War of the Worlds: Fixes after reading
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14 \begin{center}
15 \textbf{\huge\textsf{Lillys Zukunft}}
17 \medskip
18 Andreas Dresen
19 \end{center}
21 \bigskip
23 \begin{flushleft}
24 Dieser Text wurde erstmals veröffentlicht in:
25 \begin{center}
26 Die Steampunk-Chroniken\\
27 Band I -- Æthergarn
28 \end{center}
30 \bigskip
32 Der ganze Band steht unter einer
33 \href{http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.0/de/}{Creative-Commons-Lizenz.} \\
34 (CC BY-NC-ND)
36 \bigskip
38 Spenden werden auf der
39 \href{http://steampunk-chroniken.de/download}{Downloadseite}
40 des Projekts gerne entgegen genommen.
42 \vfill
44 Andreas Dresen, Jahrgang 1975, lebt und arbeitet in seiner
45 Heimatstadt Aachen. Schon immer war er von fremden Welten
46 fasziniert – von der wilden Atlantik-Küste Südirlands genauso wie
47 von den Sagen und Legenden seiner Heimat. Und so findet sich in
48 seinen Kurzgeschichten genauso wie in seinem Debütroman »Ava und
49 die STADT des schwarzen Engels« eine fesselnde, gleichsam skurrile
50 und charmante Mischung aus Fantasy-Elementen, klassischer
51 Mythologie und einem scharfen Blick für die Kuriositäten der
52 Gesellschaft und des Alltags. Im epospresse-Verlag sind inzwischen
53 auch eine kleine Anzahl ebooks erschienen.
55 \bigpar
57 \texttt{http://www.andreas-dresen.de/}
59 \texttt{http://www.epospresse-verlag.de/}
60 \end{flushleft}
62 \section{Lillys Zukunft}
64 Du gehörst mir!« Eugene strich Lilly durch das kurze blonde Haar,
65 bevor er sie fest im Nacken packte und zu sich zog. Sein Gesicht
66 kam so nah, dass Lilly die kleinen Schweißtropfen auf seiner Stirn
67 sehen konnte. »Vergiss das nicht. Du bist mein Eigentum. Also hast
68 du deinen Beitrag zu leisten, klar?«
70 »Ja, Eugene.« Lilly hielt seinem Blick kurz stand, dann wollte sie
71 den Kopf abwenden, doch Eugene hielt sie fest. Als sie einander
72 ansahen, hörten sie das Stampfen der Maschinen, das sonst nur als
73 Hintergrundgeräusch wahrnehmbar war, laut und deutlich in der
74 Stille. Auf der untersten Ebene des Raumschiffs \textit{Kleine Hoffnung} war
75 es feucht und stickig. Die Luft wurde nur unregelmäßig
76 ausgetauscht, da die wenige Energie die übrig geblieben war, für
77 das Kolonistendeck genutzt wurde.
79 Eugene hatte seine Schiebermütze weit in den Nacken geschoben, so
80 dass sein verschwitztes Haar zum Vorschein kam. Sein
81 fadenscheiniger Anzug und das weiße, kragenlose Hemd waren
82 eigentlich viel zu warm für diese Umgebung, aber Eugene achtete
83 stets auf sein Aussehen. Der erste Eindruck zählt, sagte er immer
84 wieder zu Lilly, und wenn ich jemandem dafür eine blutige Nase
85 schlagen muss.
87 »Und jetzt mach dich ein bisschen hübsch«, sagte er. »Die Reise
88 geht bald zu Ende und ich habe nicht vor, mit leeren Händen in der
89 Kolonie anzukommen. Das ist unsere große Chance, die werde ich mir
90 nicht vermasseln lassen. Ich würde meinen rechten Arm dafür geben.
91 Dann haben wir ausgesorgt!« Er ließ sie los. Lilly stolperte zurück
92 und strich sich das einfache Kleid glatt. Der Ausschnitt zeigte
93 etwas mehr nackte Haut, als es der aktuellen Mode entsprach. Das
94 sonst übliche Korsett hätte ihrer fülligeren Figur sicher eine
95 schmalere Form verliehen, doch Eugene war es lieber so. Es sprach
96 die Kunden mehr an. Auf der unteren Ebene war man eine direkte
97 Sprache gewohnt.
99 Trotzig streckte Lilly ihr Kinn nach vorn, so dass ihr zum Bubikopf
100 geschnittenes Haar nach hinten schnellte.
102 »Es ist noch gar nicht sicher, ob wir überhaupt aufgenommen
103 werden.«
105 »Eben. Und ich will die Wahrscheinlichkeit, dass wir abgewiesen
106 werden, minimieren.« Er griff in seine Brusttasche und zog ein
107 Bündel grüner Geldscheine heraus. Geschickt fächerte er sie auf und
108 wedelte damit vor Lillys Nase herum. »Also, an die Arbeit.«
112 Johann saß ungeduldig auf dem Barhocker und starrte die Tür an,
113 hinter der Eugene vor Minuten verschwunden war. Heiße Wut brodelte
114 in ihm und es fiel ihm schwer sitzen zu bleiben. Am liebsten hätte
115 er noch einen Whiskey getrunken, aber er wusste, dass er ihn nicht
116 vertragen würde. Außerdem wollte er nüchtern sein, jede Minute mit
117 Lilly genießen können, denn die Zeit mit ihr war teuer erkauft und
118 viel zu wenig. Doch das würde sich ändern. Er verachtete Eugene,
119 mit seiner schlechten Haut, seinem rüpelhaften Benehmen und seinem
120 überheblichen Chauvinismus. Doch er war der einzige Weg zu Lilly.
121 Und wenn Johann diesen Weg gehen musste, wollte er auch ihren
122 Beschützer ertragen.
124 In einer Ecke saß ein betrunkener alter Mann, der auf seinem Banjo
125 spielte und zahnlos versuchte, ein Volkslied zu singen. Die
126 Menschen um ihn herum ignorierten ihn genauso wie sie Johnny
127 ignorierten. Es war nicht ungewöhnlich, dass sich Herren der oberen
128 Decks unten heimlich amüsierten. Sie waren der Geldhahn, an dem
129 hier viele hingen. Eine andere Tür öffnete sich, und eine junge
130 Frau mit asiatischen Gesichtszügen verließ mit einem Tablett voller
131 Pfeifen den zweiten Hinterraum. Johnny hasste die Personen, die
132 sich dort hinein begaben. Er hatte gesehen, wie die Menschen sich
133 unter Opium veränderten. Seine Schwester war dem Rauschgift
134 verfallen gewesen - ein unschätzbarer Verlust für die Gemeinschaft.
135 Ihre Bildung war ausgezeichnet, man hatte sie gar als Multiplikator
136 auserwählt. Es war vorgesehen worden, dass sie als Mutter ihre
137 Quote übererfüllen sollte – und so die Stellung der Familie in der
138 Kolonie zu stärken. Doch sie hatte sich lieber umgebracht.
140 Der Kapitän hatte danach eine Razzia durchführen und die
141 Schlafdroge verbieten lassen. Fast eine halbe Tonne Rohmaterial
142 hatte man gefunden und der Maschine übergeben.
144 \bigpar
146 Johann fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Ihm würde das nicht
147 passieren.
149 \bigpar
151 Er litt unter der entsetzlichen Wärme. Sein Apartment auf dem
152 Kolonistendeck war viel kühler, ein Großteil der Energie, die die
153 Maschine ihnen spendete, kam dem Komfort und dem Leben auf dem
154 Oberdeck zu Gute. Johann fuhr sich mit dem Finger unter den hohen
155 Stehkragen, der durch die schwarze Fliege an seinen Hals gedrückt
156 wurde. Wenn er erst einmal bei Lilly wäre, würde es angenehmer
157 werden.
159 Heute würde er wagen, dachte er. Jetzt öffnete sich endlich die
160 Türe zu Lillys Raum und Eugene trat heraus. Johann stand auf. Sein
161 Magen fühlte sich flau an. Heute würde er es wagen. »Schnell, noch
162 einen Whiskey«, herrschte er den Barmann an und legte eine Münze
163 auf den Tresen. Bis Eugene bei ihm war, hatte er den billigen Fusel
164 hinunter gestürzt. Dann nahm er seinen Zylinder, setzte ihn auf und
165 griff nach seinem Spazierstock aus dunklem Holz, in dessen Griff
166 ein Elefantenkopf geschnitzt war. Als Johann seine Finger über den
167 Kopf gleiten lies, fühlte er sich wieder sicherer. Er war wie ein
168 Elefant, dachte er oft. Was er sich einmal in den Kopf gesetzt
169 hatte, würde er gegen alle Widerstände durchführen. Und er hatte
170 einen Plan.
172 Eugene streckte ihm die Hand entgegen, die Johann ergriff und ihm
173 dabei die Geldscheine übergab, die vereinbart waren.
177 »Liebst du mich, Johnny?« Lilly lag neben dem jungen Mann und
178 streichelte langsam seine nackte Brust. Dieser nahm eine von Lillys
179 billigen Zigaretten und steckte sie sich an.
181 »Und wie.« Er richtete sich auf und zog Lilly mit sich. Dabei
182 verrutschte das Laken, das sie bedeckt hatte, doch Johnny bemerkte
183 es nicht. »Komm mit mir. Wir werden einen Weg finden. Ich habe
184 Zukunft. Ich brauche eine Frau! Man erwartet mich bereits auf der
185 Kolonie. Als ich nach meiner Geburt ausgewählt wurde, habe ich
186 diesen Posten auf Lebenszeit erhalten. Es wird dir an nichts
187 mangeln.«
189 »Eugene wird mich nicht gehen lassen.« Lilly schaute wieder zu
190 Boden. In ihren Augen sammelten sich Tränen.
192 »Ich werde das regeln.« Aufgeregt sprang er auf. Nur mit seinen
193 langen Unterhosen bekleidet, schritt er energisch durch das Zimmer.
194 Er griff seinen Spazierstock und fuchtelte damit unbeholfen in der
195 Luft herum.
197 »Wie?«
199 »Meine Familie hat Geld. Und Einfluss.« Johann dachte daran, wie
200 sein Vater auf die Pläne reagiert hatte. Doch er verschob den
201 Gedanken, er würde es auch alleine schaffen.
203 »Das wird alles nichts nützen.« Lilly schüttelte den Kopf. »Er wird
204 mich nie ganz aufgeben. Er wird immer wieder kommen.«
206 »Wir könnten auf ein anderes Schiff umsiedeln. Die \textit{Ein langer Weg}
207 ist noch in Reichweite.«
209 »Er wird uns finden.«
211 »Verdammt«, fluchte er. »Wenn ich doch nur zur Polizei ausgesucht
212 worden wäre. Dann könnte ich etwas gegen ihn unternehmen. Aber so
213 \ldots{} wenn wir erst auf den Kolonien wären, würde ich über mehr Macht
214 verfügen. Vielleicht könnte Vater … er hat Beziehungen zum
215 Gouverneur …«
217 »Willst du deine Eltern wirklich darum bitten?«
219 Johann sank entmutigt auf einen Sessel. »Nein, das würde er nicht
220 verstehen. Sie machen mir jetzt schon genug Vorwürfe.«
222 »Hast du es ihnen erzählt.«
224 »Noch nicht ganz. Aber das werde ich tun müssen. Seit dem Tod
225 meiner Schwester setzen sie ihre ganzen Hoffnungen auf mich.«
227 »Ich muss frei sein, Johnny, bevor ich mit dir kommen kann.«
229 »Dann gibt es nur noch einen Weg …«
231 Sie nickte ihm zu. »Ja … genau.«
233 »Dann …« Er weigerte sich, es auszusprechen. Ihre Hand fuhr an
234 seinem Hals lang. Sie drückte ihre Brüste gegen seinen Arm.
236 »Dann …?«
238 »Dann werde ich Eugene töten müssen \ldots{}«
240 \subsection{Zwei}
242 \bigpar
244 Johann schritt gedankenverloren durch die Gänge des Kolonieschiffs
245 Kleine Hoffnung. Der Frachter war groß genug, um nicht zu vielen
246 Leuten über den Weg zu laufen, die einen kannten – und das, obwohl
247 er schon seit fast zehn Jahren auf dem Raumschiff lebte. Die Kleine
248 Hoffnung war ein hoffnungslos überfrachtetes Kolonieschiff. Die
249 sechs riesigen Dampfmaschinen, die tief im Inneren verbaut waren,
250 hatten damals genug Druck aufgebaut, um das Schiff, das im Orbit
251 der Erde zusammengesetzt worden war, in die richtige Richtung zu
252 bringen. Dabei hatten sie fast zwei Drittel der Kohle- und
253 Energievorräte verbraucht, mit der die Kleine Hoffnung gestartet
254 war.
256 Johann lehnte sich mit der Stirn an eins der dicken Fenster und sah
257 hinaus in die Dunkelheit. Die ferne Sonne schien immer noch
258 gleichmäßig auf das Schiff, das sich langsam um die eigene Achse
259 drehte. Durch die Rotation des Rumpfkörpers erzeugte die Maschine,
260 tief im Inneren, die Schwærkræft - die Macht, die alles
261 zusammenhielt.
263 Er sah den Ring aus Glaskugeln, die um das Schiff herum, einer
264 Perlenkette gleich, angebracht waren. Sie beinhalteten die großen
265 externen Gärten, die mit einer dünnen Versorgungsschleuse mit dem
266 Hauptschiff verbunden waren. Er wusste, weiter hinten, außer
267 Sichtweite, hing der letzte Kohlentender. Die ersten zwei waren
268 bereits kurz nach dem Start der Reise abgeworfen worden. Die
269 anderen waren dem Unglück zum Opfer gefallen, als sie in einen
270 Asteroidenschauer geraten waren.
272 Die Energiemenge war vor dem Start genau ausgerechnet worden. Den
273 benötigten Schub erhielt die Kleine Hoffnung durch die riesigen
274 Sonnensegel, die den Sonnenwind fingen und so das Schiff
275 vorantrieben. Die gedrosselten Maschinen hingegen sollten die
276 Menschen am Leben erhalten und jeglichen Komfort an Bord
277 sicherstellen. Das stampfende Geräusch der Kolben war der
278 Herzschlag des Schiffes. Sollte es eines Tages verstummen, würden
279 sie alle erfrieren.
281 »Die Raumfahrt steckt noch in den Kinderschuhen«, sagte sein Vater
282 immer wieder, wenn er die primitiven Maschinen sah, die das Leben
283 an Bord ermöglichten. Und doch war er stolz, bei diesem Projekt als
284 leitender Ingenieur an Bord sein zu können. Er setzte große
285 Hoffnungen in Johann, war ihm doch ein hervorragender Posten in der
286 Kolonialverwaltung sicher. Der Vater hoffte, dass sein Sohn eine
287 schnelle und zügige Karriere hinlegen würde. Als Beamter per Geburt
288 würde er auf Lebenszeit versorgt sein, das gleiche galt für seine
289 Frau und die Kinder bis zum Erwachsenenalter.
291 Aber was habe ich davon, dachte Johann, wenn ich nicht mit meiner
292 Liebe zusammen sein kann. Er dachte an Lilly und sein Herz wurde
293 ihm schwer. Wie sollte er erfüllen, was er ihr versprochen hatte?
295 Ein Duell, dachte er. Er drückte den Rücken durch und stellte sich
296 gerade hin. Das war eines Ehrenmannes wie ihm würdig. Jeder eine
297 Pistole, morgens um sechs, hier auf der Promenade, oder meinetwegen
298 auch unten auf dem Unterdeck. Oder in den Gärten, mit Blick auf die
299 gewaltigen Sonnensegel und die vorbeiziehenden Sterne. Jeder einen
300 Schuss. Johann glühte vor Aufregung, als er sich vorstellte, wie
301 Lilly ihm dankbar um den Hals fallen würde, voller Bewunderung für
302 seinen Heldenmut und sein großartiges Augenmaß. »Deine Hand hat
303 noch nicht einmal gezittert«, würde sie hauchen und ihm einen Kuss
304 geben. In der Kolonie würde sie seine Frau sein und ihm Kinder
305 schenken, die Macht der Familie stärken.
307 Wenn er nicht vorher verhaftet würde. Duelle waren, auch für
308 Kolonisten, seit den Unruhen im Jahre sechs der Reise verboten
309 worden und wurden mit dem Tode bestraft. Das gleiche galt für das
310 Tragen von Waffen.
312 \gedanke{Wie soll ich ihn denn töten, wenn ich keine Waffe nutzen darf?},
313 heulte es in Johann auf und er ging entmutigt die Promenade weiter
314 entlang. Als er von Ferne einen Freund erkannte, bog er schnell in
315 einen Seitengang ab, der ihn wieder hinunter brachte in die
316 Maschinenebene. Er hatte lange genug auf dem Schiff gelebt, um die
317 meisten Bereiche zu kennen.
319 Dann stand er vor der Tür, die zum Maschinendeck führte. Die
320 schwere Stahltür war gerade so groß, dass man gebückt
321 hindurchsteigen konnte. Große Nieten verstärkten die Seiten und in
322 der Mitte der Tür, direkt unter dem Schild »Zugang verboten«, ragte
323 das wuchtige Ventilrad aus dem Stahl heraus. Vorsichtig drehte
324 Johann daran. Sofort hörte er das zischende Geräusch als der Druck
325 entwich. Dann schienen mächtige Riegel durch neuen Dampfdruck zur
326 Seite geschoben zu werden, klackend griffen Zahnräder ineinander
327 und mit einem leisen »Pfff« bewegte sich die Tür.
329 Der Lärm überflutete ihn, als er die kleine Schleuse zum
330 Maschinendeck aufzog und hindurch schlüpfte. Kurz sah er sich um,
331 konnte aber keinen der Machinaisten sehen.
333 Das Maschinendeck war die Heimat der Machinaisten, selten sah man
334 sie auf den anderen Ebenen, außer zu offiziellen Anlässen, wie dem
335 Gottesdienst, den sie regelmäßig gaben.
337 Langsam und vorsichtig ging er über den schmalen Steg, der ihn
338 durch die lange Röhre führte. Die Luft war heiß und stickig. Das
339 wenige Licht schien von kleinen Lampen zu kommen, die in die Wände
340 eingelassen waren, doch womit sie gespeist wurden, konnte er nicht
341 erkennen. Überall schien sich etwas zu bewegen. Riesige Schrauben
342 wälzten sich durch eine träge Flüssigkeit, schoben sie durch das
343 komplexe Rohrsystem, das hier seinen Anfang nahm und sich wie
344 Blutgefäße durch den gesamten Schiffskörper zogen. Stampfend fuhren
345 Kolben auf und nieder, angetrieben durch den Dampf, der in den
346 Kesseln erzeugt wurde. Damit die ewigen Feuer der Kleine Hoffnung
347 nicht erloschen und das ganze Schiff in einen tödlichen Eispanzer
348 gehüllt wurde, benötigte es permanenten Nachschub mit
349 Brennmaterial. Johann sah von seinem Steg hinab in die Tiefe des
350 Maschinendecks. Unter ihm rauschte unablässig das Förderband, das
351 die Kohle aus dem Raumtender nach vorn zu den Maschinen brachte. Im
352 Moment war nur ein Förderband aktiv, doch sobald die Kleine
353 Hoffnung in die Nähe der Kolonie käme, würden alle Maschinen wieder
354 hochgefahren und die Förderbänder würden mit maximaler Leistung die
355 letzten Energiereserven transportieren. Doch soweit war es noch
356 nicht.
358 Johann spürte das Hämmern der Kolben tief in seinen Eingeweiden.
359 Hier war er gerne, wenn er nachdenken musste. Die rauch- und
360 ölgeschwängerte Luft benebelte sein Hirn und besänftigte seine
361 Gedanken.
363 Als er weiter ging, um zum nahegelegenen Aufstieg in die
364 Kolonistenebene zu gelangen, blieb er schließlich noch einmal
365 stehen. Er betrachtete die großen stählernen Walzen, die die
366 Kohlebrocken zertrümmerten und in kleine, gleichgroße Stücke
367 hackten. Riesige Hebel bewegten die Zahnräder, die die Rollen in
368 einer gleichmäßigen, unabdingbar brutalen Bewegung hielten. Nichts
369 und niemand konnte dieses Uhrwerk stoppen.
371 Alles was hier in die Räder gerät, wird zermalmt, dachte er. Wenn
372 hier ein Mensch hineinfallen würde …
374 \bigpar
376 »Im Namen der Maschine und der Schwærkræft. Was machen Sie denn
377 da?« Ein Machinaist hatte sich Johann genähert. Es war zu spät, um
378 einfach wegzulaufen, und auch die überhebliche Arroganz der oberen
379 Klasse, mit der Johann normalerweise auf Überraschungen zu
380 reagieren pflegte, war hier nicht angebracht. Die Machinaisten
381 waren die höchste Macht auf dem Schiff, selbst der Kapitän hatte
382 sich ihrem Urteil zu beugen. Sie waren mehr als reine Mechaniker.
383 Sie glaubten an die Maschine. Sie lebten für die Maschine. Das
384 Schiff, die Maschine, das war ihre Religion. Sie hielten
385 Gottesdienste ab, in denen der Maschine gehuldigt wurde. Und es
386 wurde allen Passagieren geraten, bei den Messen anwesend zu sein.
387 Sie waren die letzte Instanz, die Herren über Leben und Tod auf
388 diesem Schiff. Sie waren eine Sekte, eine fundamentalistische Abart
389 des überall aufkochenden Fortschrittsglaubens. Aber sie waren die
390 einzigen gewesen, die den Auftrag angenommen hatten, diese Ladung
391 voller Hoffnungsträger und Verzweifelter zu den Kolonien zu
392 befördern.
394 Johann nahm seinen schwarzen Hut vom Kopf, als ihn der Machinaist
395 strafend anblickte. Der Maschinenpriester trug einen einfachen,
396 ölverschmierten Overall, der jedoch eine Kapuze besaß, die die
397 Machinaisten zu Gottesdiensten und zur Rechtsprechung über das
398 Gesicht zogen.
400 »Ich erbitte den Segen und die Gnade der Maschine und der
401 Schwærkræft«, sagte Johann.
403 »Möge es dir gewährt werden, von der Maschine und der
404 Schwærkræft.«, beantwortete der Machinaist die übliche Grußformel.
405 »Also«, sagte er streng. »Was haben Sie hier zu suchen? Auf diesem
406 Deck besteht Lebensgefahr.« Sein roter Bart zitterte vor echter
407 Entrüstung.
409 Johann sah wieder auf, blickte hinunter auf die Walzen und schaute
410 dann dem Rotbärtigen wieder in die harten Augen. Ihm war eine Idee
411 gekommen.
413 »Das war mir bewusst, doch ich kam mit einem Anliegen, dass keinen
414 Aufschub duldet. Ich erbitte den Beistand und die Segen der
415 Maschine, denn ich möchte heiraten. Und zwar so schnell wie
416 möglich.«
420 »Das kann ich nicht! Das ist unmöglich, Johnny! Eugene hat doch
421 meine Papiere!« Lilly war ganz aufgeregt, als Johann ihr von seinem
422 Plan berichtete.
424 »Lilly, versteh doch, es gibt keinen anderen Weg. Ich dachte, du
425 liebst mich?«
427 Die junge Frau sah ihn entgeistert an, dann warf sie sich in seine
428 Arme. »Das tue ich doch auch. Aber ich habe solche Angst. Was
429 geschieht, wenn Eugene das herausfindet?«
431 »Er darf es nicht bemerken. Stiehl' die Papiere und wir können
432 heiraten.«
434 »Aber warum so schnell?«
436 »Ich will, dass du in Sicherheit bist. Für den Fall dass ich sterbe
437 oder erwischt werde – du als meine Frau wirst ein sicheres Leben
438 haben.«
440 »Wieso bringst du ihn nicht einfach um, Johnny? Erwürge ihn, wie
441 ein Mann. Oder schicke jemanden, der es für dich tut, du hast doch
442 Geld!«
444 »Ich werde niemanden töten! Ich kann es einfach nicht. Aber es wird
445 einen anderen Weg geben. Vielleicht einen Unfall. Doch zuerst
446 müssen wir heiraten. Vertraue mir.«
448 Lilly sah im tief in die Augen. Johann konnte nichts außer
449 bedingungsloser Liebe darin erkennen.
451 »Ich werde da sein, Johnny.«
455 »Du wurdest für diese Aufgabe ausgewählt, Johann.« Vor den dicken
456 Bleiglasscheiben schoben sich langsam und träge die Sterne dahin,
457 während der Vater seinen Monolog beendete. Es war angenehm kühl im
458 Salon, die Temperatur und die Luftfeuchtigkeit wurden durch ein
459 ausgeklügeltes System von Röhren und Lüftungsschächten in der Decke
460 und den Wänden auf einem konstanten Wert gehalten, damit die
461 Bücher, die sich an den Wänden in den hohen Regalen
462 aneinanderreihten, keinen Schaden nahmen. Hier hatte er einen
463 Großteil seines Lebens verbracht, hatte gelesen, gelernt und aus
464 dem Fenster gesehen. Alles, was er wusste, hatte er von seinem
465 Privatlehrer gelernt und aus den Büchern seines Vaters. Aus ihnen
466 wusste er, wie er sein Leben gestalten wollte und wie man sich als
467 Held zu benehmen hatte. So wie Phileas Fogg seine Aouda in Jules
468 Vernes »In achtzig Tagen um die Welt« vom Scheiterhaufen der
469 Brahmanen rettete und aus Indien mit ins zivilisierte London nahm,
470 so wollte er seine Lilly den Klauen Eugenes entreißen und entführen
471 in ein besseres Leben an seiner Seite in den Kolonien. Kein
472 Widerstand, keine Gefahr waren zu groß, um dieses edle Ziel zu
473 erreichen. Dass sich sein Vater um die Details kümmern müsste,
474 störte Johann nicht mehr. Denn auch Phileas Fogg wäre ohne seinen
475 Diener Passepartout wahrscheinlich noch nicht einmal über den
476 Ärmelkanal gekommen.
478 »Wir sind nur auf diesem Schiff, um dir diesen Weg zu ebnen«, fuhr
479 sein Vater fort. Sein weißer Backenbart betonte seine vom Whiskey
480 und dem Alter rot gefärbte Haut. »Du wirst eine wichtige
481 Persönlichkeit in der Kolonie werden.«
483 »Ich weiß. Und ich bin euch dankbar. Wirklich.«
485 »In der Kolonie wird dich ein gutes Leben erwarten.«
487 »Ich möchte es mit Lilly teilen.«
489 »Lilly. Was ist das für ein Name?!« Sein Vater schnaufte abfällig.
490 Doch Johann wusste, dass er am Ende nachgeben würde.
492 »Kann ich nicht selbst über mein Leben bestimmen?«, erwiderte er
493 trotzig, denn er hielt es für seine wichtigste Pflicht, seinen Plan
494 vor allem gegen seine Eltern durchzusetzen. Sie standen für all die
495 Zweifler, die es zu überwinden galt.
497 »Doch, das kannst du. Aber ich hätte mehr von dir erwartet.«
499 Johann blickte zu Boden. Der weiche Teppich im Salon des Vaters
500 dämpfte ihre Stimmen. Schwer hin der Zigarrenrauch in der Luft,
501 wirkte herbe neben dem süßlichen Aroma des Cognacs, dem der Vater
502 zusprach.
504 Johann hatte sich immer gewünscht, den folgenden Satz nie sagen zu
505 müssen. Aber Lilly war wichtiger. Er wollte sie haben, sie retten.
506 Das allein zählte.
508 »Wirst du mir helfen?«
510 »Was ist sie für eine Person?«
512 »Sie lebt auf dem Unterdeck. Doch sie hat einen tadellosen
513 Charakter.«
515 »Was hat sie dann mit Eugene zu schaffen?«
517 »Du kennst ihn?« Johann war wirklich überrascht. Obwohl es nicht
518 unüblich war, dass die Herren seiner Klasse sich auf dem Unterdeck
519 vergnügten, hätte er es von seinem Vater nicht erwartet.
521 »Vom Namen her. Ich bin leitender Ingenieur des Schiffes, ich muss
522 Bescheid wissen, was hier vor sich geht.«
524 »Also, hilfst du mir?« Es lastete schwer auf Johann, dass er einen
525 Menschen töten sollte. Doch wenn es einen Unfall geben würde \ldots{}
526 Eugene bräuchte niemals gefunden werden, die Walzen würden das
527 erledigen. Aber er würde das nicht selbst erledigen. Nach der
528 Hochzeit würde Eugene einfach verschwinden. Er hatte überlegt, mit
529 der Hochzeit zu warten, aber das hätte er nicht ausgehalten. Er
530 wollte Lilly und zwar sofort.
532 »Und du bist sicher, dass sie dich will und nicht dein Geld?«
534 »Sie ist schwanger.«
536 »Von dir?«
538 »Ja.« Johann hoffte, dass das die Wahrheit war. Aber er war bereit
539 es als solche zu akzeptieren, da es seiner Vision dienlich war.
541 »Ich werde sehen, was ich tun kann.«
543 Johann stand auf und nahm des Vaters Hände. »Danke!«, strahlte er
544 erleichtert.
548 Ein halbes Dutzend Machianisten hatten sich versammelt, um der
549 Zeremonie beizuwohnen. Der rothaarige Machinaist, den Johann um die
550 stille Hochzeit gebeten hatte, sang leise und im Rhythmus des
551 vorbeiziehenden Förderbandes. Er hatte seine Kapuze über den Kopf
552 gezogen und hielt den Kopf gesenkt. In seinen Händen ruhte eine
553 kleine Gaslaterne, die oft für die Reparaturen in den dunklen und
554 unbeleuchteten Gegenden des Schiffs benötigt wurde. Schließlich
555 verstummte er und sah Johann und Lilly an, die vor ihm knieten.
557 »Bei der Maschine und der Schwærkræft. So wie diese Flamme Licht in
558 die Dunkelheit der Maschine bringt, soll sie euch erleuchten und
559 eure Motive erhellen.« Er stellte die Lampe zwischen die beiden.
560 Dann zog er ein kleines Kästchen aus den Taschen seines Overalls.
561 Er öffnete es, und drehte an einem kleinen Schlüssel. Es knarrte
562 und knarzte, doch als das Uhrwerk aufgezogen war, begann das
563 Kästchen leise zu ticken.
565 »Als Zeichen, dass die Maschine immer bei Euch ist, dass sie Euch
566 am Leben erhält und dass sie für Euch sorgen wird, empfangt nun
567 dieses Uhrwerk. Geht in Euch. Ein heiliger Ablauf hat begonnen, den
568 niemand aufzuhalten vermag. Dreimal wird das Uhrwerk läuten, im
569 Abstand von einer Minute. Wenn die Maschine so ihr Einverständnis
570 gegeben hat und ihr dann immer noch beide nebeneinander in
571 Eintracht kniet, dann seid ihr Mann und Frau, für die Welt, das
572 Schiff und alle Kolonien, die unter den Sternen warten.«
574 Johann hörte auf das leise Ticken des Uhrwerks. Es war beruhigend
575 und aufregend zugleich. Drei Minuten, hundertachtzig Sekunden
576 trennten ihn noch von ihr. Sein Atem ging schneller, seine Brust
577 bebte. Mit jedem Herzschlag kam sie ihm näher, dachte er. Er
578 blickte auf und sah sie an. Sie lächelte. Sie trug wieder das
579 einfache braune Kleid, welches das einzige in ihrem Besitz zu sein
580 schien. Er konnte sehen, wie auch ihre Brust vor Aufregung bebte.
582 Über ihre Haare hatte sie einen einfachen, weißen Schleier gelegt,
583 der ihre Augen verdeckte. Johann konnte es nicht abwarten. So oft
584 hatte er schon bei ihr gelegen, sie berührt und geküsst, doch heute
585 sollte alles anders werden. Endlich würde sie ihm gehören. Um
586 Eugene würde er sich danach kümmern.
588 Ein leiser Gong ertönte. Johann blickte auf und sah das Kästchen
589 an. Die erste Minute war bereits verstrichen. Noch hundertzwanzig
590 Sekunden.
592 »Habt ihr geglaubt, ich lasse mich so einfach reinlegen? Verraten?
593 Da habt ihr Euch geschnitten.« Eugenes Stimme schnitt durch die
594 Stille des Maschinendecks.
596 Johann fuhr auf, Lilly kreischte. »Das wagst du nicht«, knurrte
597 Johann den Zuhälter an.
599 Doch der ignorierte ihn und zeigte mit dem Finger auf die Frau.
600 »Lilly, komm her. Sofort.«
602 Johann legte seine Hand auf ihre Schulter und drückte sie zurück
603 auf den Boden. »Nicht«, sagte er. »Noch zwei Minuten, dann kann er
604 uns nichts mehr.«
606 Doch Eugene lachte. »Du dummer Junge. Was denkst du dir denn? Sie
607 gehört mir, wird immer mir gehören. Sie mag zwar deine Frau sein,
608 aber ich werde dafür sorgen, dass du für sie blechen musst, wenn du
609 sie besteigen willst. Und nicht nur du. Sie ist mein bestes Pferd
610 im Stall, das lass ich mir von dir nicht wegnehmen.«
612 In Johann kochte der Zorn hoch. Der Gedanke, dass Lilly mit anderen
613 Männern \ldots{} dann wäre alles umsonst gewesen. Die heimliche
614 Hochzeit, die Erniedrigung durch den Vater. Ein zweiter Gong
615 ertönte und Johann zwang sich zur Ruhe. Noch eine Minute. Den Rest
616 würde sein Vater regeln. Doch Eugene schien seine Gedanken lesen zu
617 können.
619 »Du Träumer! Unselbstständiges Kind, das du bist. Dir wurde alles
620 in die Wiege gelegt. Andere müssen um ihr Leben kämpfen.« Er kam
621 näher, sein Grinsen wurde breiter. »Glaubst du wirklich, Dein Vater
622 könnte das regeln? Mich mundtot machen? Ich lasse mich nicht
623 aushebeln.« Das Uhrwerk tickte weiter, fünfundvierzig Sekunden
624 schätzte Johann. Ruhig bleiben, schalt er sich. Doch Eugene war
625 noch nicht zu Ende.
627 »Als deine Schwester im Opiumrausch in meinem Hinterzimmer starb,
628 habe ich dabei zugesehen. Danach bin ich zu deinem Vater gegangen
629 und habe die Schulden eingetrieben, die sie bei mir hatte. Ich
630 hatte ja ihren Leichnam als Pfand.« Eugene grinste. »Die Schande
631 wäre ihm doch zu groß gewesen. Was glaubst du nun, wie er sich
632 verhalten wird, wenn ich durchblicken lasse, welche Vergangenheit
633 die süße Lilly mit in die gute Familie gebracht hat? Trägt sie ein
634 Kind unter dem Herzen? Aber ist es auch deins, Johnny?«
636 Etwas setzte in Johann aus. sprang auf und stürmte auf Eugene zu.
637 Dieser erstarrte, sein Lächeln gefror zu Eis. Johann rammte ihm die
638 Schulter in den Magen, brüllte auf und schob ihn zum Rand der
639 Brücke. Unter ihnen toste das Förderband vorbei, schob unablässig
640 große und kleine Brocken Kohle in die malmenden Walzen. Eugene
641 ruderte mit den Armen, um sein Gleichgewicht zu halten. Dann, mit
642 einem ungläubigen Gesichtsausdruck, rutschte er langsam und fiel,
643 wie in Zeitlupe, nach hinten. Er fiel, schien einen Moment in der
644 Luft zu verharren, dann stützte hinunter auf den endlosen Strom aus
645 Kohle.
647 Johann sah nicht mehr, wie der Körper aufschlug, weil ihn ein
648 Machinaist mit einem Fluch auf den Boden warf. Lilly schrie auf.
649 Unter ihnen, außer Sicht, knirschte es hässlich weich.
651 Das Uhrwerk tickte weiter, unbeeindruckt von den Ereignissen.
653 »Wartet!«, rief Johann, als die hinzugerufenen Machinaisten ihn
654 wegzerren wollten. Mit aller ihm verbliebenen Kraft kämpfte er sich
655 frei, warf sich auf Lilly und klammerte sich an sie. Die Wachen
656 warfen sich wiederum auf Johnny und rissen ihn auf die Beine, zogen
657 seinen Kopf nach hinten und fesselten seine Hände auf den Rücken,
658 bevor sie ihn wieder zu Boden drückten. Johnny kniete neben Lilly.
659 In dem Moment erklang der Gong.
661 Der leitende Machinaist trat nach vorne und legte Johnny und Lilly
662 die Hände auf den Kopf, dann zeichnete er jedem mit Maschinenöl
663 einen kleinen Kreis auf die Stirn. »Im Namen der Maschine erkläre
664 ich Euch zu Mann und Frau. Ihr seid verheiratet.«
666 \bigpar
668 Johnny erschlaffte und gab jeden Widerstand auf.
670 \bigpar
672 \subsection{Drei}
674 \bigpar
676 »Man hat nur noch seinen rechten Arm gefunden.« Der Vater stand mit
677 gramerfülltem Gesicht in der Zelle, als die Machinaisten kamen, um
678 Johann zu holen. »Wieso hast du nicht gewartet?«
680 Johann schwieg, sah seinen Vater nicht an. Das letzte, was er in
681 seinen letzten Minuten vor der Vollstreckung des Urteils hören
682 wollte, waren Vorwürfe.
684 »Kümmert Euch um Lilly. Ich bitte Euch.«
686 Der Vater schwieg, und die Machinaisten zogen Johann an der
687 schweren Eisenkette, die seine Hände fesselten hinaus. Mord war das
688 schwerste Verbrechen auf der Kleine Hoffnung. Jeder Mensch wurde
689 gebraucht in den Kolonien. Und ein Menschenleben auszulöschen
690 bedeutete, die Gemeinschaft zu schwächen. Paradoxerweise wurde man
691 dafür mit dem Tode bestraft.
693 Es waren viele zur öffentlichen Hinrichtung gekommen. Der große
694 Saal unter der Sternenkuppel war gut gefüllt, als man Johann
695 hineinführte. Schlagartig wurde es still. Die Machinaisten stellten
696 Johann auf eine Luke im Boden. Er schluckte und schloss die Augen.
697 Er spürte die Maschine unter seinen Füßen rumoren. Jetzt stand er
698 direkt über der Brennkammer. Darin war das Feuer, das den Kessel
699 heizte. Das Feuer, das sie alle am Leben hielt in dieser brutalen
700 Dunkelheit des Universums. Johann blickte noch einmal nach oben,
701 sah durch die Glaskuppel die großen Segel, in denen sich der
702 Sonnenwind fing, um sie zu ihrem Ziel zu tragen. Die Kolonie, die
703 er nun nie erreichen würde. Aber Lilly würde. Schnell suchte er mit
704 seinem Blick ihr Gesicht in den Massen. Er fand sie in der ersten
705 Reihe, kummervoll stützte sie sich auf einen Mann.
707 »\ldots{} wirst du dem ewigen Kreislauf der Maschine überantwortet. Wir
708 übergeben deinen Körper der Maschine und der Schwærkræft.«
710 »Lilly!«, rief Johann verzweifelt. Seine Frau hob den Kopf und
711 lächelte ihn an. Das teure Spitzenkleid ließ ihre Figur plötzlich
712 wieder sehr jugendhaft aussehen. Sie wollte zu ihm kommen, doch die
713 Machinaisten hielten sie zurück. Johann wusste jetzt, dass es ihr
714 gut gehen würde. Die Witwenrente böte ihr die Voraussetzung für ein
715 hervorragendes Leben. Lilly lächelte ihm zu und Johann zwang sich
716 ebenfalls zu einem Lächeln. Er straffte sich, als der Machinaist
717 zum Hebel schritt, der die Falltüre öffnen würde.
719 Der Mann neben Lilly schaute nun auf. Er hob den Arm, oder was
720 davon übrig war, und winkte ihm mit dem Stumpf zu. Johann sah, wie
721 Eugenes Lippen grinsend ein Wort formten: »Danke!«
723 \bigpar
725 Bevor jemand etwas bemerkt hatte, war Eugene mit Lilly wieder in
726 der Menge verschwunden. Dann öffnete sich die Luke.
728 \end{document}