon. Im
697 letzten Moment blickte Wincover noch einmal über seine Schulter zu
698 seinem Gesprächspartner. Ob es sicherer wäre, wenn Statson Ganymed
699 nicht lebend verließ? Aber das wäre schon sehr undankbar von ihm.
700 Oder nicht?
702 \end{document}