Auf zwei Planeten: Repariere getrennte Worte (OCR) und Konvertierungsprobleme
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10 \raggedbottom
12 \author{Kurd Laßwitz}
13 \title{Auf zwei Planeten}
14 \subtitle{Roman in zwei Büchern}
15 \date{Die Erstausgabe erschien 1897}
16 \maketitle
18 \part{Erstes Buch}
20 \section{1 - Am Nordpol}
22 Eine Schlange jagt über das Eis. In riesiger Länge ausgestreckt
23 schleppt sie ihren dünnen Leib wie rasend dahin. Mit
24 Schnellzugsgeschwindigkeit springt sie von Scholle zu Scholle, die
25 gähnende Spalte hält sie nicht auf, jetzt schwimmt sie über das
26 offene Wasser eines Meeresarms und schlüpft gewandt über die hier
27 und da sich schaukelnden Eisberge. Sie gleitet auf das Ufer,
28 unaufhaltsam in gerader Richtung, direkt nach Norden, dem Gebirge
29 entgegen, das am Horizont sich hebt. Es geht über die Gletscher hin
30 nach dem dunklen Felsgestein, das mit weiten Flecken bräunlicher
31 Flechten bedeckt mitten unter den Eismassen sich emporbäumt. Wieder
32 schießt die Schlange in ein Tal hinab. Zwischen den Felsbrocken
33 sproßt es grün und gelblich, Sauerampfer und Saxifragen schmücken
34 den Boden, die spärlichen Blätter eines Weidenbuschs zerstieben
35 unter dem Schlag des mit rasender Geschwindigkeit hindurchfahrenden
36 Schlangenleibes. Eilend entflieht eine einsame Schneeammer,
37 erschrocken und brummend erhebt sich aus seinem Schlummer der
38 Eisbär, dem soeben die Schlange das zottige Fell gestreift hat.
40 Die Schlange kümmert sich nicht darum; während ihr Schweif über die
41 nordische Sommerlandschaft hinjagt, hebt sie ihr Haupt hoch empor
42 in die Luft, der Sonne entgegen. Es ist kurz nach Mitternacht, eben
43 hat der neunzehnte August begonnen.
45 Schräg fallen die Strahlen des Sonnenballs auf die Abhänge des
46 Gebirges, das unter der Einwirkung des schon monatelang dauernden
47 Tages sich mit reichlichem Pflanzenwuchs bedeckt hat. Hinter jenen
48 Höhen liegt der Nordpol des Erdballs. Ihm entgegen stürmt die
49 Schlange. Wo aber ist der Kopf des eilenden Ungetüms? Man sieht ihn
50 nicht. Ihr dünner Leib verfließt in der Luft, die klar und
51 durchsichtig über der Polarlandschaft liegt. Doch welch seltsame
52 Erscheinung? Der Schlange stets voran schwebt, von der Sonne
53 vergoldet, ein rundlicher Körper. Es ist ein großer Ballon. Straff
54 schwillt die feine Seide unter dem Druck des Wasserstoffgases, das
55 sie erfüllt. In der Höhe von dreihundert Meter über dem Boden
56 treibt ein starker, gleichmäßig wehender Südwind den Ballon dem
57 Norden zu. Die Schlange aber ist das Schlepptau dieses Luftballons,
58 der in günstiger Fahrt dem langersehnten Ziel menschlicher
59 Wißbegier sich nähert, dem Nordpol der Erde. Auf dem Boden
60 nachschleppend reguliert es den Flug des Ballons. Wenn er höher
61 steigt, hemmt es ihn durch sein Gewicht, das er mit aufheben muß;
62 wenn er sinkt, erleichtert es ihn, indem es in größerer Länge auf
63 der Erde sich ausstreckt. Seine Reibung auf dem Boden bietet einen
64 Widerstand und ermöglicht es damit den Luftschiffern, durch
65 Stellung eines Segels bis zu einem gewissen Grade von der
66 Windrichtung abzuweichen.
68 Aber das Segel ist jetzt eingezogen. Der Wind weht so günstig
69 unmittelbar von Süden her, wie es die kühnen Nordpolfahrer nur
70 wünschen können. Lange hatten sie an der Nordküste von Spitzbergen
71 auf das Eintreten des Südwinds gewartet. Schon neigte sich der
72 Polarsommer seinem Ende zu, und sie fürchteten unverrichteter Sache
73 umkehren zu müssen, wie der kühne Schwede Andrée bei seinem ersten
74 Versuche. Da endlich, am 17. August, setzte der Südwind ein. Der
75 gefüllte Ballon erhob sich in die Lüfte; binnen zwei Tagen hatten
76 sie tausend Kilometer in direkt nördlicher Richtung zurückgelegt.
77 Der von Nansen entdeckte nordische Ozean war überflogen und neues
78 Land erreicht, das sich ganz gegen Erwartung der Geographen hier
79 vorfand. Schon entschwand das Supan-Kap auf Andrée-Land im Süden
80 ihren Blicken. Bald mußte es sich entscheiden, ob die beiden
81 Expeditionen, die eine im Ballon, die andere mit Schlitten
82 unternommen, wirklich, wie ihre Führer meinten, den Pol selbst
83 erreicht hätten. Bei der Unsicherheit der Ortsbestimmung in diesen
84 Breiten waren Zweifel darüber entstanden, die Aussicht vom Ballon
85 war durch Nebel getrübt gewesen, der Schlittenexpedition fehlte ein
86 weiterer Überblick. Jetzt war durch die Mittel eines reichen
87 Privatmanns, des Astronomen Friedrich Ell, eine deutsche Expedition
88 ausgerüstet worden, die noch einmal mittels des Ballons den Pol
89 untersuchen sollte.
91 Natürlich hatte man sich die Erfahrungen der früheren Expeditionen
92 zunutze gemacht. Durch die internationale Vereinigung für
93 Polarforschung war eine eigene Abteilung für wissenschaftliche
94 Luftschiffahrt ins Leben gerufen worden. Namentlich hatte man die
95 Benutzung des Schleppseils ausgebildet und damit für die Leitung
96 des Ballons wenigstens annähernd ein Mittel zur Lenkung gefunden,
97 wie es das Segelschiff im Widerstand des Wassers besitzt. Man hatte
98 Metallzylinder konstruiert, in denen man bis auf 250 Atmosphären
99 Druck zusammengepreßten Wasserstoff mit sich führte, um bei
100 Dauerfahrten einen eingetretenen Gasverlust zu ersetzen. Man hatte
101 dem Korb eine Form gegeben, die es gestattete, ihn nach Bedarf
102 gegen die äußere Luft abzuschließen. Der neue Ballon ›Pol‹ war mit
103 allen diesen fortgeschrittenen Einrichtungen ausgerüstet. Außerdem
104 hing unterhalb des Korbes zur Rettung im äußersten Notfall ein
105 großer Fallschirm. Unter einer Art Sattel, der einen sicheren Sitz
106 gewährte, war an demselben für alle Fälle ein Proviantkorb
107 befestigt.
109 Der Direktor der Abteilung für wissenschaftliche Luftschiffahrt,
110 Hugo Torm, hatte selbst die Leitung der Expedition unternommen. Ihn
111 begleiteten der Astronom Grunthe und der Naturforscher Josef
112 Saltner. Saltner warf einen Blick auf Uhr und Barometer, drückte
113 auf den Momentverschluß des photographischen Apparats und notierte
114 die Zeit und den Luftdruck.
116 „Diese Gegend hätten wir glücklich in der Tasche“, murmelte er.
117 Dann streckte er die in hohen Filzstiefeln steckenden Füße so weit
118 aus, als es der beschränkte Raum des Korbes zuließ, zwinkerte mit
119 den lustigen Augen und sagte: „Meine Herren, ich bin schauderhaft
120 müde. Könnte man nicht jetzt ein kleines Schläfchen machen? Was
121 meinen Sie, Kapitän?“
123 „Tun Sie das“, antwortete Torm, „Sie sind an der Reihe. Aber
124 beeilen Sie sich. Wenn wir diesen Wind noch drei Stunden behalten
125 –“
127 Er unterbrach sich, um die nötigen Ablesungen zu machen.
129 „Wecken Sie mich gefälligst, sobald wir – am Pol sind –“
131 Saltner sprach mit geschlossenen Augen, und beim letzten Wort war
132 er schon sanft entschlummert.
134 „Es ist ein unheimliches Glück, das wir haben“, begann Torm. „Wir
135 fliegen im wahren Sinn des Worts auf das Ziel zu. Ich habe für die
136 letzten fünf Minuten wieder 3,9 Kilometer notiert. Könnten Sie eine
137 genauere Bestimmung versuchen, wo wir sind?“
139 „Es wird sich machen lassen“, antwortete Grunthe, indem er nach dem
140 Sextanten griff. „Der Ballon geht sehr ruhig, und wir haben die
141 Ortszeit ziemlich sicher. Wir hatten den tiefsten Sonnenstand vor
142 einer Stunde und 26 Minuten.“ Er nahm die Sonnenhöhe mit größter
143 Sorgfalt. Dann rechnete er einige Zeit lang.
145 In vollkommener Stille lag die Landschaft, über welche die
146 Luftschiffer eilten. Ein weites Hochplateau, mit Moos und Flechten
147 bedeckt, hier und da von Wasserlachen durchsetzt, bildete den Fuß
148 des Gebirges, dem sich der Ballon schnell näherte. Man hörte nichts
149 als das Ticken der Uhrwerke, von Zeit zu Zeit das regelmäßige
150 Abschnurren des Aspirationsthermometers, dazwischen die behaglichen
151 Atemzüge des schlummernden Saltner. Es war freilich eine
152 angenehmere Polarfahrt, als mit halbverhungerten Hunden die
153 langsamen Schlitten über die Eistrümmer zu schleppen. Grunthe sah
154 von seiner Rechnung auf.
156 „Welche Breite haben Sie aus der Berechnung des zurückgelegten
157 Weges?“ fragte er Torm.
159 „Achtundachtzig Grad fünfzig – einundfünfzig Minuten“, erwiderte
160 dieser.
162 „Wir sind weiter.“
164 Grunthe machte eine Pause, indem er noch einmal kurz die Rechnung
165 prüfte. Dann sagte er bedachtsam, aber mit derselben
166 Gleichmäßigkeit der Stimme:
168 „Neunundachtzig Grad 12 Minuten.“
170 „Nicht möglich!“
172 „Ganz sicher“, erwiderte Grunthe ruhig und zog die Lippen ein, so
173 daß sein Mund unter dem dünnen Schnurrbart wie ein Gedankenstrich
174 erschien. Das war das Zeichen, daß keine Gewalt mehr imstande sei,
175 an Grunthes unerschütterlichem Ausspruch etwas zu ändern.
177 „Dann haben wir keine 90 Kilometer mehr bis zum Pol“, rief Torm
178 lebhaft.
180 „Neunundachtzigeinhalb“, sprach Grunthe.
182 „Dann sind wir in zwei Stunden dort.“
184 „In einer Stunde und 52 Minuten“, verbesserte Grunthe
185 unerschütterlich, „wenn nämlich der Wind mit derselben
186 Geschwindigkeit anhält.“
188 „Ja – wenn“, so rief Torm lebhaft. „Nur noch zwei Stunden, Gott
189 gebe es!“
191 „Sobald wir über jenen Bergrücken sind, werden wir den Pol sehen.“
193 „Sie haben recht, Doktor! Sehen werden wir den Pol – ob auch
194 erreichen?“
196 „Warum nicht?“ fragte Grunthe.
198 „Hinter den Bergen, der Himmel gefällt mir nicht – auf der
199 Nordseite liegt jetzt seit Stunden die Sonne, es ist dort ein
200 aufsteigender Luftstrom vorhanden –“
202 „Wir müssen abwarten.“
204 „Da – da – sehen Sie – den herrlichen Absturz des Gletschers “,
205 rief Torm.
207 „Wir fliegen gerade auf ihn zu; müssen wir nicht steigen?“ fragte
208 Grunthe.
210 „Gewiß, dort müssen wir hinüber. Aufgepaßt! Schneiden Sie ab!“
212 Zwei Säcke Ballast klappten herab. Der Ballon schoß in die Höhe.
214 „Wie die Entfernung täuscht“, sagte Torm. „Ich hätte die Wand für
215 entfernter gehalten – es reicht noch nicht. Wir müssen noch mehr
216 opfern.“
218 Er schnitt noch einen Sack ab.
220 „Wir dürfen nicht in die Schlucht geraten“, erklärte er, „kein
221 Mensch weiß, in was für Wirbel wir da kommen. Aber was ist das? Der
222 Ballon steigt nicht? Es hilft nichts – noch mehr hinaus!“
224 Eine schwarze Felswand, welche den Gletscher in zwei Teile
225 spaltete, erhob sich unmittelbar vor ihnen. Der Ballon schwebte in
226 unheimlicher Nähe. Mit ängstlicher Erwartung verfolgten die beiden
227 Männer den Flug ihres Aërostaten. Der Südwind war jetzt, zu ihrem
228 Glück, hier in der unmittelbaren Nähe der Berge schwächer, sonst
229 wären sie schon an die Felsen geschleudert worden. Der Ballon
230 befand sich nunmehr im Schatten der Berge; das Gas kühlte sich ab.
231 Die Temperatur sank schnell tief unter den Gefrierpunkt. Torm
232 überlegte, ob er noch mehr Ballast auswerfen dürfe. Was er jetzt an
233 Ballast verlor, das mußte er dann an Gas aufopfern, um den Ballon
234 wieder zum Sinken zu bringen, und das Gas war sein größter Schatz,
235 das Mittel, das ihn wieder aus dem Bereich des furchtbaren Nordens
236 bringen sollte. Er wußte ja nicht, was ihn hinter den Bergen
237 erwarte. Aber der Ballon stieg zu langsam. Da – eine seitliche
238 Strömung bewegt ihn – die Strahlen der Sonne, welche über den
239 Sattel des Gletschers herüberlugt, treffen ihn wieder – das Gas
240 dehnt sich aus, der Ballon steigt – tiefer und tiefer sinken die
241 Eismassen unter ihm. –
243 „Hurrah!“ rufen die beiden Luftschiffer wie aus einem Munde.
245 „Was gibt’s?“ fährt Saltner aus seinem Schlummer empor. „Sind wir
246 da?“
248 „Wollen Sie den Nordpol sehen?“
250 „Wo? Wo?“ Im Augenblick war Saltner in die Höhe gefahren.
252 „Sakri, das ist kalt“, rief er.
254 „Wir sind über 500 Meter gestiegen“, antwortete Torm.
256 Saltner hüllte sich in seinen Pelz, was die andern schon vorher
257 getan hatten.
259 „Wir sind jetzt fast in gleicher Höhe mit dem Kamm des Gebirges.
260 Sobald wir darüber hinwegsehen können, muß vor uns, etwa 50
261 Kilometer nach Norden, die Stelle liegen –“
263 „Wo die Erdachse geschmiert wird!“ rief Saltner. „Ich bin
264 verteufelt neugierig. Na, den Champagner brauchen wir nicht erst
265 kalt zu stellen.“
267 Die drei Männer standen, am Tauwerk sich haltend, in der Gondel.
268 Mit gespannten Blicken schauten sie jeden Augenblick, den ihnen die
269 Bedienung des Ballons und die Beobachtung der Instrumente freiließ,
270 durch ihre Feldstecher nach Norden, der Sonne entgegen, die erst
271 wenig nach Osten hin beiseite getreten war. Allmählich versanken
272 die Berggipfel unter ihnen – noch ein breiterer Rücken hemmte ihnen
273 die Aussicht – der Ballon glitt jetzt wieder in der Höhe des Kammes
274 dahin, das Schlepptau schleifte –, noch eine breite Mulde war zu
275 überfliegen, dann mußte das ersehnte Ziel vor ihnen liegen. Der
276 Ballon befand sich etwa in der Mitte der Mulde, höchstens 100 Meter
277 über ihrem Boden, und die gegenüberliegende Talwand verdeckte noch
278 die Aussicht. Der Wind war etwas weniger lebhaft, aber immer noch
279 südlich, und der Ballon stieg an der flachen Erhebung des Eisfeldes
280 hinan.
282 Jetzt wurden einzelne weiße Bergkuppen in großer Entfernung hinter
283 dem nahen Horizont der gegenüberliegenden Eiswand sichtbar, die
284 Luftschiffer befanden sich in gleicher Höhe mit dem letzten
285 Hindernis, das ihren Blick beschränkte. Die Gipfel mehrten sich,
286 sie bildeten eine Bergkette.
288 „Diese Berge liegen schon hinter dem Pol“, sagte Grunthe, und
289 diesmal bebte seine Stimme doch ein wenig vor Aufregung. Fest
290 preßte er seine Lippen zur geraden Linie zusammen.
292 Weiter stieg der Ballon – dunkel gefärbte Bergzüge erschienen unter
293 den Schneegipfeln, rötlich und bräunlich schimmernd – jetzt
294 erreichte der Ballon die Höhe und schwebte über einem tiefen
295 Abgrund – das Schleppseil schnellte hinab, und der Ballon sank
296 sofort einige hundert Meter tief – dann pendelte er noch einmal auf
297 und ab – diese plötzliche Schwankung des Ballons hatte die
298 Aufmerksamkeit der Luftschiffer voll in Anspruch genommen – sie
299 sahen unter sich, tief unten ein wildes Gewirr von Klippen,
300 Felstrümmern und Eisblöcken, hinter sich die steil abgebrochene
301 Wand, an welcher der verzerrte Schatten des Ballons auf- und
302 niederschwankte – die Instrumente mußten beobachtet werden, und
303 erst jetzt konnten sie den Blick nach vorwärts lenken, vorwärts und
304 nordwärts – oder war es vielleicht schon südwärts?
306 Saltner war der erste, der nach vorn blickte. Aber er sprach
307 nichts, in einem langgedehnten Pfiff blies er den Atem aus seinen
308 gespitzten Lippen.
310 „Das Meer!“ rief Torm.
312 „Grüß Gott!“ sagte jetzt Saltner. „Da hat halt der alte Petermann
313 doch recht behalten, aber bloß ein bissel. Ein offenes Polarmeer
314 ist es schon, man muß sich nur nicht zuviel drauf einbilden.“
316 „Ein Binnenmeer, ein Bassin, immerhin, gegen tausend
317 Quadratkilometer schätze ich“, sagte Grunthe. „Etwa so groß wie der
318 Bodensee. Aber wer kann wissen, was sich dort hinten noch an Fjords
319 und Kanälen abzweigt. Und auch das Bassin selbst ist durch
320 verschiedene Inseln in Arme geteilt.“
322 „Wer da unten zu Fuß oder zu Schiff ankommt, muß Mühe haben zu
323 entscheiden, ob das Meer im Land liegt oder das Land im Meer“,
324 sagte Saltner. „Gut, daß wir’s bequemer haben.“
326 „Gewiß“, meinte Torm, „es ist möglich, daß wir ein Stück des
327 offenen Meeres vor uns haben, obwohl es von hier den Anschein hat,
328 als schlössen die Berge das Wasser von allen Seiten ein. Wir werden
329 ja sehen. Aber vor allen Dingen, was sollen wir tun? Wir haben
330 wider Erwarten so hoch steigen müssen, daß wir jetzt sehr viel Gas
331 verlieren würden, wenn wir hinabwollten, und andrerseits werden wir
332 wieder drüben über die Berge hinaufmüssen. Es ist eine schwierige
333 Frage. Aber wir haben noch Zeit, darüber nachzudenken, denn der
334 Ballon bewegt sich jetzt nur langsam.“
336 „Und diese Gelegenheit wollen wir benutzen, um dem Nordpol unsern
337 wohlverdienten Gruß zu bringen“, rief Saltner. Mit diesen Worten
338 zog er ein Futteral hervor, aus welchem drei Flaschen Champagner
339 ihre silbernen Hälse einladend hervorstreckten.
341 „Davon weiß ich ja gar nichts“, sagte Torm fragend.
343 „Das ist eine Stiftung von Frau Isma. Sehen Sie, es steht darauf:
344 ›Am Pol zu öffnen. Gewicht vier Kilogramm.‹“
346 Torm lachte. „Dachte ich mir doch“, sagte er, „daß meine Frau
347 irgend etwas einschmuggeln würde, was das Expeditionsreglement
348 durchbricht.“
350 „Es ist doch aber auch ein herrlicher Gedanke von Ihrer Frau, sich
351 am Nordpol in Champagner hochleben zu lassen“, erwiderte Saltner.
352 „Erstens für sich selbst, denn das ist etwas, was noch nicht
353 dagewesen ist; das müssen Sie zugeben, Damen sind hier noch niemals
354 leben gelassen worden. Und zweitens für uns, das müssen Sie auch
355 zugeben; es ist sehr wonnig, in dieser Kälte den Schaumwein zu
356 trinken auf das Wohl unserer Kommandeuse. Und drittens, ist es
357 nicht einfach bejauchzbar, das tragische Antlitz unseres Astronomen
358 zu sehen? Denn Champagner trinkt er prinzipiell nicht, und auf
359 weibliche Wesen stößt er prinzipiell nicht an; da er aber auf dem
360 Nordpol prinzipiell in ein Hoch einstimmen muß und will, so findet
361 er sich in einem Widerstreit der Prinzipien, aus dem herauszukommen
362 ihm verteufelt schwerfallen wird.“
364 „Darauf könnte ich sehr viel erwidern“, sagte Grunthe. „Zum
365 Beispiel, daß wir noch gar nicht wissen, wo der Nordpol eigentlich
366 liegt.“
368 „Schon wahr“, unterbrach ihn Torm, „aber eben darum müssen wir den
369 Moment feiern, in welchem wir sicher sind, ihn zum erstenmal in
370 unserm Gesichtsfeld zu haben. Das werden Sie zugeben?“
372 „Hm, ja“, sagte Grunthe, und ein leichtes Schmunzeln glitt über
373 seine Züge. „Ich nehme an, wir wären am Pol. So kann ich mit Ihnen
374 anstoßen, oder auch nicht, ganz wie ich will, ohne mit
375 irgendwelchen Prinzipien in Widerspruch zu geraten.“
377 „Wieso?“ fragte Saltner.
379 „Der Pol ist ein Unstetigkeitspunkt. Prinzipien sind Grundsätze,
380 die unter der Voraussetzung gelten, daß die Bedingungen bestehen,
381 für welche sie aufgestellt sind, vor allem die Stetigkeit der Raum-
382 und Zeitbestimmungen. Am Pol sind alle Bedingungen aufgehoben. Hier
383 gibt es keine Himmelsrichtungen mehr, jede Richtung kann als Nord,
384 Süd, Ost oder West bezeichnet werden. Hier gibt es auch keine
385 Tageszeit; alle Zeiten, Nacht, Morgen, Mittag und Abend, sind
386 gleichzeitig vorhanden. Hier gelten also auch alle Grundsätze
387 zusammen oder gar keine. Es ist der vollständige Indifferenzpunkt
388 aller Bestimmungen erreicht, das Ideal der Parteilosigkeit.“
390 „Bravo“, rief Saltner, der inzwischen die Trinkbecher von Aluminium
391 mit dem perlenden Wein gefüllt hatte. „Es lebe Frau Isma Torm,
392 unsere gnädige Spenderin!“
394 Saltner und Torm erhoben ihre Becher. Grunthe kniff die Lippen
395 zusammen und hielt, geradeaus starrend, sein Trinkgefäß unbeweglich
396 vor sich hin, indem er es passiv geschehen ließ, daß die andern mit
397 ihren Bechern daran stießen. Nun rief Torm:
399 „Es lebe der Nordpol!“
401 Da stieß auch Grunthe seinen Becher lebhaft mit den andern zusammen
402 und setzte hinzu:
404 „Es lebe die Menschheit!“
406 Sie tranken und Saltner rief:
408 „Grunthes Toast ist so allgemein, daß ein Becher nicht reichen
409 kann.“ Und er schenkte noch einmal ein.
411 Inzwischen war der Ballon langsam dem Binnenmeer entgegengetrieben,
412 das sich nun immer deutlicher den staunenden Blicken der Reisenden
413 enthüllte. Vom Fuß der steil abfallenden Felsenwand des Gebirges ab
414 senkte sich das Gelände allmählich, wohl noch eine Strecke von
415 einigen zwanzig Kilometern weit, nach dem Ufer hin. Aber die
416 Landschaft zeigte jetzt ein vollständig anderes Gepräge. Die wilde
417 Gletschernatur war verschwunden, grüne Matten zogen sich, nur noch
418 mit einzelnen Gesteinstrümmern hier und da bedeckt, in sanfter
419 Senkung dem Wasser zu. Man glaubte in ein herrliches Alpental zu
420 schauen, in dessen Mitte ein blauer Bergsee sich ausbreitete. An
421 dem jenseitigen, entfernten Ufer, das freilich in undeutlichem
422 Dämmer verschwamm, schien dagegen wieder ein Steilabfall von Fels
423 und Eis zu herrschen, doch zog sich über den Bergen dort eine
424 Wolkenwand empor. Das Auffallendste in der ganzen Szenerie aber bot
425 der Anblick einer der Inseln, die zahlreich und in unregelmäßiger
426 Gestaltung in dem Bassin lagen, bis an dessen Ufer der Ballon jetzt
427 herangeschwebt war. Sie war kleiner als die Mehrzahl der übrigen
428 Inseln. Aber ihre Formen waren so vollkommen regelmäßig, daß es
429 zweifelhaft schien, ob man eine Gestaltung der Natur vor sich habe.
430 Die mit Flechten bekleideten Felstrümmer, welche die andern Inseln
431 bedeckten, fehlten hier vollständig.
433 Die Forscher mochten sich etwa noch zwölf Kilometer von der
434 rätselhaften Insel entfernt befinden, die sie mit ihren Ferngläsern
435 musterten, als Torm sich an Grunthe wandte.
437 „Sagen Sie uns, bitte, Ihre Meinung. Können wir eigentlich
438 bestimmen, wo wir uns befinden? Ich muß gestehen, daß ich beim
439 Überschreiten des Gebirges und dem raschen Höhenwechsel nicht mehr
440 imstande war, die einzelnen Landmarken zu verfolgen.“
442 „Ich habe“, erwiderte Grunthe, „einige Peilungen gemacht, aber zu
443 einer sicheren Bestimmung reichen sie nicht mehr aus. Auch die
444 Methode aus der Messung der Sonnenhöhe ist jetzt nicht anwendbar,
445 da wir nicht mehr imstande sind, die Tageszeit auch nur mit einiger
446 Sicherheit anzugeben. Wir haben die Himmelsrichtung vollständig
447 verloren. Der Kompaß ist ja hier im Norden sehr unzuverlässig. Auf
448 alle Fälle sind wir ganz nahe am Pol, wo alle Meridiane so nah
449 zusammenlaufen, daß eine Abweichung von einem Kilometer nach rechts
450 oder links einen Zeitunterschied von einer Stunde oder mehr
451 ausmacht. Wenn unser Ballon aus der Nord-Süd-Richtung vielleicht
452 seit der Überschreitung des Gebirges um fünf oder sechs Kilometer
453 abgewichen ist, was sehr leicht sein kann, so haben wir jetzt
454 nicht, wie wir vermuten, drei Uhr morgens am 19. August, sondern
455 vielleicht schon Mittag, oder, wenn wir nach Westen abgewichen
456 sind, so sind wir sogar in den gestrigen Tag zurückgeraten und
457 haben vielleicht erst den 18. August abends.“
459 „Das wäre der Teufel“, rief Saltner. „Das kommt von diesem ewigen
460 Sonnenschein am Pol! Nun kann ich an meinem Abreißkalender das
461 Blatt von gestern wieder ankleben.“
463 „Schon möglich!“ lächelte Grunthe. „Nehmen Sie an, Sie machen einen
464 Spaziergang um den Nordpol in der Entfernung von hundert Metern vom
465 Pol, so sind Sie in fünf Minuten bequem um den Pol herumgegangen
466 und haben sämtliche 360 Meridiane überschritten; Sie haben also in
467 fünf Minuten alle Tageszeiten abgelaufen. Gehen Sie nach Westen
468 herum, und wollen Sie die richtige Zeit jedes Meridians haben, so
469 müßten Sie auf jedem Meridian Ihre Uhr um 4 Minuten zurückstellen,
470 so daß Sie nach besagten fünf Minuten um einen vollen Tag zurück
471 sind, und wenn Sie in dieser Art eine Stunde lang um den Pol
472 herumgegangen sind, so muß Ihre Uhr, wenn sie einen Datumzeiger
473 besitzt, den 7. August anzeigen.“
475 „Da muß ich mir halt einen Anklebekalender anschaffen“, meinte
476 Saltner.
478 „Ja, aber wenn Sie nach Osten herumgehen, kommen Sie um ebensoviel
479 in der Zeit voran, Sie hätten dann nach zwölfmaligem Spaziergang um
480 den Pol den 31. August erreicht, wenn Sie bei jedem Umgehen des
481 Pols ein Blatt in ihrem Kalender abrissen. In beiden Fällen würden
482 sie sich indessen tatsächlich noch am 19. August befinden. Sie
483 müßten also, wie die Seefahrer beim Überschreiten des 180.
484 Meridians, ihren Datumzeiger entsprechend regulieren.“
486 „Und wenn wir nun gerade über den Pol wegfliegen?“
488 „Dann springen wir in einem Moment um zwölf Stunden in der Zeit.
489 Der Pol ist eben ein Unstetigkeitspunkt.“
491 „Sackerment, da weiß man ja gar nicht, wo man ist.“
493 „Ja“, sagte Torm, „das ist eben das Fatale. Wir haben uns von
494 Anfang an darauf verlassen müssen, daß wir unsere Lage aus dem
495 zurückgelegten Wege bestimmen. Läßt sich denn gar nichts tun?“
497 „Nur wenn wir landen und unsere Instrumente so fest aufstellen, daß
498 wir einige Sterne anvisieren können.“
500 „Daran können wir auf keinen Fall eher denken, bis wir den See
501 überflogen haben und das jenseitige Gebirge überschauen. Hier
502 zwischen den Inseln dürfen wir uns nicht hinabwagen. Wir sind also
503 wirklich nicht besser daran als unsere Vorgänger, und der wahre Pol
504 bleibt wieder unbestimmt.“
506 „Zu verflixt“, brummte Saltner, „da sind wir vielleicht gerade am
507 Nordpol und wissen es nicht.“
509 \section{2 - Das Geheimnis des Pols}
511 Langsam zog der Ballon weiter, doch bewegte er sich nicht direkt
512 auf die auffallende kleine Insel zu, sondern sie blieb rechts von
513 seiner Fahrtrichtung liegen.
515 Während Grunthe die Landmarken aufnahm und Torm die Instrumente
516 ablas, suchte Saltner, dem die photographische Festhaltung des
517 Terrains oblag, die Gegend mit seinem vorzüglichen Abbéschen
518 Relieffernrohr ab. Dasselbe gab eine sechzehnfache Vergrößerung und
519 ließ, da es die Augendistanz verzehnfachte, die Gegenstände in
520 stereoskopischer Körperlichkeit erscheinen. Sie hatten sich jetzt
521 der Insel soweit genähert, daß es möglich gewesen wäre, Menschen,
522 falls sich solche dort hätten befinden können, mit Hilfe des
523 Fernrohrs wahrzunehmen.
525 Saltner schüttelte den Kopf, sah wieder durch das Fernrohr, setzte
526 es ab und schüttelte wieder den Kopf.
528 „Meine Herren“, sagte er jetzt, „entweder ist mir der Champagner in
529 den Kopf gestiegen –“
531 „Die zwei Glas, Ihnen?“ fragte Torm lächelnd.
533 „Ich glaub es auch nicht, also – oder –“
535 „Oder? Was sehen Sie denn?“
537 „Es sind schon andere vor uns hier gewesen.“
539 „Unmöglich!“ riefen Torm und Grunthe wie aus einem Munde.
541 „Die bisherigen Berichte wissen nichts von einer derartigen Insel –
542 unsere Vorgänger sind offenbar gar nicht über das Gebirge
543 gekommen“, fügte Torm hinzu.
545 „Sehen Sie selbst“, sagte Saltner und gab das Fernrohr an Torm. Er
546 selbst und Grunthe benutzten ihre kleineren Feldstecher. Torm
547 blickte gespannt nach der Insel, dann wollte er etwas sagen, zuckte
548 aber nur mit den Lippen und blieb völlig stumm.
550 Saltner begann wieder: „Die Insel ist genau kreisförmig – das haben
551 wir schon bemerkt. Aber jetzt sehen Sie, daß gerade im Zentrum sich
552 wieder ein dunkler Kreis von – sagen wir – vielleicht hundert
553 Metern Durchmesser befindet.“
555 „Allerdings“, sagte Grunthe, „aber es ist nicht nur ein Kreis,
556 sondern eine zylindrische Öffnung, wie man jetzt deutlich sehen
557 kann. Und um den Rand derselben führt eine Art Brüstung.“
559 „Und nun suchen Sie einmal den Rand der Insel ab. Was sehen Sie?“
561 „Mein Glas ist zu schwach, um Einzelheiten zu erkennen.“
563 „Ich habe gesehen, was Sie wahrscheinlich meinen“, sagte Torm.
565 „Aber was ist das“, unterbrach er sich, „der Ballon ändert seine
566 Richtung?“
568 Er gab das Glas an Grunthe und wandte seine Aufmerksamkeit dem
569 Ballon zu. Dieser wich nach rechts von seinem bisherigen Kurse ab.
570 Er bewegte sich parallel mit dem Ufer der Insel, diese in sich
571 gleichbleibender Entfernung umkreisend.
573 „Wir wollen uns überzeugen, daß wir dasselbe meinen“, sagte
574 Grunthe. „Rings um die Insel zieht sich ein Kreis von pfeiler- oder
575 säulenartigen Erhöhungen in gleichen Abständen.“
577 „Es stimmt“, sagten die andern.
579 „Ich habe sie gezählt“, bemerkte Torm, „es sind zwölf große,
580 dazwischen je elf kleinere, im ganzen hundertvierundvierzig.“
582 „Und der seltsame Reflex über der ganzen Insel?“
584 „Wissen Sie, es sieht aus, als wäre die ganze Insel mit einem Netz
585 von spiegelnden metallischen Drähten oder Schienen überzogen, die
586 wie die Speichen eines Rades vom Zentrum nach der Peripherie
587 laufen.“
589 „Ja“, sagte Torm, indem er sich einen Augenblick erschöpft
590 niedersetzte, „und Sie werden gleich noch mehr sehen, wenn Sie
591 länger hinschauen. Ich will es Ihnen sagen.“ Seine Stimme klang
592 rauh und heiser. „Was Sie dort sehen, ist der Nordpol der Erde –
593 aber, wir haben ihn nicht entdeckt.“
595 „Das fehlte gerade“, fuhr Saltner auf. „Dafür sollten wir uns in
596 diesen pendelnden Frierkasten gesetzt haben? Nein, Kapitän,
597 entdeckt haben wir ihn, und was wir da sehen, ist kein
598 Menschenwerk. So verrückt wäre doch kein Mensch, hier Drähte zu
599 spannen! Eher will ich glauben, daß die Erdachse in ein großes
600 Velozipedrad ausläuft, und daß wir wahrhaftig berufen sind, sie zu
601 schmieren! Nur nicht den Mut verlieren!“
603 „Wenn es nicht Menschen sind“, sagte Torm tonlos, „und ich weiß
604 auch nicht, wie Menschen dergleichen machen sollten, und warum, und
605 wo sie herkämen – das hätte man doch erfahren – so – eine Täuschung
606 ist es doch nicht – so steht mir der Verstand still.“
608 „Na“, sagte Saltner, „Eisbären werden’s nicht gemacht haben,
609 obgleich ich mich jetzt über nichts mehr wundern würde, und wenn
610 gleich ein geflügelter Seehund käme und ›Station Nordpol‹ ausriefe.
611 Aber es könnte doch vielleicht eine Naturerscheinung sein, ein
612 merkwürdiger Kristallisationsprozeß – – Sakri! Jetzt hab ich’s. Das
613 ist ein Geysir! Ein riesiger Geysir!“
615 „Nein, Saltner“, erwiderte Torm, „das habe ich auch schon gedacht –
616 ein Schlammvulkan könnte etwa eine ähnliche Bildung zeigen. Aber –
617 Sie haben wohl das Eigentliche, die Hauptsache, das – Unerklärliche
618 noch nicht gesehen –“
620 „Was meinen Sie?“
622 „Ich hab’ es gesehen“, sagte jetzt Grunthe. Er setzte das Fernrohr
623 ab. Dann lehnte er sich zurück und runzelte die Stirn. Auch um die
624 fest zusammengezogenen Lippen bildeten sich Falten, daß sein Mund
625 aussah wie ein in Klammern gesetztes Minuszeichen. Er versank in
626 tiefes, sorgenvolles Nachdenken.
628 Saltner ergriff das Glas.
630 „Achten Sie auf die Färbungen am Boden der ganzen Insel!“ sagte
631 Torm zu ihm.
633 „Es sind Figuren!“ rief Saltner.
635 „Ja“, sagte Torm. „Und diese Figuren stellen nichts anderes dar als
636 ein genaues Kartenbild eines großen Teils der nördlichen
637 Halbkugel der Erde in perspektivischer Polarprojektion. Sie sehen
638 deutlich den Verlauf der grönländischen Küste, Nordamerika, die
639 Beringstraße, Sibirien, ganz Europa – mit seinen unverkennbaren
640 Inseln und Halbinseln, das Mittelmeer bis zum Nordrand von Afrika,
641 wenn auch stark verkürzt.“
643 „Es ist kein Zweifel“, sagte Saltner. „Die ganze Umgebung des Pols
644 ist in einem deutlichen Kartenbild in kolossalem Maßstab hier
645 abgezeichnet, und zwar bis gegen den 30. Breitengrad.“
647 „Und wie ist das möglich?“
649 Die Frage fand keine Antwort. Alle schwiegen.
651 Inzwischen hatte der Ballon eine fast vollständige Umkreisung der
652 Insel vollzogen. Aber er hatte sich derselben auch noch um ein
653 Stück genähert. Es war klar, daß er durch eine unbekannte Kraft,
654 wohl durch eine wirbelförmige Bewegung der Luft, um die Insel
655 herumgeführt und zugleich nach der Achse des Wirbels, die von der
656 Mitte der Insel ausgehen mochte, zu ihr hingezogen wurde.
658 Torm unterbrach das Schweigen. „Wir müssen einen Entschluß fassen“,
659 sagte er. „Wollen die Herren sich äußern.“
661 „Ich will zunächst einmal“, begann Saltner, „diese merkwürdige
662 Erdkarte photographieren. Sie scheint ziemlich richtig selbst in
663 Details zu sein. Daß sie nicht von Menschenhand herrühren kann,
664 sehen wir daraus daß auch die noch unbekannten Gegenden des
665 Polargebietes dargestellt sind. Die innere Öffnung, bei welcher die
666 Karte abbricht, entspricht in ihrem Umfange etwa dem 86.
667 Breitengrade; es fehlen also – für uns leider – die nächsten vier
668 Grade um den Pol herum.“
670 „Selbstverständlich“, sagte Torm, „müssen Sie die Karte
671 photographieren. Wir dürfen nicht mehr zweifeln, ein Werk
672 intelligenter Wesen vor uns zu haben, wenn ich mir auch nicht
673 erklären kann, wer diese sein mögen. Aber wenn das richtig ist, was
674 wir kontrollieren können, so müssen wir schließen, daß auch die
675 Teile des Polargebietes nach den Nordküsten von Amerika und
676 Sibirien hin zuverlässig dargestellt sind. Und dann hätten wir mit
677 einem Schlage eine vollständige Karte dieses bisher unerforschten
678 Polargebietes.“
680 „Nun, ich denke, wir können mit diesem Erfolg schon zufrieden sein.
681 Und bedenken Sie, wie nützlich die Karte für unsere Rückkehr werden
682 kann. So –“, damit brachte Saltner die photographische Kammer
683 wieder an ihren Platz, „ich habe drei sichere Aufnahmen. Aber der
684 Ballon bewegt sich ja schneller?“
686 „Ich glaube auch“, sagte Torm. „Ich bitte nun um die Meinung der
687 Herren, sollen wir eine Landung auf der Insel wagen, um dieses
688 Geheimnis zu erforschen?“
690 „Ich meine“, äußerte sich Saltner, „wir müssen es versuchen. Wir
691 müssen zusehen, mit wem wir es hier zu tun haben.“
693 „Gewiß“, sagte Torm, „die Aufgabe ist verlockend. Aber es ist zu
694 befürchten, daß wir zuviel Gas verlieren, daß wir vielleicht die
695 Möglichkeit aufgeben, den Ballon weiter zu benutzen. Was meinen
696 Sie, Dr. Grunthe?“
698 Grunthe richtete sich aus seinem Nachsinnen auf. Er sprach sehr
699 ernst: „Unter keinen Umständen dürfen wir landen. Ich bin sogar der
700 Ansicht, daß wir alle Anstrengungen machen müssen, um uns so
701 schnell wie möglich von diesem gefährlichen Punkt zu entfernen.“
703 „Worin sehen Sie die Gefahr?“
705 „Nachdem wir die eigentümliche Ausrüstung des Pols und die
706 Abbildung der Erdoberfläche gesehen haben, ist doch kein Zweifel,
707 daß wir einer gänzlich unbekannten Macht gegenüberstehen. Wir
708 müssen annehmen, daß wir es mit Wesen zu tun bekommen, deren
709 Fähigkeiten und Kräften wir nicht gewachsen sind. Wer diesen
710 Riesenapparat hier in der unzugänglichen Eiswüste des Polargebiets
711 aufstellen konnte, der würde ohne Zweifel über uns nach Gutdünken
712 verfügen können.“
714 „Nun, nun“, sagte Torm, „wir wollen uns darum nicht fürchten.“
716 „Das nicht“, erwiderte Grunthe, „aber wir dürfen den Erfolg unserer
717 Expedition nicht aufs Spiel setzen. Vielleicht liegt es im
718 Interesse dieser Polbewohner, den Kulturländern keine Nachricht von
719 ihrer Existenz zukommen zu lassen. Wir würden dann ohne Zweifel
720 unsere Freiheit verlieren. Ich meine, wir müssen alles daransetzen,
721 das, was wir beobachtet haben, der Wissenschaft zu übermitteln und
722 es dann späteren Erwägungen überlassen, ob es geraten scheint und
723 mit welchen Mitteln es möglich sei, das unerwartete Geheimnis des
724 Pols aufzulösen. Wir dürfen uns nicht als Eroberer betrachten,
725 sondern nur als Kundschafter.“
727 Die andern schwiegen nachdenklich. Dann sagte Torm:
729 „Ich muß Ihnen recht geben. Unsere Instruktion lautet allerdings
730 dahin, eine Landung nach Möglichkeit zu vermeiden. Wir sollen mit
731 möglichstes Eile in bewohnte Gegenden zu gelangen suchen, nachdem
732 wir uns dem Pol soweit wie angänglich genähert und seine Lage
733 festgestellt haben, und wir sollen versuchen, einen Überblick über
734 die Verteilung von Land und Wasser vom Ballon aus zu gewinnen.
735 Dieser Gesichtspunkt muß entscheidend sein. Wir wollen also
736 versuchen, von hier fortzukommen.“
738 „Aber nach welcher Richtung?“ fragte Saltner. „Darüber könnte uns
739 die Polarkarte der Insel Auskunft geben.“
741 „Ich fürchte“, entgegnete Torm, „von unserm guten Willen wird dabei
742 sehr wenig abhängen. Wir müssen abwarten, was der Wind über uns
743 beschließen wird. Zunächst lassen Sie uns versuchen, diesem Wirbel
744 zu entfliehen.“
746 Inzwischen hatte sich der Ballon noch mehr der Insel genähert, und
747 seine Geschwindigkeit begann zu wachsen. Zugleich aber erhob er
748 sich weiter über den Erdboden.
750 Die Luftschiffer spannten nun das Segel auf und gaben ihm eine
751 solche Stellung, daß der Widerstand der Luft sie nach der
752 Peripherie des Wirbels treiben mußte. Da aber der Ballon viel zu
753 hoch schwebte, als daß das Schleppseil seine hemmende Wirkung hätte
754 ausüben können, so mußte das Manöver zuerst versagen. In immer
755 engeren Spirallinien aufsteigend näherte sich der Ballon dem
756 Zentrum des Wirbels und vermehrte seine Geschwindigkeit. In großer
757 Besorgnis verfolgten die Luftschiffer den Vorgang. Sie beeilten
758 sich, die Länge des Schlepptaus zu vergrößern. Ihre vorzügliche
759 Ausrüstung gestattete ihnen, ein Schlepptau von tausend Metern
760 Länge zu verwenden, an welches noch ein hundertundfünfzig Meter
761 langer Schleppgurt mit Schwimmern kam. Aber auch diese stattliche
762 Ausdehnung des Seiles reichte nicht bis auf die Oberfläche des
763 Wassers.
765 „Es bleibt nichts übrig“, rief Torm endlich, „wir müssen weiter
766 niedersteigen.“
768 Er öffnete das Manöverventil. Das Gas strömte aus. Der Ballon
769 begann zu sinken.
771 „Wir wollen aber“, sagte Torm, „da wir nicht wissen, wie wir hier
772 davonkommen, doch versuchen, eine Nachricht nach Hause zu geben.
773 Lassen Sie uns einige unserer Brieftauben absenden. Jetzt ist der
774 geeignete Moment. Was wir gesehen haben, muß man in Europa
775 erfahren.“
777 Eilends schrieb er die nötigen Notizen auf den schmalen Streifen
778 Papier, den er zusammenrollte und in der Federpose versiegelte,
779 welche den Brieftauben angeheftet wurde.
781 Saltner gab den Tierchen die Freiheit. Sie umkreisten wiederholt
782 den Ballon und entfernten sich dann in einer Richtung, die von der
783 Insel fortführte.
785 Torm schloß das Ventil wieder. Sie mußten jetzt jeden Augenblick
786 erwarten, daß das Ende des Schlepptaus die Oberfläche des Wassers
787 berühre. Der Ballon näherte sich seiner Gleichgewichtslage.
789 Grunthe blickte durch das Relieffernrohr direkt nach unten, da es
790 durch dieses Instrument möglich war, den breiten Sackanker am Ende
791 des Schleppgurts zu sehen und den Abstand desselben vom Boden zu
792 schätzen. Plötzlich griff er mit größter Hast zur Seite, erfaßte
793 den nächsten Gegenstand, der ihm zur Hand war – es war das Futteral
794 mit den beiden noch gefüllten Champagnerflaschen – und schleuderte
795 es in großem Bogen zum Korbe hinaus.
797 „Sakri, was fällt ihnen ein“, rief Saltner entrüstet, „werfen da
798 unsern saubern Wein ins Wasser.“
800 „Entschuldigen Sie“, sagte Grunthe, indem er sich aus seiner
801 gebückten Stellung aufrichtete, da er an der Bewegung der Wimpel
802 bemerkte, daß der Ballon wieder im Steigen begriffen war.
803 „Entschuldigen Sie, aber das Fernrohr konnte ich doch nicht
804 hinauswerfen, und es war keine halbe Sekunde zu verlieren – wir
805 wären wahrscheinlich verloren gewesen.“
807 „Was gab es denn?“ fragte Torm besorgt.
809 „Wir sind nicht mehr über dem Wasser, sondern bereits am Rande der
810 Insel. Das Ende des Seils war wohl kaum weiter als zehn Meter von
811 der Oberfläche der Insel entfernt. Wir hätten sie berührt, wenn
812 nicht das Sinken des Ballons momentan aufgehört hätte.
813 Glücklicherweise genügten die Flaschen, unsern Fall aufzuhalten.“
815 „Und glauben Sie denn, daß wir die Insel nicht berühren dürfen?“
817 „Ich glaube es nicht, ich weiß es.“
819 „Wieso?“
821 „Wir wären hinabgezogen worden.“
823 „Ich kann noch nicht einsehen, woraus Sie das schließen.“
825 „Sie haben mir doch beigestimmt“, sagte Grunthe, „daß wir es nicht
826 darauf ankommen lassen dürfen, in die Macht der unbekannten Wesen –
827 sie mögen nun sein, wer sie wollen – zu geraten, welche diesen
828 unerklärlichen Apparat und diese Kolossalkarte am Nordpol
829 hergestellt haben. Es ist aber wohl keine Frage, daß dieser
830 Apparat, an den wir mehr und mehr herangezogen werden, nicht sich
831 selbst überlassen hier stehen wird. Sicherlich ist die Insel
832 bewohnt, es befinden sich die geheimnisvollen Erbauer
833 wahrscheinlich in oder unter jenen Dächern und Pfeilern, die wir
834 mit unsern Fernrohren nicht durchdringen können. Es ist anzunehmen,
835 daß sie unsern Ballon längst bemerkt haben, und so schließe ich
836 denn, daß sie denselben sofort zu sich hinabziehen würden, sobald
837 unser Schleppseil in das Bereich ihrer Arme gelangt.“
839 „Gott sei Dank“, rief Saltner, „daß Sie den dunkeln Polgästen
840 wenigstens Arme zusprechen; es ist doch schon ein menschlicher
841 Gedanke, daß man ihnen zur Not in die Arme fallen kann.“
843 Torm unterbrach ihn. „Ich kann mich immer noch nicht recht dazu
844 verstehen“, sagte er, „an eine solche überlegene Macht zu glauben.
845 Das widerspräche ja doch allem, was bisher in der Geschichte der
846 Polarforschung, ja der Entdeckungsreisen überhaupt vorgekommen ist.
847 Freilich die Karte –, aber was denken Sie überhaupt über diese
848 Insel? Sie sprachen von einem Apparat, so ein Apparat müßte doch
849 einen Zweck haben–“
851 „Den wird er ohne Zweifel haben, wir sind nur nicht in der Lage,
852 ihn zu kennen oder zu begreifen. Denken Sie, daß Sie einen Eskimo
853 vor die Dynamomaschine eines Elektrizitätswerks stellen; daß das
854 Ding einen Zweck hat, wird er sich sagen, aber was für einen, das
855 wird er nie erraten. Wie soll er begreifen, daß die Drähte, die von
856 hier ausgehen, ungeheure Energiemengen auf weite Strecken
857 verteilen, daß sie dort Tageshelle erzeugen, dort schwere Wagen mit
858 Hunderten von Menschen mit Leichtigkeit hingleiten lassen? Wenn der
859 Eskimo sich über die Dynamomaschine äußert, so wird es jedenfalls
860 eine so kindische Ansicht sein, daß wir sie belächeln. Und um nicht
861 diesem unbekannten Apparat gegenüber die Rolle des Eskimo zu
862 spielen, will ich mich lieber gar nicht äußern.“
864 Torm schwieg nachdenklich. Dann sagte er:
866 „Was mich am meisten beunruhigt, ist diese unerklärliche
867 Anziehungskraft, die die Achse der Insel auf unsern Ballon ausübt.
868 Und sehen Sie, seitdem wir kein Gas mehr ausströmen lassen, beginnt
869 der Ballon wieder rapid zu steigen. Dabei wird er fortwährend um
870 das Zentrum der Insel herumgetrieben.“
872 „Und wer sagt Ihnen, was geschieht, wenn wir in die Achse selbst
873 geraten? Ich halte unsere Situation für geradezu verzweifelt, aus
874 dem Wirbel können wir nur heraus, wenn wir uns sinken lassen. Dann
875 aber geraten wir in die Macht der unbekannten Insulaner.“
877 „Und dennoch“, sagte Torm, „werden wir uns entschließen müssen.“
879 Alle drei schwiegen. Mit düsteren Blicken beobachteten Torm und
880 Grunthe die Bewegungen des Ballons, während Saltner die Insel mit
881 dem Fernrohr untersuchte. Mehr und mehr verschwanden die Details,
882 die vorher deutlich sichtbar waren, ein Zeichen, daß der Ballon mit
883 großer Geschwindigkeit stieg, auch wenn die Instrumente, ja selbst
884 die zunehmende Kälte, dies nicht angezeigt hätten.
886 Da – was war das? – auf der Insel zeigte sich eine Bewegung, ein
887 eigentümliches Leuchten. Saltner rief die Gefährten an. Sie
888 blickten hinab, konnten aber mit ihren schwächeren Instrumenten nur
889 bemerken, daß sich helle Punkte vom Zentrum nach der Peripherie hin
890 bewegten. Saltner schien es durch sein starkes Glas, als wenn eine
891 Reihe von Gestalten mit weißen Tüchern winkende Bewegungen
892 ausführte, die alle vom Innern der Insel nach außen hin wiesen.
894 „Man gibt uns Zeichen“, sagte er. „Sehen Sie hier durch das starke
895 Glas!“
897 „Das kann nichts anderes bedeuten“, rief Torm, „als daß wir uns von
898 der Achse entfernen sollen. Aber so klug sind wir selbst – wir
899 wissen nur nicht wie.“
901 „Wir müssen das Entleerungs-Ventil öffnen“, sagte Saltner.
903 „Dann ergeben wir uns auf Gnade und Ungnade“, rief Grunthe.
905 „Und doch wird uns nichts übrig bleiben“, bemerkte Torm.
907 „Und was schadet es?“ fragte Saltner. „Vielleicht wollen jene Wesen
908 nur unser Bestes. Würden sie uns sonst warnen?“
910 „Wie dem auch sei – wir dürfen nicht höher steigen“, sagte Torm.
911 „Wir werden ja geradezu in die Höhe gerissen.“
913 Schon hatten sich alle dicht in ihre Pelze gewickelt.
915 „Warten wir noch“, sagte Grunthe, „wir sind immer noch gegen
916 hundert Meter von der Achse der Insel entfernt. Die Trübung hat
917 sich genähert, wir kommen in eine Wolkenschicht. Vielleicht gelangt
918 doch der Ballon endlich ins Gleichgewicht.“
920 „Unmöglich“, entgegnete Torm. „Wir haben bereits gegen 4.000 Meter
921 erreicht. Der Ballon war im Gleichgewicht, als das Gewicht des
922 Futterals mit den Champagnerflaschen seine Bewegung zu ändern
923 vermochte. Wenn er jetzt mit solcher Geschwindigkeit steigt, so ist
924 das ein Zeichen, daß uns eine äußere Kraft in die Höhe führt, die
925 um so stärker wird, je mehr wir uns dem Zentrum nähern.“
927 „Ich muß es zugeben“, sagte Grunthe. „Es ist gerade, als wenn wir
928 uns in einem Kraftfeld befänden, das uns direkt von der Erde
929 abstößt. Sollen wir einen Versuchsballon ablassen?“
931 „Kann uns nichts Neues mehr sagen – es ist zu spät. Da – wir sind
932 in den Wolken.“
934 „Also hinunter!“ rief Saltner.
936 Torm riß das Landungsventil auf.
938 Der Ballon mäßigte seine aufsteigende Bewegung, aber zu sinken
939 begann er nicht.
941 Die Blicke der Luftschiffer hingen an den Instrumenten. Wenige
942 Minuten mußten ihr Schicksal entscheiden. Das Gas strömte in die
943 verdünnte Luft mit großer Gewalt aus. Brachte dies den Ballon nicht
944 bald zum Sinken, so war es klar, daß sie die Herrschaft über das
945 Luftmeer verloren hatten. Sie befanden sich dann einer Gewalt
946 gegenüber, die sie, unabhängig von dem Gleichgewicht ihres Ballons
947 in der Atmosphäre, von der Erde forttrieb.
949 Und der Ballon sank nicht. Eine Zeitlang schien es, als wollte er
950 sich auf gleicher Höhe halten, aber die wirbelnde Bewegung hörte
951 nicht auf, die ihn der Achse der Insel entgegentrieb. Diese Achse,
952 daran war ja kein Zweifel, war nichts anderes als die Erdachse
953 selbst, jene mathematische Linie, um welche die Rotation der Erde
954 erfolgt. Immer stärker wurden sie zu ihr hingezogen. Aber je näher
955 sie ihr kamen, um so heftiger wurde der Ballon noch oben gedrängt.
956 Schon begannen sich die körperlichen Beschwerden einzustellen,
957 welche die Erhebung in die verdünnten Luftschichten begleiten. Alle
958 klagten über Herzklopfen. Saltner mußte das Fernrohr hinlegen, vor
959 seinen Augen verschwammen die Gegenstände. Atemnot stellte sich
960 ein.
962 „Es bleibt nichts andres übrig“, rief Torm. „Die Reißleine!“
964 Grunthe ergriff die Reißleine. Die Zerreißvorrichtung dient dazu,
965 einen Streifen der Ballonhülle in der Länge des sechsten Teils des
966 Ballonumfangs aufzureißen, um den Ballon im Notfall binnen wenigen
967 Minuten des Gases zu entleeren. Aber – die Vorrichtung versagte! Er
968 zerrte an der Leine – sie gab nicht nach. Sie mußte sich am
969 Netzwerk des Ballons verfangen haben. Es war jetzt unmöglich, den
970 Schaden zu reparieren. Der Ballon stieg weiter. Von der Erde war
971 nichts mehr zu sehen, man blickte auf Wolken.
973 „Die Sauerstoffapparate!“ kommandierte Torm.
975 Obwohl man die Absicht hatte, sich stets in geringer Höhe zu
976 halten, konnte man doch nicht wissen, ob nicht die Umstände ein
977 Aufsteigen in die höchsten Regionen mit sich bringen wurden. Für
978 diesen Fall hatte man sich mit komprimiertem Sauerstoff zur Atmung
979 versehen. Es war jetzt notwendig, die künstliche Atmung
980 anzuwenden.
982 Die Forscher fühlten sich neu gestärkt; aber immer furchtbarer
983 wurde die Kälte. Sie merkten, wie ihre Gliedmaßen zu erstarren
984 drohten. Die Nase, die Finger wurden gefühllos, sie versuchten
985 ihnen durch Reiben den Blutzufluß wieder zuzuführen. Der Ballon
986 stieg rettungslos weiter, und zwar immer schneller, je mehr er sich
987 dem Zentrum näherte. Siebentausend – achttausend – neuntausend
988 Meter zeigte das Barometer im Verlauf einer Viertelstunde an. Die
989 größte Höhe, welche je von Menschen erreicht worden war, wurde nun
990 überschritten.
992 Untätig saßen die Männer zusammengedrängt – sie hatten den
993 künstlichen Verschluß der Gondel hergestellt, da sie nichts mehr am
994 Ballon ändern konnten. Sie vermochten nichts zu tun, als sich gegen
995 die Kälte zu schützen. Kein Mittel der Rettung zeigte sich – ihre
996 Tatkraft begann unter dem Einfluß der vernichtenden Kälte zu
997 erlahmen. Der Flug in die Höhe war unhemmbar – nichts mehr konnte
998 sie retten vor dem Erfrieren – oder vor dem Ersticken. – Was würde
999 geschehen? Es war ja gleichgültig.
1001 Und doch, immer wieder raffte sich der eine oder andere mit
1002 Anstrengung aller Willenskräfte auf – noch ein Blick auf die
1003 Instrumente – die Thermometer waren längst eingefroren – und – kaum
1004 glaublich – das Barometer zeigte einen Druck von nur noch 50
1005 Millimeter, das heißt, sie befanden sich zwanzig Kilometer über der
1006 Erdoberfläche. Und jetzt – schien es nicht, als käme der Ballon zu
1007 ihnen herab? Die entleerte Seidenhülle senkte sich über die Gondel
1008 – die Gondel flog schneller als der Ballon – wie aus einer Kanone
1009 geschossen fuhr sie in die Seide des Ballons hinein, die Insassen
1010 der Gondel waren verstrickt in das Gewirr von Stoff und Seilen –
1011 halb schon bewußtlos bemerkten sie kaum noch den Stoß der sie traf
1012 – sie waren in die Achse des von der Insel ausgehenden Wirbels
1013 geraten. – –
1015 Sie befanden sich senkrecht über dem Pol der Erde – das Ziel war
1016 erreicht, dem sie so hoffnungsfroh entgegengestrebt hatten. Weit
1017 unter ihnen im hellen Sonnenscheine lagen die glänzenden
1018 Wolkenstreifen und fern im Süden das grünlich schimmernde Land
1019 ausgebreitet, die kühnen Forscher aber sahen nichts mehr davon.
1020 Ohnmächtig, erstickt – erdrückt von der Last des Ballons, flogen
1021 sie, eine formlose Masse bildend, in der Richtung der Erdachse den
1022 Grenzen der Atmosphäre entgegen.
1024 \section{3 - Die Bewohner des Mars}
1026 Unter dem Einfluß der geheimnisvollen Kraft, welche die Trümmer der
1027 verunglückten Expedition in der Richtung der Erdachse vom Nordpol
1028 forttrieb, hatten sie eine ungeheure Beschleunigung erlangt. Der in
1029 die Falten des Ballons hineingetriebene Korb bewegte sich jetzt mit
1030 rasender Geschwindigkeit nach oben. Wenige Minuten mußten genügen,
1031 den Tod der Insassen zu bewirken, da der Verschluß der Gondel sie
1032 nicht hinreichend zu schützen vermochte.
1034 Nicht mehr von der Erde aus erkennbar schien das seltsame Geschoß
1035 einsam und verlassen den Weltraum zu durcheilen, jeder menschlichen
1036 Macht entrückt, ein Spielball kosmischer Kräfte – –
1038 Und dennoch war der Ballon der Gegenstand gespanntester
1039 Aufmerksamkeit.
1041 Die Beobachter desselben befanden sich auf einer Stelle, wo kein
1042 Mensch lebende Wesen vermutet, ja nur eine solche Möglichkeit hätte
1043 verstehen können. Daß der Nordpol von unbekannten Bewohnern besetzt
1044 sei, war ja äußerst seltsam und überraschend; aber er war doch ein
1045 Punkt der Erde, auf welchem lebende Wesen sich aufzuhalten und zu
1046 atmen vermochten. Der Ort dagegen, von welchem aus man jetzt auf
1047 den verunglückten Ballon aufmerksam wurde, befand sich bereits
1048 außerhalb der Erdatmosphäre. Genau in der Richtung der Erdachse und
1049 auf dieser genau so weit von der Oberfläche der Erde entfernt wie
1050 der Mittelpunkt der Erde unterhalb, also in einer Höhe von 6.356
1051 Kilometer, befand sich frei im Raume schwebend ein merkwürdiges
1052 Kunstwerk, ein ringförmiger Körper, etwa von der Gestalt eines
1053 riesigen Rades, dessen Ebene parallel dem Horizont des Poles lag.
1055 Dieser Ring besaß eine Breite von etwa fünfzig Metern und einen
1056 inneren Durchmesser von zwanzig, im ganzen also einen Durchmesser
1057 von 120 Metern. Rings um denselben erstreckten sich außerdem,
1058 ähnlich wie die Ringe um den Saturn, dünne, aber sehr breite
1059 Scheiben, deren Durchmesser bis auf weitere zweihundert Meter
1060 anstieg. Sie bildeten ein System von Schwungrädern, das ohne
1061 Reibung mit großer Geschwindigkeit um den inneren Ring herumlief
1062 und denselben in seiner Ebene stets senkrecht zur Erdachse hielt.
1063 Der innere Ring glich einer großen kreisförmigen Halle, die sich in
1064 drei Stockwerken von zusammen etwa fünfzehn Metern Höhe aufbaute.
1065 Das gesamte Material dieses Gebäudes wie das der Schwungräder
1066 bestand aus einem völlig durchsichtigen Stoffe. Dieser war jedoch
1067 von außerordentlicher Festigkeit und schloß das Innere der Halle
1068 vollständig luft- und wärmedicht gegen den leeren Weltraum ab.
1069 Obwohl die Temperatur im Weltraum rings um den Ring fast
1070 zweihundert Grad unter dem Gefrierpunkt des Wassers lag, herrschte
1071 innerhalb der ringförmigen Halle eine angenehme Wärme und eine zwar
1072 etwas stark verdünnte, aber doch atembare Luft. In dem mittleren
1073 Stockwerk, durch welches sich ein Gewirr von Drähten, Gittern und
1074 vibrierenden Spiegeln zog, hielten sich auf der inneren Seite des
1075 Rings zwei Personen auf, die sich damit beschäftigten, eine Reihe
1076 von Apparaten zu beobachten und zu kontrollieren.
1078 Wie aber war es möglich, daß dieser Ring in der Höhe von 6.356
1079 Kilometern sich freischwebend über der Erde erhielt?
1081 Eine tiefreichende Erkenntnis der Natur und eine äußerst
1082 scharfsinnige Ausbildung der Technik hatten es verstanden, dieses
1083 Wunderwerk herzustellen.
1085 Der Ring unterlag natürlich der Anziehungskraft der Erde und wäre,
1086 sich selbst überlassen, auf die Insel am Pol gestürzt. Gerade von
1087 dieser Insel aus aber wirkte auf ihn eine abstoßende Kraft, welche
1088 ihn in der Entfernung im Gleichgewicht hielt, die genau dem
1089 Halbmesser der Erde gleichkam. Diese Kraft hatte ihre Quelle in
1090 nichts anderem als in der Sonne selbst, und die Kraft der
1091 Sonnenstrahlung so umzuformen, daß sie jenen Ring der Erde
1092 gegenüber in Gleichgewichtslage hielt, das eben hatte die Kunst
1093 einer glänzend vorgeschrittenen Wissenschaft und Technik zustande
1094 gebracht.
1096 In jener Höhe, einen Erdhalbmesser über dem Pol, war der Ring ohne
1097 Unterbrechung der Sonnenstrahlung ausgesetzt. Die von der Sonne
1098 ausgestrahlte Energie wurde nun von einer ungeheuren Anzahl von
1099 Flächenelementen, die sich in dem Ringe und auf der Oberfläche der
1100 Schwungräder befanden, aufgenommen und gesammelt. Die Menschen
1101 verwenden auf der Erdoberfläche von der Sonnenenergie hauptsächlich
1102 nur Wärme und Licht. Hier im leeren Weltraum aber zeigte sich, daß
1103 die Sonne noch ungleich größere Energiemengen aussendet,
1104 insbesondere Strahlen von sehr großer Wellenlänge, wie die
1105 elektrischen, als auch solche von noch viel kleinerer als die der
1106 Lichtwellen. Wir merken nichts davon, weil sie zum größten Teile
1107 schon von den äußersten Schichten der Atmosphäre absorbiert oder
1108 wieder in den Weltraum ausgestrahlt werden. Hier aber wurden alle
1109 diese sonst verlorenen Energiemengen gesammelt, transformiert und
1110 in geeigneter Gestalt nach der Insel am Nordpol reflektiert. Auf
1111 der Insel wurden sie, in Verbindung mit der von der Insel direkt
1112 aufgenommenen Strahlung, zu einer Reihe großartiger Leistungen
1113 verwendet; denn man hatte auf diese Weise eine ganz enorme
1114 Energiemenge zur Verfügung.
1116 Ein Teil dieser Arbeitskraft wurde nun zunächst dazu gebraucht, ein
1117 elektromagnetisches Feld von gewaltigster Stärke und Ausdehnung zu
1118 erzeugen. Die ganze Insel mit ihren hundertvierundvierzig
1119 Rundbastionen stellte gewissermaßen einen riesigen Elektromagneten
1120 vor, der von der Sonnenenergie selbst gespeist wurde. Die
1121 Konstruktion war so angelegt, daß die Kraftlinien sich um den Ring
1122 konzentrierten und dieser, der Schwerkraft entgegen schwebend
1123 gehalten wurde. Daß dies genau in der Entfernung des Erdhalbmessers
1124 vom Pole geschah, hing mit einer Beziehung zwischen
1125 Elektromagnetismus und Schwere zusammen, infolge deren sich gerade
1126 an dieser Stelle eine Art Knotenpunkt für die Wellenbewegung beider
1127 Kräfte zu bilden vermochte und das Gleichgewicht ermöglichte.
1129 Allerdings wurde durch eine Reihe komplizierter und höchst
1130 scharfsinnig ausgedachter Kontrollapparate dafür gesorgt, daß alle
1131 Schwankungen der Energiemengen zur rechten Zeit ausgeglichen
1132 wurden. Einen solchen Apparat aufzustellen wäre indessen an keinem
1133 anderen Punkte der Erde möglich gewesen als in der Verlängerung
1134 ihrer Rotationsachse, also über dem Nordpol oder über dem Südpol.
1135 Denn an jeder andern Stelle hätte, abgesehen von tieferliegenden
1136 Schwierigkeiten, die Verschiebung der Erdoberfläche infolge der
1137 täglichen Umdrehung der Erde unüberwindbare Hindernisse für die
1138 Herstellung des Gleichgewichts zwischen der Schwerkraft und dem
1139 Elektromagneten geboten; auch hätte die gleichmäßige
1140 Sonnenstrahlung gefehlt. Der Pol bietet aber in jeder Hinsicht die
1141 einfachsten Verhältnisse wenn es gelingt, bis zu ihm zu gelangen.
1143 Nun, die unübertroffenen Ingenieure der Insel und des Ringes waren
1144 einmal da. Aber wo kamen sie her? Wie waren sie dorthin gelangt,
1145 ohne daß die internationale Kommission für Polarforschung die
1146 geringste Ahnung davon hatte? Und vor allem – wenn sie einmal da
1147 waren –, was hatte es für einen Zweck, jenen freischwebenden Ring
1148 über dem Pol zu balancieren? Und wenn einmal jener Ring da war, wie
1149 konnte man hinauf- und hinabkommen?
1151 Jener Ring war überhaupt nur ein Mittel, um einen ganz andern Zweck
1152 zu erreichen. Er diente dazu, einen Standpunkt außerhalb der
1153 Atmosphäre der Erde zu gewinnen, eine Station, um zwischen dieser
1154 und der Erde nichts Geringeres auszuführen, als – eine zeitweilige
1155 Aufhebung der Schwerkraft. Der Raum zwischen der inneren Öffnung
1156 des Ringes von zwanzig Metern Durchmesser und der auf der Insel
1157 sich befindenden Vertiefung, also ein Zylinder, dessen Achse genau
1158 mit der Erdachse zusammenfiel, war ein ›abarisches Feld‹. Dies
1159 bedeutet, ein Gebiet ohne Schwere. Körper, welche in diesen
1160 zylindrischen Raum gerieten, wurden von der Erde nicht mehr
1161 angezogen. Dieses abarische Feld bewirkte, daß in der ganzen
1162 Umgebung des Feldes Spannungen im Raum vorhanden waren, wodurch
1163 etwa sich nähernde Körper in das Feld getrieben wurden. Daher war
1164 es gekommen, daß der Ballon der Luftschiffer allmählich der Insel
1165 und damit dem abarischen Felde unentrinnbar zugeführt worden war.
1167 Die Erzeugung jenes Feldes, in welchem die Schwerkraft aufgehoben
1168 war für den inneren Raum zwischen Insel und Ring, war dadurch
1169 möglich gemacht worden, daß man eine der Erdschwere entgegengesetzt
1170 gerichtete Gravitationskraft herstellte. Es war jenen Polbewohnern
1171 bekannt, wie man diejenigen Strahlen, welche hauptsächlich
1172 chemische Wirkung, Wärme und Licht liefern, in Gravitation
1173 überführen kann. Sie wurden zu diesem Zweck bis in den inneren Teil
1174 des Ringes geleitet und traten hier in den ›Gravitationsgenerator‹.
1175 Dies war ein Apparat, durch welchen man Wärme in Gravitation
1176 umwandelte. Ein zweiter, ebenso eingerichteter Gravitationserzeuger
1177 befand sich in der zentralen Vertiefung im Inneren der Insel. Beide
1178 Apparate wirkten derartig zusammen, daß die Beschleunigung der
1179 Schwerkraft im Inneren zwischen Insel und Ring beliebig reguliert
1180 werden konnte. Man konnte sie entweder nur verringern, oder ganz
1181 aufheben – dann war das abarische Feld im eigentlichen Sinne
1182 hergestellt –, oder man konnte die Gegenschwerkraft so verstärken,
1183 daß die Körper innerhalb des abarischen Feldes ›nach oben fielen‹,
1184 das heißt, eine beliebig starke Beschleunigung entgegengesetzt der
1185 Erdschwere, also von der Erde fort, erhielten. Auf diese Weise war
1186 es möglich, mit jeder gewünschten Geschwindigkeit Körper zwischen
1187 der Insel und dem Ringe sowohl von unten nach oben als von oben
1188 nach unten in Bewegung zu setzen, indem man sie in einen zu diesem
1189 Zweck konstruierten Flugwagen einschloß.
1191 Es war nun die schwierige Aufgabe der Ingenieure an den beiden
1192 Endstationen, den Betrieb so zu regulieren, daß jedesmal das
1193 abarische Feld die nötige Stärke besaß, um den Wagen nach oben zu
1194 treiben oder in seiner Bewegung aufzuhalten.
1196 Als der Ballon der Polarforscher in das abarische Feld geriet, war
1197 dasselbe gerade auf ›Gegenschwere‹ gestellt, weil sich ein
1198 Flugwagen auf dem Wege von der Insel nach dem Ringe befand.
1199 Infolgedessen wurde der nach dem abarischen Felde hingedrängte
1200 Ballon, sobald er in die Achse desselben geraten war, mit großer
1201 Geschwindigkeit in die Höhe gerissen.
1203 Äußerlich unterschied sich das Feld von der umgebenden Luft in gar
1204 nichts. Nur ein starker aufsteigender Luftstrom und infolgedessen
1205 ein seitliches Zuströmen der Luft war natürlich vorhanden. Aber bei
1206 dem geringen Durchmesser des Feldes von zwanzig Metern war die in
1207 die Höhe getriebene Luftmasse so gering, daß es dadurch nicht zu
1208 einer merklichen Nebel- oder Wolkenbildung kam, zumal vom Ringe wie
1209 von der Insel aus eine so starke Bestrahlung stattfand, daß der
1210 sich etwa kondensierende Wasserdampf sofort wieder in Gasform
1211 aufgelöst wurde.
1213 Solange der Ballon sich noch in den Luftschichten bis ein oder zwei
1214 Kilometer befand, konnte das Ausströmen des Gases sein Aufsteigen
1215 einigermaßen verzögern. Dann aber wurde die Beschleunigung zu groß.
1216 Die Gondel, welche sich im Zentrum des Feldes befand, erfuhr dabei
1217 eine größere Beschleunigung nach oben als der an Masse zwar
1218 geringere, an Ausdehnung aber soviel größere Ballon. Denn da der
1219 Durchmesser des Ballons zwanzig Meter übertraf, so ragte er zum
1220 Teil über das abarische Feld hinaus. Erst als er durch den Verlust
1221 an Gas zusammengesunken war, geriet er ganz in das abarische Feld,
1222 und nun begann jener kolossal beschleunigte ›Fall nach oben‹, der
1223 den Ballon binnen einer Viertelstunde auf tausend Kilometer
1224 emporgerissen hätte, wenn er nicht zum Glück nach kaum einer Minute
1225 aufgehalten worden wäre.
1227 Als die Ingenieure der Insel den Ballon bemerkten, hatten sie
1228 zunächst versucht, ihn durch Ergreifung des Schleppgurts
1229 festzuhalten. Dies hatte Grunthe durch das Hinauswerfen der
1230 Champagnerflaschen verhindert, da er jede Berührung der Insel
1231 vermeiden wollte. So war der Ballon so weit gestiegen, daß er nicht
1232 mehr ergriffen werden konnte, aber er war dadurch dem abarischen
1233 Felde unrettbar überliefert. Hier hätten ihn nun die Bewohner der
1234 Insel freilich sogleich aufhalten und zurückführen können, wenn sie
1235 die ›Gegenschwere‹ im Felde abgestellt hätten. Dies war ihnen
1236 jedoch darum nicht möglich, weil sich oberhalb des Ballons, längst
1237 nicht mehr sichtbar, ihr eigener Flugwagen befand. Sie konnten also
1238 nicht eher eine Veränderung am Feld vornehmen, als bis ihr Wagen an
1239 der Station des Ringes angekommen war. Zum Glück für die Insassen
1240 des Ballons mußte dies in kürzester Zeit geschehen.
1242 Inzwischen hatten aber auch die Ingenieure auf dem Ring, obwohl sie
1243 den Ballon nicht sehen konnten, doch an ihren Gravitationsmessern
1244 eine Störung im abarischen Felde wahrgenommen. Sie sandten daher
1245 vom Ring eine Depesche nach der Insel.
1247 Diese Übermittlung bot keine Schwierigkeit, denn sie verstanden es,
1248 die Lichtstrahlen selbst als Träger für ihre Depeschen zu benutzen.
1249 Der Raum zwischen Ring und Insel gestattete dies infolge der
1250 intensiven Bestrahlung auch beim feuchtesten Wetter.
1252 Sie telegraphierten nicht nur, sie telefonierten vermöge des
1253 Lichtstrahls. Die elektromagnetischen Schwingungen des Telephons
1254 setzten sich in photochemische um und wurden auf der andern Station
1255 sofort am Apparat abgelesen. Während die unglücklichen
1256 Luftschiffer, von der Seide des Ballons eingehüllt, ihre
1257 blitzschnelle Fahrt auf der Erdachse vollführten, ging an ihnen
1258 eine Depesche vom Ring nach der Insel vorüber, welche lautete:
1260 „E najoh. Ke.“
1262 Und von der Insel wurde zurückdepeschiert:
1264 „Bate li war. Tak a fil.“
1266 Man hätte freilich alle bekannten Sprachen der Erde durchgehen
1267 können, ohne in irgendeiner diese Sätze zu finden. Sie bedeuten:
1269 „Achtung! Störung! Was ist vorgefallen?“
1271 Und die Antwort lautete:
1273 „Menschen im abarischen Feld. Abstellen sobald als möglich.“
1275 Der Empfänger dieser Depesche stand in der Beobachtungsabteilung
1276 des schwebenden Ringes und kontrollierte die Apparate, welche
1277 daselbst an einem großen Schaltbrett angebracht waren. Der Zeiger
1278 am Differenzialbaroskop wies ihm genau die Stelle, wo sich der
1279 Flugwagen im Augenblick befand. Schon war dieser nahe
1280 herangekommen. Einige Handgriffe des Beamten regulierten die
1281 Geschwindigkeit des Wagens, der nach wenigen Minuten auf der
1282 Endstation erschien. Das vorspringende Fangnetz hielt ihn auf, er
1283 ruhte an seinem Ziel.
1285 Der Beamte – es war der Vorsteher der Außenstation selbst – namens
1286 Fru, hatte bis jetzt keinen Blick von den Apparaten verwandt. Man
1287 hätte ihn für einen alten Mann halten mögen, denn langes, fast
1288 weißes Haar flatterte um seine Schläfe. Eine ungewöhnlich hohe
1289 Stirn wölbte sich über den großen Augen, deren Pupillen einen
1290 tiefen Glanz zeigten. Die Haltung des Körpers aber war frei und
1291 leicht. Gewandt bewegte er sich an dem langen Schaltbrett entlang
1292 von einem Apparat zum andern, seine Schritte glichen fast einem
1293 Gleiten über den Boden. Er war offenbar daran gewöhnt, daß die
1294 Schwerkraft eine viel geringere war als auf der Erde. Denn hier, in
1295 der doppelten Entfernung vom Mittelpunkt der Erde als deren
1296 Oberfläche, betrug die Schwere nur ein Viertel von der uns
1297 gewohnten.
1299 Die Tür des Flugwagens wurde jetzt geöffnet. Der Vorsteher der
1300 Ringstation warf nur einen flüchtigen Blick dorthin und wandte sich
1301 dann wieder den Apparaten zu, um nach dem Pol zu telegraphieren,
1302 daß das abarische Feld frei sei.
1304 Die Fahrgäste verließen den Wagen und betraten die Galerie. Es
1305 mochten achtzehn Personen sein, in seltsamer Tracht, mit eng
1306 anliegenden Kleidern. Ihre bedeutenden Köpfe zeichneten sich meist
1307 durch sehr helles, fast weißes Haar und glänzende, durchdringende
1308 Augen aus, die aber jetzt durch dunkle Brillen geschützt waren. Sie
1309 durchschritten die Galerie, deren Überschrift in jener fremden
1310 Sprache besagte, daß man sich auf der ›Außenstation der Erde‹
1311 befinde, und wandten sich über eine Treppe der Ausgangstür nach der
1312 oberen Galerie zu. Über der Tür stand in großen Buchstaben: ›Vel lo
1313 nu‹, das bedeutet: ›Zum Raumschiff nach dem Mars.‹
1315 Jener schwebende Ring war nichts anderes als der Marsbahnhof der
1316 Erde. Er war eine Station in der Nähe der Erde, durch deren
1317 Erbauung es den Bewohnern des Planeten Mars möglich geworden war,
1318 zwischen ihrem Planeten und der Erde eine regelmäßige Verbindung
1319 herzustellen. Die Fahrgäste des Flugwagens waren Martier, die nach
1320 ihrer Heimat zurückkehren wollten.
1322 \section{4 - Der Sturz des Ballons}
1324 Die Regulierung des abarischen Feldes hatte von der Ringstation aus
1325 stattgefunden, um den emporsteigenden Flugwagen mit der nötigen
1326 Geschwindigkeit zu leiten. Der Wechsel von Gegenschwere und
1327 Erdschwere erstreckte sich aber auf das ganze Feld und hatte
1328 natürlich zur Folge, daß auch der verunglückte Ballon den
1329 Schwankungen der Schwere unterlag. So wurde er zuerst in seinem
1330 Fluge nach oben gemäßigt, durchlief dann eine kurze Strecke mit
1331 unveränderter Geschwindigkeit, und von dem Augenblicke an, in
1332 welchem der Flugwagen den Ring erreicht hatte, begann der Ballon
1333 wieder mit immer zunehmender Geschwindigkeit zu fallen. Da in
1334 diesen Höhen von einem Widerstand der Luft nicht die Rede war, so
1335 fielen auch jetzt Ballon und Gondel mit gleicher Geschwindigkeit.
1336 Der stark zusammengesunkene Ballon, der einen großen Teil seiner
1337 Gasmenge verloren hatte, bedeckte in dichten Falten den Korb.
1339 Dieser Umstand hatte die Luftschiffer vor einem sofortigen Tod
1340 bewahrt. Zunächst schützte sie die Einhüllung in den Ballon vor dem
1341 Erfrieren; ja merkwürdigerweise stieg die Temperatur im Inneren des
1342 Korbes wieder, als die Atmosphäre der Erde durchflogen war. Dies
1343 rührte von der Sonnenstrahlung her, welche jetzt in voller Stärke,
1344 durch die Luft nicht mehr aufgehalten, den Ballon traf. Sie wurde
1345 durch die Hülle des Ballons absorbiert und erwärmte alles, was sich
1346 in derselben befand.
1348 Ein glücklicher Zufall hatte es aber auch so gefügt, daß sich noch
1349 ein Teil des Gases im Ballon hielt, dessen Stoff von so
1350 vorzüglicher Beschaffenheit war, daß er die Diffusion des
1351 Wasserstoffs selbst gegenüber dem leeren Raume fast völlig aufhob.
1352 Das Gas konnte nur durch das Landungsventil entströmen. Das
1353 Versagen der Zerreißvorrichtung, das ihr Verderben schien, wurde
1354 jetzt die Rettung der Luftschiffer.
1356 Durch die Einstülpung, welche der Ballon im abarischen Felde
1357 erfahren hatte, war der untere Teil des Ballons so in den oberen
1358 hineingetrieben worden, daß das Ventil zwischen den Falten
1359 zusammengepreßt lag und ein weiteres Ausströmen des Gases
1360 verhindert wurde. Freilich hätte auch dies nicht lange vorgehalten,
1361 aber der ganze Vorgang, von dem Augenblick, in welchem Grunthe die
1362 Reißleine ergriff, bis zum Zusammenklappen des Ballons und dann zum
1363 Abstellen des abarischen Feldes durch die Martier hatte nur wenige
1364 Minuten betragen.
1366 Da es sich bei dem Niedergang des Ballons im abarischen Feld um
1367 einen herabsteigenden Körper handelte, hatten die Ingenieure der
1368 Insel die Regulierung der Bewegung zu besorgen. Sie konnten
1369 denselben zwar der eingetretenen Bewölkung wegen nicht sehen, aber
1370 ihre Instrumente zeigten ihnen genau die Stelle, an welcher er sich
1371 befand, und die Geschwindigkeit, mit welcher er fiel. Sie gaben nun
1372 im geeigneten Moment dem Feld eine so starke Gegenbeschleunigung,
1373 daß der Ballon in der Höhe von etwa dreitausend Meter über der Erde
1374 zur Ruhe kam, gerade in dem Augenblick, in welchem er die
1375 Wolkendecke durchbrochen hatte und der Beobachtung durch das
1376 Fernrohr zugänglich geworden war. Der Ballon war jetzt den
1377 gewöhnlichen Verhältnissen der Atmosphäre überlassen. Das abarische
1378 Feld wurde nun gänzlich abgestellt, so daß es sich in nichts von
1379 den übrigen Teilen der Atmosphäre unterschied. Allerdings hatte der
1380 Ballon so viel Gas verloren, daß er sich nicht in der Höhe halten
1381 konnte. Aber wenn die Luftschiffer noch am Leben waren, durften die
1382 Martier annehmen, daß sie durch Auswerfen von Ballast ihren Abstieg
1383 nunmehr verlangsamen und selbständig regulieren konnten.
1385 Doch was sahen die Martier der Insel durch ihre Fernrohre? Der
1386 Ballon hatte sich allerdings über dem Korb wieder erhoben. Dieser
1387 selbst aber war gegen den Ring gepreßt und in das Gewirr der ihn
1388 tragenden Seile geraten und lag nun vollständig schief zur Seite.
1389 Das Schleppseil hing nicht herab, sondern hatte sich um den Ballon
1390 herumgeschlungen. Der Verschluß des Korbes war geöffnet. Ein großer
1391 Teil des Inhalts der Gondel schien dabei herausgestürzt. Die Last
1392 des Ballons war dadurch so stark erleichtert worden, daß die
1393 übriggebliebene Gasmenge, so gering sie auch war, sie doch noch zu
1394 tragen vermochte. Der Ballon sank nur ganz allmählich und wurde, da
1395 das abarische Feld außer Tätigkeit gesetzt war, vom Wind ergriffen.
1396 So trieb der Ballon von der Insel fort über das Binnenmeer hin,
1397 nahezu in der entgegengesetzten Richtung als in derjenigen, aus
1398 welcher die Luftfahrer gekommen waren.
1400 Die Martier erkannten nun wohl, daß die Insassen des Ballons die
1401 Kontrolle über ihn verloren hatten. Was konnten sie aber zu ihrer
1402 Rettung tun? Sie hätten zwar durch Herstellung des abarischen
1403 Feldes bewirken können, daß sich der Ballon dem Zentrum wieder
1404 nähern mußte, doch sie wollten ihn ja gerade von der Insel
1405 entfernen. Denn sie durften durch diesen fremden Körper nicht
1406 länger ihren Verkehr mit der Ringstation stören lassen.
1408 Während die Martier sich berieten, hatte der Ballon bereits die
1409 Insel überflogen und befand sich über dem Meer. Zugleich war er auf
1410 etwa zweitausend Meter gesunken. Würde er das gegenüberliegende
1411 Ufer erreichen? Würde er in das Meer stürzen? Oder würde er an der
1412 Felswand des steil abfallenden Ufers zerschellen? Das letzte schien
1413 das Wahrscheinlichste, wenn es nicht gelang, den Ballon entweder zu
1414 heben oder zu schnellem Sinken zu bringen.
1416 In der halb umgestürzten Gondel des Ballons sah es wüst aus. Die
1417 Instrumente zum Teil zertrümmert, die Körbe und Kisten zerbrochen,
1418 Vorräte und Menschen in einem wirren Knäuel, nur durch das Netz der
1419 vielfach verschlungenen Stricke am Herausstürzen verhindert.
1421 Von einem stechenden Schmerz im rechten Fuß erweckt, öffnete
1422 Grunthe die Augen. Er sah sich zu seinem Erstaunen am Rande des
1423 Korbes, der sich auf der einen Seite mit dem Ringe verfangen hatte,
1424 zwischen dem Geflecht desselben und einem der Anker des Ballons
1425 eingeklemmt. Dieser hatte ihn am Fuß verletzt. Schnell kam Grunthe
1426 wieder zu vollem Bewußtsein. Er konnte nur seinen Oberkörper und
1427 die Arme bewegen. Ein Blick auf den Zustand des Ballons ließ ihn
1428 befürchten, daß es unmöglich sein würde, die Höhe des Gebirges
1429 jenseits des Sees zu gewinnen. Unter ihm aber lag die Fläche des
1430 Meeres. Besorgt blickte er sich nach seinen Gefährten um. Torm
1431 vermochte er nirgends zu entdecken. Aber nun sah er, wie unter
1432 einem zerbrochenen Korb und einem Haufen von Decken sich etwas
1433 bewegte und ein Kopf mit dunkelbraunem, lockigem Haar zum Vorschein
1434 kam. Es war Saltner, der eben falls aus seiner Ohnmacht erwachte.
1435 Saltner, der keine Ahnung von dem Zustand des Ballons hatte, suchte
1436 sich aus seiner unbequemen Lage zu befreien. Grunthe aber erkannte,
1437 in welcher Gefahr der Reisegenosse schwebte. Jede weitere Bewegung
1438 konnte ihn aus dem Korbe herausschleudern und hinabstürzen lassen.
1440 „Liegen Sie still“, rief er ihm zu, „verhalten Sie sich ganz ruhig
1441 – der Korb ist gekentert – halten Sie sich fest!“
1443 „Sackerment“, brummte Saltner unter der Decke, „liegen Sie doch
1444 einmal still, wenn Sie auf einer zerbrochenen Champagnerflasche
1445 sitzen! Hätten wir nur das ganze Zeug gleich ausgetrunken und die
1446 leere Flasche hinausgeworfen!“
1448 Dabei warf er sich mit einem Gewaltruck zur Seite, zugleich aber
1449 geriet er ins Rollen –
1451 Grunthe stieß einen Schrei des Schreckens aus. Er sah den Gefährten
1452 am äußersten Rande der Gondel schweben – Saltner fuhr mit den Armen
1453 in die Luft, jedoch er fand keinen Halt – der Körper stürzte hinaus
1454 – seine Knie hingen in der Schlinge eines Seiles – in dieser
1455 furchtbaren Lage, den Kopf nach unten, schwebte Saltner mehr als
1456 tausend Meter über dem Spiegel des Polarmeeres.
1458 In der Aufregung des Augenblicks wandte Grunthe, mit beiden Händen
1459 sich festhaltend, seinen Körper so gewaltsam, daß es ihm gelang,
1460 den Fuß unter dem Anker herauszureißen. Er achtete den Schmerz
1461 nicht; so schnell wie möglich, obwohl mit großer Vorsicht,
1462 kletterte er an den Tauen des Korbes nach Saltner hin. Er suchte
1463 nach einem Seil, das er ihm zuwerfen konnte, um ihn wieder in die
1464 Gondel zu ziehen. Aber wo war in diesem Gewirr von Stricken
1465 sogleich ein passendes Tau zu finden? Hier hing eine weite Schlinge
1466 herab. Er versetzte sie in Schwingungen, er zerrte daran, und jetzt
1467 gelang es ihm, das Tau bis in Saltners Nähe zu bringen.
1469 Zum Glück hatte dieser keinen Augenblick seine Geistesgegenwart
1470 verloren. Als er das Tau im Bereich seiner Hände sah, griff er
1471 danach. Es gelang ihm sich festzuhalten, und nun versuchte er an
1472 dem Tau sich wieder zur Gondel emporzuarbeiten. Schon befand er
1473 sich wieder in aufrechter Stellung. Mit den Händen am Seil höher
1474 greifend, zog er seine Füße aus der Schlinge, in welcher er
1475 hängengeblieben war, und setzte sie auf den Rand des Korbes.
1476 Plötzlich entstand über ihm ein Rauschen und Krachen. Das Seil, an
1477 welchem er sich hielt, war ein Teil des über den Ballon gefallenen
1478 Schlepptaus. Es löste sich jetzt mit seinem freien Ende vom Ballon
1479 und glitt abwärts. Kaum hatte Saltner noch Zeit, sich an der Gondel
1480 festzuklammern, als das Seil in seiner ganzen Länge hinabsauste.
1481 Aber indem es über den Ballon hinwegglitt, verfing es sich mit der
1482 Reißleine und zog dieselbe mit voller Gewalt mit sich. Jetzt trat
1483 die Zerreißvorrichtung in Funktion. Die Ballonhülle klaffte
1484 auseinander. Das Gas strömte mit Zischen aus. Der Ballon drehte
1485 sich um seine Achse und begann mit rasender Geschwindigkeit zu
1486 fallen.
1488 „Hinauf in den Ring“, rief Grunthe. „Wir müssen sehen, die Gondel
1489 abzuschneiden.“
1491 „Aber wo ist Torm?“ rief Saltner.
1493 Sie riefen, sie schrieen, sie suchten – Torm war nicht zu finden.
1494 Dennoch war es möglich, daß er sich noch im Korb befand – sie
1495 durften diesen also nicht vom Ballon trennen, sie konnten ihn auch
1496 nicht länger durchsuchen –
1498 „Den Fallschirm, den Fallschirm!“ rief Grunthe wieder.
1500 „Er ist fort!“
1502 Der Ballon wirbelte abwärts –
1504 Ein Schlag, ein Schäumen und Aufspritzen – das Meer schlug über der
1505 Gondel und ihren Insassen zusammen – –
1507 Wie eine riesige Schildkröte schwamm die Hülle des Ballons, sich
1508 aufblähend, auf dem Wasser, die Expedition unter sich begrabend.
1510 \section{5 - Auf der künstlichen Insel}
1512 Das milde Licht des Polartages schien durch die breiten Fenster
1513 eines hohen Gemaches, das im Stile der Marsbewohner ausgestattet
1514 war. An der Decke zogen sich eine große Anzahl metallischer
1515 Streifen entlang, die in ihrer Gesamtheit ein geschmackvolles
1516 Muster darstellten. In der Mitte schlossen sie sich zu einer
1517 Rosette zusammen, von welcher zahlreiche Drähte herabführten und in
1518 einem schrankartigen Aufsatz endigten. Dieser Aufsatz befand sich
1519 auf einem großen runden Tisch und trug an seiner Außenseite ringsum
1520 eine Reihe von Wirbeln oder Handgriffen; Aufschriften über ihnen
1521 bezeichneten ihre Bestimmung. Die den Fenstern gegenüberliegende
1522 Wand war zu beiden Seiten der breiten Mitteltür von geschnitzten
1523 Regalen bedeckt, die zur Aufbewahrung einer reichhaltigen
1524 Bibliothek dienten. Den darüber freibleibenden Raum schmückten
1525 Gemälde; sie stellten Ansichten vom Mars dar. Doch hätte man
1526 glauben mögen, durch eine Reihe von Öffnungen plastische
1527 Darstellungen, oder vielmehr die Natur selbst zu sehen. Denn die
1528 Abstufungen der Farben waren so intensiv, daß sie den Eindruck
1529 vollständiger Wirklichkeit machten. Da sah man in einer Landschaft
1530 die Reflexe der Sonnenstrahlen auf dem sumpfigen Boden wie
1531 leuchtende Sterne, und dennoch vermochte man in dem tiefen Schatten
1532 der riesigen Bäume die feinsten Nuancen deutlich zu unterscheiden.
1533 Über der Tür leuchtete die lebensgroße Büste Imms, des
1534 unsterblichen Philosophen der Martier, der ihnen die Lehre von der
1535 Numenheit enthüllt hatte.
1537 Auf der Fensterseite blühten in Näpfen seltsame Gewächse. Am
1538 merkwürdigsten war darunter die tanzende Blüte ›Ro-Wa‹, eine
1539 lilienartige Pflanze, deren lange Blütenstengel sich
1540 schlangengleich hin- und herbewegten und mit ihren zierlichen
1541 Knospen fortwährend anmutige Bewegungen ausführten, indem sie
1542 zugleich ein leises Zwitschern wie von Vogelstimmen hören ließen.
1543 Zwischen den Blumentischen stand auf der einen Seite eine
1544 Schreibmaschine, auf der andern ein Apparat, der nichts anderes
1545 vorstellte als eine Maschine zur Ausführung schwieriger
1546 mathematischer Rechnungen.
1548 Die Fenster reichten bis zum Boden des Zimmers. Dennoch schien es,
1549 als liefe an denselben etwa bis zur Höhe von einem Meter eine
1550 Bekleidung entlang. Aber seltsam, diese Bekleidung schimmerte in
1551 einem dunkeln Grün und wogte leise auf und ab; und mitunter
1552 leuchteten kleinere und größere Fische darin auf und stießen ihre
1553 Köpfe an die Scheiben. Es war das Meer, das bis zu Meterhöhe über
1554 den Boden des Zimmers hereinblickte. Denn jenes Zimmer befand sich
1555 auf der Außenseite der Insel, welche Torms verunglückte Expedition
1556 am Nordpol der Erde gesehen hatte.
1558 Eine natürliche Insel war jedoch diese Anlage der Martier nicht.
1559 Sie hatten vielmehr in den Binnensee, der am Nordpol sich vorfand,
1560 eine künstliche Insel, richtiger ein schwimmendes Floß von großer
1561 Ausdehnung, hineingebaut, das ihr Feld von riesigen Elektromagneten
1562 zu tragen hatte. Denn diese Elektromagnete brauchten sie zur
1563 Balancierung ihrer Außenstation und dadurch zur Errichtung des
1564 abarischen Feldes. Auf der inneren Seite des ringförmig erbauten
1565 Riesenfloßes befanden sich die Arbeitsmaschinen und Apparate,
1566 während die Außenseite zu Wohnräumen diente sowie zum Stapelplatz
1567 aller der Vorräte und Werkzeuge, welche die Martier hier allmählich
1568 ansammelten, um die Eroberung der Erde vom Nordpol aus
1569 vorzubereiten.
1571 Über die Treppe, die von dem Dach der Insel nach dem Korridor und
1572 den angrenzenden Wohnzimmern führte, stieg eine weibliche Gestalt
1573 herab. Auf das Geländer gestützt bewegte sie sich mühsam, wie durch
1574 eine schwere Last niedergebeugt. Sie zuckte schmerzlich zusammen,
1575 sooft ihr Fuß mit einem krampfhaften Aufschlag die nächst niedere
1576 Stufe berührte. Darauf durchschritt sie ebenso schwer und mühevoll
1577 den Korridor, indem sie sich gleichfalls mit den Händen an einem
1578 der Geländer unterstützte, die sich den Korridor entlangzogen.
1579 Jetzt berührte sie die Tür des Zimmers, die sich geräuschlos in
1580 sich selbst zusammenrollte, und trat ein. Die Tür schloß sich
1581 hinter ihr von selbst.
1583 Mit einem Schlag war die Haltung der Gestalt verändert. Leicht und
1584 kräftig richtete sie sich empor. In einer anmutigen Bewegung warf
1585 sie den Kopf zurück und atmete einige Male tief auf. Sie glitt
1586 einige Schritte durch das Zimmer; nicht mehr gebeugt und mühsam,
1587 sondern wie schwebend durchmaß sie in graziöser Haltung den Raum
1588 und blickte auf dem Tisch nach dem Zifferblatt, das den Stand des
1589 Schweredrucks im Zimmer angab. Ein helles Aufleuchten ihrer großen,
1590 glänzenden Augen mochte ihre Zufriedenheit andeuten, denn sie
1591 korrigierte kaum merklich die Stellung des Handgriffs, durch den
1592 sie die im Zimmer herrschende Schwerkraft regulieren konnte. Eine
1593 Abzweigung des abarischen Feldes gestattete den Bewohnern der
1594 Insel, ihre Wohnräume den Schwereverhältnissen anzupassen, welche
1595 ihre Konstitution erforderte. Denn die Schwerkraft auf dem Mars
1596 beträgt nur ein Drittel von derjenigen auf der Erde.
1598 Jetzt streifte sie mit einer leichten Bewegung die warme Hülle ab,
1599 die ihre Schultern bedeckte, und ohne sich umzublicken warf sie
1600 dieselbe, wo sie gerade stand, achtlos in die Höhe. Von ihrem Kopf
1601 löste sie die Kapotte, die sie draußen getragen hatte, und stieß
1602 sie ebenfalls ziellos in die Luft. An ihren Handschuhen drückte sie
1603 auf ein Knöpfchen und streckte dann ihre Hände mit gespreizten
1604 Fingern leicht in die Höhe, worauf sich die Handschuhe von selbst
1605 abstreiften und emporstiegen. Alle die nach oben geworfenen
1606 Gegenstände flogen von selbst einer Ecke des Zimmers zu, schlugen
1607 eine dort befindliche Klappe zurück und glitten hinter der Wand auf
1608 die ihnen bestimmten Plätze, während die Klappe sich wieder schloß.
1609 Sie waren sämtlich mit einem von den Martiern entdeckten Stoff
1610 gefüttert, der sich nach Art der Pflanzenfaser behandeln ließ, aber
1611 in äußerst kräftiger Weise, so wie das Eisen vom Magnet, von einem
1612 dazu eingerichteten Apparat angezogen wurde. Die anziehende Kraft
1613 trat in Tätigkeit, sobald der Schluß gelöst wurde, der die
1614 Gegenstände am Körper befestigte. Bei der im Zimmer herrschenden
1615 geringen Schwere genügte es, die Sachen einfach mit einem leichten
1616 Ruck nach oben zu werfen; die selbsttätige Garderobe besorgte das
1617 übrige. So war es den Martiern sehr leicht gemacht, ihre Sachen in
1618 Ordnung zu halten. Denn durch die Konstruktion der verschiedenen
1619 Öffnungen, welche die Garderobenstücke zu passieren hatten, während
1620 sie im Inneren des Garderobenschranks wieder herabfielen, wurden
1621 sie automatisch sortiert, gereinigt und in die ihnen bestimmten
1622 Fächer eingefügt, so daß sie sofort wieder zu bequemem Gebrauch bei
1623 der Hand waren.
1625 Ohne sich um die abgelegten Kleidungsstücke weiter zu kümmern,
1626 näherte sich die Dame dem Bücherregal und zog eines der dort
1627 stehenden Bücher hervor, indem sie es an einem daran befindlichen
1628 Handgriff erfaßte. Sie begab sich damit nach dem Sofa und streckte
1629 sich in bequemer Lage hin.
1631 La war die Tochter des Ingenieurs Fru, des Vorstehers der
1632 Außenstation. Hätte sie auf der Erde gelebt, so wäre ihre
1633 Lebenszeit auf mehr als vierzig Jahre zu berechnen gewesen. Als
1634 Bewohnerin des Mars aber, dessen Jahre doppelt so lang sind wie die
1635 der Erde, zählte sie erst einige zwanzig Sommer und stand in der
1636 Blüte ihrer Jugend. Ihr volles Haar, das sie in einen Knoten
1637 geschlungen trug, hatte eine auf Erden wohl nicht leicht zu
1638 findende Farbe, ein helles, etwas ins Rötliche schimmerndes Blond,
1639 einigermaßen der Teerose vergleichbar; in bezaubernder Zartheit
1640 erhob es sich wie eine Krone über dem weißen, reinen Teint ihres
1641 feingebildeten Antlitzes. Die großen Augen, die allen Martiern
1642 eigentümlich sind, wechselten je nach der Beleuchtung von einem
1643 lichten Braun bis zum tiefsten Schwarz. Denn entsprechend den
1644 starken Helligkeitsunterschieden, welche auf dem Mars herrschen,
1645 besitzen die Bewohner desselben ein sehr weitreichendes
1646 Akkomodationsvermögen, und bei schwachem Licht erweitern sich ihre
1647 dunklen Pupillen bis an den Rand der Augenlider. Das Mienenspiel
1648 gewinnt dadurch eine überraschende Lebhaftigkeit, und nichts
1649 pflegte die Menschen mehr an den Marsbewohnern, nachdem sie sie
1650 kennengelernt hatten, zu fesseln als der ausdrucksvolle Blick ihrer
1651 mächtigen Augen. In ihnen zeigte sich die gewaltige Überlegenheit
1652 des Geistes dieser einer höheren Kultur sich erfreuenden Wesen.
1654 Wie eine leichte Wolke umhüllte ein faltenreicher weißer Schleier
1655 die ganze Gestalt und ließ nur den edel geformten Hals und den
1656 unteren Teil der Arme unbedeckt. Darunter aber schimmerten die
1657 Formen des Körpers wie in einen glänzenden Harnisch gekleidet; denn
1658 in der Tat bestand das eng anschließende Kleid aus einem
1659 metallischen Gewebe, das, obgleich es sich jeder Bewegung auf das
1660 bequemste anpaßte und dem leichtesten Drucke nachgab, doch einen
1661 Panzer von größter Widerstandsfähigkeit bildete.
1663 Das Buch, welches La der Bibliothek entnommen hatte, besaß wie alle
1664 Bücher der Martier die Form einer großen Schiefertafel und wurde an
1665 einem Handgriff ähnlich wie ein Fächer gehalten, so daß die längere
1666 Seite der Tafel nach unten lag. Ein Druck mit dem Finger auf diesen
1667 Griff bewirkte, daß das Buch nach oben aufklappte, und auf jeden
1668 weiteren Druck legte sich Seite auf Seite von unten nach oben um.
1669 Man bedurfte auf diese Weise nur einer Hand, um das Buch zu halten,
1670 umzublättern und jede beliebige Seite festzulegen.
1672 La schien es mit ihrem Studium nicht eilig zu haben. Sie hielt das
1673 Buch geschlossen in der nachlässig herabhängenden Hand und gab sich
1674 ihren Gedanken hin. Nach einiger Zeit begann sie die Lippen zu
1675 bewegen und Laute vor sich hin zu sagen, die ihr offenbar nicht
1676 geringe Mühe machten. Mitunter lachte sie leise vor sich hin, wenn
1677 ihr eines der ungewohnten Worte nicht über die Lippen wollte, oder
1678 es lief momentan ein Ausdruck der Ungeduld über ihre Züge. Sie
1679 repetierte ein Pensum, das sie für sich erlernt hatte. Aber nun
1680 blieb sie ganz stecken und sann eine Weile nach. Dann sagte sie für
1681 sich:
1683 „Es ist doch ein närrisches Kauderwelsch, das diese Kalaleks
1684 sprechen!“
1686 Jetzt erst erhob sie das Buch und ließ die Blätter mit großer
1687 Geschwindigkeit sich herumschlagen, bis sie die gewünschte Stelle
1688 gefunden hatte.
1690 Das Buch enthielt eine Zusammenstellung alles dessen, was die
1691 Martier bisher über die Lebensweise und Sprache der Eskimos hatten
1692 in Erfahrung bringen können. Durch die Eskimofamilie, welche sie
1693 aufgefunden hatten und auf ihrer Station ernährten, war es ihnen
1694 gelungen, die Sprache der Eskimos zu erforschen. Ja sie kannten
1695 sogar von einer Anzahl Worte ihre Darstellung in lateinischer
1696 Druckschrift; denn der jüngere der beiden Eskimos hatte sich eine
1697 Zeitlang auf einer Missionsstation in Grönland aufgehalten und war
1698 im Besitz einer grönländischen Übersetzung des Neuen Testaments, in
1699 welcher er zu buchstabieren vermochte. La studierte Grammatik und
1700 Wörterbuch der Eskimos oder ›Kalalek‹.
1702 Nachdem sie wieder eine Reihe von Worten und Redensarten vor sich
1703 hingesagt hatte, fiel ihr ein, ob sie wohl auch die richtige
1704 Aussprache getroffen habe. Die Prüfung war leicht; sie brauchte nur
1705 die Empfangsplatte des Grammophons auf die betreffende Stelle des
1706 Buches zu legen, um den Laut selbst zu hören; denn das Buch
1707 enthielt auch die Phonogramme der direkt vom Mund der Eskimos
1708 aufgenommenen Worte. Aber das Grammophon, welches die Phonogramme
1709 hörbar machte, befand sich in dem Schrankaufsatz des Tisches, und
1710 sie hätte sich zu diesem Zweck vom Sofa erheben müssen; das war ihr
1711 zu unbequem.
1713 Ach, dachte sie, es ist doch eine zu ungeschickt eingerichtete
1714 Welt! Daß man noch nicht einmal so weit ist, daß der Selbstsprecher
1715 zu einem hergelaufen kommt!
1717 Das Grammophon kam aber nicht. La blieb also liegen und begnügte
1718 sich, das Buch neben sich auf einem Tischchen zu deponieren.
1720 Es ist wirklich recht überflüssig, spann sie ihren Gedankengang
1721 weiter, sich mit der Eskimosprache soviel Mühe zu geben. Diese
1722 Eskimos sind doch eine traurige Gesellschaft, und der Trangeruch
1723 ist unerträglich. Sicher ist die große Erde auch von Wesen feinerer
1724 Art bewohnt, die vermutlich eine ganz andere Sprache reden. Weiß
1725 doch sogar unser junger Kalalek mit Erstaunen von der Weisheit
1726 seiner frommen Väter zu erzählen, die ihm das Buch in der seltsamen
1727 Schrift gegeben haben. Wenn wir erst einmal Gelegenheit fänden, mit
1728 solchen Leuten zu verkehren, das möchte sich vielleicht eher
1729 lohnen. Was mag das für ein Luftballon gewesen sein, der heute über
1730 die Insel hinzog und dann in der Höhe verschwand? Da waren doch
1731 gewiß keine Eskimos darin. Was mag aus den Luftschiffern geworden
1732 sein?
1734 La blickte empor. An der Wand war die Klappe des Fernsprechers mit
1735 leichtem Schlag niedergefallen.
1737 „La, bist du da?“ fragte eine weibliche Stimme in dem halblauten
1738 Ton der Martier.
1740 „Hier bin ich“, antwortete La in ihrer tiefen, langsamen
1741 Sprechweise. „Bist du es, Se?“
1743 „Ja, ich bin es. Hil läßt dich bitten, sogleich hinüber in das
1744 Gastzimmer Nummer 20 zu kommen.“
1746 „Schon wieder hinaus in die Schwere. Was gibt es denn?“
1748 „Etwas ganz Besonderes, du wirst es gleich sehen.“
1750 „Müssen wir ins Freie?“
1752 „Nein, du brauchst keinen Pelz. Aber komm gleich.“
1754 „Nun gut denn, ich komme.“
1756 Die Klappe des Fernsprechers schloß sich.
1758 La erhob sich und glitt in ihrem schwebenden Gang der Tür zu. Sie
1759 öffnete sie mit einem leisen Seufzer, denn sie ging nicht gern über
1760 die Korridore, auf denen die Erdschwere herrschte, so daß sie nur
1761 gebückt einherschleichen konnte.
1763 Aber sie war doch neugierig, was auf der Insel Besonderes passiert
1764 sein sollte. Waren neue Gäste vom Mars gekommen? Oder hatte sich
1765 der Ballon wieder gezeigt?
1769 Als der zertrümmerte Ballon ins Meer stürzte, hatten die Martier
1770 der Insel bereits ihr Jagdboot bemannt, auf welchem sie das
1771 Polarbinnenmeer zu durchforschen pflegten. Eine von Akkumulatoren
1772 getriebene Schraube erteilte ihm eine außerordentliche
1773 Geschwindigkeit. Sechs Martier unter Führung des Ingenieurs Jo
1774 hatten in demselben Platz genommen; auch der Arzt der Station, Hil,
1775 befand sich dabei. Alle trugen die Köpfe in einer helmartigen
1776 Bedeckung, die ihnen sowohl ihre Bewegungen in der Luft
1777 erleichterte, als auch zugleich als Taucherhelm im Wasser diente.
1778 Die Helme waren nämlich aus einem diabarischen, das ist
1779 schwerelosen Stoff und hatten daher für ihre Träger kein Gewicht.
1780 Zugleich enthielten sie in ihrer Kuppel einen ziemlich bedeutenden
1781 luftleeren Raum, so daß sie eine, freilich nur geringe Zugkraft
1782 nach oben hin ausübten. Dennoch genügte dieselbe, wenigstens das
1783 Gewicht des Kopfes soweit zu mindern, daß die Muskeln des Nackens
1784 entlastet wurden und die Martier ihren Kopf fast ebenso frei wie
1785 auf dem Mars zu bewegen vermochten, wenn sie auch sonst von dem
1786 ihnen ungewohnten Körpergewicht bedrückt wurden. Eben deshalb
1787 trugen sie Taucheranzüge, um schwere Arbeiten möglichst in das
1788 Wasser zu verlegen. Denn hier nahm ihnen natürlich der Auftrieb des
1789 Wassers die Last ihres Körpergewichts ab.
1791 Schnell näherte sich das Jagdboot dem Ballon, der von den Spuren
1792 des in ihm noch enthaltenen Wasserstoffes und der Luft, die sich
1793 unter ihm verfangen hatte, auf dem Wasser schwimmend erhalten
1794 wurde. Um zu dem von der Seide des Ballons bedeckten Korb zu
1795 gelangen, tauchten die Martier unter und drangen vom Wasser aus
1796 unter den Ballon. Sie fanden sogleich die beiden verunglückten
1797 Menschen und schafften sie eiligst in ihr Boot. Sodann lösten sie
1798 die Gondel von ihren Verbindungen und bargen ihren gesamten Inhalt
1799 ebenfalls an Bord. Alles übrige ließen sie vorläufig treiben, da es
1800 ihnen zunächst darauf ankam, die aufgefundenen Menschen in ihre
1801 Behausung zu bringen.
1803 Saltner und Grunthe hatten außer der Verletzung, die sich letzterer
1804 bereits vor dem Absturz am Fuß zugezogen hatte, weiter keine
1805 Beschädigungen durch den Fall erlitten. Aber sie hatten sich nicht
1806 aus dem Wasser herausarbeiten können. Keiner gab ein Lebenszeichen
1807 von sich. Indessen begannen die Martier unter Leitung des Arztes
1808 sofort die eifrigsten Wiederbelebungsversuche, wie es schien ohne
1809 Erfolg.
1811 „Da hätten wir nun“, sagte Jo, „endlich einmal ein paar wirkliche
1812 Bate, die keine Kalalek sind, ein paar zivilisierte Erdbewohner,
1813 und nun müssen die armen Kerle tot sein.“
1815 „Wir wollen noch hoffen“, erwiderte einer der Martier. „Der Körper
1816 ist noch warm. Vielleicht haben die Bate ein zähes Leben.“
1818 „Es wäre ein großes Glück“, begann Jo wieder, „wenn wir sie retten
1819 könnten. Es sind nicht bloß kühne Leute, es sind offenbar besonders
1820 hervorragende Männer ihres Volkes, sonst würden sie nicht zu diesem
1821 wunderbaren Unternehmen ausgewählt sein.“
1823 „Ich wußte gar nicht“, sagte ein andrer, „daß die Bate Luftschiffe
1824 haben.“
1826 „Derartige Ballons sind schon mehrfach beobachtet worden“,
1827 erwiderte Jo, „aber man wußte nicht sicher, wozu sie dienen,
1828 wenigstens nicht, daß sich die Bate damit selbst in die Luft
1829 erheben. Ich habe immer geglaubt, sie ließen dadurch nur
1830 irgendwelche Lasten über die Erde heben oder ziehen. Gleichviel,
1831 für uns kommt alles darauf an, daß wir durch die Leute nähere
1832 Nachrichten von den kultivierten Gegenden der Erde erhalten. Alle
1833 unsere Pläne würden alsdann wesentlich gefördert werden. Hil,
1834 versuchen Sie Ihre ganze Kunst.“
1836 Der Arzt antwortete nicht. Seine Aufmerksamkeit konzentrierte sich
1837 auf die Bemühungen, die Atmung der Ertrunkenen wieder in Tätigkeit
1838 zu setzen.
1840 Endlich richtete er sich auf.
1842 „Geben Sie vollen Strom!“ rief er Jo zu. „Es ist eine leise
1843 Hoffnung da, aber hier im Freien bringen wir sie nicht durch. Wir
1844 müssen in einer Minute im Laboratorium sein.“
1846 Das Boot sauste durch die Flut. In zehn Sekunden war die Insel
1847 erreicht. Es schoß durch die Einfahrt bis in den inneren Hafen. Im
1848 Augenblick darauf waren die Verunglückten aufgehoben und in die
1849 Krankenabteilung gebracht. Es war keine leichte Arbeit, denn jeder
1850 der beiden Männer hatte für die Martier, in Rücksicht auf ihre
1851 Fähigkeit, Lasten zu heben, ein Gewicht, das für uns einem solchen
1852 von fünf Zentnern entspricht. Sie hätten zwar ihre Kräne benutzen
1853 können, aber dies hätte zu lange gedauert. Und es kam auch nur
1854 darauf an, die Verunglückten bis über die Schwelle der Tür zu
1855 heben. Dann trat die Wirkung des abarischen Feldes in Kraft, und
1856 der Transport hatte keine Schwierigkeiten mehr.
1858 Hil begann sofort die Behandlung mit allen Hilfsmitteln der
1859 martischen Heilkunst. Er hatte bereits einige Erfahrung aus dem
1860 Studium der Eskimos gewonnen und daraus die Unterschiede in der
1861 Funktion der Organe bei Menschen und bei Marsbewohnern
1862 kennengelernt, die übrigens keineswegs so bedeutend sind, wie man
1863 meinen mochte. Dem durchdringenden Scharfblick des Martiers
1864 genügten die Schlüsse, die er aus der gewonnenen Erfahrung ziehen
1865 konnte, um das Richtige zu treffen.
1867 Die Bewohner der Insel, soweit sie nicht gerade mit einer
1868 dringenden Arbeit beschäftigt waren, hatten sich inzwischen aufs
1869 Lebhafteste für die aufgefundenen Menschen interessiert. Im Vorraum
1870 des Krankenzimmers war ein fortwährendes Kommen, Gehen und Fragen,
1871 die Klappen der Fernsprechverbindungen hoben und senkten sich, aber
1872 noch immer konnte man nichts Bestimmtes erfahren.
1874 Endlich, nach einer halben Stunde angestrengter Tätigkeit, brach
1875 Hil sein Schweigen. Er wandte sich zu dem Direktor der Station, Ra,
1876 der neben ihm stehend aufmerksam die merkwürdigen, wie tot
1877 daliegenden Wesen betrachtete, und sagte:
1879 „Sie werden leben.“
1881 „Ah!“
1883 „Aber es ist fraglich, ob wir sie hier zum Bewußtsein bringen. Wir
1884 müssen sie in Verhältnisse schaffen, die ihren Lebensgewohnheiten
1885 entsprechen. Vor allem dürfen wir ihnen die Schwere nicht
1886 entziehen, und ich glaube, auch die Temperatur des Zimmers muß
1887 höher sein.“
1889 „Gut“, antwortete Ra, „wir haben ja Gastzimmer genug, wir können
1890 sie an der Außenseite, bei unseren Wohnungen unterbringen. Ich
1891 werde sofort das Nötige anordnen.“
1893 Sobald Ra in den Vorraum trat und den hoffnungsvollen Ausspruch des
1894 Arztes mitteilte, pflanzte sich die Nachricht durch die ganze Insel
1895 hin fort. Die Bate, die keine Eskimos sind, waren der Mittelpunkt
1896 aller Gespräche, obgleich erst die wenigsten Martier sie überhaupt
1897 gesehen hatten. Daß übrigens jemand, der bei der Pflege nichts zu
1898 tun hatte, neugierig hätte eindringen wollen, konnte bei dem feinen
1899 Taktgefühl der Martier selbstverständlich nicht vorkommen.
1901 Die beiden Geretteten wurden getrennt in geeigneten Räumen
1902 untergebracht und vollständiger Ruhe überlassen.
1904 Stundenlang lagen sie in tiefem Schlaf.
1906 \section{6 - In der Pflege der Fee}
1908 Saltner schlug die Augen auf.
1910 Was er da über sich sah, war es das Netzwerk des Ballons? Diese
1911 regelmäßigen, goldglänzenden Arabesken auf dem lichtblauen Grund?
1912 Nein, der Ballon war es nicht – der Himmel sieht auch nicht so aus
1913 – doch – was war denn geschehen? Er war ja ins Wasser gestürzt.
1914 Sieht es unten auf dem Meer so aus? Aber im Wasser ist man tot oder
1915 – er wendete den Kopf, doch die Augen fielen ihm wieder zu. Er
1916 wollte nachdenken, doch die Fragen waren ihm zu schwer, er fühlte
1917 sich so matt – – jetzt bemerkte er, daß er einen Gegenstand
1918 zwischen den Lippen hielt, ein Röhrchen. – War es noch immer das
1919 Mundstück des Sauerstoffapparats? Nein. – Ein seltsamer Duft
1920 umwehte ihn – instinktiv sog er an dem Rohr, denn er empfand einen
1921 brennenden Durst. Ach, wie das wohltat! Ein kühler erquickender
1922 Trank! Wein war es nicht – Milch auch nicht –, gleichviel, es
1923 mundete – war es vielleicht Nektar? Seine Sinne verwirrten sich
1924 wieder. Aber der Trank wirkte wunderbar. Neues Leben rann durch
1925 seine Adern. Er konnte die Augen wieder öffnen. Aber was erblickte
1926 er? Also war er doch im Wasser?
1928 Über ihm, höher als sein Kopf, rauschten die Wogen des Meeres. Aber
1929 sie drangen nicht bis zu ihm heran. Eine durchsichtige Wand trennte
1930 sie von ihm, hielt sie zurück. Der Schaum spritzte an ihr empor,
1931 das Licht brach sich in den Wellen. Dennoch konnte er den Himmel
1932 nicht sehen, ein Sonnendach mochte ihn abblenden. Hin und wieder
1933 stieß ein Fisch dumpf gegen die Scheiben. Vergeblich versuchte sich
1934 Saltner seine Lage zu erklären. Er glaubte zunächst, sich auf einem
1935 Schiff zu befinden, obwohl es ihn wunderte, daß sich im Zimmer
1936 nicht die geringste Bewegung spüren ließ. Aber nun blickte er etwas
1937 mehr zur Seite. War es denn nicht mehr Tag? Das Zimmer war doch von
1938 Tageslicht erhellt, aber dort links sah er direkt in dunkle Nacht.
1939 Ein ihm unbekanntes Bauwerk in einem nie gesehenen Stil lag im
1940 Mondschein vor ihm. Er blickte auf das Dach desselben, das von den
1941 Wipfeln seltsamer Bäume begrenzt wurde. Und wie merkwürdig die
1942 Schatten waren –! Saltner versuchte sich vorzubeugen, den Kopf zu
1943 heben. Da standen wirklich zwei Monde am Himmel, deren Strahlen
1944 sich kreuzten. Auf der Erde gab es etwas Derartiges nicht. Ein
1945 Gemälde konnte doch aber nicht so starke Lichtunterschiede zeigen –
1946 es müßte denn ein transparentes Bild sein –
1948 Auf das leise Geräusch, welches seine Bewegung verursachte, schob
1949 sich auf einmal die Landschaft zur Seite. Eine Gestalt lehnte in
1950 einem Sessel und sah Saltner mit großen, leuchtenden Augen an.
1951 Einen Augenblick starrte er verwirrt auf diese neue Erscheinung.
1952 Noch nie glaubte er ein so herrliches Frauenantlitz gesehen zu
1953 haben. Schnell wollte er sich erheben, und nun erst warf er einen
1954 Blick auf seinen eignen Körper. Man hatte ihn während seiner
1955 Bewußtlosigkeit offenbar gebadet und mit frischer Leibwäsche
1956 versehen. Er fand sich in einen weiten Schlafrock von einem ihm
1957 unbekannten Stoff gehüllt.
1959 Jetzt streckte die Gestalt eine Hand aus und drehte an einem der
1960 Knöpfe, die sich neben ihr auf einem Tisch befanden. in demselben
1961 Augenblick durchlief Saltner ein Gefühl, als wollte man ihn
1962 plötzlich in die Höhe heben. Die Hand, deren Stellung er verändern
1963 wollte, fuhr ein ganzes Stück höher, als er sie zu heben
1964 beabsichtigte. Mit Leichtigkeit richtete er seinen Oberkörper
1965 empor, aber bei dem Ruck flogen auch seine Beine in die Luft, und
1966 mit einer überraschenden Geschwindigkeit führte er einige
1967 unbeabsichtigte turnerische Übungen aus, bis es ihm gelang, sich in
1968 sitzender Stellung auf seinem Lager zu balancieren.
1970 Zugleich hatte sich auch die weibliche Gestalt erhoben und schwebte
1971 auf ihn zu. Ein herzgewinnendes Lächeln lag auf ihren Zügen, und
1972 aus den wunderbaren Augen sprach die innigste Teilnahme.
1974 Saltner wollte aufstehen, bemerkte aber schon beim ersten Anziehen
1975 seines Fußes, daß er Gefahr lief, in eine unbestimmte Höhe zu
1976 schnellen. Eine leichte Handbewegung der vor ihm stehenden Gestalt
1977 bedeutete ihm, seinen Sitz wieder einzunehmen. Nun endlich fand er
1978 die Sprache wieder in gewohnter Lebhaftigkeit.
1980 „Wie Sie befehlen“, sagte er. „Es wäre mir eine große Ehre, wenn
1981 Sie ebenfalls Platz nehmen wollten und mir gütigst andeuten, wo ich
1982 mich eigentlich befinde.“
1984 Bei seinen Worten ließ die Gestalt ein leises, silbernes Lachen
1985 vernehmen.
1987 „Er spricht, er spricht!“ rief sie in der Sprache der Martier. „Es
1988 ist zu lustig!“
1990 „Fafagolik?“ versuchte Saltner die fremden Laute wiederzugeben.
1991 „Was ist das für eine Sprache oder was für eine Gegend?“
1993 Die Martierin lachte wieder und betrachtete ihn dabei vergnüglich,
1994 wie man ein merkwürdiges Tier abwartend anschaut.
1996 Saltner wiederholte seine Frage französisch, englisch, italienisch
1997 und sogar lateinisch. Damit war sein Sprachschatz erschöpft. Da ihn
1998 die Fremde offenbar nicht verstand und er noch immer keine Antwort
1999 erhielt, sagte er wieder auf deutsch:
2001 „Die Gnädige scheint mich nicht zu verstehen, aber ich will mich
2002 doch wenigstens vorstellen. Mein Name ist Saltner, Josef Saltner,
2003 Naturforscher, Maler, Photograph und Mitglied der Tormschen
2004 Polarexpedition, augenblicklich verunglückt und, wie mir scheint,
2005 mehr oder weniger gerettet. Eigentlich ist dabei gar nichts zu
2006 lachen, meine Gnädige, oder was Sie sonst sind.“
2008 Darauf zeigte er mehrere Male mit dem Finger auf sich selbst und
2009 sagte deutlich: „Saltner! Saltner!“ Sodann zeigte er mit der Hand
2010 rings auf seine Umgebung und zuletzt auf die schöne Martierin.
2012 Diese ging sogleich auf seine Gebärdensprache ein. Sie bewegte die
2013 Hand langsam auf sich zu und sagte ihren Namen: „Se.“
2015 Darauf deutete sie auf Saltner und wiederholte deutlich seinen
2016 Namen. Und noch einmal wiederholte sie mit den entsprechenden
2017 Gesten:
2019 „Se! Saltner!“
2021 „Se, Se?“ sagte Saltner fragend. „Das ist also Ihr werter Name.
2022 Oder meinen Sie vielleicht, da draußen sei die See? Verstehen Sie
2023 vielleicht doch ein wenig Deutsch? Wo befinden wir uns denn hier?“
2025 Auf seine fragende Handbewegung zeigte Se nach dem Meer, das vor
2026 den bis zum Fußboden reichenden Fenstern wogte, und nannte das
2027 Wort, das in der Sprache der Martier Meer bedeutet. Darauf zog sie
2028 an einem Handgriff, und anstelle des Meeres erschien die
2029 Landschaft, welche Saltner bewundert hatte. Er sah jetzt, daß
2030 dieselbe auf einen Wandschirm gemalt war, den Se soeben vor das
2031 Fenster geschoben hatte. Sie zeigte auf die Landschaft und sagte
2032 „Nu.“ Das bedeutet ›Mars‹, aber Saltner war freilich mit diesem
2033 Wort nicht gedient.
2035 Se ging nun weiter in das Zimmer zurück, das der Wandschirm bisher
2036 seinen Blicken verhüllt hatte, und suchte nach einem Gegenstand,
2037 den sie nicht sogleich zu finden schien. Saltner folgte ihr mit den
2038 Augen. Er glaubte noch nie etwas Anmutigeres gesehen zu haben,
2039 etwas Wunderbareres jedenfalls noch nicht.
2041 Ein rosiger Schleier umhüllte den größten Teil der Gestalt, ließ
2042 jedoch hier und da den metallischen Schimmer des Unterkleides
2043 durchblicken. Die Haare kräuselten sich über dem Nacken in
2044 beweglichen Löckchen, die als Grundfarbe ein lichtes Braun zeigten,
2045 aber bei jeder Bewegung irisierten wie das Farbenspiel auf einer
2046 Seifenblase. Alle Bewegungen ihres Körpers glichen dem leichten
2047 Schweben eines Engels, der von der Schwere des Stoffes unabhängig
2048 ist. Und sobald der Kopf an eine dunklere Stelle des Zimmers
2049 geriet, leuchtete das Haar phosphoreszierend und umgab das Gesicht
2050 wie ein Heiligenschein.
2052 Plötzlich unterbrach sie ihr Suchen und rief:
2054 „Wie bin ich doch zerstreut! Das hat ja alles noch Zeit. Der arme
2055 Bat hat gewiß Hunger, daran hätte ich zunächst denken sollen. Wart,
2056 mein armer Bat, ich will dir gleich etwas braten.“
2058 Sie trat an den Tisch im Hintergrund des Zimmers und machte sich an
2059 dem Schrankaufsatz und verschiedenen Handgriffen zu schaffen. Dann
2060 war sie wieder neben ihm und sagte mit einem unnachahmlichen Ton,
2061 der ihn entzückte: „Saltner“, indem sie die nicht mißzuverstehenden
2062 Pantomimen des Essens machte.
2064 „Glänzender Gedanke, holdselige Se“, rief Saltner, indem er die
2065 Pantomime wiederholte.
2067 Auf einen Handgriff Ses, Saltner wußte nicht wie, stand auf einmal
2068 ein Tischchen vor seinem Lager, und Se setzte ihm eine Speise vor,
2069 die sie soeben bereitet hatte. Er untersuchte nicht lange, was es
2070 sei, zerbrach sich nicht den Kopf über die merkwürdigen Formen der
2071 ihm gereichten Instrumente, sondern gebrauchte sie, unbekümmert um
2072 Ses Lächeln, als Löffel, und tat dann einen langen Zug aus dem
2073 Mundstück eines mit Flüssigkeit gefällten Gefäßes. Sein Hunger war,
2074 wie er jetzt erst merkte, so groß, daß er selbst Ses Anwesenheit
2075 und seine ganze Umgebung momentan vergessen hatte. Erst nachdem der
2076 erste Reiz gestillt war, hörte er wieder aufmerksam auf Ses
2077 Erklärungen, die ihm die einzelnen Gegenstände in ihrer Sprache
2078 benannte, und es gelang ihm bald, einige Worte zu behalten.
2080 Als er sein Mahl beendet hatte, betrachtete ihn Se wieder mit
2081 zufriedener Miene. Wie man ein Schoßhündchen streichelt, glitt sie
2082 mit der Hand über sein Haar und sagte:
2084 „Der arme Bat war hungrig, nun wird er wieder gesund werden. War es
2085 gut, Saltner?“
2087 Saltner verstand freilich ihre Worte nicht, aber den Sinn fühlte er
2088 deutlich heraus. Er kam sich auch etwas gedemütigt vor, denn er
2089 merkte wohl, daß ihn Se nicht als ein gleichberechtigtes Wesen
2090 behandelte. Aber wie sie seinen Namen aussprach, wie sie ihn mit
2091 den Augen ansah, die bis ins Innerste der Seele hineinzuleuchten
2092 schienen, konnte er nicht anders, als ihr mit den herzlichsten
2093 Worten danken. Und auch Se verstand den Dank, ohne die Worte zu
2094 kennen, die er sprach. Lächelnd sagte sie in ihrer Sprache:
2096 „Saltner gefällt mir, er ist nicht wie ein Kalalek.“
2098 Saltner hatte das Wort Kalalek verstanden, das die Eskimos den
2099 Martiern als die Bezeichnung ihres Stammes genannt hatten.
2101 „Nein“, rief er entschieden, „meine schöne Se, ein Eskimo bin ich
2102 nicht, ich bin ein Deutscher, kein Eskimo – Deutscher!“
2104 Und er begleitete die Worte mit so entschiedenen Gesten, daß Se
2105 ihren Sinn sofort verstand.
2107 Sie eilte zu dem Bücherregal an der Zimmerwand – denn Bücher
2108 gehören bei den Martiern zur unentbehrlichen Aus stattung jedes
2109 Zimmers, eher würde man die Fenster entbehren als die Bibliothek –
2110 und holte einen Atlas herbei.
2112 Inzwischen bestürmte Saltner seine Pflegerin mit Fragen nach dem
2113 Schicksal seiner Gefährten, ohne sich genügend verständlich machen
2114 zu können. Se kümmerte sich zunächst nicht um seine Worte und
2115 Gebärden, sondern hielt den Atlas an seinem Griff Saltner vor die
2116 Augen und ließ die Blätter desselben sich rasch umschlagen. Sein
2117 Erstaunen über diese Mechanik wurde aber übertroffen, als sie in
2118 ihrem Umblättern stillhielt und den Griff des Buches in einem
2119 Gestell auf dem Tischchen vor ihm befestigte. Er erkannte sofort
2120 die Karte der Gegenden um den Nordpol der Erde wieder, die er in
2121 dem Riesenmaßstab der Insel vom Ballon aus bewundert hatte.
2123 Se zeigte mit ihrem schlanken, zierlichen Finger, an dem ihm die
2124 große Beweglichkeit der einzelnen Glieder auffiel, auf Grönland und
2125 die nächsten Landmassen um den Pol; dazu sagte sie wiederholt:
2126 „Kalalek, Bat Kalalek.“ Dann zeigte sie auf Saltner, ergriff seine
2127 Hand und führte sie über die andern Teile des Kartenbildes, indem
2128 sie dabei fragte: „Bat Saltner?“
2130 Saltner suchte auf der Karte die Gegend von Deutschland, die
2131 allerdings perspektivisch schon stark verkürzt erschien, und machte
2132 ihr durch Zeichen begreiflich, daß hier seine Heimat sei. Da er aus
2133 dem öfter gehörten Wort ›Bat‹ schloß, daß dies wohl soviel wie
2134 Mensch oder Volksstamm bedeute, so zeigte er auf den Pol und fragte
2135 dazu:
2137 „Bat Se?“
2139 Se antwortete mit einer lebhaft abwehrenden Bewegung. Sie legte die
2140 ganze Hand auf die Karte und sagte: „Bat.“ Dann zeigte sie auf sich
2141 selbst und sprach mit Selbstbewußtsein: „Se, Nume.“
2143 Und als Saltner sie fragend anblickte, wies sie mit ausgestrecktem
2144 Arm nach einer bestimmten Stelle des Bodens und wiederholte noch
2145 einmal: „Nume.“ Wie sie so dastand, leuchteten ihre Augen in
2146 verklärtem Glanz, und Saltner konnte nicht zweifeln, daß er ein
2147 höheres Wesen vor sich habe. Aber sogleich neigte sie sich wieder
2148 mit liebenswürdigem Lächeln zu ihm und ließ einige Blätter des
2149 Atlas zurückschlagen. Es zeigte sich eine Gruppe geometrischer
2150 Figuren, in denen Saltner ohne Schwierigkeit einen Aufriß der
2151 Planetenbahnen im Sonnensystem erkannte. Se wies auf den
2152 Mittelpunkt und sagte: „O.“
2154 „Sonne“, antwortete Saltner, indem er zugleich nach der Richtung
2155 hinzeigte, in welcher die Sonnenstrahlen auf der Oberfläche des
2156 Meeres spielten.
2158 Se nickte befriedigt, beschrieb dann mit ihrem Finger auf der Karte
2159 die Erdbahn und wiederholte den Namen der Erde: „Ba“, und, auf
2160 Saltner weisend: „Bat!“ Dann aber wieder mit dem ganzen Stolz der
2161 Martier den Namen ›Nume‹ aussprechend, bezeichnete sie auf der
2162 Karte die Bahn des Mars und sagte mit einem hoheitsvollen Blick auf
2163 Saltner: „Nu.“
2165 „Der Mars!“ Es kam fast tonlos von Saltners Lippen. Er merkte, wie
2166 sich alle seine Begriffe zu verwirren drohten. Hilflos sah er zu Se
2167 empor, die kaum seine Aufregung bemerkt hatte, als sie ihm schon
2168 bedeutete, sich niederzulegen. Zwar wollte er trotz der Mattigkeit,
2169 die er jetzt an sich spürte, aufspringen, um seine Wißbegierde
2170 weiter zu befriedigen, aber ein Blick, der keinen Widerstand
2171 zuließ, bannte ihn auf sein Lager.
2173 In diesem Augenblick öffnete sich die Tür des Zimmers, und in
2174 derselben erschien zusammengebeugt und schleppend, auf zwei Stäbe
2175 gestützt, die Gestalt des Arztes Hil. Kaum aber hatte Hil das
2176 Zimmer betreten, als er sich in voller Höhe aufrichtete, die Stäbe
2177 fortwarf und schnell auf das Lager zuschritt. Er ergriff sofort
2178 Saltners Hand, und während er den Puls beobachtete, sagte er mit
2179 leichtem Vorwurf:
2181 „Aber Se Se, was machen Sie mir für Geschichten. Stellen Sie nur
2182 gleich die Abarie ab. Unser Bat muß seine richtige Erdschwere
2183 haben, sonst geht er uns ein, ehe wir ihn wieder kräftig sehn.“
2185 „Seien Sie nur nicht böse, Hil Hil“, lachte Se, „ich habe ihn ja so
2186 schön gepflegt und gefüttert – sehen Sie die Schüssel – 150 Gramm
2187 Eiweiß, 240 Gramm Fett und –“
2189 Hil sah nach der Federwaage, die sich unter jedem Speisegerät der
2190 Martier befand und sofort konstatierte, wieviel Nahrungsstoffe man
2191 auf dieselbe gelegt oder dem Körper zugeführt hatte.
2193 „Aber Sie haben die Schwere abgestellt, davon stand nichts in Ihrer
2194 Instruktion.“
2196 „Ja, Hil Hil, Sie können doch nicht verlangen, daß ich im Zimmer
2197 herumkriechen soll, wenn er wach ist.“
2199 „Ach so, die liebe Eitelkeit!“
2201 „Oh, vor dem Bat! Aber als er aufwachte, mußte ich doch schnell
2202 hin, und dann mußte ich die Pastete backen, und – ja, wenn Sie
2203 wüßten: Er heißt Saltner und ist kein Kalalek, sondern ein – ja,
2204 das Wort habe ich vergessen, doch ich zeige Ihnen auf der Karte die
2205 Gegend.“
2207 „Erst lassen Sie es schwer werden – aber halt, noch einen
2208 Augenblick, ich will mir zuvor einen Stuhl holen – so –“
2210 „Und ich will mich auch erst setzen“, sagte Se.
2212 Als beide Platz genommen hatten, griff Se an einen Wirbel, und
2213 Saltner sah, wie Se und Hil sichtlich in ihren Sesseln
2214 zusammensanken und ihre gelegentlichen Bewegungen mühsam und
2215 schwerfällig wurden. Er aber merkte, wie das eigentümliche Gefühl
2216 des Schwindels, das ihn beherrscht hatte, verschwand, seine
2217 Gliedmaßen konnte er wieder normal dirigieren, und er legte sich
2218 behaglich auf sein Lager zurück.
2220 Der Arzt sah ihn mit seinen großen, sprechenden Augen wohlwollend
2223 „Also man ist wieder lebendig?“ sagte er, was Saltner freilich
2224 nicht verstand. Dann fügte er in der Sprache der Eskimos hinzu:
2225 „Versteht ihr vielleicht diese Sprache?“
2227 Saltner erriet die Frage und schüttelte den Kopf. Dagegen sagte er
2228 nunmehr selbst in der Sprache der Martier, was er von Se gelernt
2229 hatte:
2231 „Trinken – Wein – Bat gut Wein trinken –“
2233 Se brach in ihr feines, silbernes Lachen aus, und Hil sagte
2234 belustigt: „Sie haben ja ausgezeichnete Fortschritte gemacht – nun
2235 werden wir uns wohl bald unterhalten können.“
2237 Dabei wies er auf das neben Saltner stehende Trinkgefäß hin, und
2238 dieser bediente sich desselben mit Erfolg zu neuer Stärkung.
2240 Das Schicksal seiner Gefährten lag ihm am schwersten auf der Seele.
2241 Er versuchte noch einmal, darüber Erkundigungen einzuziehen, indem
2242 er einen Finger aufhob und dazu sagte: „Bat Saltner.“ Dann erhob er
2243 drei Finger und suchte durch weitere Zeichen verständlich zu
2244 machen, daß drei ›Bate‹ mit dem Ballon angekommen und herabgestürzt
2245 seien.
2247 Hil, der zum ersten Mal einen Europäer sah, hatte seine
2248 Aufmerksamkeit mehr auf den ganzen Menschen als auf sein Anliegen
2249 gerichtet, und blickte jetzt fragend zu Se hinüber, als sich
2250 Saltner mit der von Se gehörten Anrede ›Hil Hil‹ direkt an ihn
2251 wendete.
2253 Se erklärte:
2255 „Er meint, daß drei Bate angekommen und in das Meer gestürzt sind.
2256 Wir haben aber doch nur zwei gefunden?“
2258 „Allerdings“, sagte Hil, „und dem andern geht es auch besser. Der
2259 Fuß ist nicht schlimm verletzt und wird in einigen Tagen geheilt
2260 sein. Ich habe mich durch La ablösen lassen, um einmal hier nach
2261 dem Rechten zu sehen. Ich glaube übrigens, daß er bei Bewußtsein
2262 ist, er hat wiederholt die Augen geöffnet, doch ohne zu sprechen.
2263 Hoffentlich hat er keine schwere Erschütterung davongetragen. Wir
2264 wollen ihn nicht anreden, um ihn nicht vorzeitig aufzuregen. Wollen
2265 Sie nicht einmal hinübergehen?“
2267 „Recht gern, aber wer bleibt bei Saltner?“
2269 „Der muß jetzt schlafen. Und dann müssen wir überhaupt eine andere
2270 Einrichtung treffen. Wir bringen sie beide zusammen in ein Zimmer,
2271 und zwar in das große. Aus der einen Seite lasse ich die abarische
2272 Verbindung entfernen, desgleichen in den beiden Nebenräumen. Dort
2273 werden ihre Betten und alle ihre Geräte hingebracht, so daß sie in
2274 ihren gewohnten Verhältnissen leben können. Und wir können uns dann
2275 bei ihnen aufhalten und sie studieren, ohne fortwährend unter
2276 diesem Druck umherkriechen zu müssen, indem wir uns in dem andern
2277 Teil des Zimmers die Schwere erleichtern.“
2279 „Schön“, sagte Se, „aber ehe Sie meinen armen Bat einschläfern,
2280 will ich noch einmal mit ihm verhandeln.“
2282 Sie wandte sich zu Saltner und machte ihm so gut wie möglich
2283 begreiflich, daß noch einer seiner Gefährten gerettet sei und daß
2284 er ihn bald sehen solle. Dann brachte sie auf geschickte Weise in
2285 Erfahrung, wie jener heiße, und ließ sich einige deutsche Worte so
2286 lange vorsagen, bis sie sich dieselben eingeprägt hatte. Während
2287 sie Saltner aus ihren großen Augen lächelnd ansah, streckte Hil die
2288 Hand gegen sein Gesicht aus und bewegte sie einige Male hin und
2289 her. Saltner fielen die Augen zu. Noch war es ihm, als wenn zwei
2290 strahlende Sonnen vor ihm leuchteten, dann wußte er nicht mehr, ob
2291 dies zwei Augen seien oder die Monde des Mars, und bald lag er in
2292 traumlosem Schlaf.
2294 \section{7 - Neue Rätsel}
2296 Grunthe erwachte aus seiner Bewußtlosigkeit in einem Zimmer, das
2297 ganz ähnlich eingerichtet war wie dasjenige, in welches man Saltner
2298 gebracht hatte. Denn es gehörte zu derselben Reihe von Gastzimmern,
2299 die für den vorübergehenden Aufenthalt von Martiern auf der
2300 Erdstation bestimmt waren. Auch er konnte von seinem Lager aus
2301 nichts erblicken als die großen Fensterscheiben, hinter denen das
2302 Meer wogte, und den Wandschirm, der den übrigen Teil des Zimmers
2303 verbarg. Dieser Schirm war ebenfalls mit einer Nachtlandschaft des
2304 Mars verziert, welche beide Monde des Mars zeigte – ein bei den
2305 Malern des Mars sehr beliebter Lichteffekt. Hier aber befanden sich
2306 außerdem im Vordergrund zwei Figuren, von denen die eine nach einem
2307 besonders hell leuchtenden Stern hinwies, während eine zweite das
2308 stark vergrößerte Bild jenes Sternes beobachtete, wie es von einem
2309 Projektionsapparat auf einer Tafel entworfen erschien.
2311 Grunthe suchte seine Gedanken zu sammeln. Er lag sorgfältig
2312 gebettet und in einem Schlafgewand, das nicht das seinige war, in
2313 einem erwärmten Zimmer. Seinen Fuß, der ihn übrigens nicht
2314 schmerzte, konnte er nicht bewegen; dieser befand sich in einem
2315 festen Verband. Er fühlte sich matt, aber vollständig bei Sinnen
2316 und ohne merkliche Beschwerden. Kopf und Arme, bis zu einem
2317 gewissen Grad auch den Oberkörper, konnte er willkürlich bewegen.
2318 Er war also nach seinem Sturz ins Wasser gerettet worden. Wo aber
2319 befand er sich, und wer waren die Retter?
2321 Die anfängliche Täuschung, daß er an der Stelle, wo der Schirm
2322 stand, in eine wirkliche Nachtlandschaft sehe, konnte bei ihm nicht
2323 lange anhalten, da diese Figuren enthielt, welche sich nicht
2324 bewegten. Er hatte also ein Bild vor sich. Demnach war das Meer,
2325 wie er auch aus der Farbe und Art der Beleuchtung schloß, wohl
2326 nichts anderes als das Polarmeer, in welches der Ballon gestürzt
2327 war, er befand sich auf der Insel, und seine Retter waren die
2328 Bewohner dieser Insel. Wer waren sie, und was hatte er von ihnen zu
2329 erwarten? Darauf konzentrierten sich alle seine Gedanken.
2331 Er bewegte seine Arme, er beobachtete seine Atmung, seinen Puls, er
2332 hörte das Rauschen des Meeres – alle Erscheinungen der Natur waren
2333 unverändert, er war auf der Erde, und doch konnten die Wesen, die
2334 hier wohnten, keine Menschen sein. Der Stoff seines Gewandes,
2335 seiner Decke, seines Lagers war ihm vollständig unbekannt, daraus
2336 konnte er keinen Schluß ziehen. Aber das Bild! Was stellte das Bild
2337 vor? War es nicht möglich, daraus zu erkennen, in wessen Gewalt er
2338 sich befand?
2340 Die beiden Gestalten auf dem Bild waren, wie es schien,
2341 menschlicher Art. Die stehende Figur, welche nach dem Stern
2342 hinwies, sah nicht anders aus als eine ideale Frauengestalt mit
2343 auffallend großen Augen; um ihren Kopf spielte ein seltsamer
2344 Lichtschimmer – sollte dies eine symbolische Figur mit einem
2345 Heiligenschein sein? Die Gewandung – soweit überhaupt von solcher
2346 die Rede war – ließ keine Schlüsse zu, sie konnte ja einer Laune
2347 des Künstlers entsprungen sein. Die sitzende Gestalt, welche das
2348 Bild des Sternes beobachtete und dem Beschauer den Rücken zuwandte,
2349 schien einen enganliegenden metallenen Panzer zu tragen; in der
2350 Hand hielt sie einen Grunthe unbekannten Gegenstand. Sollten diese
2351 beiden Figuren Vertreter der Bewohner der Polinsel sein? Aber die
2352 Landschaft selbst war keine Landschaft der Erde. Also wohl eine
2353 Erinnerung an die Heimat, aus welcher die Polbewohner stammten? Und
2354 wenn es so war – diese beiden Monde –, sie konnten keiner andern
2355 Welt angehören als dem Mars.
2357 Bewohner des Mars haben den Pol besiedelt! Der Gedanke war Grunthe
2358 schon einmal aufgestiegen, als er zuerst vom Ballon aus die Insel
2359 mit ihren Vorrichtungen und dem merkwürdigen Kartenbild der Erde
2360 betrachtet hatte. Er hatte ihn als zu phantastisch zurückgedrängt,
2361 er wollte nichts mit so unwahrscheinlichen Hypothesen zu tun haben,
2362 so lange er noch auf eine andere Erklärung hoffen konnte. Doch als
2363 der Ballon von jener unerklärlichen Kraft in die Höhe gerissen
2364 wurde, mußte er wieder an diese Hypothese denken. Und jetzt, die
2365 merkwürdige Rettung, die seltsamen Stoffe, das Bild! Was war das
2366 für ein Stern, der auf diesem Bild beobachtet wurde? Er strengte
2367 seine scharfen Augen an, um die Abbildung auf der Tafel zu
2368 erkennen. Eine hell beleuchtete schmale Sichel, der übrige Teil der
2369 Scheibe in einem matten Schimmer – und diese dunklen Flecke, die
2370 weißen Kappen an den Polen – kein Zweifel, das war die Erde, wie
2371 sie vom Mars aus bei starker Vergrößerung erschien, die schmale
2372 Sichel im Sonnenschein, das übrige schwach vom Mondlicht erhellt. –
2373 Grunthe konnte sich nicht länger der Ansicht verschließen, daß er
2374 bei den Marsbewohnern sich befinde – ein Gast, ein Gefangener – wer
2375 konnte es wissen?
2377 Wie konnten Marsbewohner auf die Erde kommen? Grunthe wußte die
2378 Frage nicht zu beantworten. Nahm man aber die Tatsache einmal als
2379 gegeben, so erklärten sich die andern Erscheinungen sehr leicht,
2380 der Wunderbau der Insel, die Beeinflussung des Ballons, die
2381 Rettung, die Einrichtung des Zimmers – die Hypothese der
2382 Marsbewohner war doch wohl die einfachste –
2384 Und auf einmal zuckte Grunthe zusammen – eine Erinnerung wurde ihm
2385 plötzlich lebendig –, seine Lippen schlossen sich fest aufeinander,
2386 und zwischen seinen Augenbrauen bildete sich eine tiefe senkrechte
2387 Falte – Er spannte sein Gedächtnis aufs äußerste an –
2389 Ell, Ell!, sagte er bei sich. – Was war es doch, was ihm Ell gesagt
2390 hatte, ehe er die Reise antrat? Friedrich Ell, der Freund Torms,
2391 lebte als Privatgelehrter in Friedau seinen Studien, aber er war
2392 der eigentliche geistige und der pekuniäre Urheber der Expedition,
2393 die Seele der internationalen Vereinigung für Polarforschung. Mit
2394 ihm hatte er oft über die Möglichkeit disputiert, wie die Bewohner
2395 des Mars mit der Erde in Verbindung treten könnten. Und Ell hatte
2396 immer gesagt: Wenn sie kommen, so haben wir sie am Nordpol oder am
2397 Südpol zu erwarten. Man springt auf einen Eisenbahnzug nicht, wo er
2398 in Fahrt ist, sondern wo er steht. Wer weiß, was Sie am Pol finden!
2399 Grüßen Sie mir die – – ja, das Wort hatte er vergessen. Er hatte
2400 kein Gewicht darauf gelegt. Man wußte nicht immer bei Ell, ob er
2401 scherze oder im Ernst spräche. „Grüßen Sie mir die –“ Es fiel ihm
2402 nicht ein. Aber wohl erinnerte er sich, wie Ell eines Abends sehr
2403 erregt geworden war, als man von den Bewohnern des Mars wie von
2404 Fabelwesen gesprochen hatte. Er hatte dann das Gespräch plötzlich
2405 abgebrochen.
2407 Grunthe wurde aus seinem Nachsinnen gerissen. Hinter dem Bild der
2408 Marslandschaft wurden Stimmen laut. Was war das für eine Sprache?
2409 Grunthe kannte sie nicht, er verstand kein Wort.
2411 Hinter dem Schirm hatte, von Grunthe unbemerkt, La gesessen. Es war
2412 ihr sehr unbequem, unter dem Druck der irdischen Schwerkraft
2413 auszuhalten, und sie hatte sich deshalb unbeweglich auf ihr Sofa
2414 gestreckt. Jetzt kam Se schwerfällig herbei und ließ sich ebenfalls
2415 nieder.
2417 „Wie geht’s dem Bat?“ fragte sie.
2419 „Ich weiß es wirklich nicht“, sagte La, „ich habe noch nicht
2420 gehört, daß er sich bemerklich gemacht hätte, und unter diesem
2421 Druck kannst du nicht verlangen, daß ich zu ihm hingehe.“
2423 „So machen wir es leicht!“ rief Se und streckte die Hand nach dem
2424 Griff des abarischen Apparates aus.
2426 „Aber Hil hat es verboten“, erwiderte La. „Es könnte schädlich
2427 wirken.“
2429 „Ach, ich habe es drüben auch so gemacht, auf kurze Zeit tut es dem
2430 Bat nichts. Hast du ihn denn schon gefüttert?“
2432 „Nein, wie konnte ich?“
2434 „Und doch ist es nötig, meint auch Hil. Und so lange müssen wir
2435 mindestens uns frei bewegen können. Also, auf meine
2436 Verantwortung.“
2438 Se stellte den Apparat auf die normale Marsschwere ein. Die beiden
2439 Damen erhoben sich und atmeten erleichtert auf.
2441 In demselben Augenblick wollte Grunthe eine Bewegung ausführen,
2442 aber sein Arm fuhr plötzlich viel höher, als er beabsichtigt hatte.
2443 Sogleich probierte er die Bewegung noch einmal und konstatierte,
2444 daß alle seine Gliedmaßen sowie die Decke seines Bettes viel
2445 leichter geworden waren. Er suchte nach einem Gegenstand, den er in
2446 die Höhe werfen wollte, um das wunderbare Phänomen zu studieren. Da
2447 er jetzt trotz des Verbandes an seinem Fuß den Oberkörper leicht
2448 aufrichten konnte, erblickte er auf einem Wandbrett über seinem
2449 Lager einige Gegenstände, die ihm gehörten; man hatte sie offenbar
2450 in seinen Taschen gefunden. Er ergriff sein Taschenmesser, hielt es
2451 so hoch wie möglich über den Boden und ließ es fallen. Er konnte
2452 den Fall bequem mit den Augen verfolgen; es dauerte eine Sekunde,
2453 ehe das Messer den Boden erreichte. Grunthe schätzte die Höhe und
2454 sagte sich: Die Schwerkraft ist geringer geworden, und zwar beträgt
2455 sie nur etwa ein Drittel soviel wie gewöhnlich. Das ist die Schwere
2456 auf dem Mars. Und wieder mußte er an Ell denken, der so oft gesagt
2457 hatte: „Von der Schwere frei werden, heißt das Weltall
2458 beherrschen.“
2460 Auf das leichte Geräusch, welches das Auffallen des Messers
2461 erzeugte, hatte Se den Wandschirm beiseite geschoben und war mit La
2462 auf Grunthe zugetreten. Dieser hatte seine Aufmerksamkeit nicht
2463 mehr auf den Schirm gerichtet und schrak daher mit einer Bewegung
2464 der Überraschung zusammen, als er plötzlich die beiden schönen
2465 Martierinnen vor sich sah. Kaum hatte er erkannt, daß sich zwei
2466 lebendige weibliche Gestalten ihm näherten, so legte er sich mit
2467 eisiger Miene zurück und heftete die Augen starr an die Decke. Da
2468 er La und Se nicht anzusehen wagte, konnte er nicht bemerken, mit
2469 welch freundlichen und teilnahmsvollen Blicken sie ihn
2470 betrachteten. Nur an dem Ton der Stimmen, mit welchem sie in ihrer
2471 Sprache einige Worte an ihn richteten, erkannte er die gute
2472 Gesinnung. La zupfte ihm die Decke zurecht, Se aber beugte sich
2473 über ihn und sah mit ihrem leuchtenden Blick tief in seine Augen.
2474 Diese Damengesellschaft war ihm schrecklich; lieber hätte er sich
2475 von feindlichen Wilden umgeben gesehen. Ach, und nun fühlte er eine
2476 weiche Hand auf seinem Kopf, Se streichelte sein Haar – unwillig
2477 stieß er die Hand zurück.
2479 „Armer Mensch“, sagte Se, „er scheint noch ganz verwirrt. Wir
2480 müssen ihm vor allen Dingen zu trinken geben.“ Sie legte die Hand
2481 wieder auf seine Stirn und sagte: „Fürchte dich nicht, wir tun dir
2482 nichts, armer Mensch.“
2484 „Ko bat“, so lautete das letzte Wort Ses in ihrer Sprache, „Ko bat“
2485 – es wirkte überraschend auf Grunthe –, das war einer der seltsamen
2486 Ausdrücke Friedrich Ells. So pflegte Ell zu sagen, wenn er mit
2487 einer seiner wunderlichen Ansichten nicht durchdringen konnte, wenn
2488 er sein Mitleid mit dem Mangel an Verständnis bei den Menschen
2489 bezeichnen wollte. Oft hatte ihn Grunthe gefragt, wo diese
2490 Redensart herstammen wie er dazu käme. Dann hatte Ell immer nur
2491 still gelächelt und wiederholt: „Ko bate, das versteht ihr nicht,
2492 arme Menschen!“ Diese Erinnerungen waren mit dem Wort in Grunthe
2493 wieder aufgetaucht. Er verhielt sich jetzt ganz ruhig.
2495 Inzwischen hatte La ein Trinkgefäß herbeigeholt, mit dem
2496 wunderbaren Nektar der Martier gefüllt. Die Martier tranken stets
2497 durch einen mit Mundstück versehenen Schlauch, der in dem Gefäß
2498 befestigt war, und dieses Mundstück versuchte La jetzt Grunthe
2499 zwischen die Lippen zu schieben. Aber das war vergebliches Bemühen,
2500 Grunthe hielt sie fest geschlossen und wandte sein Gesicht zur
2501 Seite.
2503 „Die Bate sind aber unliebenswürdige Geschöpfe“, sagte La lachend.
2505 „Oh“, entgegnete Se, „Saltner war ganz anders, der redete gleich!“
2506 Grunthe hatte den Namen erfaßt, jetzt öffnete er zum ersten Mal die
2507 Lippen.
2509 „Saltner?“ fragte er, ohne jedoch Se anzublicken.
2511 „Ach“, sagte Se, „siehst du, er kann hören und sprechen. Nun paß
2512 auf, nun werde ich einmal mit ihm reden.“
2514 Sie schlug den Arm freundschaftlich um Las Schulter und stellte
2515 sich nahe an das Lager. Dann sagte sie mit großer Anstrengung ihres
2516 Sprachorgans die von Saltner gelernten deutschen Worte: „Saltner
2517 deutsch Freund trinken Wein, Grunthe trinken Wein, deutsch
2518 Freund.“
2520 Grunthe warf jetzt einen erstaunten Blick auf die deutsch redende
2521 Martierin, während La über die Worte, die ihr furchtbar komisch
2522 vorkamen, kaum ihr Lachen verbergen konnte. Auch Grunthe war im
2523 Begriff zu lächeln, als er aber die beiden verführerischen
2524 Gestalten so nahe vor sich erblickte, starrte er sofort wieder an
2525 die Decke, antwortete jedoch in höflichem Ton:
2527 „Wenn ich recht verstehe, so ist auch mein Freund Saltner gerettet.
2528 Sagen Sie, bitte, wo ich hier bin.“
2530 „Trinken Wein, Grunthe“, wiederholte Se dringend, und La hielt ihm
2531 das Mundstück vor das Gesicht.
2533 Grunthe nahm jetzt die dargebotene Erfrischung. Und bald fühlte er
2534 sich durch das Getränk aufs angenehmste erquickt und belebt. Er
2535 bedankte sich und richtete noch einige Fragen an Se, aber ihre
2536 Sprachkenntnisse waren nunmehr erschöpft. Grunthe sah ein, daß er
2537 die Gebärdensprache zu Hilfe nehmen müsse, und so mußte er sich
2538 wohl oder übel entschließen, die beiden Martierinnen anzusehen. Er
2539 deutete auf sie hin, dann auf das Bild, und sagte auf gut Glück:
2540 „Mars? Mars?“
2542 Das Wort hatte Se behalten. Sie wiederholte es bejahend: „Mars,
2543 Nu!“ Und auf La und sich hinweisend sagte sie, hochaufgerichtet:
2544 „La, Se, Nume!“
2546 Nume! Das war’s! Das war das Wort, das Ell ihm gesagt hatte: Grüßen
2547 Sie die Nume!
2549 Nume also nannten sich die Martier, und Ell hatte das gewußt – –
2550 das gab Grunthe soviel zu denken, daß er momentan seine Umgebung
2551 vergaß. Um in seinem Nachdenken nicht gestört zu werden, schloß er
2552 die Augen, und sein Gesicht nahm wieder den starren Ausdruck an.
2554 Se wollte ihn fragen, ob er essen wolle, aber das deutsche Wort,
2555 das sie sich von Saltner hatte sagen lassen, war ihr entfallen. Da
2556 Grunthe hartnäckig die Augen geschlossen hielt, begab sie sich in
2557 den Hintergrund des Zimmers, um eine Mahlzeit zu bereiten. Denn
2558 dies geschah in jedem Zimmer sehr einfach und schnell durch die
2559 elektrische Küche. La zog es indessen vor, sich einen Sessel
2560 herbeizuziehen und neben dem Lager Platz zu nehmen. Sie musterte
2561 aufmerksam die Gegenstände, welche man bei Grunthe gefunden hatte,
2562 und spielte mit einem kleinen Buch, das sich unter denselben
2563 befand. Es war eine Anweisung zum Verkehr in der Eskimosprache und
2564 zeigte als Titelvignette einen fein ausgeführten Holzschnitt, einen
2565 Eskimo in seinem Kajak auf wildbewegtem Meer dem Fischfang
2566 abliegend.
2568 „Oh, sieh!“ rief sie Se zu, „hier ist ein Kalalek in seinem Kajak.“
2569 Die beiden Eskimoworte schlugen verständlich an Grunthes Ohr und
2570 weckten ihn aus seinem verworrenen Hinbrüten. Sollten die Martier
2571 vielleicht das Grönländische erlernt haben? Er sagte sich, daß dies
2572 ja leicht möglich sei. Er selbst hatte sich zum Zweck der Reise das
2573 Notwendigste für den Verkehr angeeignet und fragte daher:
2575 „Ich spreche einige Worte der Eskimos. Verstehen Sie mich?“
2577 Se wußte nicht, was er meinte. La aber hatte schon seit einiger
2578 Zeit ihre Studien auf die Sprache der einzigen Menschen gerichtet,
2579 die den Martiern bisher begegnet waren. Sie verstand ihn und
2580 antwortete:
2582 „Ich verstehe ein wenig.“
2584 „Wo sind meine Freunde?“ fragte Grunthe.
2586 „Es ist nur einer da. Er ist in einem andern Zimmer.“
2588 „Kann ich zu ihm?“
2590 „Er schläft, aber man wird Sie dann zusammenbringen.“
2592 „Wie kommen Sie vom Nu auf die Erde?“
2594 La wußte die Antwort nicht auszudrücken. Sie fragte dagegen:
2596 „Was wollt ihr hier?“
2598 Grunthe wußte nun seinerseits nicht, wie er den Begriff ›Nordpol‹
2599 im Grönländischen wiedergeben sollte. Er wollte sich in dem
2600 Büchlein Rats erholen und sagte:
2602 „Geben Sie mir das Buch.“
2604 „Was?“ fragte La.
2606 Grunthe richtete sich auf, um das Buch, das sie in der Hand hielt,
2607 zu erfassen. Aber er hatte im Augenblick nicht an die veränderten
2608 Schwereverhältnisse gedacht, und so kam es, daß sein ganzer
2609 Oberkörper bis zu Las Platz hinüberschnellte. Er wäre aus dem Bett
2610 gestürzt, wenn nicht La ihn rasch am Arm gefaßt und gehalten hätte.
2611 Diese Berührung war nun für Grunthe höchst peinlich, er wollte sich
2612 ihr entziehen, aber da er noch gar nicht verstand, seine Glieder
2613 unter den veränderten Umständen zu gebrauchen, und außerdem durch
2614 seinen Fuß behindert war, geschah es, daß er nach der andern Seite
2615 zu fallen drohte und ihn La ganz mit ihren Armen umfassen mußte.
2616 Sie legte ihn sanft auf das Lager zurück, während er ihr
2617 teerosenfarbiges Haar dicht vor seinen Augen flimmern sah. Ein
2618 Schwindel drohte ihn zu erfassen.
2620 Se kam mit dem Speisegerät herangeschwebt.
2622 „Was macht ihr denn?“ rief sie lachend. „Ich höre, daß ihr euch so
2623 eifrig unterhaltet, ohne daß ich verstehen kann, was ihr redet, und
2624 auf einmal –“
2626 „Ja“, lachte La ebenfalls, „es war zu komisch, was der arme Bat für
2627 Sprünge machte!“
2629 „Ach“, sagte Se, „das scheint mir eine gefährliche Geschichte! Erst
2630 wagt er dich nicht anzusehen, und wie ich den Rücken wende, macht
2631 er dir auf grönländisch eine Liebeserklärung.“
2633 „Daran bist du schuld, du hast die Schwere abgestellt. Wenn ihm der
2634 Schreck nur nicht schlecht bekommt – was wird Hil sagen!“
2636 Grunthe lag wieder regungslos. Sein allerdings ganz unverschuldetes
2637 Ungeschick ärgerte ihn schwer, die Berührung mit der schönen La war
2638 ihm entsetzlich, zudem bewirkte die Abnahme der Schwere jetzt ein
2639 körperliches Übelbefinden.
2641 Aber La bat ihn so freundlich in der Eskimosprache, doch zu essen,
2642 und Se bot ihm die einen verlockenden Duft entwickelnden Speisen
2643 mit einem so gebietenden Blick, daß er seinen Hunger zu stillen
2644 wagte.
2646 Mit größter Vorsicht richtete er sich auf und genoß einiges von den
2647 Speisen, von denen er keine Ahnung hatte, was sie vorstellten.
2648 Sobald er sich dankend zurücklehnte, schob Se das Speisetischchen
2649 zur Seite, und La sagte:
2651 „Leben Sie wohl, Grunthe, schlafen Sie.“
2653 Sie schwebte zum Zimmer hinaus, und Se zog den Wandschirm vor, so
2654 daß Grunthe wieder sich selbst überlassen blieb. Der Kopf schwirrte
2655 ihm von allem, was um ihn herum vorgegangen war, neue Fragen
2656 drängten sich auf, und er wollte sich eben noch einmal aufrichten;
2657 da ergriff ihn plötzlich ein Gefühl, als würde er mit Gewalt gegen
2658 sein Lager gedrückt. Se hatte die Erdschwere wieder hergestellt.
2659 Jetzt schoben sich dichte Vorhänge vor die Fenster, und Grunthe lag
2660 im Dunkeln. Eine leise Musik wie aus weiter Ferne ließ sich hören
2661 und mischte sich melodisch mit dem Rauschen des Meeres.
2663 Grunthe versuchte vergebens, seine Gedanken zu konzentrieren. Sie
2664 bewegten sich um die Frage, wie es lebenden Wesen möglich sein
2665 könne, den luftleeren Weltraum zu durchfliegen. Wie hatten Martier
2666 auf die Erde kommen können? Aber nur in unbestimmten Vermutungen
2667 irrten seine Vorstellungen umher, und ehe er zu irgendeiner
2668 Klarheit in dieser Frage gelangte, lösten sich seine Gedanken in
2669 undeutliche Traumbilder auf. Grunthe entschlummerte.
2671 \section{8 - Die Herren des Weltraums}
2673 „Dreifach panzerten Mut und Kraft
2675 Dem das eiserne Herz, der sich zuerst gewagt
2677 Im gebrechlichen Boot hinaus
2679 Auf das tückische Meer. dots{}
2681 So pries einst Horaz die Kühnheit des Seefahrers, der dem fremden
2682 Element sein unsicheres Fahrzeug anvertraute. dots{} Aber unbedenklich
2683 besteigt der Tourist den luxuriösen Bau des Riesendampfers, um in
2684 wenigen Tagen die wohlbekannte Ozeanstraße zu durchmessen.
2686 Ähnlich rühmte ein Dichter des Mars den Mut und den Scharfsinn
2687 jenes Martiers Ar, der es einst gewagt, auf den Wegen des Lichts
2688 und der kosmischen Schwere in die Leere des Raumes seinen
2689 unvollkommenen Apparat zu werfen, um zum ersten Male den Flug zu
2690 versuchen durch den Weltäther nach dem leuchtenden Nachbarstern,
2691 der strahlenden ›Ba‹, dem Schmuck der Marsnächte, der
2692 jahrtausendlangen Sehnsucht aller ›Nume‹. Jetzt aber kannte man auf
2693 dem Mars genau die Mittel, welche die Marsbewohner, die sich selbst
2694 ›Nume‹ nannten, anwenden mußten, die einzelnen Umstände, auf die
2695 sie zu achten hatten, um je nach der Stellung der Planeten die
2696 strahlende Ba, das ist die Erde, zu erreichen. Wohl war eine Reise
2697 zwischen Mars und Erde noch immer ein zeitraubendes und
2698 kostspieliges Unternehmen, aber es hatte seinen ebenso sicheren und
2699 bequemen Gang wie etwa heutzutage für einen Menschen eine Reise um
2700 die Erde.
2702 Die Erforschung der Erde, die Entdeckung des intraplanetaren Weges
2703 nach derselben und die endliche Besitzergreifung vom Nordpol bildet
2704 ein umfangreiches und wichtiges Kapitel in der Kulturgeschichte der
2705 Martier.
2707 Die Durchsichtigkeit der Atmosphäre auf dem Mars hatte seine
2708 Bewohner frühzeitig zu vorzüglichen Astronomen gemacht. Mathematik
2709 und Naturwissenschaft waren zu einer Höhe der Entwicklung gelangt,
2710 die uns Menschen als ein fernes Ideal vorschwebt. Je mehr der
2711 alternde Mars durch seinen verhältnismäßig geringen Wasservorrat
2712 die Existenzbedingungen der Martier erschwerte, um so großartiger
2713 waren die Anstrengungen gewesen, durch welche die Martier die
2714 Technik der Naturbeherrschung ausbildeten. Immer neue Kräfte und
2715 Hilfsmittel wußten sie ihrem Planeten zu entlocken, der sich
2716 freilich durch die Eigentümlichkeit seines Baues in noch viel
2717 höherem Maß zur Erziehung eines Kulturvolkes eignete als die Erde.
2719 Der Tag auf dem Mars hat fast dieselbe Dauer wie auf der Erde, er
2720 ist nur vierzig Minuten länger. Das Jahr des Mars dagegen umfaßt
2721 670 Mars-, das sind 687 Erdentage, ist also fast doppelt so lang
2722 als ein Erdenjahr. Die gesamte Oberfläche des Mars beträgt etwa nur
2723 ein Viertel von derjenigen der Erde. Die südliche Halbkugel des
2724 Mars ist die wasserreichere und daher am stärksten bevölkert; sie
2725 enthält auch die beiden einzigen Meere, welche der Mars besitzt,
2726 wenn man darunter diejenigen Becken versteht, welche das ganze Jahr
2727 hindurch mit Wasser erfüllt sind. Die nördliche Halbkugel besteht
2728 zum größten Teil aus unfruchtbaren Wüsten. Aber die Bevölkerung des
2729 Mars, der die von der Natur genügend bewässerte Region ihres
2730 Planeten längst zu klein geworden, wußte der kargen Natur neue
2731 Gebiete des Anbaus abzugewinnen. Sie durchzog das gesamte
2732 Wüstengebiet mit einem vielverzweigten Netz geradliniger breiter
2733 Kanäle und verteilte auf diese Weise zur Zeit der Schneeschmelze,
2734 im Beginn des Sommers einer je hatten. Die einzelnen Völkerschaften
2735 bildeten einen großen Staatenbund. Wie auf der Erde der Weltverkehr
2736 sich durch der einzelnen politischen Verbände darunter litt, so
2737 hatte die vorgeschrittenere Zivilisation der Martier in ihrer
2738 internationalen Vereinigung ein Zentralorgan, das unbeschadet der
2739 Freiheit der Einzelgemeinden alle Angelegenheiten regulierte,
2740 welche für die Bewohner des ganzen Planeten ein gemeinsames den
2741 Halbkugel, das Wasser, welches sich in Gestalt von Schnee an den
2742 Polen angehäuft hatte, über den ganzen Planeten. Wie die Ägypter
2743 das Anwachsen des Nils benutzten, um der Wüste den fruchtbaren
2744 Boden des Niltals abzugewinnen, so tränkten die Marsbewohner durch
2745 ihre Kanäle beide Ufer derselben. Schnell schoß hier eine üppige
2746 Vegetation auf, und so wurde durch das Kanalnetz das ganze
2747 Wüstengebiet mit fruchtbaren, an hundert Kilometer breiten
2748 Vegetationsstreifen durchzogen, die eine ununterbrochene Kette
2749 blühender Ansiedlungen der Martier enthielten. Wenn hier die
2750 dunkelgrünen Blätter der Pflanzen mit einem Schlag hervorsproßten,
2751 dann hoben sich diese Streifen dunkel von dem rötlichen Wüstenboden
2752 ab, und die Astronomen der Erde wunderten sich, woher dieses
2753 regelmäßige Netz von Streifen auf dem Mars wohl stammen möchte. Die
2754 Riesenarbeit der Bewässerung des Planeten war eine Notwendigkeit
2755 für die Martier geworden, nachdem die in der Kultur
2756 vorgeschritteneren Bewohner der Südhalbkugel allmählich den ganzen
2757 Planeten ihrer Herrschaft unterworfen internationale Verträge
2758 regelte, ohne daß die Selbständigkeit Interesse besaßen.
2760 Nachdem die Oberfläche des Planeten vollständig erforscht und
2761 besiedelt war, richtete sich die Aufmerksamkeit der Martier
2762 naturgemäß stärker wie je über die Grenzen ihres Wohnplatzes hinaus
2763 auf ihre Nachbarn im Sonnensystem. Und was konnte sie hier
2764 mächtiger fesseln als die strahlende Ba, die sagenumwobene Erde,
2765 die bald als Morgen-, bald als Abendstern alle andern Sterne ihres
2766 dunklen Himmels überstrahlt?
2768 Die Ruhe und Durchsichtigkeit der Atmosphäre gestattete ihnen, bei
2769 ihren Fernrohren Vergrößerungen zu benutzen, wie sie auf der Erde
2770 unmöglich waren. Denn auf der Erde vereitelt die stets
2771 ungleichmäßig bewegte Luft, daß wir Instrumente von so starken
2772 Vergrößerungen praktisch anzuwenden vermöchten, als wir sie wohl
2773 theoretisch und technisch konstruieren könnten. Der Druck der
2774 Atmosphäre auf dem Mars ist aber so gering, wie wir ihn nur auf den
2775 allerhöchsten Berggipfeln der Erde besitzen, und die über der
2776 Marsoberfläche lastende Luftschicht ist dementsprechend dünner und
2777 durchsichtiger. Die Astronomen des Mars konnten daher, bei
2778 günstiger Stellung der Planeten gegeneinander, die Erde ihrem Auge
2779 so nahe bringen, als wäre sie nur gegen zehntausend Kilometer weit
2780 entfernt, und vermochten somit noch Gegenstände von zwei bis drei
2781 Kilometer Ausdehnung zu erkennen. Unter diesen Umständen hatten sie
2782 natürlich bemerkt, daß sich auf der Erde Einrichtungen finden, die
2783 nur als das Werk intelligenter Wesen zu erklären seien. Auch
2784 durchschauten sie viel zu klar den Bau und die Natur der Erde sowie
2785 die Analogien im gesamten Sonnensystem, als daß sie nicht die
2786 Überzeugung von der Bewohnbarkeit der Erde und einer gewissen
2787 Kultur der Erdbewohner gehabt hätten. Die Karte der Erde selbst war
2788 ihnen in umfassenderer Weise bekannt als uns Menschen; denn von
2789 ihrem Standpunkt aus konnten sie nach und nach alle jene Gebiete
2790 der Erdkugel, insbesondere die Polargegenden, durchmustern, die
2791 bisher unseren irdischen Forschungen verschlossen geblieben sind.
2793 Es hatte nicht an Versuchen der Martier gefehlt, sich mit den von
2794 ihnen vermuteten Erdbewohnern in Verbindung zu setzen. Aber die
2795 gegebenen Zeichen waren wohl nicht bemerkt oder nicht verstanden
2796 worden. Jedenfalls mochten die Erdbewohner nicht in der Lage sein,
2797 darauf zu antworten. Die Erde war ein sehr viel jüngerer Planet und
2798 in ihrer ganzen Entwicklung auf einer Stufe, wie sie der Mars schon
2799 vor Millionen Jahren durchlaufen hatte. Da sagten sich die
2800 Marsbewohner selbstverständlich, daß die Bate, wie sie die
2801 hypothetischen Bewohner der Erde nannten, jedenfalls auf einem viel
2802 niedrigeren Standpunkt der Kultur ständen als sie, die Nume; ja wer
2803 weiß, ob sie sich überhaupt schon bis zur Höhe der ›Numenheit‹, zur
2804 Vernunftidee der Martier, erhoben haben!
2806 Um jene Zeit, als man auf der Erde von einem Jahrhundert der
2807 Naturwissenschaft zu sprechen anfing, blickten die Martier längst
2808 nicht nur auf das Zeitalter des Dampfes, sondern auch auf das
2809 Zeitalter der Elektrizität wie auf ein altes Kulturerbe zurück.
2810 Damals vollendete sich bei ihnen eine wissenschaftliche Entdeckung,
2811 die eine Umgestaltung aller Verhältnisse nach sich zu ziehen
2812 geeignet war. Die Enthüllung des Geheimnisses der Gravitation war
2813 es, die einen ungeahnten Umschwung der Technik herbeiführte und die
2814 Martier zu Herren des Sonnensystems machte.
2816 Die Gravitation ist jene Kraft, welche die Bewegungen der Gestirne
2817 im Weltraum beherrscht. Sie verbindet die Sonne mit den Planeten,
2818 die Planeten mit ihren Monden, sie hält die Gegenstände an der
2819 Oberfläche der Weltkörper fest und bewirkt, daß diese als dauernde
2820 einheitliche Gruppen im Universum bestehen; sie läßt den geworfenen
2821 Stein wieder zur Erde fallen und die Gewässer nach dem Meer hin
2822 sich sammeln. Sie ist eine allgemeine Eigenschaft der Körper,
2823 welche von ihrer gegenseitigen Lage im Raum abhängt; die Arbeit,
2824 welche ein Körper infolge der Gravitation zu leisten vermag, nennt
2825 man daher Raumenergie.
2827 Wenn es gelänge, einem Körper diese eigentümliche Form der Energie
2828 zu entziehen, die er infolge seiner Lage zu den übrigen Körpern,
2829 insbesondere zu den Planeten und der Sonne besitzt, wenn es
2830 gelänge, seine Gravitation in eine andere Energieform überzuführen,
2831 so würde man diesen Körper dadurch unabhängig von der Schwerkraft
2832 machen; die Schwerkraft würde durch ihn hindurch oder um ihn
2833 herumgehen, ohne ihn zu beeinflussen; er würde ›diabarisch‹ werden.
2834 Er würde ebensowenig von der Sonne angezogen werden wie ein Stück
2835 Holz vom Magneten. Dann aber müßte es ja auch gelingen, den Körper
2836 dem Einfluß der Planeten und der Sonne soweit zu entziehen, daß man
2837 ihn im Weltraum frei bewegen könnte; dann also müßte es gelingen,
2838 den Weg von einem Planeten zum andern, von dem Mars zur Erde zu
2839 finden.
2841 Dies war den Martiern gelungen. Sie vermochten Körper von gewisser
2842 Zusammensetzung herzustellen, so daß jede auf sie treffende
2843 Schwerewirkung spurlos an ihnen und an den von ihnen umschlossenen
2844 Körpern vorüberging – das heißt spurlos als Schwere. Die
2845 Gravitationsenergie wurde in andere Energieformen umgewandelt.
2846 Solche Körper können wir ›diabarisch‹ nennen.
2848 Zwei Umstände hatten es den Martiern erleichtert, dem Geheimnis der
2849 Gravitation auf die Spur zu kommen. Der eine lag darin, daß die
2850 Schwerkraft auf ihrem Planeten nur ein Drittel von demjenigen Werte
2851 beträgt, den sie auf der Erde besitzt. Eine Last, die auf der Erde
2852 tausend Kilogramm wiegt, hat, auf den Mars gebracht, nur ein
2853 Gewicht von 376 Kilogramm; ein freifallender Körper, der bei uns in
2854 der ersten Sekunde 5 Meter herabfällt, fällt auf dem Mars in dieser
2855 Zeit nur um 1,8 Meter und kommt mit der sanften Geschwindigkeit von
2856 3,6, statt bei uns mit fast 10 Meter, an. Infolgedessen war es den
2857 Martiern erleichtert, alle Eigentümlichkeiten der Schwere bequemer
2858 und genauer zu studieren.
2860 Der zweite Umstand war ein geographischer, oder, wie wir beim Mars
2861 sagen müßten, ein areographischer, nämlich die Zugänglichkeit der
2862 Pole des Mars. Während auf der Erde die Pole mit ihrer ewigen
2863 Eisdecke des Besuches sich erwehren, sind die Marspole nicht
2864 vergletschert. Zwar bedecken sie sich im Winter mit einer dichten
2865 Schneehülle, die aber doch viel geringer ist als auf der Erde, weil
2866 die Atmosphäre des Mars viel weniger Feuchtigkeit enthält. Außerdem
2867 dauert der Sommer fast ein volles Erdenjahr, währenddessen der Pol
2868 in fortwährendem Sonnenschein liegt, so daß der Schnee zum größten
2869 Teil fortschmilzt. Die Pole des Mars sind daher den Marsbewohnern
2870 nicht nur bekannt, sondern sie haben gerade auf ihnen ihre
2871 bedeutendsten wissenschaftlichen Stationen angelegt. Denn die Pole
2872 eines Planeten sind ausgezeichnete Punkte, sie unterliegen nicht
2873 der Umdrehung um die Achse im Verlauf eines Tages, und sie bieten
2874 dadurch Gelegenheit zu Beobachtungen, die sich an keiner anderen
2875 Stelle so einfach anstellen lassen.
2877 Gerade nun für die Untersuchung der Schwerkraft zeigte sich dies
2878 von größter Wichtigkeit. Ihre Wirkungen im Kosmos zu studieren, das
2879 heißt ihre Wechselwirkung mit andern kosmischen Kräften, mußte man
2880 sich von der Rotation des Planeten um seine Achse und allen dadurch
2881 entstehenden Komplikationen unabhängig machen. Dies konnte nur am
2882 Pol geschehen. Vom Pol gingen denn auch die Untersuchungen der
2883 Martier aus.
2885 Die Martier hatten entdeckt, daß die Gravitation, ebenso wie das
2886 Licht, die Wärme, die Elektrizität, sich in Form einer
2887 Wellenbewegung durch den Weltraum und die Körper fortpflanzt.
2888 Während aber die Geschwindigkeit der strahlenden Energie, die wir
2889 als Licht, Wärme und Elektrizität beobachten, 300.000 Kilometer in
2890 der Sekunde beträgt, ist diejenige der Gravitation eine
2891 millionenmal größere. Nach den Berechnungen der Martier durchläuft
2892 die Gravitation den Raum mit einer Geschwindigkeit von 300.000
2893 Millionen Kilometern pro Sekunde, sie verhält sich also zu
2894 derjenigen des Lichts etwa so wie die des Lichts zur
2895 Geschwindigkeit des Schalls. Den Weg von der Sonne bis zur Erde
2896 legt somit die Wirkung der Schwere in einem halben Tausendteil
2897 einer Sekunde zurück; kein Wunder, daß es den Astronomen der Erde
2898 nicht gelungen war, die von ihnen allerdings vermutete endliche
2899 Geschwindigkeit der Gravitation zu konstatieren.
2901 Einen Körper, der die Lichtwellen nicht durch sich hindurchgehen
2902 läßt, nennen wir undurchsichtig; ließe er sie vollständig
2903 hindurchgehen, so würde er absolut durchsichtig sein, wir würden
2904 ihn so wenig sehen wie die Luft. Ein Körper, der die Wärmewellen
2905 durch sich hindurchgehen läßt, bleibt kalt; er muß sie in sich
2906 aufnehmen, sie absorbieren, um sich zu erwärmen. So ist es nun, wie
2907 die Martier entdeckten, auch mit der Gravitation. Die Körper sind
2908 darum schwer, weil sie die Gravitationswellen absorbieren. Körper
2909 ziehen sich nur dann gegenseitig an, wenn sie die von ihnen
2910 wechselseitig ausgehenden Gravitationswellen nicht durch sich
2911 hindurchtreten lassen. Sobald aber ein Körper so beschaffen ist,
2912 daß er die Gravitationswellen eines Planeten oder der Sonne nicht
2913 aufnimmt, sondern frei durchläßt, so wird er nicht angezogen, er
2914 hat keine Schwere, er ist diabar, schweredurchlässig, und dadurch
2915 schwerelos.
2917 Die Martier hatte gefunden, daß das Stellit, ein auf ihrem Planeten
2918 vorkommender Körper, sich so verändern läßt, daß die Schwerewellen
2919 hindurchtreten können. Und mit diesem Augenblick wurde dieser
2920 Körper vom Mars wie von der Sonne nicht mehr angezogen. Allerdings
2921 ließ es sich nicht erreichen, absolut schwerelose Körper
2922 herzustellen, wie es ja auch keine absolut durchsichtigen Körper
2923 gibt; wohl aber ließ sich die Schwere so vermindern, daß sie nur
2924 kaum merklich auf den diabaren Körper wirkt. Indem man die
2925 Schwerelosigkeit verstärkte oder verminderte, konnte man nun, wenn
2926 einmal der Körper eine bestimmte Geschwindigkeit besaß, durch
2927 passende Benutzung der Anziehung der Planeten und der Sonne die
2928 Bahn des Körpers im Weltraum regulieren – vorausgesetzt, daß man
2929 sich in einem solchen diabaren Körper befand, in einer Kugel aus
2930 Stellit.
2932 Dieses Wagestück, einen Apparat herzustellen, in welchem ein Mensch
2933 sich in den Weltraum schleudern lassen konnte, um dann durch
2934 Regelung der Anziehung, welche die Weltkörper auf ihn ausübten,
2935 seinen Weg zu lenken, das hatte zuerst der Martier Ar unternommen.
2936 Aber man hatte ihn nie wiedergesehen. War er in die Fixsternwelt
2937 jenseits des Sonnensystems hinausgeflogen? War er in die Sonne
2938 gestürzt? Umkreiste sein Raumschiff die Sonne oder irgendeinen
2939 Planeten als ein neuer Trabant? Niemand wußte es.
2941 Aber andere kühne Forscher ließen sich nicht zurückschrecken. Sie
2942 hatten jetzt die theoretische Möglichkeit des interplanetaren
2943 Verkehrs eingesehen, es war jetzt keine Tollkühnheit mehr, sich dem
2944 Raum anzuvertrauen, sondern eine dringende Aufgabe der Kultur und
2945 somit eine sittliche Forderung, eine Pflicht der ›Numenheit‹. Die
2946 größte Schwierigkeit lag nur darin, die Geschwindigkeit unschädlich
2947 zu machen, welche der Planet in seiner eigenen Bahn besaß und die
2948 sich natürlich auf das schwerelose Raumschiff übertrug, sobald es
2949 den Mars verließ. Man reiste von einem der Pole ab, um von der
2950 Rotation des Planeten unabhängig zu sein, aber die Geschwindigkeit
2951 des Mars in seiner Bahn beträgt 24 Kilometer in der Sekunde, und
2952 mit dieser flog man hinaus in den Raum, fort von der Sonne in der
2953 Richtung der Tangente der Marsbahn. Es kam dann darauf an, sich der
2954 Sonnenanziehung in dem richtigen Augenblick zu überlassen, um durch
2955 die Flugbahn des Raumschiffs in den Anziehungsbereich der Erde zu
2956 gelangen. Man war somit ganz auf die vorhandenen Gravitationskräfte
2957 angewiesen, wie ein Schiff auf dem Meer auf die Richtung der
2958 Wasser- und Luftströmungen; und auf einen weiteren Erfolg konnte
2959 man erst hoffen, wenn es auch noch gelang, Mittel zu finden, die
2960 Richtung der erhaltenen Geschwindigkeit willkürlich abzulenken.
2962 Aber auch dieses Problem war allmählich gelöst worden. Die
2963 Geschichte der menschlichen Entdeckungen auf der Erdoberfläche war
2964 nicht weniger reich an Opfern als diejenige der Versuche der
2965 Martier, den Weltenraum zu durchsegeln. Endlich aber war einmal
2966 nach jahrelangem Ausbleiben ein Raumschiff zurückgekehrt, das die
2967 Erde dreimal in großer Nähe umflogen hatte. Ein anderes war auf dem
2968 Mond der Erde gelandet. Zuletzt war es dem rastlosen Erdforscher
2969 Col auf seiner dritten Raumreise gelungen, den Nordpol der Erde zu
2970 erreichen. Der Südpol wurde zuerst vom Kapitän All betreten. Von
2971 jetzt ab verkürzte sich immer mehr die Reisezeit nach der Erde
2972 durch die vervollkommnete Technik der Raumfahrt, anstelle der
2973 vereinzelten Entdeckungsreisen trat eine planmäßige Besetzung des
2974 Nordpols. Und nachdem durch Konstruktion der Außenstation und die
2975 Errichtung des abarischen Feldes die Landung auf der Erde ebenso
2976 gesichert war wie die eines Dampfschiffes im Schutz eines
2977 trefflichen Hafens, waren die Martier an dem ersehnten Ziel
2978 angelangt, die Erde nach Belieben besuchen zu können.
2980 Nur freilich, die beiden Pole waren bis jetzt die einzigen Punkte,
2981 welche sie zu erreichen vermochten. Am Südpol hatten sie eine
2982 ähnliche, wenn auch kleinere und weniger benutzte Station angelegt
2983 wie am Nordpol. Denn nur während des Sommers der Nordhalbkugel
2984 konnten sie die Nordstation unterhalten. Im Winter verlegten sie
2985 das abarische Feld auf
2987 den Südpol, der zu dieser Zeit Sommer hatte. Dagegen war es ihnen
2988 noch nicht gelungen, zu den bewohnten Teilen der Erde vorzudringen.
2989 Noch niemals hatten sie einen zivilisierten Menschen kennengelernt.
2990 Einige Eskimos waren die einzigen Vertreter, nach denen sie die
2991 Eigentümlichkeiten der Erdbewohner zu beurteilen vermochten. Aber
2992 bei ihren Umkreisungen der Erde in der Entfernung von einigen
2993 tausend Kilometern zeigten ihnen ihre vorzüglichen Instrumente
2994 natürlich die Einrichtungen der Kultur in solcher Deutlichkeit, daß
2995 sie sehr wohl wußten, die Hervorbringer dieser Werke seien keine
2996 Eskimos. Doch an andern Stellen als an den Polen zu landen, war
2997 ihnen bisher nicht gelungen. Durch die Rotation der Erde wurden die
2998 Verhältnisse dort so kompliziert, daß die technischen
2999 Schwierigkeiten nicht überwunden werden konnten. Diese ergaben sich
3000 aus der besonderen Natur der Gravitation und dem dadurch bedingten
3001 Bau der Raumschiffe, welche dem Druck der Luft und ihren Stürmen
3002 nicht widerstehen konnten. Auch am Pol war ja die Landung erst mit
3003 Sicherheit durchzuführen, seitdem es nach vielen Opfern und
3004 Verlusten gelungen war, die Außenstation zu errichten und so die
3005 Raumschiffe außerhalb der Atmosphäre zu halten. Wie die Brandung
3006 einer Insel gegen die Überrumpelung durch landende Feinde schützt,
3007 so deckte die Umdrehung um ihre Achse und die Dichtheit ihrer
3008 Atmosphäre die Erde gegen einen plötzlichen Einfall der
3009 Marsbewohner von der Luftseite her. Nur am Pol konnten sie sich
3010 festsetzen. Und wenn sie nun auf der Erde vordringen wollten, so
3011 mußte dies über die Gletscher und Eisschollen der Polargegenden
3012 geschehen.
3014 Mit diesem Plan trugen sich nun freilich die Marsbewohner. Aber die
3015 Überwindung dieser Eiszonen bot ihnen ebensoviel Schwierigkeiten,
3016 als wenn Europäer in das vernichtende Sumpfklima eines tropischen
3017 Urwaldes oder über die wasserlose Wüste vordringen wollten. Unsere
3018 Schiffe tragen uns wohl ans Ufer unbekannter Länder, aber in das
3019 Innere vermögen wir erst später und unter den größten
3020 Schwierigkeiten einen Einblick zu gewinnen. Die Martier hatten auf
3021 der Erde vor allem mit zwei gewaltigen Hindernissen zu kämpfen:
3022 Luft und Schwere. Die Dichtigkeit der Luft, ihre Feuchtigkeit und
3023 die Größe des Luftdrucks waren für die Konstitution ihres Körpers
3024 verderblich; sie konnten das Klima der Erde nur kurze Zeit
3025 ertragen. Und die Stärke der Schwerkraft, dreimal so groß wie auf
3026 dem Mars, hinderte ihre Bewegungen und drückte jeder ihrer
3027 mechanischen Arbeiten eine dreifache Last auf. Sie hätten dieselbe
3028 überhaupt nicht tragen können, wenn sie nicht für die Verhältnisse
3029 ihres Planeten eine sehr bedeutende Muskelkraft besessen hätten.
3030 Gerade jetzt, als die Nordpolexpedition Torms in ihrem abarischen
3031 Feld scheiterte, waren sie mit den ernstesten Vorbereitungen
3032 beschäftigt, einen Vorstoß nach Süden zu unternehmen. Denn auf dem
3033 Mars waren die Versuche gelungen, einen Stoff herzustellen, der
3034 sich wie das Stellit schwerelos machen ließ, aber dabei genügende
3035 Festigkeit besaß, der Wärme und Feuchtigkeit der Luft zu
3036 widerstehen. Von ihm erhofften die Martier, daß er ihnen die Wege
3037 durch die Erdenluft bahnen werde.
3039 \section{9 - Die Gäste der Marsbewohner}
3041 Als Saltner zum zweiten Mal auf der Insel erwachte, war er nicht
3042 wenig erstaunt, sich wieder in einer völlig veränderten Situation
3043 zu finden. Das Zimmer war verdunkelt, doch schimmerte die Decke
3044 desselben in einem matten Grau, so daß er einigermaßen seine
3045 Umgebung erkennen konnte. Er sah sofort, daß er in einen anderen
3046 Raum gebracht worden war. Fenster waren nicht vorhanden, und das
3047 Rauschen des Meeres vermochte er nicht zu hören. Dagegen sah er in
3048 der Nähe seines Bettes mehrere Körbe und Pakete aufgestapelt, in
3049 denen er einen Teil aus dem Inhalt der Gondel des untergegangenen
3050 Ballons zu erkennen glaubte. Wenn es nur etwas heller gewesen wäre!
3051 Aber wie konnte man Licht erhalten?
3053 Er erhob erst vorsichtig seinen Arm, um nicht etwa wieder einen
3054 unfreiwilligen Luftsprung zu machen, und als er merkte, daß er sich
3055 unter den gewöhnlichen Umständen der Erdschwere befand, setzte er
3056 sich mit einem lebhaften Schwung auf den Rand seines Lagers. Und
3057 siehe da, in dem Augenblick, in welchem seine Füße den Boden
3058 berührten, wurde es hell im Zimmer. An der Decke hatte sich eine
3059 weite Oberlichtöffnung gebildet, und die Sonne, nur durch einen
3060 leichten Schirm gedämpft, schien fröhlich herein. Er erkannte nun,
3061 daß er in der Tat das Eigentum der Expedition vor sich hatte, auch
3062 seine sorgfältig gereinigte und getrocknete Kleidung fand er dabei.
3063 Und am Boden lag sogar sein Eispickel, den er zu etwaigen
3064 Gletscherbesteigungen am Nordpol mitgenommen hatte. Schnell erhob
3065 er sich, und schon bei den ersten Schritten, die er auf dem weichen
3066 Teppich des Zimmers probierte, fühlte er, daß er sich wieder völlig
3067 wohl und bei Kräften befand. Er schob einen Vorhang zu seiner
3068 Linken beiseite und sah dahinter verschiedene Geräte, die ihm
3069 höchst fremdartig vorkamen, aber doch soviel erraten ließen, daß
3070 sie einen Bade-Apparat vorstellten und was sonst zur Toilette eines
3071 Martiers gehören mochte. Ehe er sich jedoch getraute, von diesen
3072 ihm unbekannten Gegenständen Gebrauch zu machen, untersuchte er
3073 erst die übrigen Teile des geräumigen Schlafgemachs. In der Mitte
3074 der dem Bett gegenüberliegenden Wand befand sich eine große Tür,
3075 die er indessen vorläufig nicht zu öffnen wagte. Er wandte sich
3076 Freude – Grunthe, der in ruhigem Schlummer lag. nun nach rechts und
3077 bemerkte, daß die Täfelung dieser Seitenwand ebenfalls eine Tür
3078 enthielt, die aber nicht ganz geschlossen war. Sie führte in ein
3079 verdunkeltes Gemach. Als Saltner an dem ihm unbekannten Mechanismus
3080 herumtastete, rollte sich die Tür auf und ließ dadurch mehr Licht
3081 in das Zimmer. Da erblickte er an der gegenüberliegenden Wand ein
3082 Bett genau wie das seinige und erkannte zu seiner
3083 unaussprechlichen
3085 „Guten Morgen, Doktor“, rief Saltner ohne weiteres. „Wie geht’s?“
3087 Grunthe schlug verwundert die Augen auf.
3089 „Saltner?“ sagte er.
3091 „Hier sind wir, munter und gesund, wer hätte das gedacht! Aber der
3092 arme Torm – niemand weiß etwas von ihm!“
3094 „Und wissen Sie denn“, fragte Grunthe, sogleich ermuntert, „wo wir
3095 uns befinden?“
3097 „Ich weiß es, aber Sie werden’s freilich nicht glauben wollen. Oder
3098 haben Sie etwa schon mit dem biedern Hil oder der schönen Se
3099 gesprochen?“
3101 „Wir sind in der Gewalt der Nume“, antwortete Grunthe finster.
3102 „Sind wir allein?“
3104 „Soviel ich weiß, aber der Teufel traue diesen Maschinerien – wer
3105 kann wissen, ob man nicht von irgendwo alles hört und sieht, was
3106 hier vorgeht, oder ob nicht irgendein geheimer Phonograph jedes
3107 Wort protokolliert. Na, deutsch verstehen sie vorläufig noch
3108 nicht.“
3110 „Welche Zeit haben wir? Wie lange war ich bewußtlos?“
3112 „Ja, wenn Sie das nicht wissen! Ich denke, hier gibt es überhaupt
3113 keine Zeit.“
3115 „Nun, das wird sich alles bestimmen lassen, wenn wir erst einmal
3116 den freien Himmel wiedersehen“, sagte Grunthe. „Aber wie kann man
3117 hier Licht machen?“
3119 „Treten Sie gefälligst mit Ihren Füßen auf den Boden vor Ihrem
3120 Bett, dann wird es Tag. Wir sind hier im Lande der automatischen
3121 Bedienung.“
3123 „Das kann ich nicht, bester Saltner, mein Fuß ist verwundet–“
3125 „I – das wäre – lassen Sie sehen –“
3127 „Es ist nichts, ich bin schon verbunden, aber ich muß vorläufig
3128 noch liegen bleiben.“
3130 Saltner war inzwischen an Grunthes Bett geeilt, und in dem Moment,
3131 in welchem er den Teppich vor demselben betrat, öffnete sich das
3132 Oberlicht.
3134 „Sehen Sie“, rief Saltner, „allmählich lernt man diese Marskniffe.
3135 Ich kann übrigens schon etwas martisch und werde Ihnen gleich ein
3136 Frühstück bestellen. Erlauben Sie nur, daß ich vorher ein wenig
3137 Toilette mache.“
3139 Er eilte nach dem Alkoven, der offenbar als Toilettenzimmer dienen
3140 sollte, und stellte sich überlegend vor die Apparate.
3142 „Das da scheint mir eine Badewanne“, sagte er, während Grunthe
3143 durch die Tür sein halblautes Selbstgespräch vernahm, „aber Wasser
3144 ist nicht darin. Und dies dürfte wohl einen Waschtisch vorstellen.
3145 Aber hier sind drei verschiedene Griffe, und jeder hat eine
3146 Aufschrift – nur daß ich sie nicht lesen kann. Ich kenn mich halt
3147 nicht aus. Na, ich werde mal ein bissel drehen. Vielleicht kommt
3148 ein Wasser heraus.“
3150 Er drehte vorsichtig an dem einen Wirbel, in der Meinung, das
3151 darunter befindliche flache Becken werde sich auf irgendeine Weise
3152 mit Wasser füllen. Aber ehe er sich’s versah, sprang das Becken,
3153 sich fächerförmig zu einem Tisch ausbreitend, hervor und versetzte
3154 ihm einen unhöflichen Schlag gegen den Magen. Mit Hallo sprang er
3155 zurück, fand sich aber sofort wieder stolpernd nach vorn
3156 geschnellt, denn gleichzeitig hatte sich in seinem Rücken ein
3157 Sessel aus dem Fußboden erhoben. Nachdem er sich von seinem ersten
3158 Schreck erholt, betrachtete er sich die Sache eingehend, probierte
3159 an dem Tisch und Sessel, und da er sie standfest fand, ließ er sich
3160 gemütlich auf dem Sessel nieder.
3162 „Was gibt’s denn?“ fragte Grunthe von seinem Bett aus.
3164 „Ein Wasser war’s nicht“, sagte Saltner, „aber es sitzt sich ganz
3165 gut hier. Nun wollen wir einmal den zweiten Wirbel probieren.“ Doch
3166 schnell sprang er wieder auf, er dachte, der zweite Handgriff könne
3167 vielleicht dazu dienen Tisch und Sessel wieder verschwinden zu
3168 lassen, und bei dieser Gelegenheit wollte er sich erst in
3169 Sicherheit bringen. Aber es kam anders. Er erhielt nur von einer
3170 aufspringenden Schublade einen Stoß an die Hand. Die Schublade
3171 enthielt eine Anzahl jener Mundstücke, deren sich die Martier, wie
3172 Saltner wußte, zum Trinken bedienten, und nun bemerkte er auch, daß
3173 oberhalb des Tisches drei Öffnungen freigeworden waren, in welche
3174 die Mundstücke hineinpaßten.
3176 „Halt“, sagte Saltner, „hier gibt’s was zu trinken. Aber damit
3177 wollen wir doch noch warten.“
3179 Er drehte an dem dritten Griff. Eine muldenförmige Schale wurde
3180 sichtbar, und in dieselbe fielen aus einer darüber befindlichen
3181 Öffnung fingerdicke, hellbraune Gegenstände, welche etwa die
3182 Gestalt von kleinen Würsten hatten.
3184 „Das ist also ein Frühstück und keine Toilette“, rief Saltner
3185 lachend und probierte die sehr einladend aussehenden und würzig
3186 duftenden Stangen. Sie schmeckten vorzüglich und erwiesen sich als
3187 ein knuspriges Gebäck, das mit einer kräftigen Fleischfarce gefüllt
3188 war. Wenigstens hielt Saltner sie dafür. Aber während er die erste
3189 Stange verzehrte, setzte der Apparat seine Tätigkeit fort, und
3190 Gebäck auf Gebäck fiel in die Schale, die bald bis zum Rand gefüllt
3191 war. Das ist zuviel des Segens, dachte Saltner und suchte umher,
3192 wie sich wohl der geheimnisvolle Speisequell abstellen ließe. Doch
3193 vergebens, der Wirbel selbst ließ sich nicht zurückdrehen – Saltner
3194 wußte nicht, daß man zu diesem Zweck erst durch Drehen der Schale
3195 den automatischen Spender des Gebäcks abstellen mußte. Einen
3196 weiteren Handgriff aber verstand er nicht zu finden, und so quoll
3197 ein unstillbarer Strom von Fleischrollen auf die Schale, fiel von
3198 dort auf Tisch und Fußboden und begann sich zu einem stattlichen
3199 Haufen aufzutürmen. Saltner lief in Verzweiflung hin und her, aber
3200 er fand kein Mittel – er wollte die Öffnung nicht mit Gewalt
3201 verstopfen. – Schließlich dachte er, der Vorrat muß ja doch einmal
3202 ein Ende nehmen, und wollte der Sache ihren Lauf lassen. Er wollte
3203 nun die auf der Schale liegenden Stücke fortnehmen, um Grunthe eine
3204 Portion zu bringen, dabei merkte er, daß die Schale sich drehen
3205 ließ, und auf einmal hörte die weitere Spedition des Gebäcks auf.
3207 Er sammelte die umherliegenden Massen der Delikatesse bis auf einen
3208 kleinen Rest und trug sie in Grunthes Zimmer, der bei diesem
3209 Anblick und Saltners tragikomischer Miene sich eines Lächelns nicht
3210 erwehren konnte. Dort verbarg er sie in einem der leeren Körbe der
3211 Expedition, denn auch in Grunthes Gemach hatte man einen Teil der
3212 aus der Gondel geretteten Gegenstände geschafft.
3214 „Warum lassen Sie das Zeug nicht einfach liegen?“ fragte Grunthe.
3216 „Das geht nicht, ich bin ja sonst unsterblich vor den Damen als
3217 dummer Bat blamiert. Übrigens sehne ich mich nach dem Frühstück;
3218 aber erst muß ich doch sehen, wo ich ein Waschwasser finde.“
3220 Er drehte der Reihe nach an verschiedenen Griffen, ohne daß er das
3221 Gewünschte antraf. Bald sprang ein Schrank auf, der ihm
3222 unverständliche Geräte enthielt, bald entzündeten sich Lampen an
3223 verschiedenen Stellen des Zimmers. Dann zeigte sich eine Schüssel,
3224 und schon hoffte er am Ziel zu sein, aber erschrocken fuhr er
3225 zurück, denn die Schüssel begann sich zu erhitzen. Endlich
3226 erweiterte sich in der Ecke des Zimmers der Fußboden zu einem
3227 flachen Bassin, und ein Springbrunnen sprühte einen Strahl hervor.
3228 Vorsichtig überzeugte sich Saltner, ob er es auch wirklich mit
3229 Wasser zu tun habe, und war sehr erfreut, als sich seine Vermutung
3230 bestätigte. Nun vervollständigte er mit Hilfe seiner
3231 wiedergefundenen Reiseeffekten seine Toilette und setzte sich mit
3232 Behagen an den Frühstückstisch.
3234 Es war ihm ungewohnt und seltsam, daß das Tischchen so leer war und
3235 weder Gläser noch Tassen oder Löffel und Messer enthielt. Das
3236 Gebäck wenigstens wollte er auf einen Teller legen und sah sich
3237 deshalb nochmals im Zimmer um. Er bemerkte jetzt, daß sich auch ein
3238 großer Spiegel im Zimmer befand, neben welchem ein Gestell mit
3239 mehreren glänzenden runden Scheiben stand, die er für silberne
3240 Teller hielt. Er holte sich einen solchen Teller und legte sein
3241 Frühstücksgebäck darauf. Dann ließ er sich das Getränk munden, das
3242 die Öffnungen über dem Tischchen bereitwillig spendeten, nachdem er
3243 die Mundstücke daran befestigt hatte. Es war eine warme und zwei
3244 kalte Flüssigkeiten, die er erhielt und als Schokolade, Wein und
3245 Selterswasser bezeichnete, da sie mit diesen Getränken am meisten
3246 Ähnlichkeit hatten, obwohl er sich sagte, daß sie sich doch in
3247 vieler Hinsicht von den auf der Erde üblichen Genüssen dieser Art
3248 unterschieden. Insbesondere die Schokolade war sehr fettreich.
3250 Neu gestärkt trat er in seinem kleidsamen Reiseanzug zu Grunthe ins
3251 Zimmer und sagte:
3253 „Ich bin nun bereit, unsere Polarforschung fortzusetzen.
3254 Hoffentlich können Sie auch bald mitkommen. Aber ehe wir uns
3255 beraten, was wir zu tun haben, will ich doch sehen, ob ich Ihnen
3256 nicht ein Getränk verschaffen kann. Sie müssen ja einen grausigen
3257 Durst haben.“
3259 „Danke schön“, erwiderte Grunthe lachend, „sehen Sie, was ich
3260 habe.“ Und er wies auf das Mundstück eines Schlauches hin, das
3261 neben seinem Kopf über dem Bett herabhing. „Und hier“, fuhr er
3262 fort, „kosten Sie einmal diese Pastete oder was es sonst ist. Ich
3263 habe zwar keine Ahnung, wie es eigentlich schmeckt, aber ich fühle
3264 mich dadurch wunderbar gestärkt. Wenn mich mein Fuß nicht hinderte,
3265 stünde ich sogleich auf.“
3267 „Sakra auch, das lasse ich mir gefallen! Wie haben Sie das
3268 entdeckt? Ich habe mich inzwischen abgeschunden, verschiedene Stöße
3269 bekommen und das Zimmer in ziemliche Unordnung gebracht. Wie fanden
3270 Sie das, es war doch vorhin nicht hier?“
3272 „Einfach durch Nachdenken. Ich sagte mir, die Martier sind viel
3273 klüger als wir und jedenfalls viel umsichtiger. Wenn wir nun einen
3274 Patienten haben, der nicht gehen kann, so werden wir ihm doch ein
3275 Frühstück ans Bett bringen, und wenn wir selbst aus irgendeinem
3276 Grund nicht kommen wollen, so werden wir es ihm hinstellen. Ich sah
3277 mich also um. Nun betrachten Sie einmal diese beiden kleinen Zettel
3278 an diesen Ringen.“
3280 „Das sind ja lateinische Buchstaben!“
3282 „Allerdings. Es sind zwei Wörter der Eskimosprache. ›Misalukpok‹
3283 und ›Imerpok‹. Das eine bezeichnet ›Essen‹ und das andere
3284 ›Trinken‹.“
3286 „Warum hat man mir aber nicht auch solche Aufschrift angeklebt? Bei
3287 mir sind alle Schilder in einer Zeichenschrift, die jedenfalls
3288 martisch ist.“
3290 „Sie verstehen ja nicht Grönländisch.“
3292 „Woher wissen aber die Nume, daß Sie es verstehen?“
3294 „Weil ich mich gestern mit einer – mit jemand darin unterhalten
3295 habe.“
3297 „Potztausend, Grunthe, Sie sind mir über! Aber eins begreif ich
3298 nicht, wie können die Leute, die Herren Martier, wissen, wie man
3299 diese Worte in unsern Buchstaben schreibt?“
3301 „Darüber bin ich mir auch noch nicht klar. Sie sehen, es ist
3302 Antiqua, der lateinischen Druckschrift genau nachgemalt. Und mein
3303 kleines Wörterbuch ist nicht mehr da, daraus haben sie die Zeichen
3304 entnommen. Aber wie sie die richtigen Worte in dem Buch aufgefunden
3305 haben, das ist mir ein völliges Rätsel. Denn sie kennen doch nur
3306 den Laut der Eskimoworte, aber nicht die gedruckten Zeichen.“
3308 „Es ist eine unheimliche Geschichte“, sagte Saltner. „Aber ein
3309 gutes Weiberl ist sie doch, die Se, ich bin halt ganz hin! Wenn ich
3310 nur wüßt, warum sich kein Mensch bei uns sehen läßt, kein Nume,
3311 wollt ich sagen, denn darauf scheinen sie sich was Großes
3312 einzubilden, daß sie keine Menschen sind.“
3314 „Das kann ich Ihnen auch sagen, Saltner. Würden Sie ihren Gästen
3315 nachts zwischen drei und vier Uhr einen Besuch machen?“
3317 „Ist das die Uhr? Aber vorhin wußten Sie’s ja nicht, und ich denke,
3318 am Pol gibt’s überhaupt keine Zeit.“
3320 „Eine konventionelle Zeit muß es doch geben. Die Leute müssen doch
3321 festsetzen, wann sie schlafen und wann sie zu Mittag essen sollen.
3322 Wir also haben zum Beispiel unsere mitteleuropäische Einheitszeit
3323 auf unseren Taschenuhren mitgebracht, und danach hätten wir jetzt
3324 neun Uhr 55 Minuten vormittags. Als der Ballon scheiterte, war es
3325 nach mitteleuropäischer Zeit gegen sechs Uhr abends. Nun weiß ich
3326 bloß nicht, ob seitdem ein oder zwei Nächte vergangen sind, denn
3327 das hängt von der Länge unserer Ohnmacht und unseres Schlafes ab.“
3329 „Das weiß ich allerdings auch nicht. Ich weiß auch nicht, wann
3330 unser erstes Erwachen stattgefunden hat; das Ihrige vermutlich bald
3331 nach dem meinigen.“
3333 „Nun, das läßt sich nachher aus der Deklination der Sonne
3334 feststellen, welches Datum wir haben. Ich habe meine Uhr auch jetzt
3335 erst wieder entdeckt – beide Uhren, und da sie übereinstimmen, sind
3336 sie auch nicht stehengeblieben –“
3338 „Nein, ich habe dieselbe Zeit –“
3340 „Ja, aber welche Zeit rechnen die Martier hier? Sehen Sie, das
3341 haben sie mir auch mitgeteilt, und daher weiß ich, daß es für sie
3342 jetzt Schlafenszeit ist und daß sie erst in vielleicht zwei Stunden
3343 aufstehen werden. Deswegen sagte ich, es sei zwischen drei und vier
3344 bei unsern Wirten; wie sie die Stunden zählen und benennen, weiß
3345 ich allerdings auch nicht.“
3347 „Aber Doktor, woher wissen Sie denn, was bei den Martiern für eine
3348 Tageseinteilung Mode ist und was die Glocke bei ihnen geschlagen
3349 hat?“
3351 „Glauben Sie wohl, Saltner, in einem Schlafzimmer, das mit allem
3352 Komfort der Martier ausgestattet ist, werde eine Uhr fehlen?“
3354 „Ich habe keine gesehen und Sie vorhin auch nicht.“
3356 „Seitdem aber habe ich sie entdeckt. Sehen Sie die Malerei, welche
3357 die kreisförmige Öffnung des Oberlichts einschließt? Sie ist in
3358 zwölf mal zwölf gleiche Abschnitte geteilt. Und jene schmalen
3359 hellen Streifen, die Sie dazwischen sehen, liegen nicht fest,
3360 sondern bewegen sich auf dem Ring. Das ist mir erst allmählich klar
3361 geworden, als ich während ihrer Toilette hier ruhig lag und in die
3362 Höhe starrte. Hier haben Sie die Uhr der Martier.“
3364 „Ich schau sie wohl an, aber klug werd ich nimmer draus.“
3366 „Entziffern kann ich sie auch nicht. Aber sehen Sie, es sind zwei
3367 Zettel angesteckt, die offenbar nicht zur Uhr gehören, sondern nur
3368 für heute, für uns, eine Nachricht geben. Der eine zeigt ein
3369 geschlossenes, der andere ein offenes Auge. Die Deutung ist klar:
3370 Schlafen und Wachen.“
3372 „Es ist richtig, und dieser helle Strich –“
3374 „Das ist der Stundenzeiger –“
3376 „Dachte ich mir. Er steht noch ungefähr um ein Zwölftel des ganzen
3377 Kreises von dem geöffneten Auge ab.“
3379 „Daher eben schließe ich, daß noch zwei Stunden zirka bis zum
3380 Beginn des Erwachens der Martier sind.“
3382 „Aber finden Sie es nicht seltsam, daß die Martier den Tag
3383 ebenfalls in zwölf Stunden teilen?“
3385 „Ebenfalls? Wir teilen ihn ja in vierundzwanzig –“
3387 „Nun, das sind zweimal zwölf.“
3389 „Daß die Zwölf wiederkehrt, wundere ich mich gar nicht – ich würde
3390 mich wundern, wenn es anders wäre. Es liegt das im Wesen der Zahl,
3391 das heißt im Wesen des Bewußtseins überhaupt. Die Gesetze der
3392 Mathematik sind die Gesetze der Welt. 12 ist 3 mal 4, die kleinste
3393 aller Zahlen, welche die drei ersten Zahlen 2, 3 und 4 zu Teilern
3394 besitzt. Alle intelligenten Wesen, welche Mathematik treiben,
3395 werden die 12, nächstdem die 60 zur Grundlage ihrer Einteilungen
3396 machen.“
3398 „Aber wir haben ja doch die Zehn –“
3400 „Die alte Astronomie wählte die Zwölf – zwölf Zeichen bilden den
3401 Tierkreis – die Zehn ist nur ein unwissenschaftlicher Rückfall in
3402 die sinnliche Anschauung der zehn Finger – Krämerpolitik –, doch
3403 lassen wir das.“
3405 „Meinetwegen“, sagte Saltner. „Aber was tun wir nun? Erst müssen
3406 Sie natürlich Ihren Fuß auskurieren.“
3408 „Ich fürchte“, erwiderte Grunthe, „wir werden auch dann nichts
3409 anderes tun können, als was die Martier über uns beschließen. Mit
3410 der Expedition wird es wohl so ziemlich aus sein. Suchen wir uns
3411 inzwischen möglichst mit den Verhältnissen vertraut zu machen.
3412 Rekognoszieren Sie ein wenig!“
3414 „Im Zimmer habe ich mich schon umgesehen, und ich möchte nicht noch
3415 mehr von den rätselhaften Instrumenten probieren – man kann sich zu
3416 leicht blamieren. Ich komme mir vor wie ein Wilder in einem
3417 physikalischen Institut, bloß daß unsereiner nicht die nötige
3418 Naivität besitzt.“
3420 „Was haben wir denn für Ausgänge?“
3422 „Nur einen aus jedem unserer Zimmer. Ich weiß die Tür nicht zu
3423 öffnen. ich glaube, es ist auch schicklicher, wir warten hier, bis
3424 man uns aufsucht, als daß ich aufs Ungewisse herumstöbere.“
3426 „Sie haben recht! Vielleicht haben Sie die Güte, unsere Sachen ein
3427 wenig zu ordnen, und wenn Sie mein Tagebuch finden, so bitte ich
3428 Sie darum. Zunächst müssen wir sehen, daß wir sowohl Torms Eigentum
3429 als die offiziellen Aktenstücke der Expedition in Sicherheit
3430 bringen.“
3432 „Ich habe schon einiges hier beiseite gelegt“, sagte Saltner, indem
3433 er unter den Gegenständen aufräumte, welche die Martier aus der
3434 Gondel gerettet hatten. Sie waren zum Teil durch den Sturz und das
3435 Meerwasser beschädigt.
3437 „Es wäre mir übrigens gar nicht unangenehm“, fuhr Saltner fort,
3438 „wenn noch einiges von unserm Proviant brauchbar wäre. Denn ich
3439 traue nicht recht, wie einem dieser Würstchenautomat hier
3440 bekommen wird. Sehen Sie einmal, was die Herrn Nume alles
3441 aufgehoben haben! Da haben sie uns ja das Futteral mit den beiden
3442 Flaschen Champagner hergelegt, das Sie in der Not als Ballast auf
3443 die Insel warfen. ich hab halt gedacht, das würde ihnen die Köpfe
3444 zerschlagen und dabei in tausend Trümmer gehen. Aber es scheint
3445 ganz unversehrt. Nun, ich will die beiden Monopol nur aus dem
3446 Kasten nehmen. Die können wir doch nimmer mit Freude ansehn. Arme
3447 Frau Isma!“ Er nahm die Flaschen heraus.
3449 „Halt“, sagte er, „da in dem Futter steckt noch ein Paketchen. –
3450 Was haben wir denn da?“
3452 Der Verschluß hatte sich gelöst. Ein Buch in der Größe eines
3453 Notizkalenders kam zum Vorschein.
3455 „Na“, sagte Saltner, „Frau Isma wird uns doch nicht noch ein Album
3456 mitgegeben haben. Sehen Sie doch einmal, Grunthe, was das ist.“
3458 „Was geht das mich an?“ sagte Grunthe unwirsch.
3460 Saltner schlug das Buch auf. Er stutzte sichtlich, blätterte darin
3461 und sah lange hinein.
3463 „Das ist –“, sagte er dann kopfschüttelnd, „das ist ja – Aber wie
3464 ist das möglich?“
3466 Das kleine Buch enthielt ein Wörterverzeichnis der Sprache der
3467 Martier; die Worte waren mit Hilfe der Lautzeichen des lateinischen
3468 Alphabets transkribiert, daneben befand sich eine deutsche
3469 Übersetzung und zugleich das Zeichen des Wortes in der
3470 stenographischen Schrift der Martier. Saltner hatte an den wenigen
3471 ihm bekannten Worten die Bedeutung des Inhalts erkannt.
3473 „Sagen Sie mir das eine“, fuhr er fort, „mir steht der Verstand
3474 still – wie kann ein deutsch-martisches Wörterbuch hierherkommen –
3475 wie kann es überhaupt existieren?“
3477 Grunthe streckte sprachlos die Hand aus und ergriff das Buch.
3479 Er warf nur einen Blick hinein. Dann sagte er leise: „Das ist die
3480 Handschrift von Ell.“
3482 Grübelnd schloß er die Augen. Das unlösbare Rätsel trat ihm wieder
3483 entgegen – wie kam Ell zur Kenntnis der Sprache der Marsbewohner?
3484 Und wenn er sie kannte, warum hatte er sich nicht offen
3485 ausgesprochen? Warum hatte er nicht ihm oder Torm die
3486 Sprachanleitung mitgegeben? Wie kam sie versteckt in das Futteral,
3487 unter die Flaschen?
3489 Er wußte keine Antwort.
3491 Saltner hatte inzwischen das Buch ergriffen und suchte sich daraus
3492 einige Worte zusammen.
3494 Da hörte er im Nebenzimmer leises Lachen und Stimmen der Martier.
3495 Der Arzt Hil war in Saltners Zimmer eingetreten. Se hatte ihn bis
3496 an die Tür begleitet und amüsierte sich köstlich über die
3497 Unordnung, welche Saltner angestiftet hatte, am meisten aber
3498 darüber, daß er bei seinem Frühstück als Teller die – Kämme benutzt
3499 hatte. Die flachen Scheiben, welche Saltner für Teller gehalten
3500 hatten, dienten den Martiern dazu, das Haar zu ordnen; sie wurden
3501 elektrisch geladen und streckten dann die Haare geradlinig vom Kopf
3502 ab. „Es ist zu lustig“, lachte Se. „Aber wir wollen ihm jetzt
3503 nichts sagen, dem armen ›deutsch Saltner‹.“ Darauf zog sie sich
3504 wieder zurück. Denn es war ihr zu ›schwer‹ in den Zimmern der
3505 Bate.
3507 Hil trat bei Grunthe und Saltner ein.
3509 \section{10 - La und Saltner}
3511 Hil war mit dem Zustand seiner Patienten sehr zufrieden. Mit großem
3512 Interesse betrachtete er ihre Effekten. Sichtliches Erstaunen aber
3513 malte sich auf seinen Zügen, als ihm Grunthe den kleinen
3514 deutsch-martischen Sprachführer überreichte. Er blätterte eifrig
3515 darin, und indem er auf einzelne Zeichen der martischen Schrift
3516 zeigte und sich das danebenstehende deutsche Wort nennen ließ,
3517 gelang es ihm bald, einige Fragen zu stellen, die Grunthe durch das
3518 umgekehrte Verfahren beantwortete. Da es ihm selbst an Zeit
3519 gebrach, den gegenseitigem Sprachunterricht sofort eingehend
3520 aufzunehmen, fragte er Grunthe mit Hilfe des Grönländischen, ob er
3521 nicht mit La, die sich gern mit Sprachstudien beschäftigte,
3522 martisch sprechen wolle, um recht bald zu einem gegenseitigen
3523 Verständnis zu kommen. Grunthe war dies sehr unangenehm. Er war
3524 recht froh, daß sich keine von seinen Pflegerinnen hier bei ihm
3525 sehen ließ, und er wandte sich daher an Saltner mit dem Vorschlag,
3526 ihn in dieser Hinsicht zu vertreten. Obgleich dieser die Sprache
3527 der Eskimos nicht als verbindendes Hilfsmittel benutzen konnte,
3528 glaubte er doch, mit Hilfe des Ellschen Sprachführers auszukommen
3529 und erklärte sich gern zu allen Diensten bereit.
3531 Hil nahm den Sprachführer mit sich und geleitete Saltner in den
3532 anstoßenden großen Salon der Martier. Hier stellte er ihn einer
3533 Anzahl der dort versammelten Martier vor, unter denen sich der
3534 Leiter der Station Ra mit seiner Frau sowie neben einigen andern
3535 Martierinnen auch Se und La befanden.
3537 Saltner wußte nicht, wo er seine Augen zuerst hinwenden sollte.
3538 Fast alles, was er sah, war ihm fremd, am meisten aber überraschten
3539 ihn die Gestalten der Martier selbst. Es war ihm nur lieb, daß er
3540 sich aus Mangel an Sprachkenntnissen in Schweigen hüllen und sich
3541 mit dem Sehen begnügen konnte. Hil nannte ihm die Namen der
3542 einzelnen, die ihn mit ihren martischen Handbewegungen begrüßten,
3543 was Saltner mit europäischen Verbeugungen erwiderte. Nur fielen
3544 dieselben leider etwas steif aus, da er infolge der verminderten
3545 Schwere sehr vorsichtig sein mußte. Er sah wohl an den Gesichtern
3546 derjenigen Martier, welche in ihm zum ersten Mal einen Europäer
3547 erblickten, wie sie sich Mühe gaben, ihre Belustigung über seine
3548 Ungeschicklichkeit zu verbergen. Es war ihm daher sehr angenehm,
3549 als sich die Mehrzahl der Anwesenden zurückzog.
3551 Gleich bei seinem Eintritt war ihm neben der reizenden Se die
3552 Gestalt Las aufgefallen, und als er bei der Nennung der Namen
3553 erkannte, daß dieses wunderbare Wesen seine Sprachlehrerin sein
3554 sollte, heftete er seine Blicke erwartungsvoll auf ihre Züge. Aber
3555 in ihren großen Augen war keine Spur von Spott zu bemerken, sie
3556 begrüßte ihn mit ruhiger Liebenswürdigkeit, und ein Lächeln, das
3557 sie mit Se tauschte, sagte dieser, daß ihr dieser Bat besser gefiel
3558 als der andere. Saltner war überzeugt, daß er riesenschnelle
3559 Fortschritte im Martischen machen würde, wenn ihm die Anerkennung
3560 aus solchen Augen als Lohn winke. Er wußte nur nicht recht, wie die
3561 Sache zu beginnen sei, da keines der beiden die Sprache des andern
3562 kannte. La holte einige Bücher aus der Bibliothek, darunter den ihm
3563 schon bekannten Atlas, der ihm zur ersten Verständigung mit Se
3564 gedient hatte. Sie streckte sich dann in ihrer Lieblingsstellung
3565 auf den Diwan und winkte Saltner, sich dicht an ihrer Seite
3566 niederzulassen. Sie begann zunächst einige Gegenstände zu
3567 bezeichnen, die sich unmittelbar der Anschauung darboten, und sich
3568 die Benennung martisch und deutsch wiederholen zu lassen; dann
3569 verfuhr sie ebenso mit verschiedenen Abbildungen in den Büchern.
3570 Aber so ging die Sache zu langsam. Sie griff zu dem Sprachführer,
3571 den Se in der Hand hielt. Se hatte bis jetzt in dem Büchlein
3572 geblättert und eine Anzahl von deutschen Worten auf einem Streifen
3573 durchsichtigen Papiers einfach dadurch nachgebildet, daß sie das
3574 Papier einen Augenblick auf das betreffende gedruckte Wort legte
3575 und andrückte. Das Papier war lichtempfindlich und gehörte zu einem
3576 kleinen Taschenschnellphotograph, den man als Notizbuch bei sich zu
3577 führen pflegte. Saltner las: „Schüler fleißig. Lehrer streng.
3578 Fernhörer. Alles hören.“
3580 Als er wieder aufblickte, sah er, daß Se schelmisch lachte. Sie
3581 machte sich dann noch an dem Apparatentisch zu schaffen und
3582 entfernte sich mit freundlichen Winken: „Das ist recht“, sagte La,
3583 „sie hat den Phonograph aufgezogen. Danach können wir dann unser
3584 Pensum gut repetieren.“
3586 Darauf nahm La den Sprachführer vor und ging mit Saltner die
3587 Redensarten und kleinen Gespräche durch, welche dort in beiden
3588 Sprachen angegeben waren. Er las sie deutsch, sie martisch, und
3589 beide lachten dazwischen herzlich, wenn sie ihre Aussprache zu
3590 verbessern suchten oder komische Mißverständnisse zutage kamen.
3591 Saltner mußte La dicht über die Schulter blicken, um im Buch zu
3592 lesen. Es ließ sich nicht vermeiden, daß sein Blick nach der
3593 wunderbaren Farbe ihres Haares und den weichen Formen des Nackens
3594 abirrte und die Worte manchmal zerstreut herauskamen. Ein seltsamer
3595 Wärmestrom ging von ihrem Körper aus, und dies war nicht bloß ein
3596 Spiel seiner Phantasie; er erfuhr später, daß die Martier in der
3597 Tat eine höhere Blutwärme besitzen als die Menschen. Er merkte, daß
3598 sich seine Sinne verwirrten. Und auch dies hatte seinen Grund nicht
3599 nur in seinen Gefühlen, sondern war eine Wirkung der geringen
3600 Schwere, an die seine Konstitution noch nicht gewöhnt war. Das Blut
3601 wurde ihm stärker zu Kopfe getrieben.
3603 La erkannte dies bald. Sie gab ihm das Buch zu halten, lehnte sich
3604 zurück und stellte das abarische Feld ab. Alsbald fühlte sich
3605 Saltner wieder wohler, und die Studien nahmen mit erneuter Kraft
3606 ihren Fortgang. So vergingen schnell einige Stunden. Und auf einmal
3607 stellte sich heraus, daß die Lehrerin viel mehr deutsch gelernt
3608 hatte als der Schüler martisch. Nicht weniger als Saltner hatte
3609 Grunthe dabei gelernt, der den Sprechübungen durch den Fernhörer
3610 zugehört hatte. Er fragte an, ob er jetzt vielleicht das Buch auf
3611 einige Zeit erhalten könnte.
3613 La stellte die Schwere ab, um sich wieder frei bewegen zu können.
3615 „Oh, wie zerstreut bin ich doch!“ rief sie aus. „Wir brauchten uns
3616 doch nicht mit dem einen Exemplare zu quälen! Wenn Sie mir das Buch
3617 noch eine halbe Stunde erlauben“ – wandte sie sich durch den
3618 Fernsprecher an Grunthe –, „so werde ich es sofort vervielfältigen
3619 lassen.“
3621 Sie schrieb einige Worte auf ein Stückchen Papier, legte dies in
3622 das Buch und packte das Ganze in einen Umschlag. Dann warf sie das
3623 kleine Paket in einen an der Wand befindlichen Kasten.
3625 Saltner sah ihr verwundert zu.
3627 „Das ist die pneumatische Post nach der Werkstatt“, sagte La
3628 erklärend. „Es wird nicht lange dauern, so bekommen wir die Kopien
3629 des Buches, aber nicht in Ihrem ungeschickten Format, sondern in
3630 unserer hübschen Tafelform.“ Sie erläuterte das Gesagte durch
3631 verschiedene Handbewegungen.
3633 „Und wer besorgt denn dies?“ fragte Saltner.
3635 „Wer von den Technikern gerade an der Reihe für den Tag ist. Die
3636 Arbeitszeit wechselt in geregelter Ablösung. Jeder hat seinen
3637 besonderen Tätigkeitskreis. Ich zum Beispiel muß mich mit der
3638 Erlernung der schrecklichen Menschensprachen quälen. Haben Sie mich
3639 verstanden?“
3641 Da Saltner noch ein ziemlich fragendes Gesicht machte, wiederholte
3642 sie die Antwort noch einmal, zu seiner Verwunderung in zwar etwas
3643 seltsamem, aber doch verstehbarem Deutsch.
3645 „Sie sprechen ja deutsch, La La!“ rief er aus.
3647 „Sie haben nicht aufgepaßt“, sagte sie lachend. „Die Worte sind ja
3648 alle heute in unserm Pensum vorgekommen. Wir wollen es repetieren.“
3649 Sie ging an den Tisch und drückte auf den Knopf des Grammophons.
3651 Man hörte sogleich die Worte wieder, die La zu Se bei ihrer
3652 Verabschiedung gesprochen hatte. La zog sich nun auf ihren Diwan
3653 zurück, stellte die Abarie ab und winkte Saltner, sich zu setzen.
3655 Es war ihm ganz seltsam zumute, als er so seine eigene Stimme,
3656 jedes Wort mit der eigenen Betonung, jeden Sprachfehler –
3657 dazwischen das tiefe, halblaute Organ Las und ihr leises Lachen –
3658 wieder vernahm. Die schräg einfallenden Sonnenstrahlen rückten bis
3659 an Las Ruhestätte und entzündeten ein seltsames Farbenspiel
3660 zwischen den losen Wellen ihres Haares, sie spielten als ein Meer
3661 von Funken auf den glitzernden Fäden ihres Schleiers, die sich bei
3662 ihren Atemzügen leise hoben und senkten. War er noch er selbst,
3663 oder war er in ein fernes Geisterreich entrückt und mußte er nun
3664 sein eigenes Leben an sich vorüberziehen lassen?
3666 „Nicht träumen“, sagte La halblaut, „aufpassen.“
3668 Nun hörte er wieder auf die Worte ihrem Sprachsinn nach, er
3669 repetierte.
3671 Da klapperte es an dem Postkasten.
3673 „Da sind unsere Bücher“, sagte La. „Stellen Sie, bitte, das
3674 Grammophon ab, und öffnen Sie den Kasten.“
3676 Saltner vollzog den Auftrag. Er enthob dem Kasten ein Paket, das
3677 die Kopien des Sprachführers enthielt. La nahm das Original heraus
3678 und gab es Saltner.
3680 „Hier“, sagte sie, „bringen Sie dies Ihrem Freund zurück, mit
3681 bestem Dank. Und wenn es Ihnen recht ist, arbeiten wir am
3682 Nachmittag noch einmal.“
3684 „Verfügen Sie vollständig über mich“, sagte Saltner mit einem
3685 bewundernden Blick. Eine vornehme Handbewegung verabschiedete ihn.
3689 Die Sprachstudien fanden am Nachmittag eine unerwartete
3690 Unterbrechung.
3692 Eben wollte Saltner, der mit Grunthe zusammen gespeist hatte, sich
3693 wieder in den Salon begeben, als Ra bei ihnen eintrat, um ihnen
3694 eine Mitteilung zu machen, die beide Forscher aufs Lebhafteste
3695 erregte.
3697 Die Martier hatten auf ihren Jagdbooten das Binnenmeer und seine
3698 Ufer noch weiter nach Spuren der Expedition abgesucht. In einem der
3699 Fjorde, welche sich ungefähr in der Richtung des 70. Meridians
3700 westlicher Länge von Greenwich verzweigten, am Fuß eines
3701 unmittelbar in das Wasser abfallenden Gletschers, hatte man den
3702 bisher vermißten Fallschirm der Expedition gefunden, zwischen
3703 losgebrochenen Eisschollen treibend. Derselbe mußte so nahe am Ufer
3704 niedergefallen sein, daß es wohl denkbar war, ein an demselben
3705 hängender Mensch hätte sich auf den Gletscher retten können. Die
3706 Martier hatten das Land selbst nicht betreten können; ohne
3707 besondere maschinelle Vorrichtungen war ihnen dies überhaupt nicht
3708 möglich.
3710 Saltner sprang auf und bat dringend, ihn sofort an Ort und Stelle
3711 zu bringen. Hier war eine Möglichkeit gegeben, daß Torm doch noch
3712 am Leben und zu retten sei. Daß der Fallschirm in so weiter
3713 Entfernung vom Ballon gefunden war, und zwar an einer Stelle, über
3714 die der Ballon nicht geflogen sein konnte, ließ sich nur dadurch
3715 erklären, daß Torm den Schirm vom Ballon getrennt hatte. Dann
3716 konnte die in den unteren Luftschichten herrschende Windströmung
3717 den langsam fallenden Schirm sehr wohl bis dorthin getrieben haben.
3718 Aber ob sich Torm an dem Schirm befunden hatte? Vermutlich hatte er
3719 sich mit demselben niedergelassen; aus welchen Gründen ließ sich
3720 nur unsicher vermuten. Vielleicht hatte er den Ballon dadurch zu
3721 retten gedacht, daß er ihn um sich selbst erleichterte; vielleicht
3722 auch hatte er die Gefährten für erstickt gehalten und für sich
3723 selbst ein letztes Rettungsmittel versucht, ehe der Ballon wieder
3724 über das Meer hinaustrieb. Jedenfalls mußte man alles daransetzen,
3725 etwaige Spuren von Torm aufzufinden.
3727 Ra stellte Saltner bereitwillig ein Boot und Mannschaft zur
3728 Verfügung, sagte aber sogleich, daß die Martier zu einer
3729 Untersuchung des Gletschers selbst sehr wenig geeignet seien. Sie
3730 würden jedoch für einige Apparate sorgen, die zum Transport
3731 etwaiger Lasten oder auch von Personen mit Vorteil benutzt werden
3732 könnten. Insbesondere aber schlüge er ihm vor, die beiden Eskimos,
3733 welche sich auf der Station aufhielten, Vater und Sohn,
3734 mitzunehmen. Sie leisteten den Martiern gute Dienste bei Arbeiten
3735 und Transporten im Freien, bei denen es menschlicher Muskelkraft
3736 bedürfe, und könnten ihn gewiß bei einer etwaigen Besteigung des
3737 Gletschers unterstützen.
3739 Nach einer halben Stunde war das Boot bereit. Da Saltner sich nicht
3740 auf die ihm unbekannten Apparate der Martier verlassen wollte,
3741 hatte er sich mit seinem eigenen Seil und seinem getreuen,
3742 glücklich geretteten Eispickel versehen, die ihn schon bei so
3743 mancher schwierigen Klettertour in den Gebirgen seiner Heimat
3744 begleitet hatten.
3746 Saltner war nicht wenig erstaunt, als er in dem langen, elegant
3747 gebauten Boot neun riesige Kugeln von etwa einem Meter Durchmesser
3748 erblickte, die Kopfhüllen der Martier, die ihnen direkt auf den
3749 Schultern saßen. Sie sahen dadurch wie seltsame Karikaturen aus.
3750 Der Führer des Bootes stand am Land und begrüßte Saltner, worauf er
3751 sich mühsam an Bord begab und nun ebenfalls seinen Kugelhelm
3752 aufsetzte. Die beiden Eskimos befanden sich schon im Boot und
3753 lösten das Seil, sobald der Führer eingestiegen war. Sie verstanden
3754 nicht recht seine Handbewegung, und das Boot begann von der
3755 Landestelle abzutreiben, gerade als Saltner seinen Fuß auf den Rand
3756 desselben setzte. Die Martier, welche glaubten, er müsse unfehlbar
3757 ins Wasser stürzen, winkten lebhaft mit ihren Armen, während er
3758 selbst sich mit einem leichten Schwunge vom Ufer abstieß und
3759 gewandt in das Boot sprang. Für einen geschickten Turner war dies
3760 eine Kleinigkeit, erregte aber bei den Martiern offenbare
3761 Anerkennung. Unter dem Einfluß der Erdschwere wäre diese Leistung
3762 keinem von ihnen möglich gewesen.
3764 Kaum hatte Saltner einige Schritte getan, indem er sich nach einem
3765 passenden Platz umsah, als einer der Martier seine große Kugel von
3766 der Schulter nahm und an ihrer Stelle der anmutige Kopf Las zum
3767 Vorschein kam. Sie sah ihn mit ihren großen Augen heiter an und
3768 nickte ihm freundlich zu.
3770 „Wie kommt es, daß Sie hier sind, La La?“ sagte Saltner, in seiner
3771 Überraschung deutsch sprechend. „Sie scheuen doch die Schwere
3772 draußen. Diese Fahrt ist gewiß sehr anstrengend für Sie?“
3774 „Ganz richtig“, antwortete La ebenfalls deutsch, „ich tue es nicht
3775 zum Vergnügen. Ich bin im Dienst. Wie wollen Sie verstehen diese
3776 Nume? Wie wollen Sie verstehen diese Kalalek? Ich bin als
3777 Dolmetscher hier“, fügte sie auf martisch hinzu.
3779 „Das ist wahr, an diese Schwierigkeit habe ich gar nicht gedacht.
3780 Aber wie leid tut es mir, daß Sie sich so bemühen müssen. Freilich,
3781 was könnte ich mir Besseres wünschen – doch wollen Sie nicht Ihren
3782 Helm wieder aufsetzen?“ La schüttelte den Kopf. Aber sie schlug
3783 hinter ihrem Platz eine Lehne mit weichem Polster in die Höhe und
3784 stützte dort ihr Haupt auf. So lehnte sie sich zurück und ließ ihre
3785 Augen prüfend über das Boot und die ganze Umgebung wandern.
3787 Mit großer Geschwindigkeit durchschnitt das Boot die leise bewegten
3788 Wellen der Bucht und hatte in etwa zehn Minuten die Stelle
3789 erreicht, an welcher sich mehrere Kanäle von verschiedener Breite
3790 verzweigten. Jetzt mußte langsam und vorsichtig gefahren werden,
3791 denn ein Gewirr von Felsblöcken und Eisbergen oder Schollen
3792 erstreckte sich am Stirnende des Gletschers entlang und verengte
3793 das Fahrwasser. Die Martier hatten den Platz bezeichnet, an welchem
3794 sie den Fallschirm gefunden hatten, und Saltner spähte nach einer
3795 geeigneten Stelle aus, wo man den Gletscher erklimmen könnte. Er
3796 schlug seinen Eispickel in eine Scholle und sprang auf dieselbe
3797 hinüber, kam wieder zurück und ließ das Boot weiterfahren. Es
3798 schien sich von selbst zu verstehen, daß er hier kommandierte.
3800 La ließ ihre Augen mit Wohlgefallen auf seinen entschiedenen
3801 Bewegungen ruhen. Dieser Bat, über den sie als Martierin sich so
3802 weit erhaben fühlte, war ihr bisher nur seltsam vorgekommen. Aber
3803 hier, in seinem Element als gewandter Kletterer, machte er ihr doch
3804 einen viel vorteilhafteren Eindruck. Gegenüber den unbeweglichen
3805 Kugeln, die ihre Landsleute auf den Schultern trugen, gegenüber den
3806 grauen, stumpfen Gesichtern der Eskimos mit ihren vorstehenden
3807 Backenknochen bot sein ausdrucksvoller Kopf, seine freie Haltung
3808 und kräftige Kühnheit ein Bild, das sie gern betrachtete.
3810 Der Gletscher fiel an den meisten Stellen mit einem senkrechten
3811 Abbruch von zehn bis fünfzehn Metern Höhe in die See ab. Endlich
3812 hatte Saltner eine Stelle gefunden, an welcher ihm der Aufstieg
3813 möglich schien. Gewandt schlug er Stufe auf Stufe in das ziemlich
3814 weiche Eis und kletterte, von den Augen der Martier unter Spannung
3815 verfolgt, die Eiswand hinauf. Dann warf er das Seil hinab, und die
3816 beiden Eskimos folgten ihm an demselben. Bald waren die drei für
3817 die Insassen des Bootes hinter dem Rand des Eises verschwunden.
3819 Längere Zeit war nichts von den Kletterern zu vernehmen, und La
3820 begann schon ungeduldig nach der Höhe zu blicken. Da erschien
3821 Saltner etwa hundert Meter weiter am Rand des Absturzes und winkte
3822 dem Boot, sich dorthin zu begeben. Als dies geschehen war, rief er
3823 hinunter:
3825 „Ich habe Spuren gefunden. Wird es möglich sein, einige Leute hier
3826 heraufzubringen?“
3828 La übersetzte, und der Führer des Bootes ließ antworten, daß dies
3829 sehr leicht sei, wenn es Saltner gelänge, mit seinem Seil die Rolle
3830 des Aufzuges, den die Martier mit sich führten, hinaufzuziehen und
3831 oben zu befestigen.
3833 Dies geschah nach Wunsch. Alsbald hatten die Martier einen bequemen
3834 Aufzug eingerichtet, den sie mit den Akkumulatoren ihres Bootes
3835 betrieben.
3837 Nicht weit von der Stelle, an welcher die Martier ihren Aufzug
3838 angebracht hatten, stieß eine Seitenschlucht in das Haupttal, und
3839 hier zog sich ein Streifen von Felstrümmern und Moränenschutt, von
3840 Flechten überkleidet, auf dem ganz allmählich ansteigenden
3841 Gletscher in die Höhe. Auf diesem Streifen konnte man, ohne sich
3842 der unsicheren Oberfläche des Gletschers anzuvertrauen, gut ins
3843 Innere des festen Landes gelangen. Saltner hatte nun in dieser
3844 Richtung einen Gegenstand zwischen dem Geröll bemerkt, der zwar der
3845 weiten Entfernung wegen nicht deutlich erkennbar war, aber
3846 jedenfalls untersucht werden mußte, da er von Menschen herzurühren
3847 schien, wenn es nicht gar der nur zum Teil sichtbare Körper eines
3848 Menschen war. Um jedoch das Gestein zu erreichen, mußte man
3849 zunächst eine tiefe und breite Spalte passieren; diese Spalte war
3850 an einer Stelle durch eine Schneebrücke überspannt gewesen, die
3851 offenbar erst vor kurzem zusammengebrochen war. Gegenwärtig war es
3852 unmöglich, dieselbe ohne künstliche Hilfsmittel zu überschreiten,
3853 und deshalb hatte Saltner die Martier heraufgerufen. Er sagte sich,
3854 es sei sehr wohl denkbar, daß Torm mit Hilfe des vom Fallschirm
3855 abgelösten Seiles auf den Gletscher und von dort auf den
3856 Moränenstreifen gelangt sei. Mit großer Aufregung hatte er daher
3857 jenen dunklen Gegenstand in der Ferne betrachtet.
3859 Die Martier wanden nun aus ihrem Boot genügend lange Stangen empor,
3860 um die Spalten überbrücken zu können, und Saltner verrichtete mit
3861 den Eskimos die übrige Arbeit. Alsdann wanderte er über die
3862 Felstrümmer weiter, eine Kletterpartie, die übrigens schwieriger
3863 war und langsamer vor sich ging, als er ursprünglich erwartet
3864 hatte.
3866 La hatte sich ebenfalls emporziehen lassen. Auf ausgebreiteten
3867 Fellen ruhend sah sie den Arbeiten der Menschen zu. Sie hatte noch
3868 niemals einen Gletscher in der Nähe gesehen, geschweige denn
3869 betreten. Auf dem Mars gab es solche Gebilde nicht; die Atmosphäre
3870 war viel zu trocken, um dieselben zu unterhalten. Mit Bewunderung
3871 blickte sie in das Gewirr von Spalten, Trümmern und Zacken, die mit
3872 ihren grünlichen Schatten sich von den rötlich im Sonnenschein
3873 schimmernden Schneeflächen abhoben. Gar zu gern hätte sie einen
3874 Blick in die unergründliche Eisschlucht hineingetan, welche die
3875 Menschen überbrückten, aber sie scheute sich, den mühsamen Gang zu
3876 zeigen, mit dem sie sich hätte hinschleppen müssen.
3878 Jetzt waren die Menschen fortgegangen; sie konnten die seltsame
3879 Figur nicht mehr beobachten, die sich langsam von den Fellen erhob,
3880 ihren Kugelhelm aufsetzte und auf zwei Stöcke gestützt der Spalte
3881 zuschlich. Der Weg war gar nicht so anstrengend, wie La glaubte;
3882 sie hatte sich doch schon einigermaßen geübt, ihre Glieder unter
3883 dem Einfluß der Erdschwere zu bewegen. So gelangte sie an den
3884 angebrachten Steg und ließ sich am Rand der Gletscherspalte
3885 nieder.
3887 An die eine der hinübergelegten Stangen sich haltend, beugte sie
3888 vorsichtig den Kopf über den Abgrund. Dunkelgrün dämmerte die
3889 Tiefe, aus der das Rauschen des Schmelzwassers dumpf herauftönte.
3890 Genau unter ihr streckte sich ein zackiger Grat ihr entgegen, der
3891 die Schlucht der Länge nach durchzog. Ein großer Felsblock war
3892 hinabgestürzt und auf dem Grat festgehalten worden. Er bildete eine
3893 Art Brücke da unten in der Tiefe. Daneben zeigte ein frischer Spalt
3894 seine kristallklaren Eiswände. La konnte sich an dem ungewohnten
3895 Schauspiel nicht sattsehen. Schwindel kannte sie nicht. Sie war
3896 gewohnt, den Weltraum in seiner Unendlichkeit unter ihren Füßen zu
3897 erblicken, wenn das Raumschiff die Leere des Sternenhimmels
3898 durcheilte. Aber sie kannte auch nicht die Gefahren dieses mürben,
3899 abbröckelnden Elements, auf dessen überhängender Kante sie ruhte.
3900 Um besser hinabzublicken, zog sie sich an der Stange weiter und
3901 stemmte ihre Füße gegen einen Vorsprung des Randes. Der Vorsprung
3902 brach. Zerstiebend stürzte er in die Tiefe. Ihr Fuß verlor die
3903 Stütze. Sie wollte sich wieder hinaufschwingen, aber die Last war
3904 zu schwer für ihre Kräfte. Der unförmliche Helm hinderte sie, ihren
3905 Oberkörper frei an dem Steg zu bewegen, an welchen sie sich
3906 geklammert hielt. Sie rief um Hilfe, doch die Stimme drang nur
3907 schwach unter dem Helm hervor. Eine erneute Anstrengung brachte
3908 ihren Körper höher, aber nun glitt die Stange aus ihrer Lage, ihre
3909 Hände verloren den Halt – – La stürzte in den Abgrund.
3911 Ihr Angstschrei verhallte zwischen den Eiswänden der Spalte. Aber
3912 der Helm, der ihren Absturz verschuldete, wurde vorläufig zu ihrem
3913 Retter. Sie fiel auf die Stelle, welche der auf dem Grat ruhende
3914 Felsblock verengte, und der elastische Helm hemmte den Sturz. Er
3915 war zertrümmert, aber sie selbst fühlte sich unverletzt, sie hatte
3916 das Bewußtsein nicht verloren. Mit den Armen sich festklammernd,
3917 lag sie auf dem Felsen, unter sich die finstere Tiefe, über sich
3918 den schmalen Lichtstreifen des Himmels, unfähig, sich zu bewegen.
3919 Sie vermochte nichts zu ihrer Rettung zu tun, Minute auf Minute
3920 verrann. Wann würde man sie bemerken? Konnte sie gerettet werden?
3921 Sie war vollkommen ruhig. Das Bild der fernen Heimat stieg vor ihr
3922 auf. „Noch einmal möcht ich ihn sehen, meinen schönen Nu“, so klang
3923 es in ihr, „aber wenn es nicht sein soll, so füg ich mich Deinem
3924 Willen im Weltenplan.“
3926 Da vernahm sie Rufe über sich. Ein Kugelhelm wurde sichtbar. Die
3927 Martier hatten ihr Verschwinden bemerkt, sie ward gesehen. Man rief
3928 ihr zu, sie möge Mut fassen, man werde den Aufzug herbeischaffen.
3929 Sie wußte, daß darüber lange Zeit vergehen müsse; die Martier
3930 konnten nur langsam arbeiten. Und sie fühlte, wie die Kälte der
3931 Schlucht ihre Glieder erstarren ließ.
3933 Plötzlich hörte sie oben erneute Rufe und schnelle Schritte.
3934 Eilende Gestalten schwangen sich über den Steg. La wußte, wer es
3935 war. Saltner war mit den beiden Eskimos zurückgekehrt. Kaum hatte
3936 er erkannt, was geschehen war, als er sich auch sofort anseilte und
3937 von seinen beiden Begleitern in den Spalt hinabsenken ließ. La sah,
3938 wie seine Gestalt näher und näher kam. Mit der einen Hand hielt er
3939 sich von der Wand der Spalte ab. Und nun kniete er neben ihr auf
3940 dem Felsblock. Er löste den Rest ihres Helmes geschickt von ihren
3941 Schultern; dumpf donnerte er in den Abgrund. Dann hob er sie empor
3942 und sagte besorgte Worte, die sie nur halb verstand. Jetzt erst
3943 erfaßte sie der Schwindel, und das Bewußtsein drohte sie zu
3944 verlassen. Aber sie fühlte, daß Saltner sie fest umschlang, und in
3945 diesem Augenblick wußte sie sich geborgen. Jetzt rief er mit lauter
3946 Stimme in seiner Muttersprache nach oben: „Ein zweites Seil!“
3948 La lächelte, ihn dankbar ansehend, und sagte leise: „Kalalek nicht
3949 verstehen.“
3951 „Doch, doch!“ erwiderte Saltner. Und wirklich, der jüngere der
3952 beiden Eskimos rief die deutschen Worte hinab:
3954 „Nicht hier. Warten. Nume kommen.“
3956 La blickte ihn fragend an. Aber er antwortete nicht, er sah, daß
3957 sie fror.
3959 „Werft die Decke herab!“ rief er.
3961 Man schien ihn jetzt nicht zu verstehen. „Was heißt auf
3962 grönländisch Decke?“ fragte er.
3964 „Kepik.“
3966 „Kepik!“ rief er hinauf.
3968 Eine wollene Decke wurde hinabgeworfen. Saltner schlug den Pickel
3969 fest in die Wand und beugte sich weit vor, um sie aufzufangen. Es
3970 gelang. Er hüllte La hinein. Er zog seine Feldflasche heraus, die
3971 er vorsorglich aus den geretteten Reisevorräten mit Kognak gefüllt
3972 hatte. La wußte zwar damit nicht Bescheid, aber er flößte ihr etwas
3973 von dem feurigen Getränk ein, das ihr sehr wohltat.
3975 Er berichtete kurz. Sein Ausflug war ohne entscheidenden Erfolg
3976 geblieben. Der fragliche Gegenstand war eine der im Ballon
3977 befindlichen Decken gewesen, dieselbe, die La jetzt einhüllte. Aber
3978 ob sie von Torm mitgenommen und dort zurückgelassen war oder ob sie
3979 aus dem Ballon bei seinem Flug verloren und vom Wind hingetrieben
3980 worden war, ließ sich nicht feststellen; das letztere war sogar das
3981 wahrscheinlichere. Dabei hatte sich überraschenderweise
3982 herausgestellt, daß der Sohn des Eskimos einige Worte deutsch
3983 verstand. Er war ein Jahr in Diensten deutscher Missionare auf
3984 Grönland gewesen und hatte einzelne Worte aufgefaßt, als Saltner
3985 mit La deutsch sprach. Nur hatte er in Gegenwart der Martier nicht
3986 gewagt, dies zu erkennen zu geben.
3988 Endlich erschienen die Martier wieder am Rand der Spalte. Ein
3989 zweites Seil wurde herabgelassen. Saltner machte einen erträglichen
3990 Sitz zurecht, und indem er La stützte und mit dem Eispickel beide
3991 von der Wand fernhielt, wurden sie glücklich an die Oberfläche
3992 befördert.
3994 „Ich weiß, was ich Ihnen verdanke“, sagte La.
3996 Eine tiefe Erschöpfung ergriff sie, und sie mußte bis an das Boot
3997 getragen werden.
3999 Man trat sofort die Heimfahrt an.
4001 \section{11 - Martier und Menschen}
4003 Der September hatte begonnen. Noch immer beschrieb die Sonne ohne
4004 unterzugehen den vollen Kreis des Himmels, aber sie stand nur noch
4005 wenige Grad über dem Horizont. Schon streifte sie nahe an die
4006 höchsten Gipfel der Berge, welche an einzelnen Stellen die
4007 Steilufer des Polarbassins überragten. Der lange Polartag neigte
4008 sich seinem Ende zu. Wie in einem ewigen Untergang wanderte der
4009 riesige Glutball der Sonne rings um die Insel, meist drang sie nur
4010 strahlenlos wie eine rote Scheibe durch die Nebel, und ein breites,
4011 rosig glühendes Band zog sich durch die leise wogenden Fluten ihr
4012 entgegen und folgte ihrem Lauf als ein natürlicher Stundenzeiger um
4013 den Pol.
4015 Die beiden deutschen Nordpolfahrer verbrachten ihre Tage wie in
4016 einem köstlichen Märchen. Hätte nicht der Gedanke an den verlorenen
4017 Gefährten auf ihre Stimmung niederdrückend gewirkt und den Genuß
4018 der Gegenwart gedämpft, nichts Freudigeres und Erhebenderes wäre
4019 denkbar gewesen als der beglückende Verkehr mit den Bewohnern der
4020 Polinsel, die, wie sie jetzt erfuhren, den Namen Ara führte, zu
4021 Ehren des ersten Weltraumschiffers Ar.
4023 Die Martier behandelten die beiden Erdbewohner als ihre Gäste,
4024 denen jede Freiheit gestattet war. Gegenüber den kleinen,
4025 unansehnlichen, schmutzigen und tranduftenden Eskimos erschienen
4026 ihnen die stattlichen Figuren der Europäer in ihrer reinlichen
4027 Tracht schon äußerlich als Wesen verwandter Art. Nicht wenig trug
4028 dazu die körperliche Überlegenheit bei, welche die Martier, sobald
4029 sie sich nicht im Schutz des abarischen Feldes befanden, an den
4030 Menschen anerkennen mußten. Aufrecht und leicht schritten diese
4031 einher und verrichteten spielend Arbeiten, denen die unter dem
4032 Druck der Erdschwere gebeugt einherschleichenden Martier nicht
4033 gewachsen waren. Denn auch Grunthe war nach wenigen Tagen wieder in
4034 seiner Gesundheit völlig hergestellt und spürte keinerlei üble
4035 Folgen seiner Fußverletzung. Saltner aber hatte sich durch die
4036 entschlossene und geschickte Rettung Las die Achtung der Martier
4037 erworben.
4039 Überraschend schnell hatte sich das gegenseitige Verständnis durch
4040 die Sprache angebahnt. Dies war natürlich hauptsächlich durch die
4041 glückliche Auffindung der kleinen deutsch--martischen
4042 Sprachanweisung gelungen. Es zeigte sich, daß diese von ihrem
4043 Verfasser Ell ganz speziell für diejenigen Bedürfnisse
4044 ausgearbeitet war, die sich bei einem ersten Zusammentreffen der
4045 Menschen mit den Martiern für beide Teile herausstellen würden.
4046 Denn es waren darin weniger die alltäglichen Gebrauchsgegenstände
4047 und Beobachtungen berücksichtigt, über welche man sich ja leicht
4048 durch die Anschauung direkt verständigen kann, wie Speise und
4049 Trank, Wohnung, Kleidung, Gerätschaften, die sichtbaren
4050 Naturerscheinungen und so weiter; vielmehr fanden sich gerade die
4051 Ausdrücke für abstraktere Begriffe, für kulturgeschichtliche und
4052 technische Dinge darin verzeichnet, so daß es Grunthe und Saltner
4053 möglich wurde, sich über diese Gedankenkreise mit den Martiern zu
4054 besprechen. Ell hatte offenbar vorausgesehen, daß, wenn
4055 wissenschaftlich gebildete Europäer mit den in der Kultur ihnen
4056 überlegenen Martiern zusammenkämen, das Hauptinteresse darin
4057 bestehen müßte, sich gegenseitig über die allgemeinen Bedingungen
4058 ihres Lebens zu unterrichten.
4060 Es erregte übrigens bei den Martiern keine geringere Verwunderung
4061 wie bei den beiden Forschern, daß auf Erden ein Mensch existiere,
4062 der sowohl die Sprache und Schrift der Martier beherrschte als auch
4063 eine ziemlich zutreffende Kenntnis der Verhältnisse auf dem Mars
4064 besaß. Aus gewissen Einzelheiten schlossen sie allerdings, daß
4065 diese Kenntnis sich nur auf weiter zurückliegende Ereignisse bezog,
4066 daß insbesondere die Tatsache der Marskolonie am Pol der Erde dem
4067 Verfasser des Sprachführers nicht bekannt war, wohl aber das
4068 Projekt der Martier, die Erde an einem ihrer Pole zu erreichen. Der
4069 Name Ell war in einigen Landschaften des Mars nicht selten. Die
4070 gegenwärtigen Polbewohner erinnerten sich der Berichte, daß bei den
4071 ersten Entdeckungsfahrten nach der Erde mehrfach Fahrzeuge
4072 verschollen waren, ohne daß man jemals etwas über das Schicksal der
4073 kühnen Pioniere des Weltraums hatte erfahren können. Von einem
4074 berühmten Raumfahrer, dem Kapitän All, wußte man sogar gewiß, daß
4075 er mit mehreren Gefährten infolge eines unglücklichen Zufalls auf
4076 der Erde zurückgelassen worden war, allerdings unter Umständen,
4077 welche allgemein an seinen baldigen Untergang glauben ließen.
4078 Immerhin war es wohl denkbar, daß einer oder der andere dieser
4079 Martier zu Menschen sich gerettet und die Kunde vom Mars dahin
4080 gebracht hätte. Diese Ereignisse aber lagen dreißig bis vierzig
4081 Erdenjahre zurück, und jene Männer selbst waren alle in
4082 vorgeschrittenerem Alter gewesen, da eine Beteiligung jüngerer
4083 Leute an jenen ersten, unsicheren Fahrten nicht bekannt war. Ell
4084 selbst, der etwa mit Grunthe gleichaltrig oder nur ein wenig älter
4085 war, konnte also nicht zu ihnen gehören. Und Grunthe wie Saltner
4086 konnten versichern, daß von einem Auftauchen eines Marsbewohners,
4087 ja überhaupt von der Existenz solcher Wesen, auf der Erde nichts
4088 bekannt sei. Ell war der einzige, der ein solches Wissen besaß,
4089 dies aber bis auf jene beiläufigen Redensarten, die Grunthe nicht
4090 ernsthaft genommen, durchaus verborgen gehalten hatte. Wie er
4091 selbst dazu gekommen war, blieb ebenso unaufgeklärt wie die
4092 Umstände, durch welche jene Sprachanweisung in das Flaschenfutteral
4093 gelangt sein konnte, das Frau Isma Torm der Expedition als eine
4094 scherzhafte Überraschung am Nordpol mitgegeben hatte.
4096 Den Bemühungen der Deutschen, sich die Sprache der Marsbewohner
4097 anzueignen, kamen diese bereitwillig entgegen, so daß Saltner und
4098 insbesondere Grunthe sehr bald ein Gespräch auf martisch führen
4099 konnten; gleichzeitig fand es sich, daß auch die Martier, welche
4100 den täglichen Umgang der beiden bildeten, das Deutsche
4101 beherrschten. Ersteres wurde dadurch möglich, daß die
4102 Verkehrssprache der Martier außerordentlich leicht zu erlernen und
4103 glücklicherweise für eine deutsche Zunge auch leicht auszusprechen
4104 war. Sie war ursprünglich die Sprache derjenigen Marsbewohner
4105 gewesen, die auf der Südhalbkugel des Planeten in der Gegend jener
4106 Niederungen wohnten, welche von den Astronomen der Erde als
4107 Lockyer-Land bezeichnet werden. Von hier war die Vereinigung der
4108 verschiedenen Stämme und Rassen der Martier zu einem großen
4109 Staatenbund ausgegangen, und die Sprache jener Zivilisatoren des
4110 Mars war die allgemeine Weltverkehrssprache geworden. Durch einen
4111 Hunderttausende von Jahren dauernden Gebrauch hatte sie sich so
4112 abgeschliffen und vereinfacht, daß sie der denkbar glücklichste und
4113 geeignetste Ausdruck der Gedanken geworden war; alles Entbehrliche,
4114 alles, was Schwierigkeiten verursachte, war abgeworfen worden.
4115 Deswegen konnte man sie sich sehr schnell soweit aneignen, daß man
4116 sich gegenseitig zu verstehen vermochte, wenn es auch
4117 außerordentlich schwierig war, in die Feinheiten einzudringen, die
4118 mit der ästhetischen Anwendung der Sprache verbunden waren.
4120 Übrigens war dies nur die Sprache, die jeder Martier beherrschte.
4121 Neben derselben aber gab es zahllose, sehr verschiedene und in
4122 steter Umwandlung begriffene Dialekte, die bloß in verhältnismäßig
4123 kleinen Gebieten gesprochen wurden, endlich sogar Idiome, die
4124 allein im Kreis einzelner Familiengruppen verstanden wurden. Denn
4125 es zeigte sich als eine Eigentümlichkeit der Kultur der Martier,
4126 daß der allgemeinen Gleichheit und Nivellierung in allem, was ihre
4127 soziale Zusammengehörigkeit als Bewohner desselben Planeten
4128 anbetraf, eine ebenso große Mannigfaltigkeit und Freiheit des
4129 individuellen Lebens entsprach. Wenn so die schnelle Erfaßbarkeit
4130 des Martischen den Deutschen zugute kam, so brachte die
4131 erstaunliche Begabung der Martier andererseits zuwege, daß sie sich
4132 wie spielend das Deutsche aneigneten. Gegenüber dem verwirrenden
4133 Formenreichtum des Grönländischen erschien ihnen das Deutsche
4134 wesentlich leichter. Was aber die schnellere Erlernung desselben
4135 hauptsächlich bewirkte, war der Umstand, daß das Deutsche als
4136 Sprache eines hochentwickelten Kulturvolkes dem geistigen Niveau
4137 der Martier soviel näherstand. Was der Grönländer in seiner Sprache
4138 auszudrücken wußte, die konkrete Art, wie er es nur ausdrücken
4139 konnte, der enge Interessenkreis, auf den sich das Leben des Eskimo
4140 beschränkte, das alles war dem Martier sehr gleichgültig, und er
4141 beschäftigte sich damit nur, weil er bisher kein anderes Mittel
4142 besaß, mit Bewohnern der Erde in Verkehr zu treten. Ganz anders
4143 aber wurde das Interesse der Martier erregt, als sie mit Grunthe
4144 und Saltner Gesprächsthemata berühren konnten, die ihrem eigenen
4145 gewohnten Gedankenkreis näherlagen. Im Deutschen fanden sie eine
4146 Sprache, reich an Ausdrücken für abstrakte Begriffe, und dadurch
4147 verwandt und angemessen ihrer eigenen Art zu denken. Die
4148 Überlegenheit, mit welcher die Martier die kompliziertesten
4149 Gedankengänge behandelten und in einem allgemeinen Begriff jede
4150 einzelne seiner Anwendungen mit einemmal überblickten, diese
4151 bewundernswerte Feinheit der Organisation des Martiergehirns kam
4152 den Deutschen zum erstenmal zum vollen Bewußtsein, als sie die
4153 Gewandtheit bemerkten, mit welcher die Martier das Deutsche nicht
4154 nur erfaßten und gebrauchten, sondern gewissermaßen aus dem einmal
4155 begriffenen Grundcharakter die Sprache mit genialer Kraft
4156 nachschufen.
4158 Grunthe und Saltner wurde es sehr bald klar, daß die Martier
4159 geistig in ganz unvergleichlicher Weise höher standen als das
4160 zivilisierteste Volk der Erde, wenn sie auch noch nicht zu
4161 übersehen vermochten, wie weit diese höhere Kultur reiche und was
4162 sie bedeute. Ein Gefühl der Demütigung, das ja nur zu natürlich
4163 war, wenn der Stolz des deutschen Gelehrten einer höheren
4164 Intelligenz sich beugen mußte, wollte im Anfang die Gemüter
4165 verstockt machen. Aber es konnte nicht lange vor der übermächtigen
4166 Natur der Martier bestehen. Es wich widerstandslos der ungeteilten
4167 Bewunderung dieser höheren Wesen. Neid oder Ehrgeiz, es ihnen
4168 gleichzutun, konnten bei den Menschen gar nicht aufkommen, weil sie
4169 sich nicht einfallen lassen durften, sich mit den Martiern auf
4170 dieselbe Stufe der Einsicht stellen zu wollen.
4172 Freilich wurden sie von den Martiern wie Kinder behandelt, denen
4173 man ihre Torheit liebevoll nachsieht, während man sie zu besserem
4174 Verständnis erzieht. Aber davon merkten Grunthe und Saltner nichts.
4175 Denn die Martier, wenigstens diejenigen der Insel, waren viel zu
4176 klug und taktvoll, als daß sie je ihre Überlegenheit in direkter
4177 Weise geltend gemacht hätten. Sie wußten es so einzurichten, daß
4178 den Menschen die Berichtigung ihrer Irrtümer als Resultat der
4179 eigenen Arbeit erschien, und ihre unvermeidlichen Mißgriffe
4180 korrigierten sie mit entschuldigender Liebenswürdigkeit.
4182 Die Wunder der Technik, welche die Forscher bei jedem Schritt auf
4183 der Insel umgaben, versetzten sie in eine neue Welt. Sie fühlten
4184 sich in der beneidenswerten Lage von Menschen, die ein mächtiger
4185 Zauberer der Gegenwart entrückt und in eine ferne Zukunft geführt
4186 hat, in welcher die Menschheit eine höhere Kulturstufe erklommen
4187 hat. Die kühnsten Träume, die ihre Phantasie von der Wissenschaft
4188 und Technik der Zukunft ihnen je vorgespiegelt hatte, sahen sie
4189 übertroffen. Von den tausend kleinen automatischen Bequemlichkeiten
4190 des täglichen Lebens, die den Martiern jede persönliche
4191 Dienerschaft ersetzten, bis zu den Riesenmaschinen, die, von der
4192 Sonnenenergie getrieben, den Marsbahnhof in sechstausend Kilometer
4193 Höhe schwebend erhielten, gab es eine unerschöpfliche Fülle neuer
4194 Tatsachen, die zu immer neuen Fragen drängten. Bereitwillig gaben
4195 die Wirte ihren Gästen Auskunft, aber in den meisten Fällen war es
4196 gar nicht möglich, ihnen den Zusammenhang zu erklären, weil ihnen
4197 die Vorkenntnisse fehlten. Grunthe war in dieser Hinsicht so
4198 vorsichtig, nicht viel zu fragen; er suchte sich auf seine eigne
4199 Weise zurechtzufinden, sobald er sah, daß die Erklärung der Martier
4200 über seinen Horizont ging. Saltner machte sich weniger Skrupel
4201 darüber. „Das hilft nun nichts“, pflegte er zu sagen, „wir spielen
4202 einmal hier die wilden Indianer, und was wir nicht begreifen, ist
4203 Medizin.“
4205 Als ihnen Hil zum erstenmal die Einrichtung erklärt hatte, wodurch
4206 sich die Martier in ihren Zimmern den Druck der Erdschwere
4207 erleichterten, und Grunthe mit zusammengekniffenen Lippen in tiefes
4208 Nachdenken verfiel, sagte Saltner einfach: „Medizin“ und hob
4209 Grunthe samt dem Stuhl, auf welchem er saß, mit ausgestreckten
4210 Armen über seinen Kopf. Diese Kraftleistung war zwar für ihn bei
4211 der auf ein Drittel verringerten Erdschwere durchaus nichts
4212 Besonderes, ließ ihn aber doch den Martiern als einen Riesen an
4213 Stärke erscheinen.
4215 Das Zimmer, welches an die beiden Schlafzimmer von Grunthe und
4216 Saltner stieß, war für den bequemen Verkehr der Martier mit den
4217 Menschen in eigentümlicher Weise eingerichtet worden. Da nämlich
4218 die Verringerung der Erdschwere, deren die Martier für die
4219 Leichtigkeit ihrer Bewegungen bedurften, von Grunthe und Saltner
4220 nicht gut vertragen wurde, so hatte man es durch eine am Boden
4221 markierte Linie – Saltner nannte sie den ›Strich‹ – in zwei Teile
4222 zerlegt. Der abarische Apparat konnte für die Hälfte des Zimmers,
4223 welche an die Wohnräume der Menschen grenzte, ausgeschaltet werden,
4224 während in dem übrigen Teil die Gegenschwere auf das den Martiern
4225 gewohnte Maß eingestellt wurde. Hier hielten sich die Martier auf,
4226 wenn sie bei den Deutschen ihre Besuche machten, während diese sich
4227 nach ihren Wünschen eingerichtet hatten, soweit es mit den von den
4228 Martiern bereitwillig hergegebenen Möbeln und den wenigen von ihnen
4229 selbst mitgebrachten Gegenständen geschehen konnte. Freilich
4230 beschränkte sich diese Einrichtung nur auf die Aufstellung eines
4231 Arbeitstisches, einiger Bücher, Schreibmaterialien und Instrumente;
4232 denn in dieser Hinsicht wußten die Forscher nur in der ihnen
4233 gewohnten Weise auszukommen. Was im übrigen die Bequemlichkeiten
4234 des täglichen Lebens anbetraf, so waren sie nicht nur auf die
4235 Apparate und Gewohnheiten der Martier angewiesen, sondern fanden
4236 dieselben auch bald um so viel vorteilhafter und angenehmer, daß
4237 sie gern darüber nachdachten, wie sie dergleichen in ihre Heimat
4238 verpflanzen könnten.
4240 Saltner, der seinen photographischen Apparat unter den geretteten
4241 Gegenständen wiedergefunden hatte, konnte kaum Zeit genug gewinnen,
4242 alle die Ausstattungsstücke der Martier aufzunehmen und die
4243 gänzlich neuen Formen der Verzierungen, die Gemälde, Kunstwerke und
4244 Zimmerpflanzen abzubilden. Ein besonderes Studium machte er aus den
4245 Automaten, deren Mechanismus er zu ergründen suchte und sich immer
4246 wieder aufs neue erklären ließ.
4248 Seine Beraterin in diesen Dingen war in der Regel die immer heitere
4249 Se, seine liebenswürdige Pflegerin beim ersten Erwachen. Sie hielt
4250 sich täglich einen großen Teil ihrer Zeit über in dem
4251 gemeinschaftlichen Gesellschaftszimmer auf und machte den Gästen
4252 gewissermaßen die Honneurs des Hauses. Dagegen bekam Saltner La nur
4253 selten zu sehen, gewöhnlich nur des Abends, wenn sich die Martier
4254 in größerer Anzahl einzustellen pflegten. Und dann hielt sie sich
4255 gern zurück, obwohl er oft fühlte, daß ihre großen Augen mit einem
4256 sinnenden Ausdruck auf ihm ruhten. Sein lebhaftes Gespräch mit Se
4257 aber unterbrach sie häufig durch eine Neckerei. Da man sich meist
4258 bei geöffneten Fernhörklappen unterhielt, so konnte man, sobald man
4259 wollte, einem Gespräch in einem andern Zimmer zuhören und sich
4260 hineinmischen; so war es nichts Ungewöhnliches, daß man von einem
4261 Zwischenruf eines ungeahnten Zuhörers unterbrochen wurde.
4262 Ebensowenig aber nahm es jemand übel, wenn man einfach seine Klappe
4263 abschloß.
4265 Die Sprachstudien waren speziell zwischen La und Saltner nicht
4266 wieder aufgenommen worden. Denn La hatte noch mehrere Tage nach
4267 ihrem Unfall sich vollkommener Ruhe hingeben müssen, und als sie
4268 wieder gesundet war, fand sie das gegenseitige Verständnis zwischen
4269 Menschen und Martiern schon ziemlich weit vorgeschritten. Aber auch
4270 sie hatte ihre unfreiwillige Muße benutzt und nicht nur den
4271 Ellschen Sprachführer, sondern auch die wenigen Nachschlagwerke,
4272 welche die Luftschiffer mit sich hatten, durchstudiert.
4274 Trotz des Eindrucks, den die reizende Se auf Saltners empfängliches
4275 Gemüt machte, flogen seine Gedanken immer zu der stilleren, milden
4276 La zurück, und es war ihm stets wie eine leichte Enttäuschung, wenn
4277 er sie im Zimmer nicht vorfand. Gerade daß er öfter ihre tiefe
4278 Stimme vernahm, ließ ihn ihren Anblick um so mehr vermissen.
4280 Las Zurückhaltung war nicht absichtslos. Daß sowohl sie wie Se eine
4281 unentrinnbare Gefahr für Saltners Herz waren, lag ja für beide auf
4282 der Hand, nachdem sie sich überhaupt erst an den Gedanken gewöhnt
4283 hatten, daß ein Mensch sich verlieben könne. Was aber Se höchst
4284 komisch vorkam und als äußerst spaßhaft erschien, das vermochte La
4285 so harmlos nicht anzusehen. Der ›arme Mensch‹, mit dem Se sich so
4286 lustig unterhielt, war ihr doch in einem andern Licht erschienen,
4287 damals, als er, in seinem eignen Element tätig, Leistungen
4288 verrichtete, die über das Vermögen der Nume hinausgingen.
4290 Sie konnte den Moment nicht vergessen, in welchem sie sich in
4291 seinen starken Armen vom vernichtenden Abgrund zurückgerissen
4292 fühlte. Und so blieb es ihr immer gegenwärtig, daß dieses Spielzeug
4293 der erhabenen Nume, wenn auch nur ein Mensch, doch ein freies
4294 Lebewesen sei, kein ebenbürtiger Geist, aber vielleicht ein
4295 ebenbürtiges Herz. Ein doppeltes Mitleid stritt mit sich selbst in
4296 ihrer Seele, sie vermochte ihn nicht zu kränken durch Kälte und
4297 Zurückweisung, und sie wollte nicht Gefühle erwecken, die ihm doch
4298 nur zu größerem Leid werden konnten. Wer kann wissen, wie
4299 Menschenherzen fühlen mögen? Vielleicht waren die Menschen viel
4300 stärker in ihren Gefühlen als in ihrem Verstand. Und sie war
4301 Saltner zu dankbar, um nicht für ihn zu denken, was er wohl nicht
4302 verstand. – Aber was tun?
4304 Wäre Saltner ein Martier gewesen, so hätte es keiner Vorsicht für
4305 La bedurft. Er hätte dann gewußt, daß ihre Freundlichkeit und
4306 selbst ihre Zärtlichkeit nichts bedeuteten als das ästhetische
4307 Spiel bewegter Gemüter, das die Freiheit der Person nicht
4308 beschränken kann. Wie jedoch mochten Menschen in diesem Fall
4309 denken? Durfte sie hierin ohne weiteres gleiche Sitten
4310 voraussetzen? Und würde er wohl verstehen, was von vornherein und
4311 immer den Menschen, den wilden Erdbewohner, von der heiteren
4312 Freiheit des erhabenen Numen trennte? Und lief er nicht Gefahr, bei
4313 Se demselben Schicksal zu verfallen, vor dem sie ihn selbst zu
4314 behüten suchte?
4316 Wenn sie Se ihre Bedenken andeutete, so lachte diese nur.
4318 „Aber La“, sagte sie, „du bist auch gar zu bedächtig! Ich bitte
4319 dich, er ist ja bloß ein Mensch! Es ist doch furchtbar komisch,
4320 wenn der sich Mühe gibt, so recht liebenswürdig zu sein.“
4322 „Du kannst aber nicht wissen“, antwortete La, „ob ihm auch so
4323 furchtbar komisch zumute ist. Ein Tier, das wir necken, scheint uns
4324 oft äußerst lächerlich, und ich muß dann doch immer denken, daß es
4325 vielleicht bitter dabei leidet. Und ein Mensch ist doch nicht bloß
4326 komisch –“
4328 „Ich habe freilich noch keinen in einer Eisgrube gesehen“, sagte
4329 Se, „doch ich glaube, du brauchst dir um den keine Sorge zu machen.
4330 Wenn es dich aber beruhigt, so kann man ihn ja leicht merken
4331 lassen, wie’s gemeint ist –“
4333 „Ich will ihn aber nicht kränken.“
4335 „Im Gegenteil, wir machen gemeinsame Sache. Wir binden ihn beide.“
4337 „Meinst du, daß ein Mensch das Spiel versteht?“
4339 „Na, wenn er so dumm ist –“
4341 „Wir wissen doch gar nichts von den Anschauungen –“
4343 „So werden wir uns eben alle drei belehren. Schade, daß der steife
4344 Grunthe nicht mitspielen kann. Willst du?“
4346 „Ich werde mir’s überlegen.“
4348 La zog sich zu ihren Studien zurück. Se begab sich in das
4349 Gesellschaftszimmer, wo sie Saltner wieder mit Zeichnen beschäftigt
4350 fand.
4352 „Wenn ich mit meinen Mustern glücklich nach Deutschland
4353 zurückkomme“, rief er vergnügt, „so bin ich ein gemachter Mann.
4354 ›Martisch‹ muß Mode werden. Ich gründe einen Bazar für Marswaren.
4355 Schade nur, daß wir die Rohstoffe nicht haben werden. Was ist das
4356 zum Beispiel für ein wunderbares Gewebe, aus dem Ihr Schleier
4357 besteht? Die Stickerei darin bildet lauter funkelnde Sterne, die
4358 sich nirgends untereinander berühren; nirgends ist ein Grund
4359 sichtbar, der sie zusammenhält. Es scheint, als schwebe eine Wolke
4360 von Funken um Sie her.“
4362 „Das tut sie auch“, sagte Se lachend, „aber sie brennt nicht,
4363 fühlen Sie getrost! Kommen Sie gefälligst hierher, denn über den
4364 Strich gehe ich nicht.“
4366 Se hatte sich, mit einer chemischen Handarbeit beschäftigt, auf
4367 einem der niedrigen Diwane, wie die Martier sie lieben,
4368 niedergelassen, während Saltner an seinem eigenhändig
4369 hergerichteten Pult sich befand. Er legte den Zeichenstift fort und
4370 trat an Se heran, die sich mit ihrem Diwan bis dicht an die
4371 Schwerkraftgrenze gerückt hatte.
4373 „Geben Sie Ihre Hände her“, sagte Se.
4375 Sie nahm ein Ende des langen Schleiers und band damit Saltners
4376 Hände zusammen. Man konnte keinerlei Stoff erkennen. Es sah auch
4377 jetzt aus, als wenn ein Strom vom lichten Funken um seine Hände
4378 stöbe.
4380 „Fühlen Sie etwas?“ fragte Se.
4382 „Jetzt, nachdem Sie Ihre Finger fortgenommen haben, nichts. Kann
4383 man denn den Stoff überhaupt nicht fühlen?“
4385 „Wenigstens nicht mit der groben Haut von euch Menschen.“
4387 Saltner führte die zusammengebundenen Hände mit dem Schleier an
4388 seine Lippen.
4390 „Doch“, sagte er, „mit den Lippen fühle ich, daß etwas zwischen
4391 meiner Hand und meinem Mund ist.“
4393 „Nun strengen Sie einmal Ihre Riesenkräfte an, und reißen Sie die
4394 Hände voneinander.“
4396 „Oh, das wäre schade um den Funkenschleier.“
4398 „Versuchen Sie es nur.“
4400 Saltner zerrte seine Hände auseinander, aber je heftiger er zog, um
4401 so enger schloß sich der Knoten, und er merkte jetzt, wie sich die
4402 kleinen Sternchen in seine Haut eingruben.
4404 „Ja“, sagte Se, „der Stoff ist unzerreißbar, wenigstens kann er
4405 kolossale Lasten halten. Diese unsichtbar feinen Fäden, von denen
4406 jeder wohl einen Zentner tragen kann, sind für viele unserer
4407 Apparate ein unentbehrlicher Bestandteil. Jetzt sind Sie also
4408 gefesselt und können ohne meine Erlaubnis nicht mehr fort.“
4410 „Um die bitte ich auch gar nicht, ich finde es reizend hier“, sagte
4411 Saltner und beugte sich über die Lehne des Diwans, auf welche er
4412 die gebundenen Hände stützte.
4414 Se faßte seinen Kopf zwischen ihre Hände und bog ihn zu sich
4415 nieder, während sie ihm in die Augen sah, als wollte sie seine
4416 Gedanken ergründen.
4418 „Seid ihr eigentlich dumm, ihr Menschen?“ fragte sie plötzlich.
4420 „Nicht so ganz“, sagte Saltner, indem er sich noch tiefer
4421 herabbeugte.
4423 „Der Strich!“ rief Se lachend und schob seinen Kopf leicht zurück.
4424 „Geben Sie die Hände her.“
4426 Sie löste im Augenblick den Knoten und ergriff wieder die gläsernen
4427 Stäbchen, mit denen sie in einem Gefäß auf besondere Weise
4428 hantierte.
4430 „Sie haben mir noch immer nicht gesagt“, sprach Saltner, nach
4431 seinem Pult zurückgehend, „was für ein Stoff das ist, auf dem die
4432 Stickerei sitzt.“
4434 „Eine Stickerei ist es überhaupt nicht, sondern es sind Dela – wie
4435 heißt das? Aus Muscheln, kleine Kristalle, die sich darin bilden.“
4437 „Also etwas Ähnliches wie unsere Perlen –“
4439 „Aber sie leuchten von selbst. Und der Stoff ist Lis.“
4441 „Lis? Da bin ich ebenso klug.“
4443 „Lis ist eine Spinne, sie webt ein fast unsichtbares Netz.“
4445 „Und wie findet man das auf? Wie webt man die Fäden?“
4447 „Im polarisierten Licht, sehr einfach, und mit besonderen
4448 Maschinen. Und die Dela sind nicht daraufgesetzt, sondern sie
4449 liegen in Schlingen zwischen dünnen Schichten des Gewebes.“
4451 „Sie nannten die Dela Kristalle – wie ist es denn möglich, daß sie
4452 dieses Eigenlicht dauernd aussenden, ähnlich wie unsre
4453 Glühwürmchen?“
4455 „Sie müssen natürlich von Zeit zu Zeit ins Strahlbad, dann leuchten
4456 sie wieder ein paar Tage.“
4458 „Ins Strahlbad?“
4460 „Nun ja, sie werden einer starken, künstlichen Bestrahlung
4461 ausgesetzt. Das Licht trennt einen Teil der chemischen Stoffe der
4462 Kristalle voneinander, und indem diese sich nachher langsam wieder
4463 vereinigen, entsteht das Selbstleuchten.“
4465 „Also was wir Phosphoreszenz nennen. Und was haben Sie dort für
4466 eine Handarbeit?“
4468 Se antwortete nicht sogleich. Sie stellte gerade eine Kopfrechnung
4469 an, die sich auf ihre Arbeit bezog, und betrachtete dabei den
4470 Sekundenzeiger der Zimmeruhr.
4472 Da klang die Klappe des Fernsprechers, und gleich darauf vernahm
4473 man die Stimme von La. Sie fragte an, ob die ›Menschen‹ für einige
4474 Herren der Insel zu sprechen seien.
4476 „Es wird mir sehr angenehm sein, die Herren zu sehen“, sagte
4477 Saltner. „Mein Freund ist augenblicklich nicht anwesend, aber ich
4478 werde ihn sogleich rufen.“ –
4480 \section{12 - Die Raumschiffer}
4482 Grunthe beschäftigte sich auf der Oberfläche der Insel mit
4483 Messungen. Was ihn sowohl wie Saltner besonders wunderte, war der
4484 Umstand, daß die vom Ballon aus beobachtete Erdkarte auf dem Dach
4485 der Insel selbst durchaus nicht sichtbar war. Wie kamen die Martier
4486 überhaupt auf die Idee, eine solche Riesenkarte anzubringen, und
4487 auf welche erstaunliche Weise war sie hergestellt? Aber gerade
4488 darüber konnten die Forscher auf ihre Fragen keine Auskunft
4489 erhalten.
4491 Grunthe liebte es, sich soviel als möglich im Freien aufzuhalten,
4492 um sowohl die technischen Einrichtungen der Insel als auch die
4493 Erscheinungen der Natur am Nordpol zu studieren, ja er hatte schon
4494 mit Unterstützung einiger Martier Bootfahrten auf dem Binnenmeer
4495 und ebenfalls bis zum gegenüberliegenden Ufer vorgenommen, ohne
4496 jedoch auf weitere Spuren von Torm zu treffen. Er hatte dabei
4497 bemerkt, daß die Polinsel infolge ihrer versteckten Lage zwischen
4498 den übrigen höheren Inseln von den Ufern des Bassins aus überhaupt
4499 nicht wahrnehmbar und somit gegen zufällige Entdeckung geschützt
4500 war. So ernsthaft ihn diese Studien beschäftigten, war es ihm doch
4501 nebenbei sehr angenehm, mit einem triftigen Vorwand sich von dem
4502 Konversationszimmer fernzuhalten. Denn hier waren einen großen Teil
4503 des Tages über Se oder La, manchmal auch eine oder die andre der
4504 übrigen auf der Insel wohnenden Frauen anwesend, und die Aufgabe
4505 der Höflichkeit, sich mit diesen zu unterhalten, überließ er gern
4506 Saltner, der sich derselben mit Vorliebe unterzog. Im Freien
4507 dagegen war er ziemlich sicher, keiner von den Damen zu begegnen.
4508 Außerhalb der Schutzvorrichtungen, die sie von einem Teil der
4509 Erdschwere befreiten, war ihnen der Aufenthalt zu lästig; und sie
4510 wußten wohl, daß der schwerfällige Schritt und die gebeugte
4511 Haltung, die ihnen dort die eigene Körperlast auferlegte, ihre
4512 Anmut keineswegs erhöhten. Insbesondere den Menschen gegenüber, die
4513 sich hier ungezwungen in ihrem Element fühlten, zeigten sie sich
4514 nicht gern in dem Zustand physischer Unfreiheit.
4516 Da Saltner wußte, daß sich Grunthe in der Nähe aufhielt, konnte er
4517 ihn leicht benachrichtigen.
4519 Die Zahl der auf der Insel befindlichen Martier war nicht
4520 unbedeutend, sie mochte gegen dreihundert Personen betragen,
4521 worunter sich ungefähr fünfundzwanzig Frauen, aber keine Kinder
4522 befanden. Die Lebensweise dieser Kolonie entsprach nicht den
4523 Gewohnheiten der Martier auf ihrem eigenen Planeten; es waren nicht
4524 Familien, die sich hier angesiedelt hatten, sondern die Kolonisten
4525 bildeten eine ausgewählte Truppe mit militärischer Organisation,
4526 wie sie von den Martiern zur Vornahme wichtiger öffentlicher
4527 Arbeiten ausgerüstet wurde. Aber auch hier war dem Bedürfnis der
4528 Nume nach möglichst großer individueller Unabhängigkeit Rechnung
4529 getragen. Die einzelnen hatten sich je nach ihrer persönlichen
4530 Neigung zu Gruppen zusammengefunden und danach ihre Wohnung auf der
4531 Insel gewählt. Jede dieser Gruppen wurde durch einen der älteren
4532 Beamten geleitet, der die Ordnung der Arbeiten verteilte. Ihm stand
4533 eine der Damen zur Seite, welche gewissermaßen die häusliche
4534 Wirtschaft der Gruppe führte, die Verteilung der Nahrungsmittel
4535 beaufsichtigte und die regelmäßige Funktion der Automaten
4536 kontrollierte, während jedes Mitglied einer Gruppe eine bestimmte
4537 Zeit der Bedienung dieser Automaten widmete.
4539 Die Pflege der beiden Gäste hatten die Gruppen des Ingenieurs Fru
4540 und des Arztes Hil übernommen, denen als weibliche Assistenten La
4541 und Se angehörten. Es war natürlich, daß Saltner und Grunthe
4542 hauptsächlich mit den Mitgliedern dieser Gruppe verkehrten, wozu
4543 sich noch als täglicher Gast der Direktor der Kolonie, Ra,
4544 gesellte. Mit den übrigen Gruppen waren sie bisher nur gelegentlich
4545 in Berührung gekommen.
4547 Die Martier, welche im Begriff standen, ihren Besuch bei den Gästen
4548 zu machen, gehörten der Gruppe des Ingenieurs Jo an, dessen
4549 Tätigkeit Grunthe und Saltner hauptsächlich ihre Rettung
4550 verdankten. Selbstverständlich hatten sie nicht versäumt, ihm
4551 alsbald nach ihrer Wiederherstellung ihren herzlichsten Dank
4552 abzustatten.
4554 Mit ihnen zusammen erschien La. Sie trat zuerst Saltner entgegen
4555 und bot ihm mit einem reizenden Lächeln über den ›Strich‹ hinüber
4556 ihre Hand. Aber ehe noch Saltner in ein Gespräch mit ihr kam, wußte
4557 Se sie beiseite zu ziehen. Während Jo mit Saltner sprach,
4558 unterhielten sich die beiden Damen eifrig und leise, worauf Se das
4559 Zimmer verließ. Jo begrüßte Saltner in seiner offenen, nach
4560 martischen Begriffen etwas derben Weise und nannte die Namen seiner
4561 Begleiter. Jeder von ihnen grüßte nach martischer Sitte, indem er
4562 die linke Hand ein wenig erhob und die Finger derselben leicht
4563 öffnete und schloß. Saltner bewies die Fortschritte in seiner
4564 Bildung dadurch, daß er den Gruß in derselben Weise erwiderte. Die
4565 Martier wollten ihm jedoch an Höflichkeit nicht nachstehen und
4566 schüttelten ihm der Reihe nach auf deutsche Weise die rechte Hand,
4567 ohne sich merken zu lassen, wie sehr diese barbarische Zeremonie
4568 sie innerlich belustigte. Sie hüteten sich dabei sorglich, den
4569 Strich zu überschreiten, jenseits dessen die Erdschwere begann.
4571 Auf Saltners Einladung nahmen sie an der breiten Tafel in der Mitte
4572 des Zimmers Platz. Man hatte dieses Zimmer in Rücksicht auf
4573 zahlreiche Versammlungen so eingerichtet, daß ein großer Tisch die
4574 Länge desselben erfüllte und mit dem einen Ende über den ›Strich‹
4575 hinüberragte. Hier befanden sich die Plätze für die beiden
4576 Deutschen. In den Besuchsstunden, besonders aber am Abend, wenn die
4577 Arbeiten des Tages beendet waren, pflegte sich hier stets eine
4578 größere Gesellschaft zusammenzufinden. Dann wurde auch bei
4579 gemeinschaftlichen Gesprächen eine leichte Erfrischung in Form von
4580 Getränken eingenommen. Die Einhaltung dieser Plauderstunden war
4581 eine feststehende Sitte der Martier. Die Mahlzeiten dagegen, welche
4582 wirklich zur Sättigung dienten, fanden niemals gemeinschaftlich
4583 statt; dies galt bei den Martiern als unpassend. Beim Essen schloß
4584 sich ein jeder ab, und schon daß Saltner und Grunthe
4585 gemeinschaftlich zu speisen pflegten, erschien den Martiern als ein
4586 Zeichen der stark tierischen Natur der Menschen. Nach ihrer Ansicht
4587 war die Sättigung eine physische Verrichtung, welche nicht in die
4588 Gesellschaft gehörte; in dieser wurden nur ästhetische Genüsse
4589 gestattet. Zu solchen ästhetischen Genüssen gehörten Essen und
4590 Trinken allerdings auch, insofern sie dem reinen Wohlgefallen am
4591 Geschmack entsprachen und sich der Empfindungen der Zunge und des
4592 Gaumens nur zum freien Spiel bedienten, nicht aber insofern sie den
4593 Zweck der Ernährung und die Stillung des körperlichen Bedürfnisses
4594 zu erfüllen bestimmt waren.
4596 Auf Las Aufforderung, welche jetzt die Stelle der Wirtin vertrat,
4597 öffneten die Martier die auf dem Tisch stehenden Kästchen und
4598 bedienten sich der darin befindlichen Piks.
4600 Der Gebrauch dieser Piks ersetzte den Martiern in vollkommener
4601 Weise den Genuß, welchen die Menschen durch das Rauchen erreichen,
4602 ein leichtes, die Sinne mäßig beschäftigendes und die Nerven
4603 beruhigendes, damit den ganzen Gemütszustand behaglich hebendes
4604 Spiel, das aber dem Rauchen gegenüber den Vorteil hatte, daß es die
4605 Luft nicht verdarb und die übrigen Anwesenden nicht belästigte. Die
4606 Piks bestanden in Kapseln, etwa in der Größe und Gestalt einer
4607 kleinen Taschenuhr, die an leichte Aluminiumstäbe gesteckt und
4608 dadurch bequem hin und her bewegt wurden. Brachte man diese Kapsel,
4609 während man den Stiel in der Hand hielt, an die Stirn, so ging ein
4610 schwacher, angenehm erregender Wechselstrom durch den Körper,
4611 wodurch man sich wohltuend erfrischt fühlte. Die Bewegung der Hand
4612 und das Streichen der Stirn und Schläfen war ein sehr anmutiger
4613 Zeitvertreib. Dabei zeigte sich auf der Kapsel ein zartes
4614 Farbenspiel je nach der Größe des Widerstandes, den der Strom fand,
4615 und die Art der Berührung, die Wendungen des Piks boten eine reiche
4616 Abwechslung der Beschäftigung. Der Kenner wußte diese leichten
4617 Reize des Gefühls aufs feinste zu variieren. Wegen der Grazie und
4618 Zierlichkeit der Bewegungen, mit denen Se und La die Piks zu
4619 handhaben pflegten, hatte Saltner diesen Instrumenten den Namen
4620 Nervenfächer beigelegt.
4622 „Freut mich sehr“, sagte Jo, mit seinem Pik an die Stirn klopfend,
4623 „den Herrn Bat wieder wohlzusehen. Hätt’s nicht gedacht, als wir
4624 Sie unter dem Ballon hervorholten. Habe leider wenig Zeit gehabt,
4625 mit Ihnen zu plaudern, hätte gern etwas über Ihre Luftfahrt
4626 gehört.“
4628 „Dazu ist hoffentlich noch Gelegenheit“, sagte Saltner.
4630 „Fürchte nein“, erwiderte Jo. „Kommen nämlich, uns zu
4631 verabschieden. Morgen geht’s heim.“
4633 „Wie?“ fragte Saltner erstaunt.
4635 Jo deutete mit dem Pik nach einer Stelle des Fußbodens und sagte:
4636 „Nu.“
4638 Saltner mußte sich erst besinnen, daß Jo mit seiner Bewegung die
4639 Richtung nach dem Mars bezeichne, denn unwillkürlich stellte er
4640 sich die Fahrt nach dem Mars immer als einen Aufstieg gegen den
4641 Himmel vor. Aber der Mars befand sich gegenwärtig unter dem
4642 Horizont, und dahin deutete Jo.
4644 „Sie sollten mit uns kommen“, sagte Jo lächelnd. „Das ist doch noch
4645 ganz etwas anderes bei uns auf dem Mars wie hier auf der schweren
4646 Erde, wo man sich genieren muß, vor die Tür zu gehen.“
4648 „Ich danke“, erwiderte Saltner, „ich fürchte, auf dem Mars Sprünge
4649 zu machen, die mir nicht gut bekommen würden. Interessant wäre es
4650 ja freilich, Ihre wunderbare Heimat kennenzulernen, aber glauben
4651 Sie denn, daß ein Mensch bei Ihnen existieren kann?“
4653 „Gewiß könnte er das“, sagte einer der anwesenden Martier, „und
4654 zwar viel besser, als wir auf der Erde fortkommen. Ich bin
4655 überzeugt, daß Sie sich an die geringere Schwere bald gewöhnen
4656 würden und ebenso an die dünnere Luft. Beide Umstände kompensieren
4657 sich einigermaßen in der Wirkung auf den Organismus, und Sie müssen
4658 wissen, daß die Luft bei uns relativ reicher an Sauerstoff ist als
4659 hier. Wie wäre es auch sonst möglich, daß die Bewohner beider
4660 Planeten eine so große Ähnlichkeit besitzen?“
4662 „Ich bin Ihnen sehr verbunden für dieses Kompliment“, antwortete
4663 Saltner, „indessen ist unsere Expedition doch nicht auf einen so
4664 weiten Ausflug eingerichtet, und wir müssen zunächst daran denken,
4665 wieder nach Hause zu kommen.“
4667 „Es wird Ihnen wohl etwas einsam hier werden“ mischte sich La in
4668 das Gespräch.
4670 „Wie“, fragte Saltner überrascht, „gehen Sie auch fort?“
4672 „Morgen noch nicht, aber im Verlauf der nächsten – – ja, ich will
4673 es Ihnen lieber in Ihre Zeitrechnung nach Erdtagen übersetzen –,
4674 also in den nächsten vierzehn Tagen ungefähr werden wir fast alle
4675 die Erde verlassen haben.“
4677 „Aber davon höre ich das erste Wort.“
4679 „Weil wir überhaupt noch nicht von der Zukunft gesprochen haben –“
4681 „Es ist wahr, die Gegenwart war zu schön und zu reich –“
4683 „Nun, werden Sie nicht melancholisch! Und dann versteht es sich ja
4684 doch von selbst, daß wir im Winter nicht hierbleiben, ausgenommen
4685 die Wächter.“
4687 „Was für Wächter?“
4689 „Wir erwarten sie mit dem nächsten Fahrzeug vom Nu“, sagte Jo. „Sie
4690 sind unsre Ablösung – nur zwölf Mann, die hier überwintern und die
4691 Insel bewachen. Im Winter können wir unsre Arbeiten nicht
4692 fortsetzen, und die ganze Insel zu heizen, das wäre denn doch zu
4693 kostspielig.“
4695 „Und kommen Sie im Sommer zurück?“
4697 „Wir oder andere.“
4699 „Und ich denke, Sie bringen die Polarnacht nicht hier auf der Insel
4700 zu, sondern bei uns. Dort, wo wir auf dem Mars wohnen, haben wir
4701 dann gerade unsern herrlichen Spätsommer. Und wenn die Sonne hier
4702 am Nordpol wieder aufgeht, reisen Sie vom Mars ab und kommen dann
4703 im Lauf Ihres Mai hier an. Das ist gerade die rechte Zeit für den
4704 Pol – und dann werden Sie, denke ich, Ihre Freunde vom Mars zu
4705 Ihren Landsleuten zu führen wissen. Sie brauchen aber nicht jetzt
4706 schon mit Jo zu reisen, wir verlassen die Erde erst mit dem letzten
4707 Schiff.“
4709 La hatte dies zu Saltner gesagt. Und als sie ihn dabei so
4710 freundlich ansah, schien es ihm, als könne es gar nicht anders
4711 sein, er müsse mit nach dem Mars gehen. Aber was würde Grunthe dazu
4712 sagen?
4714 Allerdings hatten weder Saltner noch Grunthe bisher mit den
4715 Martiern über ihre nächste Zukunft gesprochen. Das hatte
4716 verschiedene Ursachen in zufälligen Umständen. Der Hauptgrund war
4717 jedoch, wohl ohne daß die beiden Deutschen sich darüber klar
4718 wurden, daß die Martier bisher es absichtlich vermieden hatten,
4719 sich über diese Frage zu äußern. Sie hatten selbst noch keinen
4720 Entschluß gefaßt. Auf die erste Lichtdepesche nach dem Mars über
4721 die Auffindung der Menschen hatte die Zentralregierung der
4722 Marsstaaten geantwortet, daß man zunächst die Fremdlinge beobachten
4723 und ausforschen und dann über sie Bericht erstatten solle. Dieser
4724 Bericht war vor kurzem abgegangen, die Antwort jedoch noch nicht
4725 eingetroffen. Deshalb hatten die Martier jede Hindeutung auf das
4726 weitere Schicksal ihrer Gäste vermieden, und sobald Grunthe und
4727 Saltner eine Frage in dieser Hinsicht zu stellen oder einen Wunsch
4728 zu äußern versuchten, waren sie darüber mit einer ausweichenden
4729 Antwort hinweggegangen. Wenn aber die Martier auf irgendeine Frage
4730 nicht eingehen wollten, so war es für die Menschen ganz unmöglich,
4731 sie dahin zu bringen. Die Leichtigkeit, mit welcher sie die
4732 Gedanken lenkten, und die Überlegenheit ihres Willens waren so
4733 groß, daß die Menschen ihnen folgen mußten und dabei kaum merkten,
4734 daß sie geleitet wurden. Aber Grunthe wie Saltner waren in der Tat
4735 noch so erfüllt von den Aufgaben, die ihnen auf der Insel gestellt
4736 waren, daß sie die Pläne über die Fortsetzung ihrer Reise selbst in
4737 ihren Gesprächen untereinander nur vorübergehend berührt hatten.
4738 Sie hatten sich zwar vorgenommen, in den nächsten Tagen einen
4739 definitiven Entschluß zu fassen und zu gelegener Zeit mit den
4740 Martiern darüber zu reden, bis jetzt war es aber noch nicht dazu
4741 gekommen. Grunthe glaubte nämlich, daß sie, falls nur die Erlaubnis
4742 der Martier erlangt war, jederzeit die Insel ohne Schwierigkeit
4743 würden verlassen können, weil er nach einer allerdings nur
4744 vorläufigen Untersuchung sich für überzeugt hielt, daß der Ballon
4745 mit verhältnismäßig geringer Mühe sich wieder herstellen ließe. Mit
4746 dem größten Teil ihrer Ausrüstung waren auch einige Reservebehälter
4747 gerettet worden, die komprimierten Wasserstoff enthielten.
4748 Allerdings konnte derselbe zu einer vollständigen Füllung des
4749 Ballons nicht ausreichen. Doch hoffte Grunthe, von den Martiern die
4750 Mittel zur genügenden Entwicklung des Gases zu erhalten. Er hatte
4751 bei seinen Studien auf der Insel gesehen, daß die Martier über so
4752 gewaltige Mengen elektrischen Stromes verfügten, daß er dadurch den
4753 Wasserstoff leicht aus dem Wasser des Meeres erhalten konnte.
4754 Sollte ihm aber hierzu die Beihilfe verweigert werden, so war er
4755 entschlossen, den Ballon entsprechend zu verkleinern und mit dem
4756 Reservevorrat an Gas und nur dem notwendigsten Gepäck die Heimreise
4757 anzutreten. Er hatte in der Bibliothek der Martier die
4758 Witterungsbeobachtungen gefunden, welche Jahre hindurch von ihnen
4759 am Nordpol ausgeführt waren. Daraus hatte er entnommen, daß während
4760 des Novembers regelmäßig andauernd nach Europa hinwehende Winde
4761 einzutreten pflegten, daß er aber früher keine Aussicht hatte,
4762 günstige Windverhältnisse zu erwarten. Demnach mußte er sich
4763 entscheiden, ob er sich jetzt, kurz vor Beginn der Polarnacht,
4764 unbestimmten atmosphärischen Verhältnissen anvertrauen wollte, oder
4765 ob er mitten in der Polarnacht es wagen wollte, bei günstigem Wind
4766 aufzusteigen. Das letztere schien ihm das Empfehlenswertere zu
4767 sein, da er bei gutem Wind hoffen durfte, in wenigen Tagen bewohnte
4768 Gegenden zu erreichen.
4770 Diese Überlegungen, welche Grunthe für sich angestellt hatte, waren
4771 von ihm zwar Saltner gegenüber beiläufig erwähnt worden, doch hatte
4772 sie dieser, eben weil sie die Zeit zur Ausführung noch nicht für
4773 gekommen hielten, zunächst nicht weiter erwogen. Ihm war vorläufig
4774 die Gegenwart alles, und jetzt erst stellten ihn Las Worte
4775 unmittelbar vor die Frage, was zu tun sei, wenn die Martier fast
4776 sämtlich die Insel verließen. Zugleich aber schien ihm im
4777 Augenblick eine so schnelle Trennung von seinen innig verehrten
4778 Gastfreunden und von La und Se insbesondere als etwas kaum
4779 Mögliches. Indem ihm Grunthes Pläne momentan durch den Kopf
4780 schossen, fühlte er doch, daß er nicht sofort eine Zusage geben
4781 dürfe, und in seiner Verwirrung zögerte er mit der Antwort, während
4782 die Martier mit allerlei verlockenden Schilderungen Las Einladung
4783 unterstützten.
4785 Zum Glück trat Grunthe jetzt ein, und die Zeremonie der Begrüßung
4786 mit den Martiern wiederholte sich. Nur La, an welcher Grunthe nach
4787 Möglichkeit vorbeisah, mußte sich mit einem steif ausfallenden
4788 martischen Fingergruß begnügen. Sie lächelte zu Saltner hinüber,
4789 und ihr Blick schien sagen zu wollen: „Wir werden ihn doch
4790 mitnehmen.“
4792 Grunthe hatte bereits auf dem Weg von Hil gehört, daß morgen ein
4793 Fahrzeug nach dem Mars abgehe.
4795 „Wie viele Nume verlassen uns denn?“ fragte er.
4797 „Dreiundfünfzig, darunter fünf Damen“, antwortete Jo.
4799 „Dann ist es wohl ein bedeutendes Fahrzeug? Wenn ich recht gehört
4800 habe, sind selbst Ihre größten Raumschiffe nicht auf viel mehr
4801 berechnet.“
4803 „Das ist richtig. Auf mehr wie sechzig können wir unsere Schiffe
4804 nicht gut einrichten, das Verhältnis zu den Richt-Bomben wird sonst
4805 zu ungünstig. Aber der ›Komet‹ ist ein vorzügliches Fahrzeug und
4806 trägt gut seine sechzig Personen – Sie haben also noch bequem
4807 Platz, und ich würde mich sehr freuen, Sie mitzunehmen.“
4809 „Sie sind selbst der Kommandant?“ fragte Grunthe.
4811 „Ich habe die Ehre, das Raumschiff ›Komet‹ zu führen, bestimmt nach
4812 der Südstation des Mars. Sie fahren darin sicherer durch den
4813 Weltraum als in Ihrem Ballon durch die Luft der Erde. Also
4814 abgemacht, kommen Sie mit?“
4816 „Daran ist nicht zu denken“, sagte Grunthe lächelnd. „Aber es würde
4817 mich sehr interessieren, der Abfahrt beizuwohnen. Wann findet sie
4818 statt?“
4820 64,63“, erwiderte Jo.
4822 Grunthe sah ihn fragend an.
4824 „Mittlere Marslänge“, fügte Jo hinzu.
4826 „Sie müssen schon“, begann La, „den Herren alle Maßangaben in ihre
4827 irdische Rechnungsweise umrechnen. In unsre Messungsmethode können
4828 sie sich nicht so schnell hineinfinden. Morgen um 1,6 ist die
4829 Abfahrt, das heißt nach Ihrer Stundenrechnung um drei Uhr. Sehen
4830 Sie sich nur die Sache einmal an, Grunthe, Sie werden Lust
4831 bekommen, bald selbst eine Fahrt mitzumachen. In der nächsten Zeit
4832 geht jeden dritten Tag ein Schiff ab!“
4834 „Der Mars“, fiel Jo ein, „ging sechs Tage vor Ihrer Ankunft durch
4835 sein Perihel – ich meine den Punkt, wo er der Sonne am nächsten
4836 steht –, und da er sich gerade jetzt auch in der Erdnähe befindet –
4837 Sie wissen, daß die Opposition vor wenigen Tagen stattfand –, so
4838 gibt es keine günstigere Reisezeit. Aber ›piken‹ Sie denn nicht?“
4840 „Ich danke, niemals“, sagte Grunthe, die angebotenen Piks
4841 zurückweisend. Dabei starrte er geradeaus und zog seine Lippen
4842 zusammen. Er rechnete in der Eile die augenblickliche Entfernung
4843 von Mars und Erde aus.
4845 „Wie lange Zeit pflegen Sie denn zur Fahrt zu brauchen?“ fragte
4846 Saltner.
4848 „Das kommt ganz auf die Umstände an. Bei günstiger Stellung der
4849 Planeten läßt sich die Reise auf dreißig Ihrer Tage und weniger
4850 reduzieren, ja wenn wir tüchtige Bombenhilfe geben, was freilich
4851 sehr teuer wird, so könnte man bei so großer Planetennähe wie jetzt
4852 sogar auf acht oder neun Tage herabkommen. Aber ich muß freilich
4853 bemerken, daß man eine solche Geschwindigkeit von 90 bis 100
4854 Kilometern in der Sekunde nur unter ganz besonderen Umständen
4855 benutzen würde.“
4857 „Ich begreife überhaupt noch nicht“, sagte Grunthe, sich wieder am
4858 Gespräch beteiligend, „wie sie Ihre Geschwindigkeit und Richtung in
4859 verhältnismäßig so kurzer Zeit verändern können. Ich weiß, daß Sie
4860 Ihr Fahrzeug mehr oder weniger diabarisch machen, daß Sie also die
4861 Anziehung der Sonne schwächer oder auch gar nicht auf dasselbe
4862 einwirken lassen können. Bei der Abfahrt heben Sie die Gravitation
4863 ganz auf, um zunächst genügend weit aus dem Anziehungsbereich der
4864 Erde zu kommen, nicht wahr?“
4866 „Ganz richtig. Aber sprechen Sie, bitte, weiter, damit ich sehe,
4867 wie weit Sie mit den Prinzipien unserer Raumreisen vertraut sind.“
4869 „Wenn Sie abreisen, verlassen Sie also die Erde und die Erdbahn in
4870 der Richtung ihrer Tangente mit einer Geschwindigkeit von etwa 30
4871 Kilometern in der Sekunde, denn das ist die Geschwindigkeit der
4872 Erde in ihrer Bahn, die Sie nach dem Beharrungsgesetz beibehalten.
4873 Sie kommen dadurch in immer größere Entfernung von der Sonne. Wenn
4874 Sie nun die Gravitation wieder wirken lassen, vielleicht nur
4875 schwach, so wird das denselben Erfolg haben, als wenn Sie sich mit
4876 der Geschwindigkeit der Erde in sehr großer Entfernung von der
4877 Sonne, zum Beispiel in der Entfernung des Uranus befänden, und die
4878 Bahn müßte dann eine hyperbolische werden, Sie würden sich auf
4879 einer Hyperbel von der Sonne entfernen.“
4881 Jo machte ein Zeichen der Zustimmung.
4883 „Nun kann ich mir wohl denken“, fuhr Grunthe fort, „daß Sie durch
4884 geschickte Kombinierung solcher Bahnen, indem Sie die Gravitation
4885 schwächen oder verstärken, in das Anziehungsgebiet des Mars
4886 gelangen können. Aber ich verstehe nicht, wie dies in so kurzer
4887 Zeit möglich ist. Sie müssen jedenfalls einen sehr weiten Weg
4888 durchlaufen, und wenn Sie sich von der Sonne entfernen wollen, so
4889 wird doch unter dem Einfluß der Gravitation Ihre Geschwindigkeit
4890 immer kleiner, niemals aber größer.“
4892 „Sie haben darin vollkommen recht“, erwiderte Jo. „Dies war der
4893 einzige Weg, der unsern Raumschiffern in der ersten Zeit unserer
4894 Weltraumfahrten zu Gebote stand. Sie hatten damals nur das Mittel
4895 der Gravitationsänderung, infolgedessen waren die Fahrten sehr
4896 zeitraubend, mühsam und gefährlich. Man konnte unter Umständen
4897 Jahre brauchen, um von der Erde bis in die Nähe des Mars
4898 zurückzugelangen, und ein kleiner Fehler in der Berechnung oder
4899 eine unvorhergesehene Störung konnte weitere Jahre kosten. Ja, wir
4900 haben damals noch manches Schiff verloren, von dem man nie wieder
4901 etwas gehört hat.“
4903 „Und wieso ist das jetzt besser geworden?“ fragte Grunthe.
4905 „Sie scheinen noch nichts von der Speschen Erfindung der
4906 Richtschüsse zu wissen“, bemerkte Jo.
4908 „Was ist das?“
4910 „Das ist alles zugleich, was bei Ihren Schiffen Schraube, Steuer
4911 und Anker sind. Wir können dadurch unsere Geschwindigkeit
4912 vergrößern, verringern, vernichten und umkehren sowie in jede
4913 beliebige Richtung lenken. Da es sich dabei aber um kolossalen
4914 Energieaufwand handelt, wie Sie sich denken können – wir haben es
4915 ja mit Geschwindigkeiten von durchschnittlich 30 Kilometer zu tun,
4916 deren Quadrate hier in Ansatz kommen –, so benutzen wir sie nur mit
4917 Maß. Die Gravitation arbeitet billiger.“
4919 Grunthe schwieg. Es war ihm unheimlich, sich dieser Macht gegenüber
4920 zu fühlen, welche selbst die Herrschaft der Sonne im Weltraum zu
4921 bändigen wußte.
4923 „Wie in aller Welt ist das möglich?“ fragte Saltner. „Sie haben ja
4924 im Raum keinerlei Widerstand, wie unsre Schiffe im Wasser. Können
4925 wir doch nicht einmal unsern Luftballon ohne Schleppseile lenken.“
4927 „Es fehlen Ihnen nur die nötigen Energiequellen und allerdings auch
4928 der nötige Platz zum Losschießen, wie wir ihn im Weltraum zur
4929 Verfügung haben. Sehen Sie, ein solcher Schuß, man nennt ihn einen
4930 ›Spe‹, entwickelt eine Energiemenge von ungefähr 500 Billionen
4931 Meterkilogramm, wenn ich richtig umgerechnet habe –“
4933 „Es trifft ziemlich zu“, sagte La, da Jo sie fragend ansah.
4935 „Dadurch können wir also“, fuhr Jo fort, „einem Raumschiff, das
4936 eine Masse von etwa einer Million Kilogramm besitzt, eine
4937 Geschwindigkeit von einem Kilometer in der Sekunde erteilen – wenn
4938 wir somit dreißig Spes anwenden, so ist es möglich, die
4939 Geschwindigkeit, die unser Fahrzeug von der Erde mitnimmt, auf Null
4940 herunterzubringen. So ein Schuß wird ganz allmählich entladen,
4941 sonst könnte ja niemand den Ruck aushalten – immerhin bringen wir
4942 das Schiff binnen drei Stunden zum Stehen. Sie sehen also, daß wir
4943 auf diese Weise an jeder beliebigen Stelle des Weltraums einfach
4944 haltmachen können. Wir heben die Anziehung der Sonne auf und heben
4945 die planetarische Tangentialgeschwindigkeit auf, und damit stehen
4946 wir still, unverändert in unsrer Lage zu allen Körpern unsres
4947 Sonnensystems. Hier können wir warten, so lange wir Lust haben; wir
4948 stellen uns zum Beispiel auf die Marsbahn und lassen den Planeten
4949 einfach herankommen. Aber das würde immer noch viel zu lange
4950 dauern. Wenn wir noch etwas mehr Bomben in passender Richtung
4951 anwenden, so können wir uns sofort direkt auf den Planeten oder
4952 vielmehr auf den Punkt seiner Bahn hinbewegen, an welchem wir ihn
4953 am schnellsten antreffen. Natürlich nehmen wir dabei, so gut es
4954 sich machen läßt, die Gravitation mit in Anspruch,
4955 selbstverständlich immer, wenn wir uns der Sonne zu nähern haben,
4956 also wenn wir vom Mars hierherfahren.“
4958 Grunthe verharrte noch immer in seinem Schweigen. Er rechnete jetzt
4959 aus, welche Geschwindigkeit wohl das Geschoß bekommen müsse, wenn
4960 durch den Rückschlag beim Abfeuern das ganze Raumschiff mit einer
4961 Geschwindigkeit von einem Kilometer pro Sekunde zurückgeschleudert
4962 werden solle. Schon begann das Gespräch der Martier sich anderen
4963 Gegenständen zuzuwenden, als er sagte:
4965 „Ich kann natürlich in Ihre Worte keinen Zweifel setzen. Aber wenn
4966 Sie der Masse des Schiffs von einer Million Kilogramm eine
4967 Geschwindigkeit von 1.000 Metern erteilen, so würde dies ja
4968 voraussetzen, daß das Geschoß selbst eine so ungeheure
4969 Geschwindigkeit erhielte, wie sie auf keine Weise sich erzeugen
4970 läßt.“
4972 „Warum nicht?“ fragte Jo.
4974 „Und wenn auch“, unterbrach Saltner, „was nützt Ihnen denn das
4975 Abschießen? Dadurch kann doch Ihr Schiff nicht bewegt werden?“
4977 „Das schon“, berichtigte ihn Grunthe, „nur der Schwerpunkt des
4978 ganzen Systems kann nicht verrückt werden. Der Schwerpunkt von
4979 Geschoß und Schiff behält seine Geschwindigkeit, aber dort befindet
4980 sich ja niemand, das Raumschiff entfernt sich von diesem
4981 Schwerpunkt infolge des Rückschlags, wie wir hören, um einen
4982 Kilometer in der Sekunde, das heißt, es bewegt sich dann nur noch
4983 mit einer Geschwindigkeit von 29 Kilometern vorwärts. Gleichzeitig
4984 aber muß das Geschoß nach der entgegengesetzten Seite mit einer
4985 solchen Geschwindigkeit fliegen, daß das Produkt aus dieser und der
4986 Masse des Geschosses gleich ist dem Produkt aus Masse und
4987 Geschwindigkeit des Schiffs (in bezug auf den Schwerpunkt), das
4988 gibt in unserm Fall die Zahl von tausend Millionen. Es fragt sich
4989 nun, welche Masse Ihre Geschosse besitzen –“
4991 „Hundert Kilogramm“, sagte Jo.
4993 „Dann würde ja“, sagte Grunthe kopfschüttelnd, „das Geschoß eine
4994 Geschwindigkeit von zehn Millionen Meter, das sind zehntausend
4995 Kilometer in der Sekunde bekommen – das ist mir undenkbar!“
4997 „Und dennoch ist es so“, versicherte Jo. „Ja, es ist dies noch gar
4998 nicht die Grenze des Erreichbaren. Wir haben berechnet, daß sich
4999 die Geschwindigkeit bis über die Lichtgeschwindigkeit hinaus muß
5000 steigern lassen –“
5002 „Sie wollen mich zum besten haben –“
5004 „Nicht im geringsten.“
5006 „Durch die Entwicklung von Explosionsgasen?“
5008 „Wer behauptet das? Das ist natürlich nicht möglich. Aber durch die
5009 Explosion des Weltäthers selbst.“
5011 Grunthe schüttelte nur den Kopf.
5013 „Ich las in Ihren Büchern“, fuhr Jo fort, „daß Sie Ihre Geschosse
5014 durch die Entwicklung der Pulvergase mit Geschwindigkeiten
5015 schleudern, welche größer sind als die Geschwindigkeit, mit der
5016 sich der Schall in der Luft fortpflanzt. Nun – der Vergleich trifft
5017 zwar nicht vollständig zu, aber in der Hauptsache – warum sollen
5018 wir nicht durch Entwicklung großer Äthervolumina Geschwindigkeiten
5019 erzeugen, die größer sind als diejenige, mit welcher sich das Licht
5020 im Äther fortpflanzt? Es kommt nur darauf an, Apparate zu haben,
5021 die das leisten.“
5023 „Und diese haben Sie?“
5025 „Allerdings. Wir können Ätherspannungen erzeugen, die wir plötzlich
5026 entlasten. Der kondensierte Äther heißt ›Repulsit‹. Unsere
5027 Geschütze und Geschosse bestehen aus – ja, wie soll ich Ihnen das
5028 übersetzen? Übrigens kommt die Sache im Grunde darauf hinaus, große
5029 Elektrizitätsmengen unter kolossalen Spannungen zu halten – und die
5030 Entdeckung hängt wieder mit derjenigen der Diabarie zusammen.“
5032 „Das ist uns freilich jetzt nicht möglich, so schnell zu fassen“,
5033 sagte Grunthe. „Und Sie wollen die Geschwindigkeiten noch
5034 steigern?“
5036 „Wir hoffen bis auf fünf mal hunderttausend Kilometer zu kommen.
5037 Wir überholen dann das Licht. Und wer auf einem solchen Geschoß in
5038 den Weltraum reiste, der würde zurückblickend die Zeiten der
5039 Vergangenheit auftauchen sehen, denn er käme zu jenen Lichtwellen,
5040 die vor seiner Abreise den Planeten verlassen haben.“
5042 „Ich danke Ihnen“, sagte Grunthe verstummend.
5044 „Übrigens“, setzte Jo noch hinzu, „ist es für die Richtschüsse
5045 natürlich kein Vorteil, so große Geschwindigkeiten zu wählen, denn
5046 der Energieverbrauch wächst ja mit der Geschwindigkeit im Quadrat.
5047 Wir würden viel besser fortkommen, wenn wir kleinere
5048 Geschwindigkeiten anwendeten, aber dann würden die Massen der
5049 Geschosse so groß werden müssen, daß wir sie nicht mitnehmen
5050 können. Tausend Richtgeschosse zu je hundert Kilo Masse machen
5051 ohnehin schon zehn Prozent unsrer gesamten Schiffsmasse aus.“
5053 Es traten jetzt neue Gäste ein, um sich ebenfalls die Menschen noch
5054 einmal anzusehen, ehe sie nach dem Mars abreisten. Denn sie wollten
5055 doch bei der Heimkehr auch etwas von den Eingeborenen der Erde zu
5056 erzählen haben. Ein Teil der Anwesenden erhob sich und
5057 verabschiedete sich. Auch Jo stand auf.
5059 „Nun“, sagte er, „schade, daß Sie nicht mit mir kommen wollen, doch
5060 wir sehen uns morgen vor der Abreise.“
5062 „Und auf dem Nu treffen wir uns alle bald wieder“, fügte La hinzu.
5063 „Wer weiß“, sprach sie neckend zu Jo, „ob wir Sie im ›Meteor‹ nicht
5064 noch überholen und eher zu Hause sind als Sie. Oß wird
5065 wahrscheinlich den ›Meteor‹ führen.“
5067 „Da kennen Sie den alten Jo schlecht“, erwiderte Jo lachend. „Man
5068 fährt nicht fünfundzwanzig Jahre zwischen Mars und Erde, um sich
5069 von solch jungem Springinsfeld überholen zu lassen.“
5071 „Sie sind eben ein zu guter Lehrer für Oß gewesen, da ist’s kein
5072 Wunder, daß er jetzt auch seine Sache versteht.“
5074 „Das tut er, gewiß, das tut er“, sagte Jo, indem er La
5075 freundschaftlich das Haar streichelte. „Aber was will das jetzt
5076 sagen – das heißt, Oß ist ein tüchtiger Techniker, brillanter
5077 Abariker, weiß es – doch um die Überfahrt zu machen, dazu gehört
5078 heute nicht mehr viel, das kann man lernen. Ja, liebe La, vor –
5079 nun, Sie lebten wohl noch nicht, als ich meine erste Fahrt als
5080 Lehrling machte, da war’s etwas anderes; da gab’s noch keine
5081 Außenstation auf der Erde, von der aus man den Mars jederzeit sehen
5082 und nach ihm telegraphieren konnte. Und wenn so ein Schiff zehn
5083 oder zwanzig Richtschüsse zum Anlegen mithatte, da galt es schon
5084 als besonders fein ausgerüstet. Da haben wir Dinge erlebt, wovon
5085 Ihr junges Volk keine Ahnung habt.“
5087 „Erzählen Sie“, bat La, „bleiben Sie noch, Jo, Sie müssen uns etwas
5088 erzählen. Sie haben es eigentlich längst versprochen. Setzen Sie
5089 sich, die Bate müssen es auch hören.“
5091 \section{13 - Das Abenteuer am Südpol}
5093 Grunthe und Saltner hatten sich inzwischen mit den übrigen Martiern
5094 unterhalten. Diesmal waren sie recht gründlich nach allerlei
5095 Einrichtungen der Menschen ausgefragt worden. Grunthe beschrieb
5096 ihnen auf der Karte die Wohnplätze der verschiedenen Rassen und die
5097 Abgrenzungen der bedeutendsten Staaten. Sie waren sehr erstaunt zu
5098 hören, daß es große Gebiete der Erde gäbe, die man noch gar nicht
5099 oder sehr wenig kenne, und daß ihre Einwohner keinerlei Einfluß auf
5100 die Geschicke der ganzen Menschheit ausübten. Bei den Martiern
5101 bestehe zwar auch ein sehr großer Unterschied zwischen der Bildung
5102 der einzelnen Bewohner und Volksstämme, aber gänzlich
5103 unzivilisierte Landschaften gäbe es überhaupt nicht. Grunthe fragte
5104 nach der Anzahl der Marsbewohner und erfuhr zu seiner Überraschung,
5105 daß sie nicht weniger als dreitausendeinhundert Millionen betrüge,
5106 also das doppelte der Zahl der Menschen, auf einer viermal so
5107 kleinen Oberfläche zusammengedrängt wie die der Erde.
5109 „Da können wir Ihnen einen Teil von uns überlassen“, sagte einer
5110 der Martier scherzend.
5112 „Es würde Ihnen auf der Erde zu schwer werden“, erwiderte Saltner,
5113 dem der Gedanke eines Einfalls der Martier auf die Erde recht
5114 bedenklich erschien. „Lieber kommen wir ein wenig zu Ihnen.“
5116 „Aber erst lernen Sie ordentlich balancieren“, ertönte eine Stimme
5117 aus der Luft. „Ich werde gleich einmal nachsehen.“
5119 Es war Ses Stimme. Sie hatte die Klappe des Fernsprechers geöffnet
5120 und gerade Saltners Worte verstanden.
5122 Gleich darauf erschien sie an der Tür. Um seine Geschicklichkeit zu
5123 erweisen, überschritt Saltner den ›Strich‹ und ging ihr vorsichtig
5124 entgegen. Sie lachte herzlich und rief, ihm die Hand
5125 entgegenstreckend: „Es geht schon ganz gut, Sie haben Fortschritte
5126 gemacht.“
5128 Saltner ergriff die Hand und bückte sich, um sie an seine Lippen zu
5129 führen. Diese Verbeugung ging auch ganz gut vonstatten, aber als er
5130 sich aufrichten wollte, geschah es zu plötzlich, und er lief
5131 Gefahr, nach hinten zu stürzen. Da er sich über sich selbst lustig
5132 machte, so zeigten auch die Martier ihre Heiterkeit über seine
5133 vorsichtigen Bewegungen und baten ihn dann, ihnen doch einige
5134 seiner Kraftproben zu zeigen, von denen sie gehört hatten.
5136 Eben hatte er zwei der Martier mit Leichtigkeit in die Luft
5137 gehoben, als sich La nach ihm umdrehte.
5139 „Was wollen Sie über dem ›Strich‹?“ sagte sie scherzhaft drohend.
5141 Saltner sprang schleunigst einen Schritt zurück, hatte aber die
5142 beiden Herren vom Mars noch nicht niedergesetzt, und in dem
5143 Augenblick, als er den ›Strich‹ passierte, wurden sie ihm zu
5144 schwer, so daß sie ziemlich unsanft zur Erde kamen.
5146 Während er sich entschuldigte, rief La: „Alle an den Tisch! Jo
5147 erzählt von seiner ersten Erdfahrt, bitte, bitte!“
5149 Dem allgemeinen Drängen konnte Jo nicht widerstehen. Auch auf dem
5150 Mars spinnt ein alter Seemann gern ein Garn. Er setzte sich oben an
5151 den Tisch. Se und La saßen dicht am ›Strich‹ neben den beiden
5152 Deutschen.
5154 Jo nahm bedächtig ein Pik, legte es an die Stirn, an das rechte und
5155 an das linke Auge, und sah sich dann noch einmal im Zimmer um.
5157 Se verstand ihn.
5159 „Unter dem Tischrand“, sagte sie. „Greifen die Herren nur zu.“
5161 Schmunzelnd zog Jo ein Mundstück hervor und probierte das Getränk.
5163 „Ein feiner Tropfen“, sagte er.
5165 Ein Teil der Martier und auch Saltner folgten seinem Beispiel. La
5166 lehnte sich bequem zurück, Se nahm ihre chemische Handarbeit auf,
5167 und Grunthe zog sein Notizbuch hervor, um sich einige
5168 stenographische Aufzeichnungen zu machen.
5170 „War damals siebzehn Jahr alt“, begann Jo seine Erzählung.
5172 „Marsjahre“, sagte La leise zur Erklärung.
5174 „– hatte eben meinen technischen Kursus absolviert, als ich mich
5175 beim Kapitän All meldete, der mit der ›Ba‹, vierundzwanzig
5176 Personen, nach der Erde abgehen sollte. Wollte mich eigentlich
5177 nicht mitnehmen, weil ich noch zu jung sei, aber da im letzten
5178 Augenblick einer von der Mannschaft verhindert wurde und kein
5179 andrer sich gemeldet hatte, so kam ich mit. Fünf Monate waren wir
5180 unterwegs und hatten glücklich so manövriert, daß wir der Erde
5181 parallel flogen, genau in der Achse über dem Südpol. Sie hatten
5182 Sommer dort unten, aber um den Pol herum war alles von dichten
5183 Wolken bedeckt. Wir sahen auf der Erde nur ihre weiße, von der
5184 Sonne beglänzte Wolkenoberfläche, und wo sie im Schatten
5185 verschwand, spielten die Südlichter in rötlichen Streifen. Wir
5186 ließen uns sinken und machten uns, als wir tief genug gekommen
5187 waren, so leicht, daß wir als Luftballon in der Atmosphäre
5188 schwammen. Dann ging es durch die Wolken hinab, und wir kamen auch
5189 glücklich, leider aber mit einer Abweichung von ein paar
5190 Kilometern, auf den Pol. Nun, Sie wissen, auf dem Südpol ist’s
5191 nicht so schön wie hier, ’s ist ringsum Festland-Eis, eine
5192 Hochfläche von ein paar tausend Metern, wie Sie’s hier nebenan
5193 haben – in – wie heißt das Ding?“
5195 „Grönland.“
5197 „Gut. Nun mußten wir aber das Schiff nach dem Pol schaffen, denn
5198 wir hatten das schwere Schwungrad für die Station, die wir
5199 vorbereiten sollten, auszuladen. Deshalb war All sehr ungehalten,
5200 daß er von der Erdachse abgekommen war. Aber dieselbe Ursache, die
5201 uns abgetrieben hatte, verhinderte uns, auch jetzt ans Ziel zu
5202 gelangen. Das war der herrschende Wind. Ich sagte schon, daß wir
5203 uns in der Atmosphäre nicht anders wie einer ihrer Luftballons
5204 verhalten können. Wir können uns leichter machen als die Luft, aber
5205 ihren Strömungen unterliegen wir dabei ebenso wie ihrem
5206 Widerstand.“
5208 „Verzeihen Sie“, begann Grunthe, „ich habe mich schon immer
5209 gewundert, gerade weil sich Ihr Raumschiff in der Atmosphäre wie
5210 ein Luftballon handhaben läßt, und zwar mit dem wunderbaren
5211 Vorteil, weder Ballast noch Gas opfern zu müssen, da Sie sich nach
5212 Belieben leicht oder schwer machen können, ich habe mich gewundert,
5213 daß Sie nicht, nachdem Sie einmal am Pol die Erdgeschwindigkeit
5214 gewonnen haben, einfach mit Ihren Raumschiffen nach Europa oder den
5215 Vereinigten Staaten von Nordamerika gekommen sind – kurzum, warum
5216 Sie so ängstlich in der Befahrung unsres Luftmeers sind.“
5218 „Und ich“, erwiderte Jo, „habe mich allerdings auch gewundert, wie
5219 Sie sich diesen gebrechlichen Dingern in einer Atmosphäre
5220 anvertrauen können, die so dicht und schwer ist wie die Ihrige, und
5221 in welcher nach allen Richtungen die tollsten Stürme einherrasen.“
5223 „Ich habe“, bemerkte La, „in einem der Bücher gelesen, die Sie
5224 mitgebracht haben, von den Entdeckungsreisen der Menschen auf der
5225 Erde. Da spricht ein Seefahrer seine Verwunderung darüber aus, daß
5226 die Eingeborenen in irgendeiner Inselgruppe in ihren gebrechlichen
5227 Kähnen weite Fahrten unternehmen, an die er sich in seinem großen
5228 Dampfschiff nicht wagen würde, weil er die Gefahren der Tiefe nicht
5229 zu vermeiden weiß. Ähnlich mag es sich wohl mit unsern Raumschiffen
5230 und Ihren Luftballons verhalten. Bedenken Sie, daß wir Ihre
5231 Atmosphäre noch sehr wenig kennen –“
5233 „Und vor allen Dingen“, fuhr Jo fort, „daß unsre Raumschiffe, die
5234 aus Stellit bestehen, nicht darauf eingerichtet sind, den großen
5235 Druck Ihrer Luft und den Widerstand, wenn wir nicht mit dem Wind
5236 fliegen, zu ertragen. Das Stellit ist sehr fest in der Kälte des
5237 Weltraums, aber in der Wärme und Feuchtigkeit der Luft wird es
5238 schnell angegriffen. Außerdem sind wir luftdicht durch unsre Kugel
5239 von außen abgeschlossen und können uns darum außerhalb derselben an
5240 nichts wagen. Die Technik unserer Luftschiffahrt auf dem Mars läßt
5241 sich auf der Erde aus verschiedenen Gründen nicht anwenden. Sie
5242 dürfen sich also nicht wundern, daß es uns bis jetzt noch nicht
5243 eingefallen ist, unsre Raumschiffe an unbekannte Gefahren zu wagen,
5244 durch die uns möglicherweise die Rückkehr abgeschnitten worden
5245 wäre. Doch sind bereits Versuche geglückt, diabarische Fahrzeuge
5246 mit Öffnungen herzustellen, und das, was uns noch fehlt, ist
5247 eigentlich nur ein genügend widerstandsfähiger Stoff für dieselben.
5248 Aber auch hier steht die Abhilfe bevor, und dann fahren wir zu
5249 Ihnen.“
5251 „Wenn Sie zu uns kommen“, sagte La lächelnd zu Grunthe, „werde ich
5252 Ihnen mit Se eine Privatvorlesung über Raum- und Lufttechnik
5253 halten.“
5255 „Dann fürchte ich leider, darauf verzichten zu müssen, denn ich
5256 gedenke vorläufig hierzubleiben.“
5258 „So werde ich Ihnen einen ausführlichen, schönen, gelehrten Brief
5259 schreiben, verlassen Sie sich darauf!“
5261 Grunthe verbeugte sich mit zusammengepreßten Lippen, und Jo fuhr
5262 fort:
5264 „Nun kurzum, wir hatten keine Wahl, wir mußten jetzt mit dem
5265 Raumschiff nach dem Pol. Da nun aber das Wetter nicht besser wurde
5266 – das heißt, der Himmel war klar, aber die Luft blies vom Pol her
5267 –, so beschloß All, den Versuch zu wagen, uns nach dem Pol
5268 hinzuwinden. Wir hatten große Mengen von mit Lis durchzogenen Tauen
5269 mit. Dieses Tau legten wir vom Schiff bis zum Pol aus, verankerten
5270 es dort gründlich und setzten mit der Winde an. Das Schiff wurde
5271 nur soweit leicht gemacht, daß es sich gerade hob, ohne Gefahr, auf
5272 dem Eis aufzulaufen. Denn es zu schleifen durften wir nicht wagen,
5273 darauf ist unsere Stellitkugel nicht eingerichtet.
5275 Die Arbeit ging natürlich langsam vorwärts, aber wir waren in
5276 vierundzwanzig Stunden doch einen Kilometer vorgerückt. Leider
5277 frischte der Wind immer stärker auf und wurde böig. Bei den Stößen
5278 bog sich die Kugel bedenklich an der Haftstelle des Seiles, und All
5279 hielt es für nötig, die ganze Kugel in ein Netz zu fassen. Es war
5280 eine furchtbare Arbeit, in dieser Luft und Schwere die Seile über
5281 die fünfzehn Meter hohe Kugel zu spannen, und daß keiner von uns
5282 dabei verunglückt ist, bleibt mir heute noch ein Rätsel. Todmüde
5283 ging es am dritten Tag wieder an die Winde. Eine Maschine hatten
5284 wir leider nicht mit, wir mußten mit unsern eignen Kräften
5285 arbeiten. Am fünften Tag waren wir bis auf einen Kilometer heran.
5286 Wir arbeiteten immer vier Mann und wurden alle Stunden abgelöst.
5287 Lieber machten wir den Weg hin und her zum Schiff, als daß wir uns
5288 ohne Erholung dem Druck der Schwere länger ausgesetzt hätten. Zur
5289 Rückfahrt benutzten wir übrigens einen Segelschlitten; das war
5290 unsre größte Freude, so der Ruhe mit Bequemlichkeit
5291 entgegenzufahren. Eben hatte ich mich mit meinen Kameraden
5292 aufgesetzt, und in zwei Minuten waren wir bis auf die Hälfte des
5293 Weges zum Schiff herangekommen, das nicht höher als etwa zehn Meter
5294 über dem Eis schwebte. Die Strickleiter hing aus der Luke bis zum
5295 Boden herab, und in weiteren zwei Minuten hofften wir in unsren
5296 Hängematten zu liegen.
5298 Plötzlich sehen wir von der Seite und halb nach vorn hin etwas
5299 Gelblich-Weißes herantrotten, zwei große vierfüßige Tiere, wie wir
5300 sie noch nie gesehen hatten. Es waren, was Sie Eisbären nennen,
5301 aber damals wußten wir noch nicht, was das heißen will, wenn man
5302 ihnen waffenlos begegnet. Waffen hatten wir überhaupt nicht mit,
5303 nur die langen, mit Eisenspitzen versehenen Stangen, mit denen wir
5304 unsern Schlitten dirigierten und ihm nachhalfen. Noch niemals war
5305 uns auf dieser öden Erdfläche, außer einigen Vögeln, irgendein Tier
5306 begegnet. Von Raubtieren, die dem Numen gefährlich sind, wußten wir
5307 überhaupt nichts als aus den alten Überlieferungen der Vorzeit, da
5308 es solche auf dem Mars noch gegeben haben soll. Aber als diese
5309 Bestien, sobald sie uns erblickten, mit gierigen Augen auf unsern
5310 Schlitten zutrabten, dachten wir uns doch, daß die Sache nicht
5311 geheuer sei. Wir konnten freilich nichts tun, als mit unsern Picken
5312 die Fahrt unsres Schlittens beschleunigen, wobei wir dem Wind das
5313 Beste überlassen mußten. Ließ der Wind einen Augenblick nach, so
5314 mußten uns die Bären den Weg abschneiden. Es war eine fatale
5315 Situation, doch sahen wir dieselbe nicht als besonders bedenklich
5316 an, da wir glaubten, ihnen mit unsern Stöcken gewachsen zu sein.
5317 Wir waren jetzt nur noch hundert Meter von der Strickleiter
5318 entfernt, und man war bereits vom Schiff aus auf uns aufmerksam
5319 geworden. All selbst und zwei Mann, mehr hatten an der Luke nicht
5320 Platz, standen mit Gewehren bereit, denn damit war die Expedition
5321 für alle Fälle versehen. Sie wagten aber nicht zu schießen, weil
5322 das Schiff an dem langen Tau stark hin- und herschwankte und die
5323 Bären jetzt so dicht an dem Schlitten waren, daß wir selbst hätten
5324 getroffen werden können; ein sicheres Zielen war ja nicht möglich.
5325 Zudem hatten wir auch noch keine Erfahrung, wie Luftwiderstand und
5326 Schwere auf der Erde unsere Geschosse ablenken. Das Telelyt war
5327 damals noch nicht für Handwaffen im Gebrauch.
5329 Ich stand vorn am Schlitten. Die Gefährten riefen mir zu, direkt
5330 auf die Strickleiter zu halten und sie sofort zu erfassen. Wir
5331 durften ja die Geschwindigkeit des Schlittens nicht mäßigen. Es
5332 handelte sich noch um Sekunden. Da stößt der Schlitten an irgendein
5333 kleines Hindernis und wird von seinem Weg abgelenkt. Ich fürchte,
5334 daß ich die Strickleiter verfehle, und renne den Stock so stark in
5335 das Eis, daß er mir aus der Hand gerissen wird. Wir sausen an der
5336 Leiter vorbei. Da pfeift es über uns, und der eine Bär wälzt sich
5337 in seinem Blut. Durch die Wendung des Schlittens hatte All zum
5338 Schuß kommen können. Der andere aber ist unmittelbar am Schlitten.
5339 Unglücklicherweise stechen die beiden zuletzt Stehenden mit ihren
5340 Picken nach ihm. Der Bär ist verwundet, aber mit einem Tatzenschlag
5341 hat er den armen Tam vom Schlitten gerissen. Er erfaßt ihn an
5342 seinen Kleidern und trabt mit ihm davon.
5344 Inzwischen war All mit einer Anzahl bewaffneter Leute die Leiter
5345 herabgestiegen, und wir hatten den Schlitten zum Stehen gebracht.
5346 Der Bär aber lief mit seiner Beute so schnell, daß All ihm nicht
5347 folgen konnte; Sie wissen ja, daß wir schwer an uns zu tragen
5348 haben, wenn wir uns auf der Erde bewegen sollen. Zu schießen wagte
5349 All nicht um Tams willen; wenn auch dieser nicht selbst getroffen
5350 wurde, so wäre er doch verloren gewesen, sobald der Bär nicht
5351 sofort auf der Stelle tot war.
5353 Unsre Bestürzung war groß. Wir suchten den Bären durch Schreien
5354 einzuschüchtern, aber er kümmerte sich um nichts. Die Entfernung
5355 zwischen ihm und uns vergrößerte sich schnell.
5357 ›Wir können ihn nicht stellen‹, rief All, ›doch folgen müssen wir
5358 ihm. Ich gehe selbst, zwei Leute genügen zur Begleitung. Die andern
5359 zurück aufs Schiff!‹
5361 Jetzt sahen wir, daß der Bär die Richtung auf unsern Arbeitsplatz
5362 am Pol einschlug. Unsre Gefährten an der Winde hatten ebenfalls den
5363 Vorgang bemerkt. Sie stellten die Arbeit ein und beratschlagten
5364 offenbar, ob sie sich dem Schlitten anvertrauen oder auf das Gerüst
5365 flüchten sollten, das über der Winde erbaut war. Da der Bär sich
5366 schnell näherte, so wählten sie das letztere. Auch sie suchten den
5367 Bär durch Lärm zu verscheuchen, aber vergebens.
5369 Als All erkannte, daß der Bär auf die Arbeiter an der Winde zulief,
5370 hieß er jeden seiner Begleiter noch ein Gewehr mitnehmen, um sie
5371 womöglich ihnen zuzustellen. All hatte noch nicht die Hälfte des
5372 Weges zurückgelegt, als der Bär bereits bei der Winde ankam. Wir
5373 waren inzwischen, mit Ausnahme Alls und seiner Begleitung, in das
5374 Schiff zurückgekehrt und beobachteten von dort den Vorgang. Die
5375 Leute auf dem Gerüst ärgerten offenbar den Bären. Er ließ Tam am
5376 Fuß des Gerüstes liegen, setzte sich auf die Hinterbeine und schlug
5377 seine Tatzen in die Winde ein, als wolle er sie umreißen. Kaum
5378 hatte All bemerkt, daß Tam nicht mehr geschleppt wurde, als er auf
5379 etwa fünfhundert Meter auf den Bären anlegte. Einen Augenblick
5380 zögerte er noch, um eine günstigere Stellung abzuwarten. Da schien
5381 es, als wolle der Bär von der Winde ablassen und sich wieder seiner
5382 Beute zuwenden.
5384 All drückte los.
5386 Eine Sekunde später sahen wir den Bären zusammenstürzen. Mehr sahen
5387 wir nicht. im Moment darauf erhielten wir einen Stoß, daß wir alle
5388 übereinander fielen. Als wir uns aufrafften, fanden wir das
5389 Raumschiff um wenigstens fünfzig Meter gehoben und vom Wind mit
5390 großer Geschwindigkeit davongetrieben. Es war nicht anders denkbar,
5391 als daß Alls Kugel das dünne Tau zerschnitten, der Druck des Windes
5392 es vollends zerrissen hatte.
5394 Der erste Steuermann übernahm das Kommando. Aber es war sehr
5395 schwierig, etwas zu tun.
5397 Die Anker heraus und tiefer!
5399 Das Schiff streifte in drohender Nähe des Eises hin. Wenn die Anker
5400 nicht bald faßten, so war keine Aussicht, die Gefährten
5401 wiederzusehen.
5403 Aber die Anker tanzten über die völlig glatte, hart gefrorene
5404 Fläche des Eises hin, ohne zu fassen. Glücklicherweise leistete uns
5405 das lange Seil ausgezeichnete Dienste, an welchem wir das Schiff
5406 nach dem Pol hinbugsiert hatten. Es diente uns jetzt als
5407 Schleppseil, indem wir es in einer Länge von fast tausend Meter
5408 nachzogen. Von Minute zu Minute hofften wir über Spalten zu kommen,
5409 in denen es sich vielleicht verfangen könne. Leider wurde der Wind
5410 immer stärker und steigerte sich zum Sturm. Wir wußten aus der
5411 Karte, daß es nicht mehr lange dauern konnte, bis wir zu der Stelle
5412 gelangten, an der das Eisfeld in steilem Abfall nach dem Meer hin
5413 abstürzt. Vorher freilich mußten große Bruchspalten kommen, und
5414 darauf setzten wir unsre Hoffnung.
5416 Fast eine Stunde mochten wir so dahingerast sein, schon sahen wir
5417 in der Ferne das Meer auftauchen – da kamen auch die Spalten. Würde
5418 das Tau sich verfangen? Die Anker nutzten uns nichts mehr, denn die
5419 Oberfläche des Eises wurde jetzt so unregelmäßig, daß wir uns höher
5420 erheben mußten, um nicht gegen einen Vorsprung geschleudert zu
5421 werden, und die Ankerseile waren nur kurz. Da, endlich gibt es
5422 einen Ruck, daß wir taumeln – doch die Fahrt geht wieder weiter –
5423 aber jetzt, jetzt halten wir an, das Seil hat sich gespannt! Doch
5424 was ist das? Ein furchtbarer Windstoß von oben drückt unser Schiff
5425 nach dem Boden zu; da wir dem Sturm nicht mehr folgen, drängt er
5426 uns hinab, das Schiff prallt gegen den Boden und erhebt sich aufs
5427 neue – noch ein solcher Stoß, und wir sind verloren. Wir müssen
5428 steigen, wir machen uns schwerelos und heben uns in die Höhe. Aber
5429 war die Hebung zu stark oder hat die veränderte Richtung das Seil
5430 aus der Spalte gelöst – kurzum, es gibt nach, wir schnellen in die
5431 Höhe, das Seil hängt frei herab, und wir folgen wieder dem Sturm –
5432 wir schweben über dem Absturz des Gletschers, vor uns das wütende,
5433 mit Eisschollen erfüllte Meer. – Jetzt blieb nichts übrig, als nach
5434 oben zu entfliehen, in höhere Schichten der Atmosphäre. Wir wußten
5435 aus der Karte, daß wir eine breite Meeresbucht zu überfliegen
5436 hatten, jenseits deren sich hohe feuerspeiende Berge erheben. Schon
5437 sahen wir von unsrer Höhe ihre Rauchwolken am Horizont. Wir fliegen
5438 immer direkt nach Norden auf einem Meridian, der in der Richtung
5439 nach der großen Insel hinläuft, die Sie, wie ich aus Ihrer Karte
5440 gesehen habe, Neuseeland nennen. An Landung konnten wir nicht mehr
5441 denken, wir mußten hinauf. Aber dazu mußten wir noch eine schwere
5442 Arbeit vollbringen, an die ich nicht gern denke. Das Netz um unser
5443 Schiff mit dem langen Seil mußte fort. Denn was außerhalb unsrer
5444 Kugel ist, können wir nicht diabarisch machen, es hätte unsre
5445 Bewegung im Raum gehindert. Ich war der Jüngste, ich mußte in der
5446 untern Luke hängend das Seil kappen; dann wurden von oben die
5447 Verbindungen des Netzes gelöst, und ich hatte die Aufgabe, die
5448 Seile nach unten zu ziehen. Dabei herrschte hier oben eine Kälte,
5449 daß das Quecksilber gefror. Glücklicherweise behalten die Lisseile
5450 ihre Geschmeidigkeit, sonst wäre die Arbeit unmöglich gewesen. Ich
5451 wundere mich noch heute, daß ich nicht abgestürzt bin, denn ich
5452 mußte in der Erdschwere arbeiten.
5454 Endlich war auch das geschehen. Die Luken wurden geschlossen, und
5455 wir ließen die Erde hinter uns.“
5457 \section{14 - Zwischen Erde und Mars}
5459 Jo tat einen Zug aus seinem Mundstück und fuhr dann in seiner
5460 Erzählung fort.
5462 „Was war nun zu tun? Nach kurzer Ruhepause versammelte uns der
5463 erste Steuermann, Mitt hieß er, der später die berühmte Umschiffung
5464 des Jupiter ausführte, zu einer Beratung. Sollten wir versuchen,
5465 noch einmal die Erdachse zu gewinnen und nach dem Pol
5466 zurückzukehren? Sollten wir die Unseren ihrem Schicksal überlassen
5467 und die Heimreise nach dem Mars antreten? Wir hatten den vierten
5468 Teil unserer Mannschaft und den Kapitän verloren. Es war natürlich,
5469 daß wir zu ihnen zurückwollten. Aber es war auch nicht leicht. Eine
5470 nochmalige Landung und eine zweite Abfahrt von der Erde verlangten
5471 einen solchen Aufwand von Energie und vor allem von Richtschüssen,
5472 daß die Gefahr vorlag, dadurch unsre Rückkehr nach dem Mars
5473 überhaupt in Frage zu stellen. Trotzdem wurde beschlossen
5474 umzukehren, nachdem Mitt eine Berechnung gemacht und gefunden
5475 hatte, daß wir unter günstigen Umständen gerade auskommen könnten.
5476 Wären wir nämlich nach dem Mars gegangen und wäre von dort sofort
5477 ein neu ausgerüstetes Schiff nach der Erde geschickt worden, so
5478 hätte doch erst im nächsten Frühjahr den Zurückgebliebenen Hilfe
5479 gebracht werden können. Daß sie aber den Polarwinter auf der Erde
5480 nicht überstehen konnten, war gewiß.
5482 Alle diese Überlegungen, insbesondere die genauere Berechnung und
5483 ihre wiederholte Prüfung, hatten längere Zeit in Anspruch
5484 genommen.
5486 Seitdem wir die Atmosphäre der Erde verlassen und in der Richtung
5487 der Tangente der Erdbahn uns bewegten, mochten etwa sechs Stunden
5488 vergangen sein. Obwohl wir in dieser Zeit einen Weg von über
5489 600.000 Kilometern zurückgelegt hatten, waren wir doch von der Erde
5490 selbst, die ja in gleicher Richtung auf ihrer Bahn hinlief, noch
5491 kaum 1.500 Kilometer entfernt. Wenn wir uns jetzt volle Schwere
5492 gaben, konnten wir sie in kurzer Zeit wieder erreichen, und es kam
5493 darauf an, uns durch einen mäßigen Korrekturschuß eine solche
5494 seitliche Geschwindigkeit zu erteilen, daß wir nach dem Pol
5495 gelangten.
5497 Die äußere Kugelhülle unseres Schiffes, in welcher sich die innere
5498 Kugel fast ohne Reibung nach jeder Richtung drehen kann, hatte
5499 natürlich durch die Abenteuer, die wir bei der Abfahrt und in der
5500 Atmosphäre erlebten, eine starke Rotation erhalten. Wir hatten
5501 bereits zu unserm großen Mißbehagen bemerkt, daß der Apparat nicht
5502 richtig funktionierte, welcher die innere Kugel in ihrer
5503 Gleichgewichtslage zu halten hatte, indem wir fortwährend
5504 Schwankungen durch die äußere Kugel erlitten. Bis jetzt war jedoch
5505 noch keine Zeit gewesen, dem Übelstand abzuhelfen. Nun aber kam es
5506 darauf an, die Rotation der äußeren Kugel sowohl wie die
5507 Schwankungen der inneren vollständig zu hemmen. Es war dies
5508 einerseits wünschenswert, um eine genaue Aufnahme unserer Lage zu
5509 machen, obwohl dieser Zweck allenfalls auch durch
5510 Momentphotographie erreicht werden kann; andererseits war es
5511 durchaus notwendig für die genaue Abgabe des Richtschusses, der
5512 durch das Ventil an der Außenseite der äußeren Kugel gelöst wird.
5513 Denn wenn dieser auch nur um geringe Differenzen fehlerhaft wird,
5514 so können daraus Abirrungen vom Weg entstehen, die nur schwer
5515 wieder zu korrigieren sind, für uns aber, die wir keine Kraft zu
5516 verschwenden hatten, verhängnisvoll werden konnten.
5518 Als wir nun das Schiff einer genauen Besichtigung unterwarfen,
5519 stellte sich zu unserm nicht geringen Schrecken heraus, daß der
5520 Winddruck während der Verankerung und das Aufschlagen des Schiffes
5521 Formveränderungen der äußeren Kugel bewirkt hatten, die eine
5522 umständliche Reparatur erforderten. Bevor diese nicht
5523 fertiggestellt war, durften wir keine Schwere geben und überhaupt
5524 kein Manöver ausführen. Und diese Reparatur nahm leider, das war zu
5525 sehen, einige Tage in Anspruch. Während dieser Zeit mußten wir auf
5526 unsrer gradlinigen Bahn verharren, die uns auf Strecken von der
5527 Erde entfernte, welche dem Quadrat der Zeit proportional waren.
5529 Aber es war auf dieser Reise, als wenn uns nichts gelingen sollte.
5530 Ein neuer Mißstand trat auf.
5532 Der Mond der Erde näherte sich der Stellung, in welcher die Erde
5533 Vollmond hat. Unglücklicherweise entfernten wir uns also von der
5534 Erde gerade in der Richtung auf den Mond zu. Dies wäre ja für uns
5535 ziemlich gleichgültig gewesen, wenn wir in der Nähe der Erde,
5536 wenigstens am ersten Tag unsrer Fahrt, unsere Umkehr hätten
5537 bewerkstelligen können. Nach Ablauf des dritten Tages aber mußten
5538 wir, sobald wir uns der Gravitation unterwarfen, in den
5539 Anziehungsbereich des Mondes statt in denjenigen der Erde geraten.
5540 Konnten wir also unsere Reparatur nicht vorher beendigen, so hatten
5541 wir nur die Wahl, unsere Richtschüsse auf gut Glück bloß zur
5542 Verringerung unsrer Geschwindigkeit zu verschwenden oder uns in so
5543 weite Entfernung von der Erde hinaustragen zu lassen, daß sich
5544 unsere Rückkehr auf lange verzögern mußte. Und wer weiß, ob wir
5545 dann unsere Gefährten noch lebend angetroffen hätten?
5547 Wir arbeiteten also in fieberhafter Eile an der Herstellung des
5548 Schiffes, um möglichst bald einen sichern Richtschuß abgeben zu
5549 können. Und wirklich, im Verlauf des dritten Tages war es gelungen,
5550 die Kugeln zeigten keine merkliche Drehung mehr. Es war die höchste
5551 Zeit; noch wenige Stunden, und wir hätten den Einfluß des Mondes
5552 bekämpfen müssen. Jetzt konnten wir es noch wagen, uns
5553 schwerzumachen und der Anziehung der Erde nur durch einen schwachen
5554 Korrekturschuß nachzuhelfen.
5556 Die Diabarität wurde aufgehoben. Mit höchster Spannung warteten wir
5557 die nächste Beobachtung ab. War in der früheren Berechnung
5558 irgendein kleiner Fehler vorgekommen, so konnte es sein, daß wir
5559 nach dem Mond statt nach der Erde fielen. Noch stand er über uns,
5560 mit seiner glänzenden Scheibe einen beträchtlichen Teil des Himmels
5561 verdeckend, denn sein Durchmesser erschien 26mal so groß wie hier
5562 von der Erde aus. Deutlich unterschieden wir jede Einzelheit an
5563 seiner Oberfläche. Die riesigen Ringgebirge lagen wie zum Greifen
5564 vor uns. Die langgestreckten Lavafelder, durch die tiefschwarzen
5565 Schatten breiter Risse unterbrochen, glänzten blendend im
5566 Sonnenlicht. Unter uns, bereits merklich kleiner als der Mond,
5567 schwebte die Erde als matte Scheibe, vom Schimmer des Mondlichts
5568 erleuchtet; nur eine schmale Sichel zeigte sich im Strahl der
5569 Sonne. Wenn wir uns von der Sonne, die nahe neben der Erde stand,
5570 abwendeten, glänzten überall am tiefschwarzen Firmament die Sterne
5571 in leuchtender Pracht. Es war ein herrlicher Anblick, aber wir
5572 achteten nicht darauf. Wir warteten nur, ob unsere Kugel beginnen
5573 würde, sich zu drehen, das heißt, den Boden unter unsern Füßen dem
5574 Mond zuzuwenden; dies wäre das Zeichen gewesen, daß wir dem Mond
5575 und nicht mehr der Erde tributär waren. Noch näherten wir uns dem
5576 Mond, da er noch immer ein wenig vor uns in unserer Richtung stand.
5577 Noch überwog die Anziehung der Erde, doch war sie von der des
5578 Mondes so geschwächt, daß wir kaum einen Zug nach dem Boden
5579 bemerkten; wir mußten uns verhalten wie im schwerelosen Feld. Die
5580 Sorge um unsere Gefährten ließ es uns jeden Augenblick erscheinen,
5581 als begönnen die Gegenstände sich zu erheben, als wollte unsre
5582 innere Kugel sich drehen. Aber noch immer schwebte der Mond über
5583 uns.
5585 Endlich hatte Mitt seine Beobachtung beendet. ›Wir kommen durch‹,
5586 sagte er. ›Wir sinken.‹ Alle atmeten auf.
5588 Noch eine Viertelstunde, und die Erdschwere machte sich wieder
5589 geltend. Die Instrumente ließen deutlich erkennen, daß wir uns der
5590 Erde wieder zu nähern begannen. Nun kam es darauf an, den passenden
5591 Richtschuß zur Korrektur unsres Falls abzugeben. Wir hätten zwar
5592 damit warten können, bis wir der Erde näher waren. Aber je eher wir
5593 es taten, um so weniger Energie brauchten wir aufzuwenden. Denn
5594 wenn erst unsre Fallgeschwindigkeit größer geworden war, so mußte
5595 die Kraft auch um so stärker sein, welche unsre Richtung zu
5596 verändern vermochte.
5598 Mit größter Sorgfalt wurde die Bombe gewählt, die äußere Kugel in
5599 die berechnete Stellung gebracht und die Entladung durch Verbindung
5600 mit dem Chronometer im richtigen Moment bewirkt. Die Reaktion war
5601 schwach, und wir schwankten nur wenig auf unsern Plätzen. In
5602 wenigen Minuten war alles vollbracht, was wir vorläufig tun
5603 konnten. Todmüde suchten wir unsere Lagerstätten auf, denn Ruhe
5604 hatte es bis jetzt für uns nicht gegeben.
5606 Ich hatte einige Stunden fest geschlafen, als ich durch ein
5607 allgemeines Stimmengewirr aufgeweckt wurde. Ich eilte in den
5608 Außenraum, und das erste, was mir in die Augen fiel, war der
5609 veränderte Anblick des Mondes. Er war kleiner geworden, wir
5610 entfernten uns also von ihm; das beruhigte mich. Aber seine
5611 erleuchtete Fläche zeigte eine Abplattung, das heißt, wir sahen auf
5612 ein Stück der nicht erleuchteten Mondkugel, das meiner Ansicht nach
5613 größer war, als es hätte sein dürfen, wenn wir nach der Erde zu
5614 fielen. Schnell begab ich mich nach der unteren Seite, und hier sah
5615 ich, daß auch die Erde entschieden an Größe abgenommen hatte. Wir
5616 entfernten uns also von beiden Himmelskörpern, und zwar, wie sich
5617 sogleich herausstellte, in einer nahezu kreisförmigen Ellipse,
5618 deren Ebene mit der der Erdbahn fast einen rechten Winkel bildete.
5620 Wie dies geschehen konnte, ist bis heute unaufgeklärt geblieben.
5621 Daß es nicht eher bemerkt wurde, daran trug der Mann schuld,
5622 welcher die Wache hatte und aus Übermüdung eingeschlafen war. Sonst
5623 hätte er sehr bald am Richtungszeiger den Fehler bemerken müssen,
5624 und dann hätte noch ein Korrekturschuß angebracht werden können.
5625 Jetzt aber war unsere Entfernung von der Erde bereits so groß
5626 geworden, daß wir unsere Richtung fast hätten umkehren müssen, um
5627 die Erde wieder zu erreichen. Das durften wir bei unserm geringen
5628 Vorrat an starken Richtschüssen nicht tun.
5630 Einige von Ihnen wissen vielleicht, daß Mitt nach unsrer Rückkehr
5631 auf den Mars seines Fehlers wegen zur Verantwortung gezogen wurde.
5632 Es konnte ihm aber kein Versehen nachgewiesen werden, und er wurde
5633 freigesprochen. Die Rechnungen wurden sämtlich aufs genauste
5634 geprüft, und es blieben nur zwei Erklärungen übrig. Es war möglich,
5635 daß nach dem Verlassen der Erdatmosphäre wegen der mangelhaften
5636 Beschaffenheit unsres Schiffes die erste Ortsbestimmung fehlerhaft
5637 gewesen ist und dieser Fehler auf die Beurteilung unsrer Richtung
5638 oder Geschwindigkeit nachgewirkt hat. Infolgedessen wäre der
5639 Korrekturschuß unrichtig abgegeben worden. Es konnte aber auch die
5640 Beobachtung als richtig vorausgesetzt und der Rechnung durch die
5641 Hypothese genügt werden, daß wir, ohne es zu wissen, während des
5642 Schlafs der Wache durch einen unbekannten kosmischen Körper
5643 abgelenkt worden sind, den wir, obgleich er ziemlich groß gewesen
5644 sein muß, nachträglich nicht bemerkten, weil er bereits in den
5645 Erdschatten getreten war.
5647 Nun, wie dem auch sein mochte, wir konnten nicht mehr zur Erde
5648 zurück. Unsre Niedergeschlagenheit können Sie sich denken. Sie
5649 wurde noch größer, als wir erkannten, wie es mit unsrer Rückkehr
5650 zum Mars beschaffen sei.
5652 Gingen wir in unsrer Bahn weiter, so kamen wir nach einem halben
5653 Erdenjahr wieder der Erde so nahe, daß wir sie hätten erreichen
5654 können. Aber dann hatte der Südpol Winter, und wir wären dort
5655 verloren gewesen. Der gewöhnliche Weg nach dem Mars war uns zum
5656 Unglück durch einen großen Kometen versperrt, dessen
5657 Anziehungsbereich wir berücksichtigen mußten. Ein zweiter Weg – Sie
5658 müssen bedenken, daß wir unsre Richtung und Geschwindigkeit nicht
5659 so oft und beliebig ändern konnten wie heutzutage –, ein zweiter
5660 Weg hätte uns bis in die Nähe der Asteroidenbahnen geführt, und das
5661 ist so, als wenn Sie auf dem Meer zwischen unbekannten Klippen
5662 segeln wollten. Denn wenn wir auch damals schon gegen 2.000 dieser
5663 kleinen Planeten kannten, so gibt es doch noch unzählige, die so
5664 klein sind, daß wir sie noch nie gesehen haben, kleiner als unsre
5665 Kugel, aber genügend, um uns in Grund und Boden zu bohren, wenn wir
5666 auf einen treffen. Außerdem hätte auch dieser Weg so lange Zeit in
5667 Anspruch genommen, daß es fraglich wurde, ob unser Proviant dazu
5668 ausreichte. Alle übrigen Wege waren noch weiter und mußten deshalb
5669 verworfen werden. Der Mars stand, wie ich bemerken will, hinter der
5670 Sonne, denn seit unsrer Abreise von ihm war ein halbes Erdenjahr
5671 vergangen.
5673 Mitt hatte uns das Resultat seiner Berechnungen mitgeteilt und sich
5674 dann zu neuen Prüfungen in seine Kajüte zurückgezogen. Wir saßen in
5675 uns gekehrt da, jeder machte sich mit dem Gedanken vertraut, unsren
5676 lieben Nu nicht wieder zu betreten. Einer der Gefährten äußerte
5677 sich endlich dahin, man solle die jetzige Bahn einhalten, nach
5678 einem halben Jahr die Erde zu treffen suchen, diese aber am Nordpol
5679 anlaufen. Da alsdann dort Sommer wäre so würden wir wahrscheinlich
5680 eins unsrer Schiffe antreffen, von dem wir genügende Vorräte
5681 bekommen könnten, um im nächsten Südsommer nach dem Südpol
5682 zurückzukehren. Die Hoffnung freilich, unsre Gefährten noch zu
5683 retten, mußten wir wohl aufgeben, immerhin aber konnten wir auf
5684 diese Weise unsre Rückkehr nach dem Mars sichern, selbst für den
5685 Fall, daß wir kein Schiff daselbst antrafen. Wir konnten ja dann
5686 die günstigste Stellung zur Reise abwarten und fanden auf alle
5687 Fälle einige Vorräte in den Depots. Dieser Plan fand allseitigen
5688 Beifall, und wir schickten uns eben an, den Kapitän zu rufen, um
5689 ihm unsre Vorschläge zu machen, als dieser mit glänzenden Augen
5690 unter uns trat und rief: ›Freunde, wollen wir in sechzig Tagen auf
5691 dem Mars sein?‹
5693 Wir sprangen auf und umringten ihn. Alle wollten wir näheres hören.
5694 Nun –“
5696 Jo unterbrach sich und warf einen Blick auf die Uhr.
5698 „Pik und Spe!“ rief er. „ist das schon spät geworden! Nun, ich will
5699 schnell ein Ende machen!“
5701 „O bitte, bitte, es ist noch Zeit.“
5703 „Kurz und gut! Mitt hatte den kühnen Plan erdacht, in einer
5704 rückläufigen Hyperbel mit kurzer Periheldistanz quer über die
5705 Erdbahn weg auf den Mars zu stoßen. Er setzte uns das kurz
5706 auseinander. Allerdings mußten wir unsre Richtschüsse bis auf einen
5707 letzten, zum Landen bestimmten Notvorrat daran wagen. Nur eine
5708 Gefahr war dabei, und deshalb wollte Mitt nicht ohne unsere
5709 Einwilligung handeln – wir kamen der Sonne in einer Weise nahe, wie
5710 es noch kein Raumschiffer gewagt hatte, und es fragte sich, ob wir
5711 die Strahlung würden aushalten können.
5713 Auch der Plan, auf der Erde am Nordpol anzulegen, schien Mitt sehr
5714 erwägenswert, und lange wurde hin und her überlegt, was zu tun
5715 sei.
5717 Aber Sie wissen ja, in jedem rechten Raumschifferherzen steckt die
5718 Lust, das Ungewohnte zu wagen, wenn es einigermaßen aussichtsvoll
5719 ist. Den Gefährten konnten wir in diesem Südpol-Sommer doch nicht
5720 mehr helfen, und so wurde beschlossen, die kühne Hyperbelfahrt zu
5721 versuchen.
5723 Nun, Gott war gnädig, wir sind heimgekommen. Aber die zwei Tage,
5724 die wir um die Sonnennähe jagten, die möchte ich nicht wieder
5725 erleben. Ich habe manches durchgemacht – solche Glut noch nicht.
5726 Wir konnten unsre äußere Stellitkugel nur dadurch vor dem Schmelzen
5727 bewahren, daß wir sie schnell rotieren ließen; so strahlte sie die
5728 auf der einen Seite empfangene Hitze auf der andern wieder aus –
5729 weiß nicht, bekomme sogleich einen wahren Merkursdurst, wenn ich
5730 daran denke!“
5732 Damit tat Jo einen tiefen Zug aus seinem Mundstück und erhob sich.
5734 „Schade, schade, daß Sie morgen schon fortgehen!“ sagte La zu Jo.
5735 „Von der Sonnennähe müssen Sie uns noch einmal erzählen!“
5737 „Wenn’s einmal recht kalt ist!“
5739 „Und All? Hat man nichts mehr von ihm gehört?“ fragte Grunthe.
5741 „Nichts! Auch bei wiederholten Besuchen des Südpols hat man keine
5742 Spuren mehr gefunden, keine Aufzeichnungen. Und nun, Gott befohlen!
5743 Auf Wiedersehen morgen vormittags!“
5745 Jo schüttelte den Deutschen die Hände, und alle Martier
5746 wiederholten die Begrüßung. Dann zogen sie sich zurück. Nur La und
5747 Se blieben noch einige Minuten und redeten ihren Gästen zu, ihre
5748 Reise nicht im Winter zu wagen, sondern mit ihnen nach dem Mars zu
5749 gehen.
5751 „Lassen Sie sich durch Jos Erzählung nicht bange machen“, sagte La
5752 lächelnd. „Wir nehmen jetzt soviel Richtschüsse mit, daß wir allen
5753 Hindernissen schleunigst ausweichen können. Die Gefahr lag ja
5754 früher darin, daß man auf der Erdoberfläche landen und von dort
5755 abreisen mußte; jetzt aber haben wir auf beiden Planeten Stationen
5756 außerhalb der Atmosphäre.“
5758 „Solche Besorgnisse würden uns nicht abhalten“, sagte Grunthe
5759 ernst. „Wir hoffen ja später mit der Hilfe Ihrer Landsleute auf den
5760 Mars zu reisen.“
5762 „Und was hält Sie denn ab, schon jetzt mit uns zu kommen?“ fragte
5765 „Die Pflicht“, erwiderte Grunthe.
5767 La und Se schwiegen einen Augenblick. Dann sagte Se mit einem Blick
5768 auf Saltner:
5770 „Es gibt auch eine Pflicht gegen die Freunde.“
5772 „Die Pflicht der Dankbarkeit gegen unsre Retter wird mir stets
5773 heilig bleiben“, sagte Grunthe, „aber im Falle des Widerstreits
5774 entscheidet die ältere –“
5776 „Oder die höhere“, fiel La ein, „und das werden wir schon noch
5777 untersuchen.“
5779 „Das wissen Sie ja“, sagte Saltner herzlich, „daß ich nichts lieber
5780 täte, als mit Ihnen zu gehen, wohin’s auch immer wäre.“
5782 „Mit wem denn?“ scherzte La. „Wir wohnen leider auf dem Mars
5783 dreitausend Kilometer voneinander.“
5785 „Das ist nicht so schlimm“, erwiderte Saltner. „Sie haben dort
5786 gewiß so schnelle Beförderungsmittel, daß man einen Tag hier und
5787 einen da sein kann. Und das hat auch seine guten Seiten.“
5789 „Das ist reizend“, rief Se. „Sie passen ausgezeichnet auf den Mars.
5790 Wenn wir Sie nun beim Wort nehmen?“
5792 Se und La warfen sich einen Blick des Einverständnisses zu. Dann
5793 faßten sie jede einen seiner Finger und sagten gleichzeitig:
5795 „Gebunden.“
5797 Saltner machte ein etwas verdutztes Gesicht, da er nicht recht
5798 wußte, was das bedeuten sollte.
5800 „Wieso?“ fragte er. „Was soll das sein?“
5802 „Ein Spiel!“ rief La, und beide sahen ihn so sonderbar und
5803 freundlich an, daß ihm ganz seltsam ums Herz wurde.
5805 „Gehen’s“, sagte er etwas verlegen, „Sie wollen mich gewiß zum
5806 besten haben. Was muß ich denn jetzt tun?“
5808 „Das wird sich schon finden. Recht liebenswürdig sein müssen Sie!“
5809 sagte Se. „Und jetzt gute Nacht! Sie müssen morgen zeitig
5810 aufstehen, eigentlich schon heute, der Flugwagen nach der
5811 Außenstation geht um ein Uhr.“
5813 „Auf Wiedersehen morgen am abarischen Feld!“ rief La.
5815 Und beide nickten ihm freundlich zu, grüßten Grunthe und schwebten
5816 mit ihrem leichten, gleitenden Schritt nach der Tür. Die Wolke
5817 glühender Funken wogte um Se, und über den schlanken Formen ihres
5818 Halses schimmerte der zarte Regenbogen ihres Haars. Über Las Haupt
5819 glänzte es wie ein Heiligenschein, und aus ihren tiefen Augen fiel
5820 ein langer Blick auf Saltner zurück. Dann schloß sich die Tür. Die
5821 Feen der Insel waren verschwunden.
5823 Saltner stand noch lange stumm und blickte nach der geschlossenen
5824 Tür. Was meinten sie wohl? Wie sollte er sie verstehen? Und welche
5825 von beiden – –
5827 Dann drehte er sich auf dem Absatz herum und pfiff leise vor sich
5828 hin.
5830 „Das ist gescheit“, sagte er, „die scheinen halt nicht
5831 eifersüchtig. Aber – am Ende ist das gar nicht sehr schmeichelhaft
5832 für mich. Wer kann sich auch gleich bei den Feen auskennen? Kommen
5833 Sie, Grunthe, wir wollen soupieren.“
5835 Die beiden Männer zogen sich in ihr Zimmer zurück, aßen zu Abend
5836 und sprachen dabei hin und her über die Frage, ob sie imstande sein
5837 würden, dem Wunsch der Martier zu widerstehen und am Pol
5838 zurückzubleiben.
5840 „Ich ging schon gern hin“, sagte Saltner endlich, „aber von Ihnen
5841 geh ich nicht, alter Freund. Und nun sehen Sie zu, was Sie
5842 durchsetzen.“
5844 \section{15 - 6.356 Kilometer über dem Nordpol}
5846 Grunthe und Saltner ruhten noch in ihren Betten, als bereits im
5847 abarischen Feld ein reges Leben herrschte. Die Martier, welche das
5848 Raumschiff besteigen sollten, begaben sich in Abteilungen von je
5849 vierundzwanzig Personen nach der Außenstation. So viele faßte der
5850 Flugwagen, der den Verkehr von der Insel nach dem Abgangspunkt der
5851 Raumschiffe vermittelte, nach jenem in der Höhe von 6.356
5852 Kilometern über dem Pol schwebenden Ring. Es waren also, um die
5853 Reisenden und diejenigen ihrer Freunde, die sie bis an das Schiff
5854 begleiten wollten, nach dem Ring zu befördern, drei Flugwagen
5855 erforderlich. Der Aufstieg nahm ungefähr eine Stunde in Anspruch,
5856 und da sich niemals mehr als ein Wagen im abarischen Feld befinden
5857 durfte, so verließ der erste Wagen schon am frühsten Morgen,
5858 richtiger noch in der konventionellen Schlafenszeit, denn die Sonne
5859 ging ja nicht auf noch unter, die Inselstation. Dies war nach der
5860 Tageseinteilung, welche die Martier für den Nordpol der Erde
5861 festgesetzt hatten, um 11,6 Uhr, nach mitteleuropäischer Zeit
5862 ungefähr um 11 Uhr vormittags, eine Stunde vor dem Aufstehen, wie
5863 es sonst auf der Insel üblich war.
5865 Diesmal mußten Grunthe und Saltner freilich etwas früher ihre Ruhe
5866 unterbrechen, denn der dritte Flugwagen, der sie nach der
5867 Außenstation bringen sollte, verließ die Insel gegen 0,6 Uhr, um
5868 eine Stunde vor der Abfahrt des Raumschiffes am Ring zu sein.
5870 Die Martier waren schon fast vollständig in der Abfahrtshalle am
5871 abarischen Feld versammelt, als Grunthe und Saltner ankamen. Die
5872 meisten der Anwesenden waren ihnen bereits bekannt, und alle
5873 begrüßten sie aufs liebenswürdigste. Auch Hil, der Arzt, hatte sich
5874 eingefunden. Da die Menschen zum erstenmal eine Fahrt im abarischen
5875 Feld machten – wenn man die unfreiwillige in ihrem Luftballon nicht
5876 mitrechnen wollte –, so war es ihm von größtem wissenschaftlichem
5877 Interesse, ihr Verhalten dabei zu beobachten. Auch konnte man ja
5878 nicht wissen, ob nicht vielleicht unter den ungewohnten
5879 Bedingungen, denen die Menschen hier ausgesetzt waren, seine Hilfe
5880 vonnöten würde. Indessen wußten sich Grunthe und Saltner schon ganz
5881 geschickt zu benehmen, als sie die auf Marsschwere gestellte
5882 Vorhalle betraten. Zu ihrer Verwunderung sahen sie, daß die Martier
5883 die Pelzkragen nicht mehr trugen, in denen sie den Weg über die
5884 Insel zurückgelegt hatten, sondern sich in ihrer gewöhnlichen
5885 Zimmertoilette befanden.
5887 Hil forderte sie auf, ebenfalls ihre Mäntel abzulegen, da sie nun
5888 bis zu ihrer Rückkehr nicht mehr ins Freie kämen. Wagen und
5889 Ringstation seien selbstverständlich künstlich erwärmt.
5891 Vergeblich sah sich Saltner nach La und Se um. Schon ertönte das
5892 Signal zum Einsteigen, als La eilig hereinkam und die Anwesenden
5893 begrüßte. Ihre Blicke flogen alsbald zu Saltner, der sich ihr noch
5894 schnell näherte und ihr die Hand reichen wollte. Sie aber legte
5895 beide Hände auf seine Schultern und sah ihm zärtlich in die Augen.
5896 Die Begrüßung überraschte ihn, er mußte sich einen Augenblick
5897 sammeln, denn er wußte, daß diese Form des Willkomms nur unter ganz
5898 nahestehenden Freunden oder Liebenden üblich war und ungefähr die
5899 Bedeutung eines Kusses unter den Menschen besaß. Aber ihre Blicke
5900 gaben ihm schnell den Mut, sie zu erwidern, und zu seiner großen
5901 Freude glückte es ihm, ihre Schultern mit seinen Händen zu
5902 berühren, ohne zu hoch in die Luft zu greifen, und sie auch wieder
5903 zu entfernen, ohne das Gleichgewicht zu verlieren. Nur das rosig
5904 schimmernde Haar streiften seine Finger, und er fühlte diese
5905 Berührung wie ein leises Überspringen elektrischer Funken.
5907 Schon bestiegen die übrigen den Flugwagen. Hil geleitete Grunthe
5908 hinein. La faßte Saltner an der Hand, um ihn beim Hinaufsteigen der
5909 ungewohnten Stufen ins Innere des Wagens zu unterstützen. Ehe er
5910 dieselben betrat, blickte er noch einmal zurück, um nach Se zu
5911 schauen, ob sie nicht käme.
5913 „Heute nicht“, sagte La, seinen Gedanken erratend, „morgen sehen
5914 Sie sie wieder. Heute müssen Sie mit mir vorliebnehmen.“
5916 Es war keine Zeit zu Erklärungen. Der Wagen wurde geschlossen. Dies
5917 geschah, indem der außenstehende Beamte die Falltür hob, durch
5918 welche die Reisenden in das Innere des Wagens gestiegen waren. Der
5919 Boden bildete jetzt die ebene, mit weichen Teppichen belegte Fläche
5920 eines geräumigen Zimmers. Die Decke war gleichfalls eben, während
5921 der ganze Wagen äußerlich die Gestalt einer vollkommenen Kugel
5922 besaß. In den beiden Segmenten, welche durch Boden und Decke
5923 gebildet waren, befand sich je ein Wagenführer, die beide durch
5924 Signale mit der untern wie mit der oberen Station verkehrten.
5926 Nirgends zeigte sich ein Fenster, von der Außenwelt war nichts zu
5927 sehen. Eine Anzahl von Kugeln, welche an unsichtbaren Lisfäden von
5928 der Decke herabhingen, verbreitete ein angenehmes Licht. Die
5929 Deutschen sahen hier zum erstenmal die künstliche Beleuchtung der
5930 Martier durch fluoreszierende Lampen, die nur aus absolut luftleer
5931 gemachten, durchscheinenden Kugeln bestanden und infolge der
5932 schnellen Wechselströme leuchteten, welche von dem mittleren Teil
5933 der Wagenwand ausgingen. In diesem befand sich auch der
5934 Heizapparat. Das Zimmer hatte im Grundriß die Gestalt eines
5935 Quadrats, so daß zwischen seinen Wänden und der Kugel noch Raum für
5936 einige kleinere Gelasse blieb. Die Ausstattung war die bei den
5937 Martiern übliche mit einem festen Tisch in der Mitte, der zugleich
5938 als Büffet diente. Nur dadurch unterschied sie sich von der eines
5939 gewöhnlichen Gesellschaftszimmers, daß sich ringsum an den Wänden
5940 auffallende Gestelle hinzogen, deren Zweck Grunthe nicht zu erraten
5941 vermochte. Er war geneigt, sie für Turngeräte zu halten, und etwas
5942 Ähnliches waren sie auch. Eigentümlich waren ferner die Stühle,
5943 sämtlich mit Seitenlehnen und Leisten an den Füßen versehen. Diese
5944 Stühle konnte man zwar, infolge einer besonderen Mechanik, nach
5945 Verlangen hin- und herschieben, nicht aber vom Boden aufheben.
5947 Kaum war der Wagen verschlossen, als ein zweites Signal ertönte.
5948 Schnell suchte sich jeder der Martier eines der Gestelle am Rand
5949 des Zimmers und begab sich in dasselbe. Grunthe und Saltner wurden
5950 angewiesen, wie sie sich dabei zu benehmen hätten. Sie steckten die
5951 Füße in schuhartige Vorsprünge am Boden, so daß sie nicht
5952 ausgleiten konnten, stemmten sich mit den Armen fest an den zur
5953 Seite befindlichen Griffen und lehnten sich mit dem Rücken an die
5954 gepolsterte Wand, während der Kopf zwischen weichen Kissen wie in
5955 einer Grube ruhte.
5957 „Nun bin ich nur neugierig, was das soll“, sagte Saltner.
5958 „Hoffentlich brauchen wir nicht zwei Stunden lang hier als Mumien
5959 zu stehen.“
5961 „Es dauert nicht lange“, sagte einer der Martier.
5963 „Halten Sie sich ganz fest“, fügte La hinzu, „von dem Augenblick,
5964 in welchem die tiefe Glocke erklingt und das Licht sich verdunkelt,
5965 bis es wieder hell wird, und rühren Sie sich ja nicht.“
5967 „Ich folge blindlings –“
5969 „Warum –“ Grunthe wollte etwas fragen. Da erscholl das Signal. Das
5970 Licht wurde so schwach, daß man eben nur noch die Stellen sah, wo
5971 die Lampen hingen.
5973 Es erfolgte ein dumpfer Knall. Die Insassen der Kugel erlitten eine
5974 leichte Erschütterung und fühlten sich kräftig gegen den Boden
5975 gedrückt. Unter die Kugel war nämlich ein Behälter mit stark
5976 komprimierter Luft gebracht worden, durch deren Entspannung der
5977 Flugwagen mit einer Geschwindigkeit von 30 Metern pro Sekunde in
5978 dem abarischen Feld aufwärtsgeschleudert wurde. Gleichzeitig wurde
5979 die Schwere im Feld vollständig kompensiert. Während bisher die
5980 Schwerkraft innerhalb der Kugel, der Gewohnheit der Martier
5981 entsprechend, immer noch ein Drittel der Erdschwere betragen hatte,
5982 war sie jetzt gänzlich aufgehoben.
5984 Das Gefühl, welches die Menschen ergriff, war nicht unangenehm und
5985 keineswegs stark, ähnlich wie in einem Bad, nur daß die
5986 Berührungsempfindung des Wassers fehlte. Man gewöhnte sich schnell
5987 daran und gewahrte nur einen schwachen Blutandrang nach dem Kopf.
5989 Die Lampen wurden wieder hell, und ein Teil der Martier kam
5990 vorsichtig aus den Gestellen hervor. Sie machten sich das
5991 Vergnügen, in dem absolut schwerelosen Raum durch einen leichten
5992 Stoß gegen den Boden bis zur Decke in die Höhe zu schwingen und
5993 sich von dort wieder abzustoßen oder eine Zeitlang ohne jede
5994 Unterstützung völlig frei in der Luft zu schweben.
5996 Saltner hätte dies gern auch einmal probiert, aber La riet ihm
5997 dringend, sein Gestell noch nicht zu verlassen, da es längerer
5998 Übung bedürfe, ehe man sich in dem schwerelosen Raum geschickt
5999 bewegen könne. Dagegen forderte sie zwei Damen, welche die Fahrt
6000 mitmachten, zu einem kleinen Tänzchen auf, und die drei graziösen
6001 Figuren schwebten nun, indem sie mit geschickten Bewegungen sich
6002 vom Boden und den Wänden abstießen, Hand in Hand um das Zimmer. In
6003 ihren wehenden Schleiern glichen sie den Elfen des Märchens, die in
6004 der Mondnacht ihren luftigen Reigen führen. Darauf zogen sie sich
6005 wieder auf ihre Plätze zurück.
6007 Grunthe nahm sein Fernrohr aus der Tasche, streckte die Hand aus
6008 und öffnete sie dann. Das Fernrohr blieb frei in der Luft schweben,
6009 ohne zu fallen. Er konnte es sich nicht versagen, selbst einmal zu
6010 versuchen, wie es sich ohne Schwere gehe, und trat aus seinem
6011 Gestell. Sobald er aber dasselbe losgelassen und den Fuß zum ersten
6012 Schritt erhob, verlor er das Gleichgewicht und focht mit Händen und
6013 Füßen in der Luft herum, ohne wieder auf den Boden kommen zu
6014 können. Es sah ungeheuer possierlich aus, wie der ernste Mann hin-
6015 und herstrampelte, und Saltner war sehr froh, daß er Las Rat
6016 gefolgt war, sich nicht von seinem festen Punkt fortzuwagen. Erst
6017 durch Hilfe einiger Martier kam Grunthe wieder auf den Boden zu
6018 stehen und wurde in sein Gestell zurückgeführt.
6020 „Es schadet nichts“, sagte er, „man muß alles versuchen.“
6022 Jetzt erscholl ein neues Signal, worauf alle sich schleunigst in
6023 ihre Gestelle begaben. Gleich darauf wurde es ganz dunkel bis auf
6024 den matten Schimmer einer Lampe, welche genau die Mitte des Zimmers
6025 einnahm. Doch reichte ihr Schein nur aus, ihre Stelle zu
6026 bezeichnen, nicht aber, irgendwelche andere Gegenstände zu
6027 erkennen.
6029 „Was kommt denn nun?“ fragte Saltner.
6031 Hil antwortete ihm. „Bis jetzt“, sagte er, „sind wir ohne Schwere
6032 durch den gegebenen Anstoß mit gleichmäßiger Geschwindigkeit
6033 gestiegen, und zwar sechs Minuten lang. Wir haben dadurch eine Höhe
6034 von ungefähr 10.000 Metern erreicht. Die Luft ist hier dünn genug,
6035 daß wir eine größere Geschwindigkeit annehmen können. Das Feld wird
6036 jetzt überkompensiert, das heißt, die ›Gegenschwere‹ überwiegt nun
6037 die Schwere, und wir ›fallen‹ nach oben, nach dem Ring zu. Sie
6038 werden bald merken, daß unsere Geschwindigkeit stark zunimmt, denn
6039 unser Fall nach dem Ring beschleunigt sich natürlich rasch.“
6041 In der Tat bemerkten Grunthe und Saltner bald dasselbe Gefühl,
6042 welches sie bei sehr beschleunigtem Fallen des Ballons zu haben
6043 pflegten. Es war, als würde ihnen der Boden unter den Füßen
6044 entzogen.
6046 „Was ist denn das?“ rief Saltner. „Wir stürzen ja ab!“
6048 „Freilich fallen wir“, lachte La, „aber nach oben, das heißt, von
6049 der Erde fort.“
6051 „Ich fühle doch, daß der Boden unter den Füßen sich senkt.“
6053 „Ganz richtig, aber wo, glauben Sie, daß die Erde sich befindet?“
6055 „Nun, doch unter uns!“
6057 „Fehlgeschossen! Sie stehen jetzt auf dem Kopf wie ein Antipode.
6058 Die Erde ist über Ihrem Scheitel, unsre Füße sind dem Ring der
6059 Außenstation zugekehrt, wohin jetzt die Richtung der Fallkraft
6060 hinweist.“
6062 „Ach, liebste La, wollen Sie mich denn vollständig verdreht
6063 machen?“
6065 Als Antwort hörte er ihr leises Lachen.
6067 Es wurde wieder hell. Nichts im Zimmer hatte sich verändert.
6069 Die Martier verließen nun ihre Gestelle und bewegten sich wie
6070 gewöhnlich im Zimmer.
6072 Auch Grunthe und Saltner bemerkten, daß sich das eigentümliche
6073 Gefühl des Fallens ziemlich verloren hatte. Doch kam dies nur
6074 daher, daß sie sich daran gewöhnt hatten. Tatsächlich flog die
6075 Kugel mit immer größerer Geschwindigkeit auf ihr Ziel zu, von der
6076 Erde fort, und diese Geschwindigkeit sollte sich allmählich bis auf
6077 die kolossale Zahl von gegen zweitausend Meter in der Sekunde
6078 steigern.
6080 Der untere Teil der Kugel, unter dem Fußboden, war beschwert, so
6081 daß sich die Kugel je nach der Richtung der Fallkraft immer mit dem
6082 Boden des Zimmers nach unten einstellte. Diese Drehung hatte sich
6083 sofort vollzogen, als das Feld überkompensiert wurde und die
6084 Beschleunigung nach oben begann. Aber die Insassen hatten gar
6085 nichts davon bemerkt, da sie fest in ihren Gestellen ruhten und die
6086 Wirkung der Schwere im Anfang so gering war, daß es zu ihrer
6087 Aufhebung keiner merklichen Muskelkraft bedurfte. Sie standen
6088 jetzt, im Vergleich zu ihrem Aufenthalt am Pol, tatsächlich auf dem
6089 Kopf; im Vergleich zu der auf sie wirkenden Anziehungskraft
6090 befanden sie sich jedoch in der normalen Lage; sie standen auf
6091 ihren Füßen. Immerhin mußten sich Grunthe und Saltner vorsichtig
6092 bewegen, da das Feld nur um ein Drittel der Erdschwere
6093 überkompensiert war, das heißt so, daß die Insassen der Kugel unter
6094 einer anziehenden Kraft standen, wie sie sie auf dem Mars gewohnt
6095 waren. Die Menschen zogen es daher vor, sich auf den Sesseln am
6096 Tisch niederzulassen und dort zu bleiben. Es fehlte nicht an
6097 Unterhaltung mit den Martiern, die jetzt zu ihren Piks gegriffen
6098 hatten. Hil hatte sich überzeugt, daß die Menschen die
6099 Schwerelosigkeit leicht ertrugen. Saltner saß Hand in Hand mit La
6100 in vertraulichem Gespräch. Niemand kümmerte sich um sie.
6102 Eine halbe Stunde etwa nach der Abfahrt von der Erde mußten die
6103 Insassen des Wagens auf das gegebene Signal noch einmal ihre Plätze
6104 in den seitlichen Verschlägen einnehmen. Der Wagen hatte jetzt
6105 seine größte Geschwindigkeit erreicht und über die Hälfte seines
6106 Weges zurückgelegt. Es kam nunmehr darauf an, seine Geschwindigkeit
6107 zu vermindern und so zu regulieren, daß er gerade innerhalb des
6108 Ringes zur Ruhe kam. Dies geschah, indem man die Erdschwere wieder
6109 wirken ließ. Diese besaß jedoch in dieser Höhe nicht mehr die volle
6110 Stärke wie am Pol, sondern war nur noch etwa so groß wie auf dem
6111 Mars, ja auf dem Ring selbst betrug sie nur ein Viertel der unten
6112 herrschenden Schwere. Der Wagen glich jetzt einem Körper, den man
6113 mit großer Geschwindigkeit in die Höhe geworfen hat und der sich
6114 nun mit abnehmender Geschwindigkeit dem höchsten Punkt seiner Bahn
6115 nähert. Der Fußboden des Wagens mußte sich demnach wieder der Erde
6116 zuwenden, und diese Drehung wartete man bei verdunkeltem Wagen in
6117 den schützenden Gestellen ab. Den übrigen Teil der Fahrt über
6118 konnte man sich nach Belieben im Wagen bewegen, nur kurz vor der
6119 Ankunft wurden die Gestelle wieder aufgesucht. Denn der letzte Teil
6120 des Weges mußte mit gleichmäßiger, nicht sehr bedeutender
6121 Geschwindigkeit zurückgelegt werden, um das Anhalten des Wagens im
6122 richtigen Zeitpunkt zu regulieren. Dazu aber war es notwendig,
6123 diese Strecke abarisch, ohne jede Schwere zu durchlaufen, bis das
6124 Wiedereinstellen der Schwere in der letzten Sekunde den Wagen
6125 anhielt.
6127 Man bemerkte kaum das Anhalten des Wagens, so allmählich war es
6128 geschehen. Das Fallnetz hatte sich unter ihm geschlossen und war
6129 nach der Befestigung des Wagens wieder entfernt worden. Die Tür im
6130 Boden wurde geöffnet.
6132 Ehe die Reisenden den Wagen verließen, versahen sich alle mit
6133 Schutzbrillen für die Augen, da hier oben das direkte Sonnenlicht
6134 durch keine Atmosphäre gemildert war und alle Gegenstände, auf die
6135 es traf, in blendendem Glanz erscheinen ließ, während sich die
6136 Schatten tiefschwarz abhoben. Nun trat man in die mittlere Galerie
6137 des Ringes.
6139 Die Martier durchschritten dieselbe und begaben sich sogleich durch
6140 die Tür, welche die Überschrift trug ›Vel lo nu‹ – ›Raumschiff nach
6141 dem Mars‹ –, nach der oberen Galerie, über welcher das Raumschiff
6142 ruhte. Grunthe und Saltner dagegen wurden von Hil und La zunächst
6143 durch eine andere Tür nach der unteren Galerie geleitet, und zwar
6144 nach derjenigen, welche den Ring auf seiner äußeren Seite umzog.
6146 Eine zweite solche untere Galerie umgab den Ring auf der inneren
6147 Seite und enthielt die Apparate, durch welche das abarische Feld
6148 kontrolliert wurde. Hier befanden sich auch die Arbeitsräume der
6149 Ingenieure. Um nach der äußeren Galerie durch einen Verbindungsweg
6150 zu gelangen, mußte man zunächst die innere durchschreiten, und La
6151 begrüßte ihren Vater Fru, dem die Leitung der Außenstation oblag.
6152 Die äußere, sechs Meter breite Galerie sprang noch etwa zwei Meter
6153 über die Seitenwand des Ringes vor, so daß man an dieser vorüber in
6154 die Höhe blicken konnte. Sie diente als Aussichtsraum, von welchem
6155 aus der Blick auch nach der inneren Seite des Ringes frei war, so
6156 daß man nach unten den ganzen Horizont beherrschte.
6158 Ihrer vollen Länge nach hatte man nach Art eines Balkons eine
6159 Brüstung angebracht, so daß man glaubte, von diesem erhabenen
6160 Standpunkt aus direkt ins Freie zu sehen. Tatsächlich war man durch
6161 den vollkommen durchsichtigen Stoff der Außenwand vom luftleeren,
6162 eisigen Weltraum geschieden. Aber die in weiten Zwischenräumen sich
6163 folgenden Träger dieser Galerie hinderten ebensowenig die Aussicht
6164 wie der weiter oberhalb sich drehende durchbrochene Schwungring.
6165 Die Stelle, an welcher Grunthe und Saltner mit ihren Begleitern die
6166 Galerie betraten, lag von der Sonne abgewendet, so daß die Strahlen
6167 derselben, trotz ihres niedrigen Standes, durch die ganze Breite
6168 des über der Galerie befindlichen Ringes abgeblendet wurden. Sie
6169 standen in einer geheimnisvollen Dämmerung, die nur durch den
6170 Reflex des Mondlichtes auf dem einen Rand der Galerie und durch
6171 denjenigen des Erdlichtes an der Decke über ihnen erhellt wurde.
6173 Tiefschwarz lag der Himmel ringsum, über ihnen, an den Seiten, zu
6174 ihren Füßen; auf dem schwarzen Grund glänzten die Sterne in nie
6175 geschauter Klarheit, ohne zu funkeln, als tausend ruhig leuchtende
6176 Punkte. Im ersten Augenblick glaubten die Forscher in einen tiefen
6177 See zu blicken, in welchem der Himmel sich spiegele. Dann erst
6178 erkannten sie, daß sie zu ihren Füßen einen großen Teil der
6179 Sternbilder des südlichen Himmels vor sich hatten. Denn ihr Blick
6180 beherrschte den Himmel bis zu sechzig Grad unter den Horizont des
6181 Nordpols.
6183 In der Mitte zu ihren Füßen schwebte die Erde als eine glänzende
6184 Scheibe. Sie hatte die Gestalt des zunehmenden Mondes kurz nach
6185 seinem ersten Viertel, doch erblickte man auch den von der Sonne
6186 nicht beleuchteten Teil, da ihn das Licht des Mondes in einen
6187 schwachen Schimmer hüllte. Die ganze Scheibe der Erde erschien
6188 unter einem Gesichtswinkel von sechzig Grad und erfüllte somit
6189 gerade den dritten Teil des Himmels unterhalb des Horizontes. Die
6190 Schattengrenze schnitt das Eismeer in der Nähe der Jenisseimündung,
6191 so daß der größte Teil Sibiriens und die Westküste Amerikas im
6192 Dunkel lagen. Hell glänzten die Gletscher an der Ostküste Grönlands
6193 im Schein der Mittagssonne, und als ein strahlender weißer Fleck
6194 hob sich Island aus den dunklen Fluten des Atlantischen Meeres. Der
6195 westliche Teil des Ozeans und der amerikanische Kontinent waren
6196 nicht zu erkennen. Über ihnen ruhte eine nur selten unterbrochene
6197 Wolkenschicht, deren obere Seite die Sonnenstrahlen in blendendem
6198 Weiß zurückwarf, so daß ihr Anblick ohne die schützenden
6199 Augengläser unerträglich gewesen wäre. Dagegen lag die Karte von
6200 ganz Europa, wenigstens in seinem nördlichen Teil, in günstigster
6201 Beleuchtung vor den entzückten Blicken. Unter dem Einfluß eines
6202 ausgedehnten Hochdruckgebiets war die Luft dort völlig klar und
6203 rein, so daß man die nördlichen Inseln und Halbinseln und die tief
6204 eingeschnittenen Meeresbuchten deutlich erkannte. Weiterhin
6205 verschwammen die Formen der Ebenen in einem bläulich-grünlichen
6206 Luftton, aber als feine helle Linien blitzten für ein scharfes Auge
6207 die Ketten der Alpen und selbst des Kaukasus auf. In matterem Licht
6208 schimmerte der Rand des beleuchteten Teils der Scheibe, und nur an
6209 der Schattengrenze bezeichneten einige helle Lichtpunkte den
6210 Untergang der Sonne für die Schneegipfel des Tianschan und des
6211 Altai.
6213 In tiefem Schweigen standen die Deutschen, völlig versunken in den
6214 Anblick, der noch keinem Menschenauge bisher vergönnt gewesen war.
6215 Noch niemals war es ihnen so klar zum Bewußtsein gekommen, was es
6216 heißt, im Weltraum auf dem Körnchen hingewirbelt zu werden, das man
6217 Erde nennt; noch niemals hatten sie den Himmel unter sich erblickt.
6218 Die Martier ehrten ihre Stimmung. Auch sie, denen die Wunder des
6219 Weltraums vertraut waren, verstummten vor der Gegenwart des
6220 Unendlichen. Die machtvollen Bewohner des Mars und die schwachen
6221 Geschöpfe der Erde, im Gefühl des Erhabenen beugten sich ihre
6222 Herzen in gleicher Demut der Allmacht, die durch die Himmel waltet.
6223 Aus der Stille des Alls sprach die Stimme des einen Vaters zu
6224 seinen Kindern und füllte ihre Seelen mit andächtigem Vertrauen.
6226 La hatte Saltners Hand ergriffen, sanft lehnte sie sich an seine
6227 Schulter, und mit der Rechten auf den hellsten der Sterne weisend,
6228 der unterhalb des Horizonts des Pols leuchtete sagte sie leise:
6229 „Dort ist meine Heimat.“
6231 Saltner zog sie an sich und sprach: „Und dort meine Erde, ist sie
6232 nicht schön?“
6234 Grunthe holte sein Relieffernrohr hervor und trat dicht an den
6235 inneren Rand der Galerie, welcher den Blick auf den Nordpol
6236 gestattete. Auch ihn hatte die Erinnerung an die so greifbar nahe
6237 vor ihm ausgebreiteten und doch so unerreichbaren fernen Lande
6238 seiner Heimat weichgestimmt. Aber er wollte nichts wissen von dem,
6239 was La und Saltner sich zu sagen hatten. Ihn beschäftigte jetzt,
6240 nachdem das Überwältigende des ersten Eindrucks vorüber war, vor
6241 allem der Gedanke, wie er es ermöglichen könne, die Reise über die
6242 Eisfelder und Meere des Polargebiets zurückzulegen. Und er wollte
6243 die günstige Gelegenheit benutzen, von hier oben den Weg zu
6244 überblicken, den er auf den Karten der Martier schon wiederholt
6245 studiert hatte. Ein kleiner dunkler Fleck direkt unter ihm stellte
6246 das Binnenmeer am Pol vor, und mit seinem Glas konnte er die Insel
6247 in der Mitte desselben erkennen. Er wandte sich mit einer Frage an
6248 Hil, der ihn an eine andere Stelle der Galerie führte.
6250 „Sie können hier“, sagte er, „die Erde bequemer mit einem unsrer
6251 Apparate betrachten, der Ihnen eine hundertfache Vergrößerung gibt.
6252 Später sollen Sie im Laboratorium unser großes Fernrohr mit
6253 tausendfacher Annäherung kennenlernen.“
6255 La blickte lange nach der Erde hinab. Dann sagte sie in ihrer
6256 langsamen, tiefen Sprechweise: „Größer und schöner mag eure Erde
6257 sein, aber ich müßte dort sterben in eurer Schwere. Und schwer wie
6258 die Luft sind eure Herzen. Ich aber bin eine Nume.“
6260 Sie ließ das schützende Augenglas herabfallen und wendete ihm voll
6261 das Gesicht zu. In ihrem Blick flammte wieder jene unbeschreibliche
6262 Überlegenheit, welche den Menschenwillen brach. Aber es war nur ein
6263 Moment. Dann wechselte der Ausdruck ihrer Züge, ihre Wimpern
6264 senkten sich über die Sterne ihrer Augen, und Saltner fühlte, wie
6265 ein Strom von Wärme ihrem Antlitz entstrahlte, das sie nun zur
6266 Seite wandte.
6268 Vom Zauber ihrer Nähe hingerissen, beugte er sich ihr entgegen und
6269 drückte seine Lippen auf ihren Hals.
6271 La zuckte zusammen. Schon fürchtete Saltner, sie beleidigt zu
6272 haben, aber sie wandte sich mit einem glücklichen Lächeln und
6273 duldete seinen Kuß auf ihren Mund.
6275 „Geliebte La“, flüsterte er, „wie glücklich machst du mich! Ist es
6276 denn möglich, du Wunderbare, daß ein armer Mensch eine Nume lieben
6277 darf?“
6279 Sie sah ihn freundlich an und antwortete: „Ich weiß es nicht, was
6280 ihr Liebe nennt und was ein Mensch darf. La aber darf dem Menschen
6281 nicht zürnen, ohne den sie den Nu nicht wiedersehn würde – – doch,
6282 mein Freund –“, und ihr Blick wurde ernst, „– vergiß nicht, daß ich
6283 eine Nume bin.“
6285 „Aber ich liebe dich!“
6287 „Ich will es nicht verbieten, nur vergiß niemals –“
6289 „Das verstehe ich nicht, wenn ich nur dein sein darf –“
6291 „Die Liebe der Nume macht niemals unfrei“, sagte La.
6293 „Und wenn du mich lieb hast –“
6295 „Wie Nume lieb haben. Und du mußt wissen, wenn sie es tun, daß dies
6296 niemand etwas angeht als sie selbst, und daß –. Ich weiß es auf
6297 deutsch nicht recht zu sagen –“
6299 „Auf martisch versteh ich’s ganz gewiß nicht, aber ich weiß –“, und
6300 Saltner zog ihre Hand an seine Lippen, „– ich weiß, daß du –“ Seine
6301 beredten Schmeichelworte wurden durch die Annäherung Hils
6302 unterbrochen.
6304 „Wenn wir vor dem Abgang noch einen Blick in das Schiff werfen
6305 wollen“, sagte er, „so ist es jetzt Zeit.“
6307 „Schon?“ rief La. „Wir haben die Erde noch gar nicht durchs
6308 Fernrohr betrachtet.“
6310 „Das können wir noch vor der Rückfahrt.“
6312 „Aber dann ist es vielleicht in Deutschland schon Abend“, sagte
6313 Saltner, „ich möchte doch gern –“
6315 „Durchaus nicht“, erwiderte Hil. „In einer halben Stunde ist alles
6316 vorüber, und dann haben Sie erst ein Viertel nach drei Uhr. – Aber
6317 lassen Sie uns jetzt eilen!“
6319 \section{16 - Die Aussicht nach der Heimat}
6321 Die vier Besucher des Ringes begaben sich über die mittlere Galerie
6322 nach der Treppe zur oberen. Hier gelangten sie in die weite Halle,
6323 von welcher aus die Abfahrt der Raumschiffe stattfand. Das rege
6324 Leben, das hier geherrscht hatte, begann sich jetzt zu beruhigen.
6325 Denn die Einschiffung der Abreisenden war vollendet, und ihre
6326 Begleiter verließen soeben das Schiff. Die Luke sollte geschlossen
6327 werden.
6329 Hil mit seiner Begleitung hatte sich doch verspätet, und so mußten
6330 Grunthe und Saltner sich diesmal darauf beschränken, das Raumschiff
6331 von außen zu betrachten. Sie trösteten sich damit, daß in drei
6332 Tagen bereits eine neue Abfahrt stattfände; überdies fesselte sie
6333 der Anblick, der sich ihnen darbot, zur Genüge.
6335 Die riesige Halle besaß einen Radius von 60 Meter. An ihrer Decke,
6336 und zwar rings um den Rand herum, befanden sich kreisförmige
6337 Einschnitte. Auf fünf von ihnen ruhte je ein Raumschiff, so daß das
6338 untere Segment desselben in die Halle hineinragte und von hier aus
6339 zugänglich war. Der überwiegende Teil jedes Raumschiffs befand sich
6340 natürlich oberhalb der Decke nach außen, wodurch die Halle, wenn
6341 man sie von oben her hätte betrachten können, wie von fünf
6342 Riesenkuppeln gekrönt erschienen wäre. Bei vollbesetzter Station
6343 hätten sich acht Kuppeln über der Halle erhoben. Die Martier waren
6344 imstande, acht Raumschiffe gleichzeitig auf der Station zu halten.
6345 Die vorhandenen fünf Schiffe sollten in dreitägigen Zwischenräumen
6346 die Station verlassen; sie vermochten sämtliche anwesende Martier
6347 fortzufahren, so daß also der Aufenthalt der Martier auf der Insel
6348 in fünfzehn Tagen beendet sein mußte. Man konnte durch die
6349 vollständig durchsichtige Decke die Außenseite der Schiffe genau
6350 betrachten. Sie stellten vollkommene Kugeln dar, die mit ihrem
6351 größten Umfang noch weit über den Rand der Galerie hinausragten.
6352 Auch nicht der geringste Vorsprung, nicht die kleinste Unebenheit
6353 war an ihnen zu entdecken. Die äußeren Hüllen dieser Kugeln waren
6354 durchsichtig. Man erblickte hinter ihnen die innere Kugel, den
6355 eigentlichen Schiffsraum, von welchem aus eine Reihe von Öffnungen
6356 in den Zwischenraum zwischen beiden Kugeln hineinführte. Dieser
6357 über zwei Meter breite Raum trug in regelmäßiger Anordnung allerlei
6358 Gerüste, die den verschiedenen Zwecken der Raumfahrt dienten. Jetzt
6359 waren sie zum größten Teil von den Martiern besetzt, die mit ihren
6360 Freunden in der Abfahrtshalle noch Abschiedsgrüße austauschten.
6362 An der tiefsten Stelle der Kugel befand sich ein abgegrenzter Raum,
6363 der die Kommandobrücke bildete. Hier erschien jetzt Jo. Er warf
6364 einen Blick auf die Apparate, die rings um seinen Platz angeordnet
6365 waren. Dann grüßte er mit einer Handbewegung in die Halle hinein
6366 und drückte auf einen Knopf. In diesem Augenblick leuchtete zu
6367 seinen Füßen auf der Innenseite der durchsichtigen Kugel das Bild
6368 eines Kometen und der Name des Schiffes, das der ›Komet‹ hieß, in
6369 bläulichem Fluoreszenzlicht auf. Dies war das Zeichen, daß der
6370 ›Komet‹ bereit war, seine Reise anzutreten.
6372 Man hatte schon vorher die ganze Galerie, die sich um ihre
6373 vertikale Achse drehen ließ, für die Abfahrt passend eingestellt.
6374 Genau in der Sekunde, in welcher diese stattfinden sollte, mußte
6375 der Punkt der Galerie, wo das Schiff sich befand, von der Sonne
6376 abgewendet stehen. Denn sobald das Schiff bei seiner Abfahrt völlig
6377 schwerelos gemacht wurde, bewegte es sich in der Tangente der
6378 Erdbahn. Da aber die Erde gleichzeitig in ihrer Bahn fortlief, so
6379 hatte dies zur Folge, daß das Schiff in bezug auf die Erde sich auf
6380 einer Linie entfernte, welche genau von der Sonne fortwies. Nach
6381 dieser Richtung hin also mußte die Bahn frei sein. Die Sonne hatte
6382 den niedrigen Stand von gegen sieben Grad über dem Horizont, die
6383 Bewegung wich somit von der horizontalen wenig ab.
6385 Die Martier im Innern der Abfahrtshalle fuhren jetzt auf Schienen
6386 eine eigentümliche Hebemaschine unter das Schiff. Sie bestand in
6387 einem oben offenen, unten geschlossenen Zylinder, welcher dazu
6388 diente, das Schiff aus seinem Lager zu heben und gleichzeitig die
6389 Öffnung der Abfahrtshalle luftdicht zu schließen. Der Zylinder
6390 wurde in die Höhe geschraubt und hob dadurch auf seinem oberen
6391 Rande das fast schon schwerelos gemachte und darum leicht
6392 bewegliche Schiff empor. Als das Schiff so hoch gebracht war, daß
6393 sein tiefster Punkt höher stand als das Dach der Halle, wurde der
6394 Hebungszylinder angehalten. Auf ein gegebenes Zeichen mußte er
6395 herabfallen und damit das Schiff freigeben.
6397 Der entscheidende Augenblick nahte. Die vollkommene Diabarie des
6398 Schiffes mußte genau in dem berechneten Moment eintreten, wenn
6399 nicht die Disposition der ganzen Raumreise dadurch verändert werden
6400 sollte.
6402 Jo hatte seinen Blick auf die Uhr gerichtet, während seine Hand den
6403 Griff des diabarischen Apparats umfaßt hielt. Mit größter
6404 Aufmerksamkeit beobachtete ihn der Ingenieur im Innern der Halle,
6405 um das Zeichen zum Fallen des Stütz-Zylinders zu geben.
6407 Jetzt blickte Jo hinab und drückte auf den Griff. Zugleich sank der
6408 Zylinder nach unten. Die riesige Kugel schwebte, vollständig frei,
6409 dicht über dem Dach der Halle.
6411 Die Martier im Schiff und in der Halle schwenkten grüßend Hände und
6412 Tücher. Mit angehaltenem Atem folgten Grunthe und Saltner dem
6413 wunderbaren Schauspiel, das so gar keine Ähnlichkeit mit dem
6414 Aufstieg eines Luftballons hatte. Es schien den Menschen, als müßte
6415 die freischwebende Riesenmasse sie im nächsten Augenblick
6416 zerschmettern.
6418 In den ersten Sekunden bemerkte man kaum, daß das Raumschiff sich
6419 bewege, denn die Abweichung von der Erdbahn, welche in der ersten
6420 Sekunde nur 3 Millimeter beträgt, steigt nach 10 Sekunden erst auf
6421 30 Zentimeter. Nach einer Minute aber war die Entfernung schon auf
6422 11 Meter gewachsen. Die Kugel passierte jetzt den Rand der Galerie
6423 und schwebte frei über der unendlichen Tiefe, 6.300 Kilometer hoch
6424 über der Erde. Selbst die geübten Luftschiffer Grunthe und Saltner
6425 überkam ein beängstigendes Gefühl, als sie das Schiff so ganz
6426 langsam, ohne jede bemerkbare Triebkraft, über den Abgrund ziehen
6427 sahen. Schon wuchs die Entfernung merklicher. Nach zwei Minuten war
6428 es 44, nach drei Minuten 100 Meter entfernt, und immer mehr
6429 verschwanden die wehenden Tücher. Genau in der Richtung der
6430 Sonnenstrahlen, sanft nach unten geneigt, hart am Rand des –
6431 übrigens im leeren Raum nicht sichtbaren – Schattens des Ringes zog
6432 das Schiff hin. Die Kugel wurde sichtlich kleiner; nach zehn
6433 Minuten hatte sie einen Abstand von 1.100 Metern erreicht.
6435 „Es ist nun hier weiter nichts mehr zu sehen“, sagte Hil zu
6436 Saltner. „Wenn es Ihnen recht ist, werfen wir jetzt einen Blick auf
6437 die Erde durch unsern großen Apparat.“
6439 „Wie lange kann man den ›Komet‹ noch erblicken?“ fragte Grunthe.
6441 „Mit dem Fernrohr“, erwiderte Hil, „können wir ihn so lange sehen,
6442 bis er Richtschüsse gibt und durch den Erdschatten geht. Wie mir Jo
6443 sagte, beabsichtigt er dies zu tun, sobald er 1.000 Kilometer von
6444 hier entfernt ist. Das wird in 5 Stunden der Fall sein. Nachher
6445 entfernt er sich natürlich mit viel größerer Geschwindigkeit, weil
6446 er von der Erdbahn abbiegt.“
6448 „Kann man die Lösung der Richtschüsse von hier beobachten?“
6450 „Davon sehen Sie gar nichts. Ich will Ihnen jetzt etwas
6451 Interessanteres zeigen, und Sie sollen mir mancherlei erklären.“
6453 In der inneren auf der Unterseite des Ringes befindlichen Galerie
6454 traf die kleine Gesellschaft auf Las Vater, der erst jetzt Saltner
6455 und Grunthe freundlich begrüßte, da er bisher zu sehr mit der
6456 Expedition des Schiffes beschäftigt gewesen war. Hil bat um
6457 Erlaubnis, das große Instrument der Station benutzen zu dürfen. Fru
6458 erklärte sich gern bereit, selbst die Einstellung zu übernehmen.
6460 „Aber du mußt die ganz starke Vergrößerung anwenden“, sagte La
6461 schmeichelnd zu ihrem Vater, „der arme Bat hier möchte einmal
6462 sehen, wo er zu Hause ist.“
6464 „Und die neugierige La auch, nicht wahr? Nun, du weißt, es kommt
6465 alles auf die Beleuchtung an.“
6467 Es gesellten sich noch einige andere Martier hinzu, die ebenfalls
6468 die Gelegenheit wahrnehmen wollten, sich die Erde von ihren
6469 Bewohnern erklären zu lassen.
6471 „Ach“, sagte Saltner leise zu La, „das wird eine große
6472 Gesellschaft, da werden wir wohl nicht viel zu sehen bekommen.“
6474 „Warte nur ab“, antwortete sie ebenso, „das wird gerade hübsch. Du
6475 weißt ja gar nicht, wie man bei uns ins Fernrohr sieht.“
6477 Man sammelte sich vor einer geschlossenen Tür.
6479 „Sie denken vielleicht“, sagte La, „daß bei uns jeder für sich
6480 durch ein Rohr guckt. O nein, das ist viel bequemer.“
6482 Fru öffnete die Tür. Man trat in ein vollständig verdunkeltes
6483 Zimmer, das nur künstlich durch eine Lampe beleuchtet war. Die eine
6484 Wand war rein weiß, alle übrigen schwarz angestrichen. Man
6485 gruppierte sich vor der weißen Wand, im Vordergrund La, Saltner und
6486 Grunthe als Gäste neben ihr. Hinter den Zuschauern befand sich ein
6487 Gestell mit verschiedenen Apparaten und Meßinstrumenten, von
6488 welchem aus schwarz angestrichene Rohre nach der Decke liefen. Hier
6489 stellte sich Fru auf. Das Licht verlosch. Nur die Schrauben und
6490 Skalen der Apparate phosphoreszierten in schwachem Eigenlicht.
6492 Als Fru den Verschluß des Suchers öffnete, projizierte sich auf der
6493 Wand ein Teil des südlichen Sternenhimmels, und nach einigen
6494 Verschiebungen erschien das Bild der Erde, nicht vergrößert, aber
6495 sehr scharf in allen Umrissen. Es nahm fast die ganze Fläche der
6496 Wand ein, und man konnte deutlich die Abnahme der Beleuchtung an
6497 der Schattengrenze beobachten, die jetzt schon etwas weiter nach
6498 Westen gerückt war. Zum Glück zeigte sich der Himmel über
6499 Deutschland ganz klar, so daß Fru nicht zweifelte, die stärkste
6500 Vergrößerung anwenden zu können. Fru ersuchte Grunthe, ihm auf dem
6501 Bild an der Wand die Stelle zu bezeichnen, an welcher ungefähr die
6502 Hauptstadt seines Landes zu suchen sei. Grunthe deutete auf einen
6503 Punkt in Norddeutschland und Fru stellte nun den Projektionsapparat
6504 so ein, daß dieser Punkt genau in die Mitte des Bildes kam. Jetzt
6505 wandte er hundertfache Vergrößerung an, um die Stadt Berlin
6506 erkennen zu lassen. Die Entfernung von der Außenstation bis nach
6507 Berlin betrug 8.600 Kilometer; bei der angewandten Vergrößerung
6508 wurden also die Gegenstände bis auf 86 Kilometer nahegerückt, und
6509 es war somit möglich, Ausdehnungen von etwa hundert Meter Länge zu
6510 unterscheiden und bei besonders heller Beleuchtung auch noch
6511 kleinere. Der Kreis an der Wand, der jetzt freilich sehr viel
6512 lichtschwächer erschien, zeigte sich von bräunlichen und grünlichen
6513 Streifen und Vierecken bedeckt, die an zahlreichen Stellen von
6514 dunkleren, unregelmäßigen Flecken unterbrochen waren; jene waren
6515 die bebauten Felder, diese die dazwischen liegenden Wälder und
6516 Seen.
6518 Grunthe hatte richtig geschätzt. An der rechten Seite des Bildes
6519 waren die ausgedehnten Seen der Havel bei Potsdam unverkennbar,
6520 links erschien noch der Lauf der Oder bei Frankfurt auf dem Bild.
6521 Eine verwaschene Stelle nach rechts unten zeigte die von Rauch
6522 erfüllte Atmosphäre der Millionenstadt an. Diese wurde nun in die
6523 Mitte der Projektion gebracht und nochmals um das Zehnfache
6524 vergrößert. Dadurch rückte die Stadt bis auf kaum neun Kilometer an
6525 den Standpunkt des Beschauers heran. Es war, als ob man sie aus
6526 einem dreitausend Meter über dem Nordende der Stadt schwebenden
6527 Luftballon betrachtete, nur freilich bei einer außerordentlich
6528 matten Beleuchtung. Der auf der Wand abgebildete Kreis umfaßte in
6529 Wirklichkeit einen Durchmesser von zehn Kilometern.
6531 Dem Mangel an Licht, welcher eine Folge der Projektion bei starker
6532 Vergrößerung war, konnten die Martier durch eine ihrer genialen
6533 Erfindungen abhelfen; sie schalteten in den Gang der Lichtstrahlen
6534 ein sogenanntes optisches Relais ein. Die Strahlen passierten dabei
6535 eine Vorrichtung, durch welche sie neue Energie aufnahmen, und zwar
6536 jede Farbengattung genau Licht derselben Art und im Verhältnis
6537 ihrer Helligkeit. Dadurch erhielt das ganze Bild, ohne seinen
6538 Charakter zu verändern, die erforderliche Lichtstärke. Eins aber
6539 konnte freilich nicht entfernt werden – der über der ganzen Stadt
6540 lagernde Dunst und Qualm. Die Felder nördlich von der Stadt und ein
6541 Teil der Vororte waren zu erkennen. Man bemerkte die feinen Linien,
6542 von einem Rauchwölkchen gekrönt, welche die der Hauptstadt
6543 zustrebenden Eisenbahnzüge vorstellten. Das Häusermeer selbst aber
6544 verschwamm in einem grauen Nebel, über den nur die Türme und
6545 Kuppeln der Kirchen hervorragten. Deutlich erkannte man den Reflex
6546 der Sonne an dem Dach des Reichstagsgebäudes und an der
6547 Siegessäule.
6549 Grunthe und Saltner hatten natürlich schon öfter Gelegenheit
6550 gehabt, bei ihren Gesprächen mit den Martiern die wichtigsten
6551 geographischen und politischen Aufklärungen über die Menschen zu
6552 geben. Sie würden noch besseres Verständnis dafür gefunden haben,
6553 wenn nicht die Inselbewohner als Techniker hauptsächlich
6554 mathematisch-naturwissenschaftlich gebildet gewesen wären, so daß
6555 ihre historischen Kenntnisse nur der allgemeinen Bildung der
6556 Martier entsprachen. So wußten diese bloß im allgemeinen zu sagen,
6557 daß ihnen die Einrichtungen der Erde auf dem Standpunkt zu stehen
6558 schienen, den man auf dem Mars als Periode der Kohlenenergie
6559 bezeichnete. Sie lag für die Geschichte der Martier um mehrere
6560 hunderttausend Jahre zurück. Rassen, Staaten und Stände in heißem
6561 Konkurrenzkampf um Lebensunterhalt und Genuß, die ethischen und
6562 ästhetischen Ideale noch nicht rein geschieden von den
6563 theoretischen Bestimmungen, der Energieverbrauch ganz auf das
6564 Pflanzenreich angewiesen, ob diese Energie nun von der
6565 Landwirtschaft aus den lebenden oder von der Industrie aus den
6566 begrabenen Pflanzen, den Kohlen, gezogen wurde.
6568 „Woher kommen diese Nebel über Ihren großen Städten?“ fragte einer
6569 der Martier.
6571 „Hauptsächlich von der Verbrennung der Kohle“, erwiderte Grunthe.
6573 „Aber warum nehmen Sie die Energie nicht direkt von der
6574 Sonnenstrahlung? Sie leben ja vom Kapital statt von den Zinsen.“
6576 „Wir wissen leider noch nicht, wie wir das machen sollen. Übrigens
6577 sind die Kohlen doch nur zurückgelegte Zinsen, die unsere geehrten
6578 Vorfahren im Tierreich nicht aufzehren konnten.“
6580 „Die Wolken sind häßlich, man kann ja nichts deutlich sehen“, sagte
6583 „Ich wünschte“, sprach Hil mehr für sich als zu den andern, „wir
6584 hätten bei uns einen Teil Ihrer Wolken. Welch gewaltige
6585 Wasserbecken haben Sie auf der Erde!“
6587 „Es ist aber hier an der Stadt wirklich nichts zu sehen“, bemerkte
6588 Fru. „Die Luft ist zu unruhig in größerer Höhe über der Stadt, wir
6589 bekommen keine klaren Bilder.“
6591 „Lassen Sie uns einmal meine Heimat schauen“, rief Saltner. „Bitt’
6592 schön! Da ist die Luft klar wie auf dem Mars.“
6594 „Das wollen wir sehen“, sagte La. „Aber Heimweh dürfen Sie nicht
6595 bekommen.“
6597 „Ich will Ihnen sagen, wie Sie reisen müssen. Drehen Sie einmal so,
6598 daß wir nach Westen kommen –“
6600 „Wie weit ist es bis nach Ihrer Heimat?“
6602 „Von Berlin? Nun so siebenhundert Kilometer oder etwas mehr
6603 werden’s wohl sein.“
6605 „Nun, da kommen wir doch rascher zum Ziel, wenn wir erst noch
6606 einmal die hundertfache Vergrößerung nehmen und dann einstellen.
6607 So, jetzt dirigieren Sie. Das Bild faßt nunmehr hundert Kilometer
6608 im Durchmesser.“
6610 „Also westlich bitte – aber nicht zu schnell, sonst erkenn ich
6611 nichts. Das ist Potsdam, nun weiter –. Das ist die Elbe – meinen
6612 Sie nicht, Grunthe? Das dort muß Magdeburg sein – halt! Nun immer
6613 direkt südlich.“
6615 Fru ließ die Karte von Deutschland über die Tafel wandern. Der
6616 Harz, die Hügel- und Waldlandschaften Thüringens und des
6617 fränkischen Jura zogen schnell vorüber, die bayerische Hochebene
6618 beherrschte das Bild.
6620 „Das dort muß München sein, da ist’s schön!“ rief Saltner. „Bitte,
6621 machen Sie einmal groß. Und dann erst weiter, dann kommen die
6622 Alpen.“
6624 Fru stellte den Apparat wieder auf tausendfache Vergrößerung und
6625 schaltete das optische Relais ein. Die Hauptstadt Bayerns zeigte
6626 ihre Kuppeln.
6628 „Jetzt dachte ich doch wirklich einen Augenblick“, rief La, „dort
6629 eine Frau zu erkennen. Aber das müßte ja eine seltsame Riesin
6630 sein.“
6632 „Das ist sie auch“, sagte Saltner lachend. „Es ist die Bildsäule
6633 der Bavaria, die Sie sehen.“
6635 „Bavaria? Wodurch hat sich die Frau so verdient gemacht, daß man
6636 ihr Bildsäulen setzt? Hat sie ein Problem gelöst?“
6638 „Die Bierfrage“, sagte Saltner.
6640 „Die Bildsäule stellt die Personifikation eines unsrer Staaten
6641 vor“, erklärte Grunthe.
6643 „Warum nehmen Sie aber dazu nicht einen Mann?“ fragte La wieder.
6645 „Das hätte Grunthe auch sicher getan, wenn er gefragt worden wäre“,
6646 neckte Saltner.
6648 „Ich denke“, sagte Grunthe, „es ist Zeit weiterzureisen.“
6650 „Nun immer weiter nach Süden!“ rief Saltner.
6652 Die Vorberge der Alpen erschienen im klaren Licht der
6653 Nachmittagssonne. Ein dunkler Bergsee erfüllte die Wand, dahinter
6654 erhoben sich die Spitzen der bayerischen Alpen –
6656 „Der Walchensee!“ rief Saltner.
6658 „Das ist schön – so schön gibt es nichts bei uns –“, sagte La.
6660 „Wartens nur“, rief Saltner, der jetzt alles um sich und beinahe
6661 selbst La vergaß. „Es kommt noch schöner. Nun drehens nur
6662 langsam!“
6664 Es war ein wunderbares Wandelpanorama, das sich jetzt entfaltete.
6665 Je höher die Gebirgswelt anstieg, um so klarer und reiner wurde die
6666 Luft und damit die Schärfe der Bilder. Man betrachtete das Gebirge
6667 aus einer Entfernung von neun Kilometern und unter einem
6668 Neigungswinkel von annähernd zwanzig Grad, also wie aus einer Höhe
6669 von dreitausend Metern, doch so, daß man unter dieser Neigung stets
6670 einen Umkreis von zehn Kilometern Durchmesser vor sich hatte,
6671 entsprechend einem Flächenraum von achtzig Quadratkilometern. So
6672 sah man jetzt gerade den Nordabfall der Karwendelwand vor sich,
6673 aber man blickte darüber hinweg auf die dahinterliegenden
6674 Gebirgsketten. Alles dies erschien im höchsten Grade plastisch,
6675 genau wie ein Relief der Gegend; denn das Fernrohr wirkte durch
6676 seine Konstruktion wie ein Stereoskop.
6678 So schob sich die Gegend nach und nach vor den Blicken der
6679 Zuschauer vorüber, als ob dieselben in einem Luftballon schnell
6680 darüber hinschwebten. Der Einschnitt des Inntals wurde passiert,
6681 und nun leuchteten hell im Sonnenstrahl die Ferner der Ötztaler
6682 Alpen. Fru war bei der Drehung des Fernrohrs nach Westen
6683 abgewichen. Wieder erblickte man den schmalen Streifen eines tief
6684 eingeschnittenen Tales, und dahinter erschien eine herrliche
6685 Berggruppe, alle Gipfel mit glänzendem Weiß bedeckt.
6687 „Was ist denn das“, rief Saltner, „da sind wir von der Richtung
6688 abgekommen. Das ist der Ortler! Nun müssen Sie wieder nach Osten
6689 drehen – so – immer weiter! Sehen Sie, immer an diesem Streifen
6690 hin, das ist nämlich das Etschtal, und jetzt können Sie gerad
6691 hineinschauen, hier schwenkt es nach Südost ab. Noch immer weiter,
6692 bis es ganz nach Süden geht – da – da schaun Sie hin – ah, wie
6693 schade, aus dem Tal steigt die Luft so unruhig in die Höhe, aber
6694 die Etsch können Sie durchschimmern sehn. Und jetzt, ganz langsam,
6695 noch ein bißchen, hier, die Berge am linken Ufer, hier ist’s wieder
6696 klar – nun bitte, halt!“
6698 Er beugte sich ganz dicht vor, daß der Schatten seines Kopfes auf
6699 die Wand fiel und die andern nicht mehr gut sehen konnten.
6701 „Da, da ist’s“, rief er jubelnd, „ich kann’s deutlich erkennen. Das
6702 ist die alte Burg, links daneben liegt das Haus, mein Haus – Jesus
6703 Maria – ich kann’s wahrhaftig sehen, wie ein kleines, weißes
6704 Pünktchen! Da wohnt mein Mutterl.“
6706 Jetzt beugte auch La sich vor.
6708 „Wo?“ fragte sie.
6710 Mit der Spitze einer Nadel bezeichnete Saltner den Punkt.
6712 Ihre Köpfe berührten sich. Lange betrachtete La die Gegend, als
6713 wollte sie sich jede Einzelheit einprägen. Saltner trat beiseite.
6715 „Ich hab nun genug geschaut, mir tun die Augen weh“, sagte er und
6716 zog sich auf einen der Stühle zurück. Er bedeckte die Augen mit der
6717 Hand und saß schweigend. La setzte sich neben ihn und drückte leise
6718 seine Linke.
6720 Nach längerer Pause, während deren Fru die Schattengrenze der Erde
6721 betrachten ließ, die jetzt schon bis an den Ural vorgerückt war,
6722 sagte La zu Saltner: „Du möchtest wohl jetzt den Mars nicht mehr
6723 sehen?“
6725 „Warum nicht?“ entgegnete Saltner. „Ich will ihn auch liebgewinnen
6726 – aber du mußt verzeihen! Es ist ein bissen viel auf einmal, was
6727 jetzt durch meinen dummen Menschenverstand geht.“
6729 „Ja, ihr armen Menschen“, sagte La, „es wird wohl noch ein Weilchen
6730 dauern, eh ich recht begreife, wie es in solchem Kopf aussieht. Die
6731 Heimat liebhaben und die Eltern und die Freunde, das ist gut. Und
6732 was gut ist, wie kann das traurig machen?“
6734 „Wenn man es nicht hat –“
6736 „Nicht hat? Wie kann man das nicht haben, was doch nur vom Willen
6737 abhängt? Wer kann dir die Treue nehmen, die du für recht hältst?
6738 Diese Liebe hast du doch, ob hier oder dort, weil du sie selbst
6739 bist.“
6741 „Aber La, kennt ihr Nume die Sehnsucht nicht?“
6743 „Die Sehnsucht? Siehst du, du törichter Lieber, was wirfst du doch
6744 durcheinander! Also bist du gar nicht gut aus reinem Willen,
6745 sondern dich treibt das Verlangen nach dem Besitz. Und aus diesem
6746 Widerstreit bist du traurig. Oh, was seid ihr für Wilde!“
6748 „So würdest du dich nie nach mir sehnen?“
6750 „Nach dir? Das ist doch ganz etwas anderes. Ich hab dich doch nicht
6751 lieb, weil es Pflicht ist, weil es gut ist, sondern lieb hab ich
6752 dich, weil es schön ist zu lieben und geliebt zu werden. Deine Nähe
6753 wünsche ich, wie ich den Ton des Liedes wünsche, um mich an seiner
6754 Schönheit zu erfreuen – aber nein, das ist auch noch nicht richtig,
6755 du könntest denken, das sei nur ein Mittel zur ästhetischen Lust –
6756 nein, so brauch ich deine Liebe und Nähe, wie der Künstler die
6757 eigne Seele braucht, um das Schöne zu schaffen. – Ach, ich komme
6758 mit eurer Sprache nicht zurecht. Ihr sprecht von Liebe in
6759 hundertfachem Sinn. Ihr liebt Gott und das Vaterland und die Eltern
6760 und die Kinder und die Gattin und die Geliebte und den Freund, ihr
6761 liebt das Gute und das Schöne und das Angenehme, ihr liebt euch
6762 selbst, und das sind doch absolut verschiedene Zustände des Gemüts,
6763 und immer habt ihr nur das eine Wort.“
6765 „Ich will dich ja ohne alle Worte lieben, du kluge La –“
6767 Sie blickte tief in seine Augen und sprach: „Wie nennt ihr das, was
6768 niemals wirklich ist, was man nur in der Phantasie sich vorstellt,
6769 und indem man es sich vorstellt, ist das Glück wirklich in uns? Wie
6770 nennt ihr das?“
6772 Saltner zauderte mit der Antwort, und La fuhr fort: „Und das, was
6773 man wollen muß, ob es auch nicht glücklich macht, und was im Wollen
6774 erfreut, wenn es auch nicht wirklich wird, wie nennt ihr das?“
6776 „Ich glaube“, erwiderte Saltner, „das erste nennen wir schön, und
6777 das zweite gut.“
6779 „Und wenn ihr eine Frau liebt, rechnet ihr das zum Schönen oder zum
6780 Guten?“
6782 Es kam zu keiner Antwort.
6784 „Was ist das?“ hörte man plötzlich Fru laut rufen. Eine Bewegung
6785 entstand bei den Martiern. Sie drängten sich nahe an die Wand und
6786 hefteten ihre Augen auf eine bestimmte Stelle des Bildes, das
6787 soeben vom Fernrohr projiziert wurde.
6789 Grunthe hatte Fru gebeten, ihm die Einrichtung des Apparats zu
6790 erklären. Hierbei hatte Fru die Schrauben hin und her gedreht, das
6791 Bild der Erde war nicht mehr im Gesichtsfeld, zahllose Sterne
6792 liefen infolge der Umdrehung der Erde über den projizierten Teil
6793 des Himmels. Jetzt setzte Fru, weiter demonstrierend, das Uhrwerk
6794 in Gang, welches das Fernrohr der Erdbewegung entgegen drehte, so
6795 daß die Sterne auf dem Bild stillstanden. Fru warf einen Blick auf
6796 den Teil des Himmels, der sich zufällig eingestellt hatte. Es war
6797 ein Stückchen der ›südlichen Krone‹, das sich abbildete. Verwundert
6798 blickte er schärfer hin. Er kannte die Stelle zu genau, als daß ihm
6799 nicht ein Stern hätte auffallen sollen, der sich sonst nicht hier
6800 befand. Einer der Asteroiden konnte es nicht sein. Er änderte die
6801 Einstellung ein wenig und erkannte daran, daß der fragliche Körper
6802 sich in verhältnismäßig großer Nähe befinden müsse.
6804 Dies hatte ihn zu dem lauten Ausruf veranlaßt. Aufmerksam prüften
6805 alle den Lichtpunkt, der sich deutlich von den Bildern der
6806 Fixsterne als eine kleine rötliche Scheibe unterschied.
6808 „Es ist ein Schiff!“ rief endlich einer der Martier.
6810 „Der ›Komet‹?“ fragte Grunthe.
6812 „Das ist nicht möglich“, sagte Fru. „Es ist der ›Glo‹! Kein
6813 Zweifel, er ist an seiner roten Farbe kenntlich, es ist das
6814 Staatsschiff.“
6816 „Die Ablösung!“ hieß es in den Reihen der Martier.
6818 „Und Instruktionen von der Regierung“, rief Fru.
6820 „Wie lange Zeit braucht das Schiff noch bis zur Ankunft?“ fragte
6821 Grunthe.
6823 „Darüber können noch Stunden vergehen. Aber trotzdem muß ich leider
6824 um Entschuldigung bitten, daß ich Ihnen heute den Mars nicht mehr
6825 zeigen kann. Ich hoffe, es wird nächstens Gelegenheit dazu sein.
6826 Denn ich muß sofort die Vorbereitungen zur Landung treffen. Und
6827 deshalb, so leid es mir tut, muß ich auch den Flugwagen früher als
6828 beabsichtigt hinabgehen lassen. Sie müssen also die Güte haben,
6829 sich zur Rückfahrt nach der Insel bereitzuhalten.“
6831 Fru verabschiedete sich herzlich von Grunthe, Saltner und La, und
6832 diese wie die übrigen Martier begaben sich nach der Abfahrtsstelle
6833 der Flugwagen, um auf die Insel zurückzukehren.
6835 \section{17 - Pläne und Sorgen}
6837 Als Saltner am folgenden Morgen in Grunthes Zimmer trat, fand er
6838 diesen bereits eifrig mit Schreiben beschäftigt.
6840 „Schon so fleißig?“ fragte Saltner. „Sie haben wohl noch nicht
6841 einmal gefrühstückt?“
6843 „Nein“, sagte Grunthe, „ich warte auf Sie. Ich habe nicht schlafen
6844 können und unsere Lage nach allen Seiten hin erwogen. Wir haben
6845 Wichtiges zu besprechen.“
6847 Beide pflegten, ohne sich um die martische Sitte des Alleinspeisens
6848 zu bekümmern, ihre Mahlzeiten gemeinschaftlich in ihren
6849 Privatzimmern einzunehmen. Hier bot sich ihnen fast die einzige
6850 Gelegenheit, sich völlig ungestört auszusprechen.
6852 „Nun“, sagte Saltner, nachdem sie sich aus den Automaten die Teller
6853 und Becher gefüllt hatten, die zu ihrer Reiseausrüstung gehörten –
6854 denn es war ihnen bequemer, nach europäischer Art zu speisen –,
6855 „nun, schießen Sie los, Grunthe! Ich höre.“
6857 Grunthe sah sich um, ob die Klappen des Fernsprechers geschlossen
6858 seien. Dann sagte er leise:
6860 „Ich habe die Überzeugung, daß sich unser Schicksal heute
6861 entscheiden wird. Und nach allem, was ich aus den Gesprächen der
6862 Martier entnommen habe, insbesondere gestern bei der Rückfahrt,
6863 erwartet man, daß das Staatsschiff den Befehl mitbringen wird, uns
6864 nach dem Mars zu transportieren.“
6866 „Ich glaube, Sie haben recht“, erwiderte Saltner. „Soweit ich mit
6867 La darüber gesprochen habe, sieht sie es als bestimmt an, daß wir
6868 beide mit nach dem Mars gehen, und wir werden wohl schließlich
6869 einfach dazu gezwungen werden.“
6871 Grunthe sah starr geradeaus. Dann sprach er langsam: „Ich gehe nach
6872 Europa zurück.“
6874 Seine Lippen zogen sich zu einer geraden Linie zusammen. Sein
6875 Entschluß war unabänderlich.
6877 Saltner blickte ihn erstaunt an.
6879 „Na“, sagte er, „ich gebe zu, daß wir alle Kräfte daranzusetzen
6880 haben, unsrer Instruktion nachzukommen, das heißt, nach Auffindung
6881 des Nordpols auf dem kürzesten Wege heimzukehren. Und wenn ich auch
6882 eine Reise nach dem Mars in schöner Gesellschaft nicht so übel
6883 fände, so habe ich doch einen gewissen Horror vor Balancierkünsten
6884 und insbesondere vor diesen furchtbar fetten Speisen – ich denke
6885 noch mit Entsetzen an die flüssige Butter oder was es war, das wir
6886 neulich zum Frühstück erhielten – und bei dem Klima bleibt einem ja
6887 nichts übrig, als früh, mittags und abends ein Pfund Fett zu
6888 verschlingen –“
6890 Grunthe runzelte die Stirn.
6892 „Ja, Ihnen tut das nichts, Sie wissen ja nie, was Sie essen –“, er
6893 klopfte ihn auf die Schulter. „Seien Sie nicht böse, ich kann es
6894 nur nicht leiden, wenn Sie dieses fürchterlich ernste Gesicht
6895 machen. Aber ohne Scherz, was ich sagen wollte, ist dies: Wie
6896 stellen Sie sich denn das vor, gegen den Willen der Martier von
6897 hier fort- oder woanders hinzukommen, als wo man Sie freundlichst
6898 hinkomplimentiert?“
6900 „Der Gewalt muß ich weichen“, erwiderte Grunthe. „Aber verstehen
6901 Sie, nur der Gewalt. Ich werde mich ihr indessen zu entziehen
6902 suchen.“
6904 „Denken Sie die Nume zu überlisten?“
6906 „Ich würde selbst das versuchen, wenn sie wirklich Gewalt
6907 brauchten, denn ich würde dann meinen, mich im Zustand der Notwehr
6908 zu befinden. Aber nach alledem, was ich von ihnen weiß, glaube ich
6909 nicht, daß sie so unwürdig und barbarisch handeln. Sie werden nur
6910 keine Rücksicht auf uns nehmen und uns dadurch in die Lage
6911 versetzen, ihnen freiwillig auf den Mars zu folgen.“
6913 „Wie meinen Sie das?“
6915 „Ich habe mir überlegt, sie werden uns nicht mit Gewalt
6916 einschiffen; das wäre ein Bruch des Gastrechts. Aber sie werden uns
6917 nicht erlauben, länger auf der Insel zu bleiben, als bis dieselbe
6918 für die Wintersaison geräumt wird. Und das kann man ihnen nicht
6919 verdenken, wenn sie uns nicht im Winter hierlassen wollen, während
6920 die Wirte selbst bis auf ein paar Wächter das Haus verlassen. Und
6921 somit werden wir vor die Alternative gestellt werden, entweder mit
6922 nach dem Mars zu ziehen oder die Heimreise mit unzulänglichen
6923 Mitteln bei Beginn des Polarwinters und wahrscheinlich bei widrigen
6924 Winden anzutreten. Und das ist es, was ich Ihnen sagen wollte. Wir
6925 müssen auf diesen Fall vorbereitet sein und genau wissen, was wir
6926 wollen; und ich muß wissen, wie Sie darüber denken. Denn ich bin
6927 überzeugt, daß der heutige Tag nicht ohne Ultimatum vorübergeht.“
6929 „Das ist eine kitzlige Sache, liebster Freund. Unter diesen
6930 Umständen könnte es sicherer sein, auf dem kleinen Umweg über den
6931 Mars nach Berlin oder Friedau zurückzukehren. Nehmen Sie an, wir
6932 kommen glücklich über das Eismeer und geraten nicht in einen der
6933 Ozeane, aber wir gelangen nach Labrador oder Alaska oder nach
6934 Sibirien oder sonst einer dieser lieblichen Sommerfrischen – wenn
6935 wir dann überhaupt wieder herauskommen, so ist doch vor dem Sommer
6936 an keine Heimkehr zu denken; und für den Sommer haben uns die
6937 Martier ja sowieso versprochen, uns wieder herzubringen.“
6939 „Die Gefahren kann ich leider nicht leugnen, aber wir müssen sie
6940 auf uns nehmen. Es ist doch immer die Möglichkeit vorhanden, daß
6941 wir nach Hause kommen oder wenigstens bis zu einem Ort, von welchem
6942 aus wir Nachricht geben können. Und das scheint mir das
6943 Entscheidende. Wir dürfen nichts unterlassen, die Kunde von der
6944 Anwesenheit der Martier am Pol den Regierungen der Kulturstaaten zu
6945 übermitteln, ehe jene selbst in unsern Ländern eintreffen. Man muß
6946 in Europa wie in Amerika vorbereitet sein.“
6948 Saltner nickte nachdenklich. „Wenn wir unsre Brieftauben noch
6949 hätten! Aber die armen Dinger sind alle ertrunken.“
6951 „Sehen Sie“, fuhr Grunthe noch leiser fort, „ich fürchte, wir
6952 können die Sachlage nicht ernst genug nehmen. Wir haben eine
6953 wissenschaftliche Pflicht; in dieser Hinsicht könnte man vielleicht
6954 sagen, daß wir ein Recht hätten, die sicherste Heimkehr zu wählen,
6955 auch daß der Besuch des Mars eine so unerhörte Tat wäre, daß sie
6956 die Übertretung unserer Instruktion entschuldigen könnte, obwohl
6957 sie dies für mein Gewissen nicht tut. – Bitte, lassen Sie mich
6958 aussprechen. Wir haben aber nach meiner Überzeugung außerdem eine
6959 politische und kulturgeschichtliche Pflicht, wenn man so sagen
6960 darf, die uns zwingt, alles daranzusetzen, selbst den geringsten
6961 Umstand auszunutzen, der uns eine Chance bietet, der Ankunft der
6962 Martier zuvorzukommen. Wer garantiert Ihnen, was die Vereinigten
6963 Staaten des Mars beschließen, wenn sie erst im vollen Besitz der
6964 Nachrichten über die Erdbewohner sind? Und selbst, wenn sie uns
6965 Wort halten, durch welche unbekannten Einflüsse können sie uns
6966 nicht verhindern, das zu tun, was für die Menschen das Richtige
6967 wäre? Wenn wir erst zugleich mit ihnen in Europa ankommen, wenn die
6968 Regierungen überrascht werden, ist es vielleicht zu spät, die
6969 geeigneten Maßregeln zu treffen.“
6971 „Ich hätte unsre Stellung nicht für so verantwortlich gehalten“,
6972 sagte Saltner.
6974 „Und ich sage Ihnen“, sprach Grunthe weiter, „nach reiflicher
6975 Überlegung – Sie wissen, daß ich keine Phrasen mache – ist es mir
6976 klar geworden, daß, solange die Menschheit existiert, von dem
6977 Entschluß zweier Menschen noch niemals so viel abgehangen hat wie
6978 von dem unsrigen.“
6980 Saltner fuhr in die Höhe. „Das ist ein großes Wort –“
6982 „Ein ganz bescheidenes. Wir sind durch Zufall in die Lage versetzt
6983 worden, einen Funken zu entdecken, der vielleicht einen Weltbrand
6984 entfacht. Unsere Entscheidung gleicht nicht der des Machthabers,
6985 der über Völkerschicksale bestimmt, sondern der des Soldaten, der
6986 sein Leben aufs Spiel zu setzen hat, um eine wichtige Meldung zur
6987 rechten Zeit zu überbringen. Sie werden mir zugeben, daß es noch
6988 niemals für die zivilisierte Menschheit ein bedeutungsvolleres
6989 Ereignis gegeben hat, als es die Berührung mit den Bewohnern des
6990 Mars sein muß. Die Europäer haben so viele Völker niederer
6991 Zivilisation durch ihr Eindringen vernichtet, daß wir wohl wissen
6992 können, was für uns auf dem Spiel steht, wenn die Martier in Europa
6993 Fuß fassen.“
6995 „So wollen Sie überhaupt verhindern, daß die Martier in Europa
6996 aufgenommen werden?“
6998 „Wenn ich es könnte, würde ich es tun. Aber wir sind einfache
6999 Gelehrte, wir haben keine politischen Entscheidungen zu fällen. Und
7000 eben darum dürfen wir unter keinen Umständen auf eigene Faust den
7001 Martiern die Hand bieten, dürfen nicht mit ihnen zugleich nach
7002 Europa gelangen, sondern wir müssen versuchen, den Großmächten die
7003 Nachricht von dem Bevorstehenden so zeitig zu bringen, daß sie sich
7004 über ihr gemeinsames Vorgehen entschließen können, ehe die
7005 Luftschiffe der Martier über Berlin und Petersburg, über London,
7006 Paris und Washington schweben.“
7008 „Um Gottes willen, Sie sehen die Sache zu tragisch an. Die paar
7009 hundert Martier werden uns nicht gleich zugrunde richten; und wenn
7010 sie uns gefährlich werden, ist es immer noch Zeit, sie wieder
7011 hinauszuwerfen. Aber es ist doch viel wahrscheinlicher, daß wir sie
7012 als Freunde aufnehmen und den unermeßlichen Vorteil ihrer
7013 überlegenen Kultur für uns ausbeuten.“
7015 „Die Frage ist zu schwer, um sie jetzt zu diskutieren, und wir eben
7016 müssen dafür sorgen, daß sie an den entscheidenden Stellen zur
7017 rechten Zeit erwogen werden kann. Nur unterschätzen Sie ja nicht
7018 die Macht der Martier. Denken Sie an Cortez, an Pizarro, die mit
7019 einer Handvoll Abenteurer mächtige Staaten zerstörten. Und was will
7020 die Kultur der Spanier gegenüber den Mexikanern oder Peruanern
7021 bedeuten im Vergleich zu dem Fortschritt von Hunderttausenden von
7022 Jahren, durch welchen die Martier uns überlegen sind? Das eben ist
7023 meine größte Sorge, daß man diese Überlegenheit überall
7024 unterschätzen wird, wenn nicht wir, die wir das abarische Feld und
7025 die Raumschiffe gesehen haben, soviel an uns ist, darüber
7026 Aufklärung verbreiten.“
7028 „Sehen Sie nicht zu schwarz, Grunthe?“
7030 „Ich will es von Herzen hoffen. Aber das sage ich Ihnen als meine
7031 Überzeugung: Mit dem Augenblick, in welchem das erste Luftschiff
7032 der Martier über dem Lustgarten erscheint, ist das deutsche Reich
7033 ein Vasall, der von der Gnade der Martier, vielleicht von der Gnade
7034 irgendeines untergeordneten Kapitäns lebt, und so alle übrigen
7035 Staaten der Erde.“
7037 „Daran habe ich noch nicht gedacht.“
7039 „Was wollen Sie gegen diese Nume tun? Ich will gar nicht von ihrer
7040 moralischen Überlegenheit und ihrer höheren Intelligenz reden;
7041 durch diese werden sie wahrscheinlich Mittel finden, uns nach ihrem
7042 Willen zu lenken, ehe wir es merken. Denken Sie allein an ihre
7043 technische Übermacht.“
7045 „Man wird ihnen ihre Luftschiffe, die übrigens noch gar nicht
7046 fertig sind, einfach mit Granaten entzweischießen, oder man wird
7047 sie auf der Erde, wo sie nur kriechen können, gefangennehmen.“
7049 „Das kann vielleicht mit der ersten Abteilung geschehen, die zu uns
7050 kommt; aber der Mars hat doppelt soviel Bewohner als die ganze
7051 Erde. Das zweite Luftschiff würde uns vernichten. Lieber Saltner,
7052 Sie haben vorgestern gehört, was Jo von der Raumschiffahrt
7053 erzählte. Durch ihre Repulsitschüsse erteilen die Martier einer
7054 Masse, die auf der Erde zehn Millionen Kilogramm wiegt,
7055 Geschwindigkeiten von 30, 40, ja bis 100 Kilometern. Wissen Sie,
7056 was das heißt? Leute, die das können, werden aus Entfernungen,
7057 wohin kein irdisches Geschütz trägt, ganz Berlin in wenigen Minuten
7058 in Trümmer legen, falls sie dies wollen. Die Europäer können dann
7059 einmal erleben, was sie sonst an den Wohnstätten armer Wilden getan
7060 haben. Freilich werden die Martier zu edel dazu sein. Sie hätten es
7061 wohl auch nicht nötig. Sie können die Schwerkraft aufheben. Was
7062 nützt uns die größte, tapferste, glänzend geführte Armee, wenn auf
7063 einmal Bataillone, Schwadronen und Batterien zwanzig, dreißig Meter
7064 in die Luft fliegen und dann wieder herunterfallen? Ich weiß, ich
7065 werde die Regierungen nicht überzeugen, aber die Pflicht habe ich,
7066 unsre Erfahrungen mitzuteilen. Schon die Freundschaft der Martier
7067 halte ich für gefährlich, ihre Feindschaft für verderblich. Kommen
7068 sie vor oder mit uns zu den Menschen, so werden sie dieselben so
7069 für sich einnehmen, daß unsere Warnung, unsere Beschreibung ihrer
7070 Macht zu spät kommt. Deshalb ist mir der Entschluß gereift, daß
7071 unsere Abreise so bald wie möglich vor sich geht. Ich werde sofort
7072 zur Instandsetzung des Ballons schreiten.“
7074 „Es versteht sich von selbst, daß ich Ihnen dabei helfe.“
7076 „Das nehme ich natürlich an. Aber es ist eine andere Frage, Saltner
7077 – es ist vielleicht richtiger, daß ich allein zurückgehe, während
7078 Sie die Studien auf dem Mars fortsetzen.“
7080 „Das ist unmöglich, allein können Sie nicht –“
7082 „Doch, ich kann sogar besser allein zurück. Der Ballon ist kaum
7083 noch für zwei Personen tragfähig. Fahre ich allein, so kann ich
7084 mich auf viel längere Zeit verproviantieren, ich gewinne dadurch an
7085 Wahrscheinlichkeit, bis in bewohnte Gegenden zu gelangen.
7086 Beobachtungen will ich jetzt natürlich nicht mehr machen, also
7087 genügt eine Person vollständig zur Leitung des Ballons. Und
7088 andererseits ist es vielleicht von größter Wichtigkeit zu erfahren,
7089 was die Martier inzwischen vorgenommen haben –“
7091 „Nein, Grunthe, ich kann und will mich nicht von Ihnen trennen.“
7093 „Ich sage Ihnen, es wird das beste sein. Überlegen Sie sich die
7094 Sache. Und nun an die Arbeit.“
7096 Sie räumten unter ihrem Gepäck auf.
7098 Die Klappe des Fernsprechers erklang. Saltner wurde in das
7099 Sprechzimmer gerufen.
7101 „Sehen Sie zu“, rief ihm Grunthe nach, „daß Sie unsern Ballon
7102 herausbekommen. Wie ich bemerkt habe, hat man ihn unter Verschluß
7103 gebracht, was auch ganz vernünftig war. Lassen Sie ihn auf das
7104 Inseldach hinaufschaffen.“
7106 Saltner hatte gestern mit La nicht mehr ungestört sprechen können.
7107 Es war den ganzen Abend über viel Besuch im gemeinsamen Zimmer
7108 gewesen, man erwartete eine Nachricht über die Landung des
7109 Staatsschiffes. Doch hatte man sich trennen müssen, ehe eine solche
7110 eingelaufen war. Daß Se nicht mehr zum Vorschein gekommen war,
7111 hatte Saltner kaum bemerkt. Der Gedanke an La erfüllte ihn ganz,
7112 und dennoch sagte er sich selbst, daß er in seinem Liebesglück nur
7113 einen Traum sehen dürfe, dem jeden Augenblick ein unerwartetes
7114 Erwachen folgen könne. Aber warum nicht träumen?
7116 Diesen Feen gegenüber konnte er, der ›arme Bat‹, gewiß kein Unglück
7117 anrichten, sie würden ihn aufwachen lassen, wann sie wollten. Doch
7118 wie hätte er ihnen widerstehen können?
7120 Es war ihm wie eine Enttäuschung, daß er jetzt nicht La, sondern Se
7121 im Sprechzimmer vorfand. Sie begrüßte ihn mit derselben
7122 Liebenswürdigkeit und Vertraulichkeit wie gestern La, doch aber
7123 wieder anders, ihrem lebhafteren Wesen entsprechend. Und als er
7124 nach den ersten Minuten der Unterhaltung neben ihr saß, zog es ihn
7125 mit so unwiderstehlicher Macht zu ihr hin, daß er sein Gefühl gegen
7126 La gar nicht von dem gegen Se zu unterscheiden wußte. Nur einen
7127 neuen, eigentümlichen Reiz hatte es durch die Veränderung der
7128 Persönlichkeit gewonnen.
7130 Wundersamerweise war es ihm nun gar nicht möglich, nach La zu
7131 fragen, und Se erwähnte ihrer mit keinem Wort. Aber er konnte es
7132 nicht unterlassen, ihr zu sagen, wie glücklich es ihn mache, neben
7133 ihr zu weilen, ihr ins Auge zu sehen und ihre Stimme hören zu
7134 dürfen.
7136 Sie ließ ihn ausreden und antwortete dann mit einem hellen Lachen,
7137 das aber durchaus nichts Beleidigendes für ihn hatte.
7139 „Das freut mich ja sehr“, sagte sie, „daß wir nun so gute Freunde
7140 geworden sind. Sie haben mir gleich von Anfang an gut gefallen. Es
7141 ist merkwürdig, ihr Menschen seid so ganz anders, und doch – oder
7142 vielleicht darum habt ihr etwas, wodurch man sich zu euch
7143 hingezogen fühlt.“
7145 Saltner ergriff ihre Hand.
7147 „Freilich kennt man euch auch noch zu wenig. Vielleicht verdient
7148 ihr gar nicht –“
7150 „Ich hoffe, liebste Freundin, mich werden Sie immer bereit finden,
7151 ihnen zu dienen.“
7153 „Daran zweifle ich gar nicht“, lachte Se, „man weiß nur nicht, ob
7154 Sie nicht einmal vergessen, daß wir Nume doch in vielem anders
7155 denken –“
7157 „Es ist nicht schön, mich sogleich daran zu erinnern, daß ich armer
7158 Mensch es gewagt habe –“
7160 „Sie verstehen mich nicht, Sal, wie könnt’ ich mich überheben
7161 wollen? Nur – doch das führt zu nichts, jetzt auseinanderzusetzen,
7162 was erst erfahren sein will. Ich bin ja auch zu ganz anderem Zweck
7163 hierhergekommen. Obwohl aus wirklicher Freundschaft“, setzte sie
7164 hinzu.
7166 Jetzt erst fiel es Saltner wieder aufs Herz, vor welch wichtiger
7167 Entscheidung er stünde. Er wurde sehr ernst. Er wußte nicht, was er
7168 zuerst sagen sollte.
7170 Se kam ihm zuvor.
7172 „Sie wissen, daß der ›Glo‹ angekommen ist?“ fragte sie.
7174 „Ist er schon gelandet?“
7176 „Diese Nacht. Er bringt wichtige Nachrichten für Sie mit. Und
7177 deshalb bin ich hierhergekommen.“
7179 „Sie wollen mir einen Rat geben, liebe Se? Und Sie werden uns Ihre
7180 Hilfe nicht versagen?“
7182 „Soweit ich darf. Amtlich habe ich nichts erfahren, sonst wäre ich
7183 nicht hier. Aber was jedermann bei uns weiß, darf ich auch Ihnen
7184 sagen. Machen Sie sich darauf gefaßt, daß Sie mit uns nach dem Nu
7185 reisen.“
7187 Saltner schwieg nachdenklich.
7189 „Ich habe so etwas erwartet“, sagte er dann. „Ich bin in einer
7190 fatalen Lage.“
7192 „Sie machen ein erschrecklich böses Gesicht“, sagte Se, indem sie
7193 ihm mit ihrer Hand freundlich über die Stirn strich. „Ich weiß ja
7194 schon, daß Sie sehr gern mit uns kämen und doch Ihren Freund nicht
7195 verlassen wollen. Aber er wird auch mit uns kommen.“
7197 „Das wird er nicht“, platzte Saltner heraus. „Das heißt“, fuhr er
7198 fort, „wenn Sie uns mit Gewalt zwingen –“
7200 „Zwingen? Wie meinen Sie das?“
7202 „Nun, Sie sind die Stärkeren. Sie können uns einfach als Gefangene
7203 auf Ihr Schiff bringen.“
7205 „Können? Ich weiß nicht, ich verstehe Sie nicht recht, liebster
7206 Freund. Man kann doch immer nur das, was nicht Unrecht ist. Ihre
7207 Sprache ist so unklar. Sehen Sie diesen Griff? Sie sagen, ich kann
7208 ihn drehen, und meinen, ich habe die physische Möglichkeit dazu.
7209 Wenn ich aber drehe, so versinkt der Sessel unter Ihnen, und so
7210 kann ich ihn nicht drehen, das heißt, ich kann es nicht wollen.
7211 Diese moralische Möglichkeit oder Unmöglichkeit können Sie auch
7212 nicht anders ausdrücken. Könnte es denn bei Ihnen vorkommen, daß
7213 Sie Menschen aus dem Wasser erretten und ihnen dann das Leben
7214 nehmen? Und die Freiheit, ist das nicht noch schlimmer?“
7216 „Ich weiß nicht“, sagte Saltner, „wie man bei uns verfahren würde,
7217 wenn Europäer auf einer Insel in einem fremden Weltteil, wo noch
7218 keine zivilisierte Macht Fuß gefaßt hat, ein reiches Goldlager
7219 entdeckten und, um dasselbe zu sichern, eine Befestigung anlegten;
7220 wenn dann Kundschafter der Eingeborenen in diese Befestigung
7221 gerieten – ich weiß nicht, ob wir uns nicht das Recht zuschreiben
7222 würden, diese Wilden um unserer eigenen Sicherheit willen an der
7223 Rückkehr zu verhindern. Das scheint mir ungefähr die Lage zwischen
7224 Ihnen und uns. Vielleicht würden wir auch sagen, wir schicken diese
7225 Leute wieder zurück, damit sie uns als Boten und Vermittler dienen;
7226 aber erst führen wir sie nach Europa, damit sie unsere ganze
7227 Machtfülle kennenlernen und ihren heimatlichen Häuptlingen sagen,
7228 daß diese unsern Kanonen nicht würden widerstehen können; und wir
7229 entlassen sie erst, wenn unsre Befestigungen soweit fertig sind,
7230 daß wir von dort aus die ganze Insel beherrschen und wir Herren der
7231 Lage sind.“
7233 Se nickte ernsthaft. „Sie erkennen die Sachlage ganz richtig“,
7234 sagte sie. „Ich glaube, daß wir unser Verhältnis zu Ihnen in der
7235 Tat so auffassen, nur mit dem Unterschied, daß wir diese
7236 Kundschafter nicht gegen ihren Willen festhalten können.“
7238 „Dann ist doch die Sache sehr einfach – wir reisen eben ab.“
7240 „Nein, nein – so einfach ist das nicht. Ich weiß nur nicht, wie ich
7241 es Ihnen klarmachen soll. Sie verstehen unter ›Willen‹ allerlei
7242 Gemütskräfte, die bloß individuelle Triebe sind; diese können wir
7243 bezwingen, gegen diesen Willen können wir Sie festhalten. Zum
7244 Beispiel, ich binde Ihnen mit diesem Schleier wieder die Hände. Nun
7245 wollen Sie fort, weil Sie gern etwas Interessanteres tun möchten,
7246 als hier zu sitzen. Daran kann ich Sie verhindern.“
7248 „Dazu brauchten Sie mich gar nicht zu binden.“
7250 „Oder es entstände draußen ein Lärm, Sie erschrecken plötzlich,
7251 Ihre Sinne verwirren sich, und Sie wollen deshalb fort – daran
7252 hindert Sie dieser Knoten. Nun, wenn Sie in dieser Weise fort
7253 wollen, nur weil es Ihnen lieber ist, heimzukehren als auf den Mars
7254 zu gehen, dann wird man Sie hindern. Wenn aber nicht Ihr
7255 individueller Wille, sondern Ihr sittlicher Wille im Spiel ist,
7256 Ihre freie Selbstbestimmung als Persönlichkeit, oder wie Sie das
7257 nennen, was wir als Numenheit bezeichnen – dann gibt es keine
7258 Macht, die Sie hindern kann.
7260 Sehen Sie, liebster Freund“, fuhr sie fort und löste den Knoten,
7261 den sie im Spiel geschlungen, „das wollte ich Ihnen sagen. Ihr
7262 Wille ist nichts gegen den unsern, nur das Motiv des Willens gilt.
7263 Gibt es eine gemeinsame Bestimmung der sittlichen Würde zwischen
7264 Numen und Menschen, so werden Sie Freiheit haben; gibt es für
7265 Menschen nur Motive der Lust, so werden Sie uns nie widerstehen.
7266 Ich weiß ja nicht, wie Ihr Bate im Grunde seid. Und noch dies.
7267 Glauben Sie niemals, Sal, daß ich an Ihrer Neigung zweifle, aber
7268 vergessen Sie nicht, daß ich eine Nume bin; Liebe darf niemals
7269 unfrei machen. Und daran denken Sie!“
7271 „Ich will“, sagte Saltner. „Aber sehen Sie, das eben ist für uns
7272 Menschen das Schwere und dem einzelnen oft unmöglich, diese
7273 Trennung zu vollziehen, die Ihnen selbstverständlich ist. Unser
7274 Denken vermag nicht immer Neigung und Pflicht auseinanderzuhalten,
7275 oft erscheint die eine im Gewand der andern. Was darf ich um
7276 Ihretwillen tun, was bin ich Ihnen schuldig und was darf ich nicht
7277 mehr tun? Sie Glücklichen haben gelernt, wie Götter ins eigene Herz
7278 zu schauen, wir armen Menschen aber wenden uns in solchen Fällen an
7279 unser Gefühl. Wir nennen es zwar Gewissen, sittliches Gefühl, weil
7280 es das umfaßt, was uns allen als Menschen gemeinsam sein soll. Aber
7281 als Gefühl bleibt es doch immer so eng verwachsen mit dem
7282 Einzelgefühl, daß wir nur zu leicht für Pflicht halten, was im
7283 Grunde Neigung ist; und wenn nicht unsre Neigung, vielleicht die
7284 Neigung, die Gewohnheit unsres Stammes, unsrer Zeitgenossen. Und
7285 wir tun aus bester Absicht das Unrechte. Auch der Indianer folgt
7286 seinem Gewissen, wenn er den Feind skalpiert. Wir irren, weil wir
7287 blind sind.“
7289 „Sie mischen schon wieder einen anderen Irrtum dazwischen, Sal.
7290 Nicht darauf kommt es an, ob wir das Richtige treffen, sondern
7291 darauf, ob wir aus den richtigen Motiven wollen. Wer das kann,
7292 besitzt Numenheit. Wenn der Indianer den Feind skalpiert, so wird
7293 er von der höheren Gesittung eines Besseren belehrt oder
7294 vernichtet. Aber dies trifft nur seinen Irrtum, nämlich die Folgen,
7295 die daraus in der Welt entstehen. Doch die Heiligkeit seines
7296 Willens bleibt unberührt, wenn er lieber zugrunde geht, als das
7297 aufgibt, was er für sittliche Pflicht hält. Sie brauchen also nicht
7298 darum zu sorgen, ob Sie bei Ihrer Entscheidung das Richtige treffen
7299 in dem, was Sie tun, sondern nur, ob Ihr Motiv rein ist in dem, was
7300 Sie wollen.“
7302 „Das meinte ich ja; eben auch darin können wir uns täuschen. Se,
7303 ich muß Ihnen gegenüber ganz offen sein. Wir wollen, daß unsere
7304 Mitmenschen von dem Besuch der Martier nicht überrascht werden;
7305 diese Überraschung zu verhüten, halten wir für unsere Pflicht. Wir
7306 irren vielleicht darin, daß wir den Menschen damit zu nützen
7307 glauben; aber unser Motiv ist rein. Meinen Sie es nicht auch so?“
7309 „Ganz richtig.“
7311 „Aber damit ist es nicht entschieden, wie ich zu handeln habe. Und
7312 hier spielt unsere theoretische Unwissenheit in die ethische Frage
7313 hinein. Wenn nun zum Beispiel einer von uns allein den Erfolg
7314 leichter erreichte, hätten wir nicht die Pflicht uns zu trennen?
7315 Und wenn nicht, ist es nicht Pflicht, daß wir zusammenhalten auf
7316 alle Fälle? Wie also soll ich hier entscheiden, was meine Pflicht
7317 erfordert?“
7319 „Aber Sal! Ich hatte mich schon gefreut, daß Sie auch so vernünftig
7320 reden können, und nun urteilen Sie wieder wie ein Wilder!“
7322 „Sie sind grausam, Se!“
7324 „Was reden Sie denn da von Pflicht? Das ist doch einzig eine Frage
7325 der Klugheit. Was Ihre Klugheit erfordert, das können Sie fragen.
7326 Die Pflichtfrage ist schon längst mit dem Willen entschieden, nur
7327 das Klügste hier zu tun. Die dürfen Sie gar nicht mehr in Betracht
7328 ziehen.“
7330 „Wenn ich mit Ihnen nach dem Mars ginge und mein Freund allein nach
7331 Europa, und er verunglückte unterwegs, würde ich mir nicht immer
7332 Vorwürfe machen, daß ich nicht mit ihm gegangen bin? Würde man mich
7333 nicht pflichtvergessen nennen?“
7335 „Was die Menschen tun würden, weiß ich nicht und geht mich auch
7336 nichts an. Sie aber können sich höchstens den Vorwurf machen,
7337 unklug gehandelt zu haben.“
7339 „Also meinen Sie, ich müßte ihn begleiten?“
7341 „Das habe ich nicht gesagt. Ich habe nur unter Ihrer Voraussetzung
7342 gesprochen, daß er mit Ihnen sicherer reise. Das ist aber doch erst
7343 zu untersuchen.“
7345 „Was raten Sie mir?“
7347 „Zunächst die Entscheidung der Martier abzuwarten. Sie wissen ja
7348 noch gar nicht, ob Ihnen die Mittel zur Abreise gewährt werden
7349 können. Erst wenn Sie diese Mittel kennen, vermögen Sie zu
7350 entscheiden, ob Ihre Begleitung entbehrlich ist. Und wenn sie
7351 entbehrlich ist, so würde ich mich sehr freuen, Sie mit zu uns zu
7352 nehmen.“
7354 „Ich rechne auf Ihre Hilfe. Lassen sie unsern Ballon auf das innere
7355 Inseldach schaffen!“
7357 „Das geht nicht, bevor Sie die Erlaubnis der Regierung haben –“
7359 „Und die Ihrige würde ich erhalten? Ich meine, Sie würden mich
7360 nicht für unwürdig Ihrer Freundschaft halten, wenn ich Ihrem Wunsch
7361 nicht entspräche, nach dem Mars –“
7363 „Was habe ich Ihnen gesagt, Saltner? Das wäre keine Liebe, die
7364 unfrei machte.“
7366 „Se, wie glücklich machen Sie mich!“ Saltner ergriff zärtlich ihre
7367 Hände.
7369 „Jetzt sind Sie wieder der alte Saltner! Kaum ist die Angst von ihm
7370 genommen, ich könnte ihm böse werden, wenn er etwas Vernünftiges
7371 tut, so ist er wieder seelenvergnügt. Und ich habe wirklich
7372 geglaubt, Sie wären so ernsthaft, weil es sich um Ihre Pflicht
7373 handelt –“
7375 „Das ist nicht Ihr Ernst, Se, Sie kennen mich besser!“
7377 „Gar nicht kennt man euch Menschen! Wozu denn überhaupt erst
7378 traurig? Was wollen Sie übrigens über dem Strich?“
7380 „Sehen Sie, Se, Sie sind auch nicht vollkommen – ich meine, nicht
7381 so absolut vollkommen –“
7383 „Ich begreife!“
7385 „Sie haben gar nicht gemerkt, daß ich schon eine Viertelstunde lang
7386 neben Ihnen sitze – ich habe gestern das Balancieren gründlich
7387 gelernt.“
7389 „Ach, gestern! Bei La?“
7391 „Ja, sagen Sie, was ist das? Wo ist sie heute? Wo waren Sie
7392 gestern? Was ist das mit dem Spiel, von dem Sie sprachen? Ich bitte
7393 Sie, Se –“
7395 Aber seine weiteren Fragen wurden abgeschnitten. Ra, der Leiter der
7396 Station, trat in das Zimmer. Er hatte eine amtliche Mitteilung zu
7397 machen. Der Regierungskommissar, welcher mit dem ›Glo‹ angekommen
7398 war, ließ Grunthe und Saltner zu einer offiziellen Konferenz
7399 bitten, um drei Uhr. Er würde sich vorher beehren, den Herrn seine
7400 private Aufwartung zu machen.
7402 Saltner erklärte sich natürlich bereit. Er werde sofort seinen
7403 Freund benachrichtigen. Schnell verabschiedete er sich von Ra und
7406 „Ein ganz ehrliches Spiel!“ flüsterte Se ihm zu, als sie ihm die
7407 Hand zum Abschied reichte. „Und nun Kopf oben! Einschüchtern
7408 brauchen Sie sich nicht zu lassen!“
7410 Eilig teilte Saltner das Wesentlichste aus seiner Unterredung mit
7411 Se Grunthe mit und benachrichtigte ihn von dem bevorstehenden
7412 Besuch.
7414 Kaum hatte Grunthe Zeit gefunden, seine Toilette einigermaßen in
7415 Ordnung zu bringen, als auch die Deutschen schon gebeten wurden,
7416 sich im Empfangszimmer einzufinden. Fast gleichzeitig mit ihnen
7417 trat der Kommissar, von Ra geleitet, ein.
7419 Seine Persönlichkeit machte auf Grunthe und Saltner einen tiefen
7420 Eindruck. Er war größer als alle Martier, die sie bisher gesehen
7421 hatten, und überragte sogar um ein weniges noch die lange Gestalt
7422 Grunthes. Ein stattlicher weißer Bart gab ihm ein ehrwürdiges
7423 Aussehen. Seiner Haltung und seinem Blick war zu entnehmen, daß man
7424 es mit einem vornehmen Mann zu tun hatte, der gewohnt war, sowohl
7425 zu repräsentieren als zu dirigieren. Aber aus seinen großen dunklen
7426 Augen sprach ein Vertrauen erweckendes Wohlwollen, man war
7427 überzeugt, daß dieser Mann bei seinen Anordnungen niemals an sich
7428 selbst dachte, sondern nur an das Wohl derer, die er zu vertreten
7429 hatte.
7431 Ill, dies war sein Name, zeigte sich bis in alle Einzelheiten über
7432 die bisherigen Vorgänge auf der Insel unterrichtet. Er bat um
7433 Entschuldigung, daß er sich seiner Muttersprache bedienen müsse und
7434 erkundigte sich in der liebenswürdigsten Weise nach dem
7435 persönlichen Wohlergehen der Gäste. Insbesondere sprach er in
7436 warmen Worten sein Bedauern über das Verschwinden des Leiters der
7437 Expedition aus. Es schien ihm unbegreiflich, daß man keine weiteren
7438 Spuren von Torm gefunden habe, und er meinte, daß das Binnenmeer
7439 und womöglich seine Umgebung noch einmal genauer durchsucht werden
7440 müsse. Er kam dann auf die Methode zu sprechen, wie sich die
7441 Deutschen das Martische angeeignet hätten, und nun flocht er einige
7442 sehr interessierte Fragen nach Ell ein, wie alt er sei, woher er
7443 stamme, wie Grunthe ihn kennengelernt habe, wo er jetzt lebe.
7445 Grunthe antwortete ausführlich, soweit er vermochte. Ell mochte
7446 etwa gleichaltrig mit ihm sein, einige dreißig Jahre. Er sei in
7447 Südaustralien geboren, wo Ells Vater große Besitzungen gehabt habe.
7448 Seine Mutter sei eine in Australien eingewanderte Deutsche gewesen.
7449 Nach dem Tod der Eltern habe sich Ell nach Deutschland begeben, um
7450 seine Studien, die sich hauptsächlich auf Astronomie und technische
7451 Fächer bezogen, fortzusetzen. Damals, vor etwa zehn Jahren, habe
7452 ihn Grunthe in Berlin kennengelernt und viel mit ihm verkehrt,
7453 obwohl Ell stets ein fremdartiges und zurückhaltendes Wesen eigen
7454 war. Kurze Zeit darauf war Ell plötzlich verschwunden, man hörte
7455 nichts von ihm und nahm an, er sei in seine australische Heimat
7456 zurückgekehrt. So verhielt es sich auch. Seit etwa vier Jahren war
7457 Ell wieder in Deutschland erschienen. Er hatte sein jedenfalls
7458 bedeutendes Vermögen flüssig gemacht und sich in Mitteldeutschland
7459 eine Privatsternwarte erbaut, auf der er sich mit Vorliebe
7460 Marsbeobachtungen widmete. Hier hatte Grunthe eine Zeitlang bei ihm
7461 gearbeitet und bei dieser Gelegenheit Torm kennengelernt. Ell war
7462 es gewesen, der durch eine großartige Geldspende die Errichtung der
7463 Abteilung für wissenschaftliche Luftschiffahrt ermöglicht und Torm
7464 an ihre Spitze gezogen hatte. Der Sitz derselben war Friedau, eine
7465 mitteldeutsche Residenz, die durch ihre wissenschaftlichen
7466 Institute berühmt ist.
7468 Nachdem sich Ill noch die Lage von Friedau und die der
7469 Privatsternwarte Ells genau hatte beschreiben lassen, brach er das
7470 Gespräch ab. irgendwelche Fragen nach den bevorstehenden
7471 Ereignissen wurden nicht berührt, und Ill verabschiedete sich bald
7472 mit dem Wunsch, daß die Verhandlungen, zu denen er die Herren
7473 erwartete, zur beiderseitigen Befriedigung verlaufen möchten.
7475 Nach dem Fortgang der Martier zogen sich Grunthe und Saltner in
7476 ihre Zimmer zurück und besprachen noch einmal die Sachlage; Grunthe
7477 brachte ihre Ansichten zu Papier. Beide aber sahen jetzt der
7478 Verhandlung mit besserer Zuversicht entgegen.
7480 \section{18 - Die Botschaft der Marsstaaten}
7482 Punkt drei Uhr öffnete sich die Tür, die das Zimmer der Gäste mit
7483 dem Konferenzsaal verband, und der Vorsteher Ra lud Grunthe und
7484 Saltner mit einer höflichen Handbewegung zum Eintreten ein. Sie
7485 stutzten beim ersten Anblick des Saales, denn derselbe erschien
7486 vollständig verändert. Um Platz zu gewinnen, hatte man die Grenze
7487 der Schwere bis dicht an die Tür gerückt, durch welche die Menschen
7488 den Saal betraten, und die Tafel in der Mitte entsprechend
7489 verlängert, so daß nur die beiden Plätze am untern Ende des
7490 Tisches, die sich aber jetzt nahe der Tür befanden, noch innerhalb
7491 des Gebietes der Erdschwere lagen. Der ganze übrige Teil des Raumes
7492 war von festlich gekleideten Martiern erfüllt, die sich beim
7493 Eintritt der Gäste erhoben. Nachdem Ra an seinen Sessel am oberen
7494 Ende der Tafel neben dem Präsidenten Ill gelangt war, gab dieser
7495 ein Zeichen mit der Hand, und alle nahmen wieder schweigend Platz.
7496 Grunthe und Saltner folgten ihrem Beispiel.
7498 Durch die geöffneten Fernsprechklappen des Saales ertönte eine
7499 leise Musik, wie sie die Menschen noch nie vernommen hatten. Sie
7500 bewirkte eine feierliche, aber zugleich freudig erhebende Stimmung.
7501 Es herrschte vollständige Ruhe, während deren Grunthe und Saltner
7502 die Versammlung erwartungsvoll musterten.
7504 Das Tageslicht war durch dichte Vorhänge abgeschlossen. Die sehr
7505 helle, aber für menschliche Augen zu stark ins Bläuliche
7506 schimmernde Beleuchtung ging von der Decke aus, deren Arabesken in
7507 fluoreszierendem Schein glühten. Am Ende des Zimmers war das große
7508 Banner des Mars in selbstleuchtenden Farben entfaltet. Es zeigte
7509 auf schwarzem Grund den Planeten als eine weiße Scheibe, die in der
7510 Mitte einen Kranz trug; bei näherer Betrachtung konnte man darin
7511 die Symbole der 154 Staaten des Mars unterscheiden. Vor dem Banner,
7512 an der Spitze der Tafel saß zwischen den beiden ersten Beamten Ra
7513 und Fru der Kommissar der Marsstaaten Ill, an den Seiten reihten
7514 sich die Vorsteher der einzelnen Abteilungen der Station an.
7515 Seitlich von der Haupttafel, in der Mitte des Zimmers, war ein
7516 phonographischer Apparat aufgestellt, der von einer Dame bedient
7517 wurde. Auf der andern Seite saßen La und eine zweite Martierin vor
7518 ihren Schreibmaschinen als Schriftführerinnen. Der übrige Raum des
7519 Zimmers war dicht von Martiern und Martierinnen erfüllt, die der
7520 öffentlichen Verhandlung beiwohnen wollten. Auch Se befand sich
7521 unter ihnen und hatte sich in der Nähe Saltners niedergelassen, der
7522 ihr einen dankbaren Blick zuwarf. Das Lächeln, mit welchem Saltner
7523 anfänglich die Versammlung überflog, verschwand bald unter dem
7524 Eindruck der Musik und der Haltung der schweigenden Martier. Alle
7525 trugen heute über ihrer anschließenden metallisch glänzenden
7526 Rüstung einen leichten, in malerischen Falten geworfenen Mantel.
7527 Ihre Blicke waren ruhig und ernst, aber erfüllt von einem freudigen
7528 Stolz; sie fühlten sich als die freien Mitglieder ihrer großen und
7529 mächtigen Gemeinschaft, die sie zum ersten Mal den Menschen in
7530 ihrem festlichen Glanz zeigten. Sie wußten, daß sie heute nicht nur
7531 als Wirte ihren Gästen, sondern als Vertreter der Numenheit den
7532 Männern gegenüberstanden, die für sie die Vertreter der Menschheit
7533 waren. Und dieses Bewußtsein, das den ganzen Charakter der
7534 Versammlung beherrschte, wirkte sehr bald auf Grunthe und Saltner
7535 zurück; sie fühlten, wie sie der übermächtigen Gegenwart der
7536 Martier in ihrem Willen zu erliegen drohten. Grunthe preßte die
7537 Lippen zusammen und starrte auf sein Notizbuch, das er krampfhaft
7538 in der Hand hielt, um sich dem Einfluß zu entziehen, den das
7539 Äußerliche der Versammlung auf ihn machte.
7541 Nur wenige Minuten hatte die musikalische Einleitung gedauert.
7542 Jetzt erhob sich Ill. Absolute Stille herrschte im Saal, als er
7543 seine großen, strahlenden Augen auf die Versammlung richtete und
7544 dann wie in weite Ferne blickte. Darauf sprach er klangvoll die
7545 einfachen Worte:
7547 „Den wir im Herzen tragen, Herr des Gesetzes, gib uns deine
7548 Freiheit.“
7550 Wieder erfolgte eine Pause, in welcher jeder mit sich selbst
7551 beschäftigt war.
7553 Jetzt ließ sich Ill auf seinem Stuhl nieder und begann:
7555 „Gesandt bin ich, Grüße zu bringen den Numen von der Heimat, Grüße
7556 vom Nu und seinem Bund!“
7558 „Sila Nu!“ hallte der gedämpfte Gegengruß der Martier durch den
7559 Saal.
7561 „Grüße vom Nu auch den Bewohnern der leuchtenden Ba, des
7562 benachbarten Planeten, den Menschen, die wir zum ersten Mal heute
7563 in der Festversammlung zu sehen uns freuen. Eine alte Sehnsucht zog
7564 uns Nume durch den Weltraum hinüber zum lichten Abendstern, und es
7565 gelang uns Fuß zu fassen auf der Erde. Aber noch immer war es uns
7566 versagt, diejenigen kennenzulernen, die diesen mächtigen Planeten
7567 beherrschen als vernünftige Wesen. Da kam zu uns vor wenigen Wochen
7568 die erste frohe Kunde, daß zwei willkommene Gäste unserer Station
7569 am Pol genaht, daß die ersten zivilisierten Bewohner der Erde
7570 entdeckt seien. Ausführliche Lichtdepeschen meldeten uns bald, was
7571 wir bisher wohl vermutet, aber doch aus direkter Anschauung nicht
7572 gekannt hatten, daß unser Nachbarstern bewohnt ist von
7573 hochgebildeten Völkern, mit denen wir uns verständigen können in
7574 den Aufgaben der Kultur. Eine unbeschreibliche Aufregung ging auf
7575 diese Nachricht durch die verbündeten Staaten des Mars. Die
7576 öffentliche Meinung drang darauf, keine Zeit zu verlieren, unsern
7577 Brüdern auf der Erde die Hand zu reichen. Und da der Winter auf
7578 diesem Nordpol bevorsteht, der unsre Verbindung unterbricht, so
7579 beschloß der Zentralrat des Nu, ohne die Ankunft der Raumschiffe
7580 abzuwarten, sich in direkten Verkehr mit den Bürgern der Erde zu
7581 setzen. Wir schätzen es von unermeßlicher Wichtigkeit für die
7582 beiden Planeten, welche allein im ganzen Sonnensystem in der Art
7583 und der Kultur ihrer Bewohner sich berühren, daß diese in
7584 gemeinsamem Einverständnis ihre Interessen fördern. Das erste
7585 Zusammentreffen mit den hier anwesenden Vertretern der Menschheit
7586 halten wir daher für einen Akt von höchster kulturgeschichtlicher
7587 Bedeutung. Wir sehen darin den ersten Schritt zum unmittelbaren
7588 Verkehr mit den Regierungen der
7590 keiten trennen, die wir indessen bald zu überwinden hoffen. Erde,
7591 von denen uns gegenwärtig noch technische Schwierig In gerechter
7592 Würdigung der Wichtigkeit dieser ersten Begegnung und um bei dieser
7593 Gelegenheit zugleich zu zeigen, welch hohen Wert die Marsstaaten
7594 auf die freundschaftlichen Beziehungen mit den Staaten der Erde
7595 legen, endlich um von seiten der Nume in feierlicher Handlung die
7596 ganze Menschheit bei der ersten Begrüßung zu ehren, hat der
7597 Zentralrat beschlossen, eines seiner Mitglieder in eigener Person
7598 auf die Erde zu senden.“
7600 Eine allgemeine Bewegung gab sich bei diesen Worten unter den
7601 Zuhörern zu erkennen. Man sah sich erwartungsvoll an, leise Fragen
7602 flogen herüber und hinüber. Grunthe warf Saltner einen Blick zu,
7603 und dieser flüsterte: „Sie behalten recht.“ Er blickte nach Se
7604 hinüber, aber ihre Augen waren auf Ill gerichtet. Dieser erhob
7605 langsam und feierlich die rechte Hand und sprach:
7607 „Kraft des Amtes, das der Wille der Nume mir übertragen hat,
7608 enthülle ich das heilige Symbol der Numenheit als das Zeichen des
7609 Gesetzes in Vernunft und Arbeit, dem wir gehorchen.“
7611 Die Martier erhoben ihre Augen in andächtigem Aufblick nach einem
7612 Punkt, den Ills Hand ihnen zu weisen schien. Vergebens strengten
7613 Grunthe und Saltner sich an, das zu erblicken, was alle andern
7614 ehrfurchtsvoll erschauten. Sie vermochten nichts wahrzunehmen, wo
7615 die Wissenden in würdevollem Schweigen einer geheimnisvollen
7616 Erscheinung huldigten, die ihnen den Gedanken ihres Weltbürgertums
7617 repräsentierte.
7619 Der Schauer des Unbegreiflichen erfaßte das Gemüt der Menschen.
7620 Grunthe starrte auf die ehrwürdige Gestalt, und wieder kam die
7621 Erinnerung an Ell über ihn. Saltner fühlte sich von dem Eindruck
7622 der ganzen Szene wie berauscht, er merkte, daß er die Gewalt über
7623 seine Entschlüsse verlieren würde, und richtete einen
7624 hilfesuchenden Blick auf Se.
7626 Da ließ Ill seine Hand sinken, und die Martier begannen wieder sich
7627 zu bewegen. Nach kurzer Pause hob Ill ein Schriftstück in die Höhe
7628 und begann:
7630 „Vernehmen Sie, Nume und Menschen, den Beschluß des Zentralrats.“
7632 Jetzt blitzte Ses Auge zu Saltner hinüber. Instinktiv verstand er
7633 die Mahnung. Er stieß Grunthe an und flüsterte: „Reden Sie, ehe er
7634 liest!“
7636 Aber auch dieser hatte schon begriffen, daß er sofort handeln
7637 müsse, und war bereits aufgesprungen. Alles dies vollzog sich
7638 momentan in der kurzen Pause, während deren Ill das Schriftstück
7639 entfaltete, und ehe er zu lesen begann, rief Grunthe: „Ich bitte
7640 ums Wort!“
7642 Er hatte in der Erregung deutsch gesprochen. Seine laute Stimme
7643 tönte grell über den Saal, im Gegensatz zu dem auch in der
7644 feierlichen Rede halblauten Organ der Martier. Die ganze
7645 Versammlung wandte sich unwillig nach Grunthe um, und Ill warf
7646 einen erstaunten Blick auf ihn.
7648 „Ich bitte ums Wort“, wiederholte Grunthe jetzt in der Sprache der
7649 Martier. „Ich bitte um Verzeihung, wenn ich Sie ersuche, mich vor
7650 der Verlesung des Beschlusses eines hohen Zentralrats der
7651 Marsstaaten zu hören, und ich bitte im voraus um Verzeihung, wenn
7652 ich aus Unkenntnis der Sprache mich vielleicht nicht völlig
7653 angemessen auszudrücken vermag.“
7655 Ill nickte langsam mit dem Haupt. „Es liegt kein Grund vor“, sagte
7656 er, „unsern Gästen das Wort zu verweigern, wenn ich auch Ihre
7657 Antwort erst nach der Verlesung erwartet habe.“
7659 „Ich aber und mein Freund“, fiel Grunthe schnell ein, „wir
7660 beantragen, die Verlesung zu unterlassen; wir protestieren gegen
7661 die Verlesung; wir fühlen uns nicht als kompetent, Beschlüsse des
7662 Zentralrats der Marsstaaten entgegenzunehmen.“
7664 Auf den Gesichtern der Martier malte sich deutlich das Erstaunen
7665 über diese unerwartete Erklärung. Es herrschte ein bedeutsames
7666 Schweigen. Keinerlei Urteil machte sich geltend. Die Mißbilligung
7667 des kühnen Eingriffs, welchen ein armseliger Bat sich gegen die
7668 Beschlüsse der höchsten Behörde des Mars erlaubte, stritt bei den
7669 Martiern mit der Achtung vor der Entschiedenheit dieses offenen
7670 Bekenntnisses, doch überwog bei den meisten ein Gefühl des
7671 Mitleids. Diese armen Menschen wußten offenbar nicht, was sie sich
7672 erlaubten; man konnte sie wohl nicht ernst nehmen. Nur die nächsten
7673 Freunde der Deutschen ermutigten sie durch ihre beipflichtenden
7674 Blicke.
7676 Ill richtete sein ruhiges Auge auf Grunthe und Saltner, der sich
7677 ebenfalls erhoben hatte, und fragte:
7679 „Wollen die Menschen ihren Protest begründen?“
7681 „Ich will es“, sagte Grunthe sofort. „Ich fühle tief die große
7682 Ehre, welche die Vertreter des Mars durch ihr freundliches
7683 Entgegenkommen den Bewohnern der Erde erweisen. Auch ich bin
7684 überzeugt, daß die Berührung der Bewohner dieser beiden großen
7685 Kulturplaneten ein weltgeschichtliches Ereignis ersten Ranges sein
7686 wird. Und mein Freund und ich sind allen Numen, denen wir bisher zu
7687 begegnen das Glück hatten, den herzlichsten Dank schuldig für die
7688 Rettung vom Untergang und für die gastfreundliche Aufnahme in ihrer
7689 Kolonie. Wir werden das nie vergessen.“
7691 „Niemals“, sagte hier Saltner dazwischen.
7693 Bei diesen warm gesprochenen Worten wurden die Blicke der Martier
7694 freundlicher. Grunthe fuhr sogleich fort:
7696 „Als Menschen sprechen wir auch unsern ehrerbietigen Dank der
7697 Regierung der Vereinigten Staaten des Mars aus für die Beachtung,
7698 welche sie den Mitgliedern der Tormschen Polarexpedition zuteil
7699 werden läßt, indem sie durch ihren Repräsentanten in eigener Person
7700 uns eine Botschaft entbieten will. Aber diese Ehre müssen wir
7701 ablehnen.
7703 Wir sind nicht Vertreter irgendeiner Regierung. Wir haben kein
7704 Recht, diplomatische Erklärungen entgegenzunehmen oder abzugeben.
7705 Wir sind einfache Privatleute, die in ihrer Heimat keine andere
7706 Geltung haben, als ihr Ruf als Gelehrter ihnen verschafft, und
7707 diese ist nach den Sitten unsrer Heimat in politischer Hinsicht
7708 verschwindend. Und selbst wenn wir uns als Boten betrachten
7709 wollten, die ihrer Regierung eine Mitteilung zu überbringen hätten,
7710 so habe ich zu betonen, daß, wie dem Herrn Repräsentanten bekannt
7711 sein wird, außer dem Deutschen Reich noch fünf andre europäische
7712 Großmächte, außerdem die Vereinigten Staaten von Nordamerika die
7713 politische Macht über die Erde in Händen haben, daß wir demnach
7714 nicht in der Lage sind, für die Staaten der Erde Aufträge zu
7715 übernehmen.“
7717 Hierauf sprach Ill, da Grunthe eine kleine Pause machte, mit
7718 unveränderter Höflichkeit, aber sehr überlegen:
7720 „Die Worte unseres werten Gastes sagen uns nichts Neues. Sie haben
7721 keinen Einfluß auf die mitzuteilende Botschaft, und es wäre daher
7722 einfacher gewesen, dieselbe erst anzuhören, da sie sich allein auf
7723 die beiden hier anwesenden Personen unserer Gäste bezieht.“
7725 Grunthe biß die Lippen aufeinander. Er ärgerte sich über die
7726 Zurechtweisung, zumal er auf den Gesichtern der Martier wieder das
7727 mitleidige Lächeln erscheinen sah. Er rief daher etwas erregter:
7729 „Wir müssen es aber auch für unsre Personen ablehnen, irgendwelche
7730 Bestimmungen seitens der Regierung des Mars entgegenzunehmen, und
7731 zwar aus formellen Gründen. Wir dürfen es prinzipiell nicht
7732 geschehen lassen, daß die Regierung des Mars hier irgendwelche
7733 offizielle Anordnungen treffe über die Bürger eines Staates der
7734 Erde. Über unser Tun und Lassen kann nur diejenige Regierung
7735 Verordnungen geben, auf deren Gebiet wir uns befinden. Wir stehen
7736 aber hier auf der Erde, nicht auf dem Mars. Und wenn Sie hier die
7737 Flagge der Marsstaaten entfaltet haben, so können wir derselben
7738 doch nur eine dekorative, aber keine staatsrechtliche Bedeutung
7739 zusprechen. Mit welchem Recht Sie hier eine Niederlassung begründet
7740 haben, darüber mögen die Regierungen der Erde bestimmen, es ist
7741 nicht unseres Amtes; aber unseres Amtes ist es, dagegen zu
7742 protestieren, daß auf Grund dieser noch nicht anerkannten
7743 Niederlassung Rechte über uns ausgeübt werden.“
7745 „Kann mir der Herr Redner vielleicht sagen“, fiel Ill ein, „auf dem
7746 Gebiet welches Erdenstaates wir uns seiner Ansicht nach hier
7747 befinden?“
7749 Das war eine heikle Frage. War der Nordpol schon von einer
7750 zivilisierten Macht in Besitz genommen? Grunthe wich der Frage aus,
7751 er sagte schnell:
7753 „Jedenfalls nicht im Gebiet der Marsstaaten. Auf der Erde gibt es
7754 bis jetzt keine völkerrechtlich anerkannte Ansiedlung der
7755 Martier.“
7757 Die Blicke der Martier waren drohend geworden. Ill richtete sich
7758 hoch auf und sprach mit leuchtenden Augen und erhobener Stimme:
7760 „Meines Wissens gibt es keine Organisation der Staaten der Erde,
7761 mit welcher wir über den Besitz des Nordpols verhandeln könnten,
7762 oder wenigstens war eine solche Verhandlung bisher nicht möglich.
7763 Wir sind an dieser Stelle des Sonnensystems die ersten Ankömmlinge
7764 gewesen, wir also bestimmen über dieselbe. Es gibt kein
7765 interplanetarisches Recht, wonach die Besitzergreifung von Gebieten
7766 sich auf einen einzelnen Planeten beschränken müsse. Die Nume sind
7767 die einzigen Wesen, welche zwischen den Planeten verkehren; sie
7768 schaffen damit das Recht dieses Verkehrs. Kraft dieses Rechtes hat
7769 die Regierung der Marsstaaten Besitz von diesem Teil der Erde
7770 ergriffen. Kraft dessen gilt hier das Gesetz des Mars. Und kraft
7771 dieses Gesetzes und des Beschlusses des Zentralrats vom 603. Tag
7772 des Jahres 311770 werde ich hiermit den Beschluß vom gleichen Tag
7773 verkünden.“
7775 Grunthe fühlte, wie ihm das Herz pochte. Er vermochte nichts zu
7776 erwidern. Die Menschen waren geschlagen, ihr erster Versuch der
7777 Opposition gegen die Übermacht der Martier war gescheitert. Sie
7778 mußten die Befehle der Regierung des Mars anhören, auf ihrem
7779 eigenen Planeten, an der Stelle, welche sie zuerst von den Menschen
7780 erreicht hatten. Und das Schlimmste war, daß beide, Grunthe wie
7781 Saltner, ihre Widerstandskraft erlahmen fühlten. Gegen diesen
7782 Willen, der aus den großen Augensternen des Repräsentanten
7783 leuchtete, der sich in den Blicken der ganzen Versammlung
7784 widerspiegelte, vermochten sie nicht aufzukommen.
7786 Und schon begann Ill, die kurzen Worte vorzulesen, welche über ihr
7787 Schicksal bestimmen sollten. Er las:
7789 „Der Zentralrat des Nu, im Namen der Vereinigten Staaten des Mars,
7790 hat beschlossen, wie folgt: Die beiden an der Station des Mars auf
7791 dem Nordpol der Erde angelangten Menschen, namens Grunthe und
7792 Saltner, stehen unter dem Schutz der Marsstaaten. Die Freiheit
7793 ihrer Person, ihres Verkehrs und Eigentums wird ihnen gewährleistet
7794 im gesamten Gebiet des Mars. Sie werden eingeladen, innerhalb sechs
7795 Tagen nach Verlesung dieser Botschaft auf einem der Raumschiffe der
7796 Erdstation sich nach dem Mars zu begeben. Sie sind Gäste der
7797 Marsstaaten, denen jede Förderung zuteil werden soll, Einrichtungen
7798 und Gesinnungen der Nume zu studieren. Sie werden ersucht, im
7799 Frühjahr der Nordhalbkugel der Erde nach derselben zurückzukehren,
7800 um alsdann eine nach den Hauptstädten der Erde aufbrechende
7801 Expedition zu begleiten. Der Repräsentant Ill wird mit der
7802 Überbringung dieser Botschaft nach der Erde beauftragt.
7804 Gezeichnet Del. Em. An.“
7806 Die Martier ließen sich auf ihren Sitzen nieder, auch Grunthe und
7807 Saltner sanken in ihre Sessel.
7809 \section{19 - Die Freiheit des Willens}
7811 Nach der Verlesung der Botschaft faltete Ill das Dokument zusammen
7812 und sprach mit liebenswürdigster Miene:
7814 „Nachdem die Menschen den Willen des Zentralrats vernommen haben,
7815 darf ich annehmen, daß sie der Einladung und dem Ersuchen der
7816 Martier Folge leisten werden. Ich bitte Sie daher, Ihre
7817 Vorbereitungen so treffen zu wollen, daß Sie mit dem am fünften Tag
7818 von heute abgehenden Schiff Ihre Reise antreten können.“
7820 Da weder Grunthe noch Saltner sogleich antwortete, erhob sich Ra
7821 und hielt eine versöhnliche Rede. Aus dem Inhalt der Botschaft,
7822 führte er aus, würden sich die Gäste gewiß überzeugt haben, daß sie
7823 gar keinen Grund hätten, gegen die Verlesung zu protestieren. Er
7824 wüßte wohl, daß man ihnen mit der Reise nach dem Mars ein
7825 ungewöhnliches und anstrengendes Unternehmen zumute. Er verstünde,
7826 daß sie es vorziehen würden, alsbald in ihre Heimat zurückzukehren.
7827 Dies – und damit deckte er offen ihre Motive auf – wäre wohl auch
7828 der eigentliche Grund des Protestes gewesen, da die Menschen die
7829 Einladung nach dem Mars erwartet und sich der Verlegenheit hätten
7830 entziehen wollen, sie abzulehnen. Und dann stellte er ihnen die
7831 Reise und den Aufenthalt auf dem Mars in verlockenden Farben vor.
7833 Grunthe und Saltner wußten nicht recht, ob sie diese Rede zu ihren
7834 Gunsten deuten dürften, da sie die Schwäche ihres Protestes
7835 enthüllte und ganz geeignet schien, ihnen die Ablehnung zu
7836 erschweren. Aber Saltner erkannte an dem stillen Lächeln in Ses
7837 Zügen, daß Ra ihnen tatsächlich zu Hilfe kommen wollte, daß er sie
7838 wohl nur warnen wollte, neue Fehler zu begehen. In der Tat schloß
7839 er mit den Worten:
7841 „Der Zentralrat garantiert Ihnen volle Freiheit. Er kommandiert Sie
7842 nicht nach dem Mars, er lädt Sie ein; er befiehlt nicht, daß Sie
7843 uns nach Europa geleiten sollen, er ersucht Sie darum. Er setzt
7844 dabei voraus, daß es keine berechtigten ethischen Motive gibt,
7845 weshalb Sie diesen Wünschen nicht nachkommen sollten, und er
7846 erwartet daher, daß Sie ihnen Folge leisten.“
7848 Während Grunthe finster vor sich hinblickte und darüber nachsann,
7849 in welche Form er seine Weigerung kleiden sollte, erhob sich
7850 Saltner. Obwohl er sich sagte, daß er mit seinen Worten den
7851 Entschluß der Martier nicht würde ändern können, wollte er doch
7852 versuchen, etwas Näheres über ihre Pläne zu hören, und die
7853 Ablehnung der Einladung aus Zweckmäßigkeitsgründen motivieren. Er
7854 legte dar, daß der Besuch auf dem Mars gegenwärtig für beide Teile
7855 keine besonderen Vorteile biete. Sein Freund und er hätten bereits
7856 vollständig die Überzeugung von der Macht und Leistungsfähigkeit
7857 der Martier gewonnen. Was sie vom Mars wüßten, wäre schon so viel,
7858 daß sie Mühe haben würden, es ihren Mitbürgern begreiflich zu
7859 machen. Es wäre daher sicherlich das beste, wenn sie sogleich in
7860 ihre Heimat zurückkehrten, um den Erdbewohnern ihre Erfahrungen
7861 mitzuteilen und sie durch die Presse allmählich auf das Erscheinen
7862 der Martier vorzubereiten. Das gegenseitige Verständnis zwischen
7863 Mars und Erde würde auf diese Weise am sichersten gefördert; die
7864 Überraschung durch die Bewohner des Mars könnte die Erdbewohner,
7865 bei ihrer mangelhaften Kenntnis der Verhältnisse auf dem Mars,
7866 vielleicht zu falschen Maßregeln verleiten, unter denen alsdann
7867 beide Teile zu leiden hätten. Deswegen müßten sie darauf dringen,
7868 nach Europa zurückzukehren, ehe die Martier dahin kämen. Sie zu
7869 begleiten, könnte für die Martier jedenfalls von viel geringerem
7870 Nutzen sein. Im übrigen wäre es ihnen, den Menschen, vom größten
7871 Interesse, zu erfahren, welche Vorteile eigentlich die Martier sich
7872 vom Verkehr mit der Erde versprächen und was sie etwa von den
7873 Menschen zu erlangen wünschten.
7875 Die Martier hatten unter wachsender Aufmerksamkeit zugehört. Ills
7876 Antlitz war wieder ernster geworden. Nachdem er die Mitteilung des
7877 Zentralratsbeschlusses durchgesetzt, hatte er geglaubt, daß die
7878 Menschen nicht länger wagen würden, sich zu weigern. Aus Saltners
7879 Worten erkannte er jedoch, daß es keinen Sinn mehr hätte, den
7880 eigentlichen Kernpunkt der Frage zu verschleiern. Die Deutschen
7881 hatten offenbar die Absicht der Martier durchschaut, eine Warnung
7882 der Großmächte zu verhindern. Der Hilfe der Menschen bedurften die
7883 Martier nicht; aber sie wollten bei dem ersten Besuch in den
7884 zivilisierten Staaten der Erde sogleich in einer Weise auftreten,
7885 die sie zum unbedingten Herren der Situation machte. Die
7886 Vorbereitungen dazu waren schon in viel höherem Maß getroffen, als
7887 Grunthe und Saltner wußten. Ihre Landung am Nordpol und die
7888 Kenntnis, welche die Martier dadurch von den zivilisierten Staaten
7889 der Erde erhielten, hatte den Zentralrat nur in der Ansicht
7890 bestärkt, daß man mit den Bewohnern der Erde in sehr ernsthafter
7891 Weise zu rechnen haben würde und daß alles darauf ankäme, sich bei
7892 der ersten Begegnung keine Blöße zu geben. Dies wäre aber sehr
7893 leicht möglich gewesen, wenn die Erdbewohner zu früh erfuhren, mit
7894 welchen Schwierigkeiten die Martier auf der Erde zu kämpfen hatten.
7895 Diese zu heben war daher ihr Hauptaugenmerk bei den Vorbereitungen
7896 zur Expedition und zugleich der Grund ihrer langen Verzögerung
7897 gewesen. Nun hatte der Zentralrat beschlossen, die Vorbereitungen
7898 aufs äußerste zu beschleunigen, ehe die Besitznahme des Nordpols
7899 auf der Erde bekannt wurde, und vorläufig die Rückkehr der Menschen
7900 zu verhindern. Doch konnte er sich dazu nach der sittlichen
7901 Weltanschauung der Martier keiner Mittel bedienen, die das Recht
7902 der Persönlichkeit der Menschen verletzt hätten.
7904 Es wäre unter der Würde der Martier gewesen, wenn sie sich hinter
7905 Vorwänden hätten verstecken wollen, nachdem der Versuch, die
7906 Menschen durch bloße Autorität zu leiten, gescheitert war. Ill
7907 sagte daher:
7909 „Es ist allerdings unsre Absicht, den Erdstaaten unsre Ankunft
7910 nicht eher bekanntwerden zu lassen, als bis dieselbe wirklich
7911 erfolgt. Und zwar aus demselben Grund, welcher unsere Gäste
7912 wünschen läßt, das Entgegengesetzte herbeizuführen und die
7913 Erdstaaten vorzubereiten. Wir fürchten, daß gerade die lückenhaften
7914 Nachrichten, welche sie durch die hier anwesenden Menschen erhalten
7915 würden, sie dazu veranlassen könnten, falsche Maßregeln zu
7916 ergreifen und unser gegenseitiges Verständnis zu erschweren. Denn
7917 wenn Sie auch, meine Herren Gäste, mancherlei von unserer äußeren
7918 Macht kennengelernt haben, so kennen Sie doch noch zu wenig die
7919 Grundsätze unsres Handelns, um Ihre Freunde belehren zu können, wie
7920 sie sich gegen uns zu verhalten haben. Die traurigsten
7921 Mißverständnisse sind leicht möglich. So müssen wir denn darauf
7922 bestehen, daß Sie uns zuerst nach dem Mars begleiten, da wir,
7923 unmittelbar vor Beginn des Polarwinters, noch nicht in der Lage
7924 sind, mit Ihnen zusammen nach Europa aufzubrechen.“
7926 „Ich bin dem Herrn Repräsentanten sehr dankbar“, erwiderte Saltner,
7927 „daß er uns so offen die Gründe des hohen Zentralrats für seine
7928 Botschaft dargelegt hat. Sie konnten uns aber nicht überzeugen, um
7929 so weniger, da wir über die eigentlichen Absichten der Martier
7930 gegen die Erdbewohner nicht näher unterrichtet wurden. Wir müssen
7931 daher darauf bestehen, nach der Heimat zurückzukehren, um den
7932 Unsrigen Gelegenheit zu geben, sich ihrerseits schlüssig zu machen,
7933 wie sie den Martiern zu begegnen haben.“
7935 Ill entgegnete ziemlich scharf.
7937 „Nach dem, was wir soeben gehört haben“, sagte er, „scheinen uns
7938 die anwesenden Menschen wenig geeignet, ihren Landsleuten als
7939 Berater zu dienen, wie sich letztere gegen uns verhalten sollen.
7940 Wenn Sie ihnen vielleicht zu raten gedenken, unserm Aufenthalt auf
7941 der Erde Schwierigkeiten entgegenzusetzen, so würden Sie eben das
7942 erreichen, was wir zu vermeiden hoffen, Mißtrauen und Spannungen
7943 zwischen den Bewohnern beider Planeten, während wir ein friedliches
7944 Verhältnis zu gemeinsamer Arbeit anstreben. Die Menschen haben von
7945 uns nichts zu befürchten, sobald sie gelernt haben werden, uns zu
7946 verstehen. Wir bedürfen der Erdbewohner nicht; wir kommen zu ihnen,
7947 um ihnen die Segnungen unsrer Kultur zu bringen. Ich bin überzeugt,
7948 daß auch wir im Eintausch der Produkte der Erde viel Neues und
7949 Nützliches gewinnen werden. Aber das wirtschaftliche Bedürfnis
7950 welches uns außer dem allgemeinen wissenschaftlichen Interesse nach
7951 der Erde trieb, erfordert nicht die Beteiligung der Menschen. Wir
7952 können es vollauf hier am Nordpol befriedigen, und ich stehe nicht
7953 an, es Ihnen zu sagen, was wir von der Erde holen wollen, damit Sie
7954 Ihre Mitbürger und Regierungen über unsre Absichten beruhigen. Wir
7955 wollen nichts anderes als Luft und Sonne, atmosphärische Luft und
7956 Strahlung, die Sie ja in ausreichendem Maß besitzen und die niemand
7957 gehört. Wir haben sie bereits reichlich exportiert und werden sie
7958 weiter exportieren.
7960 Was uns aber nun veranlaßt, die Menschen selbst aufzusuchen, das
7961 sind Beweggründe rein idealen Charakters. Es ist nicht möglich, sie
7962 Ihnen, als Menschen, hier in Kürze zum Verständnis zu bringen. Wir
7963 sind Nume. Wir sind die Träger der Kultur des Sonnensystems. Es ist
7964 uns eine heilige Pflicht, das Resultat unsrer
7965 hunderttausendjährigen Kulturarbeit, den Segen der Numenheit, auch
7966 den Menschen zugänglich zu machen.“
7968 Grunthe machte eine ungeduldige Bewegung. Er wollte sprechen, aber
7969 Ill fuhr fort:
7971 „Fürchten Sie nichts für Ihre Überzeugung und ihre Freiheit. Ihre
7972 Freiheit werden wir achten, denn sie ist die Grundbedingung zur
7973 Numenheit. Die Kultur kann nicht aufgedrängt und nicht geschenkt
7974 werden, denn sie will erarbeitet sein. Aber zu dieser Arbeit kann
7975 man erzogen werden. So war es auch auf Ihrem Planeten; die
7976 vorgeschrittenen Nationen haben die barbarischen zur Kulturarbeit
7977 erzogen. Dazu bieten wir nun vermöge unsrer so viel älteren
7978 Erfahrung uns Ihnen als Lehrer an. Weisen Sie uns nicht in falschem
7979 Stolz zurück. Nachdem einmal die Erde von uns betreten ist, läßt
7980 sich die Berührung der beiden Planetengeschlechter nicht vermeiden.
7981 Sie ist eine Notwendigkeit. Erwecken Sie also nicht erst die
7982 Täuschung, als könnte die Menschheit unsrem Einfluß sich entziehen.
7983 Vertrauen Sie unsern Maßregeln und bewahren Sie die Menschen vor
7984 dem Fehler, uns aufgrund kurzsichtiger menschlicher Überlegungen
7985 Schwierigkeiten zu bereiten, die nur zum Nachteil für sie
7986 ausschlagen könnten. Erfahren die Menschen von unserer Ankunft,
7987 ohne zugleich dem vollen Gewicht unsres unmittelbaren Einflusses
7988 ausgesetzt zu sein, so begehen sie sicherlich eine Torheit. Auch
7989 Ihr Rat, meine Herren Gäste, würde sie nicht davor bewahren, zumal
7990 Sie uns selbst Ihre Einflußlosigkeit eingestanden. Überlassen Sie
7991 uns also ganz allein die Verantwortung für die Gestaltung der
7992 Verhältnisse, indem Sie sich dem entschieden ausgesprochenen Wunsch
7993 des Zentralrats fügen.“
7995 Grunthe fühlte aufs neue, daß er der Macht dieser Gründe zu
7996 unterliegen drohte. Hatte er sich zunächst aufgebäumt gegen die
7997 stolze Sprache des Martiers, so mußte er sich jetzt doch fragen, ob
7998 er nicht durch eine Warnung das Schicksal der Menschen nur
7999 verschlimmern würde. Was konnten sie gegen die Martier tun? Ihnen
8000 feindlich begegnen? Es wäre ja wohl das Klügste gewesen, sich der
8001 Verantwortung zu entziehen und den Martiern zu folgen. Aber nein!
8002 Das Klügste hatte er nicht zu tun, sondern seine Pflicht. Und es
8003 war ihm kein Zweifel, daß er die Verantwortung nicht übernehmen
8004 durfte, sein Vaterland ohne Nachricht zu lassen.
8006 Er erhob sich in tiefem Ernst. Er sah weder Ill noch die Martier
8007 an, sondern heftete sein Auge vor sich auf den Tisch. Seine Lippen
8008 zogen sich fest zusammen. Dann öffnete er sie mit einem festen
8009 Entschluß. Er warf einen Blick auf Saltner. Auch dieser hatte in
8010 sich verloren mit ähnlichen Gedanken gesessen. Als Grunthe ihn
8011 ansah, sagte er leise: „Ablehnen.“
8013 Grunthe begann. Erst stockend und leise. Allmählich hob sich seine
8014 Stimme.
8016 „Wir sind als Menschen nicht so eingebildet“, sagte er, „daß wir
8017 glauben, von einer älteren Kultur nicht lernen zu können. Es kann
8018 ein hohes Glück sein, den Martiern zu folgen. Es kann auch unser
8019 Unglück sein. Ich wage darüber nicht zu entscheiden. Und eben
8020 darum, weil ich nicht darüber entscheiden kann, darf ich, soviel an
8021 mir liegt, nicht zugeben, daß mein Verhalten einer Entscheidung
8022 gleichkommt; die Menschen, die Erdbewohner, müssen sich eine
8023 Meinung bilden können. Dies zu ermöglichen, ist meine Pflicht.
8024 Dadurch ist meinem Freund und mir unsere Handlungsweise klar und
8025 deutlich vorgeschrieben. Unsre Instruktion lautet dahin, nach
8026 Erreichung des Nordpols so schnell als möglich nach Hause
8027 zurückzukehren. Schon dies verbietet uns, auf Ihre Aufforderung
8028 einzugehen. Doch es könnten Zweifel entstehen, ob nicht unser
8029 kürzester Weg über den Mars führe. Diese Zweifel erledigen sich nun
8030 durch unsere gegenseitige Aussprache. Sie wollen uns nicht vor
8031 Ihrer eigenen Ankunft bei den Unseren heimkehren lassen. Das müssen
8032 wir verhüten. Es ist keine Frage der Klugheit, es ist eine Frage
8033 des Gewissens. Mag daraus entstehen, was da wolle, wir müssen unsre
8034 ganze Kraft und unser Leben einsetzen, um die Nachricht von der
8035 Ankunft der Martier auf der Erde sofort in die Heimat zu bringen.
8036 Dies erfordert die Pflicht gegen das Vaterland und gegen die
8037 Menschheit. Jedes weitere Wort ist überflüssig. Mein Freund und ich
8038 werden mit Hilfe unsres von Ihnen geborgenen Ballons sobald als
8039 möglich abreisen. Wenn Sie wirklich jene erhabene Gesinnung der
8040 Nume besitzen, nach der die Freiheit der Persönlichkeit unbedingte
8041 Achtung erfordert, so erwarte ich von Ihnen, daß Sie uns Ihre
8042 Beihilfe zu unsrer Abreise nicht versagen. Wir bitten, uns zu
8043 entlassen.“
8045 Grunthe und Saltner, der sich ebenfalls erhoben hatte, verließen
8046 ihre Plätze und wandten sich nach der Tür.
8048 Tiefes Schweigen herrschte in der Versammlung der Martier. Die
8049 meisten blickten finster vor sich hin, nur die näheren Freunde der
8050 Menschen zeigten ihnen durch ihre Mienen, daß sie ihr Verhalten
8051 billigten. Saltner sah im Fortgehen, daß ihm Se freundlich mit den
8052 Augen folgte, während er von La vergeblich noch einen Blick zu
8053 erhaschen suchte. Schon hatte Grunthe die Tür geöffnet. Niemand
8054 hielt die beiden auf. Sie verließen den Saal.
8056 Die Martier setzten ihre Beratung fort. Sie waren in ihrer
8057 Majorität sichtlich durch den Mißerfolg verstimmt, ja es wurden
8058 Stimmen laut, ob man die Menschen nicht auch gegen ihren Willen zur
8059 Reise nach dem Mars zwingen könne. Der junge Kapitän Oß warf die
8060 Frage auf, ob nicht den Menschen das Recht der Persönlichkeit
8061 abzusprechen sei, da sie nicht das genügende Verständnis für das
8062 Wesen der Numenheit gezeigt hätten. La blickte ihn sehr erstaunt
8063 an, und Fru erhob sich darauf, um diesen Vorwurf zurückzuweisen.
8064 Daß sie die Fähigkeit gehabt hatten, ihren Willen gegen den der
8065 Martier zu behaupten, sei der genügende und allerdings einzig
8066 mögliche Beweis dafür, daß ihnen die Selbstbestimmung der
8067 sittlichen Person zukomme. Man könne sie also nicht zur Mitreise
8068 zwingen, ja man müsse sogar ihrer Abreise jetzt jede Unterstützung
8069 angedeihen lassen.
8071 Ill entschied dahin, daß die Frage nach dem Recht der Menschen auf
8072 freie Entschließung nicht mehr zur Diskussion stehen könne, da der
8073 Zentralrat ihnen dasselbe bereits zugesichert habe. Dagegen brauche
8074 man nicht soweit zu gehen, ihre Rückreise geradezu zu fördern, wenn
8075 man sie auch nicht verhindern könne. Man müsse aber wohl oder übel
8076 sich damit abfinden, daß die Menschen von der Anwesenheit der
8077 Martier früher erführen, als die ursprüngliche Absicht war.
8078 Andrerseits jedoch läge ihm auch sehr viel daran, wenigstens einen
8079 der Menschen nach dem Mars mitzunehmen, damit dieser den Martiern
8080 später als Augenzeuge dienen könne. Dies könne indessen nur mit
8081 seiner freien Einwilligung geschehen. Dazu bemerkte Ra, vielleicht
8082 würde sich Saltner zur Mitreise bereit erklären, wenn man dafür
8083 Grunthe die vollständige Sicherheit der Heimkehr gewährleisten
8084 könne. Aber eine solche Garantie könne man doch wohl nicht
8085 übernehmen.
8087 Ill sagte darauf nach kurzem Besinnen:
8089 „Ich glaube die Gewähr übernehmen zu können, Grunthe nach Europa zu
8090 bringen, und zwar, wenn es sein müßte, binnen vierundzwanzig
8091 Stunden.“
8093 Bei der Mehrzahl der Martier erweckte diese Äußerung das
8094 lebhafteste Erstaunen. Wie konnte man Grunthe die Rückkehr
8095 garantieren? Hätte man dann nicht selbst sogleich nach Europa
8096 aufbrechen können?
8098 Ill ließ sich zunächst überzeugen, daß Grunthe und Saltner von der
8099 weiteren Verhandlung nichts vernehmen könnten. Sie hatten sich
8100 bereits an die Arbeit an ihrem Ballon gemacht und befanden sich auf
8101 dem Dach der Insel, wo sie genügenden Raum hatten, um den Ballon
8102 einer Untersuchung zu unterziehen. Man hatte ihnen denselben ohne
8103 weiteres zur Verfügung gestellt, da auch die im Dienst befindlichen
8104 Beamten durch den Fernhörer von dem Resultat der Versammlung
8105 bereits unterrichtet waren.
8107 Ill ließ nun die Klappen der Fernsprecher schließen und den
8108 phonographischen Apparat außer Tätigkeit setzen. Gespannt lauschten
8109 die Martier den näheren Mitteilungen, welche ihnen Ill jetzt über
8110 die Fortschritte machte, die in der Vorbereitung der Expedition
8111 nach Europa geglückt waren. Sie hatten bisher von den mit Ill auf
8112 dem ›Glo‹ angekommenen Martiern nur im allgemeinen gehört, daß auf
8113 dem Mars neue wichtige Entdeckungen in bezug auf die Luftschiffahrt
8114 gelungen seien. Die schleunige Absendung des ›Glo‹ hatte
8115 vornehmlich den Zweck, diese neuen Entdeckungen und Apparate in der
8116 Atmosphäre der Erde, für welche sie berechnet und konstruiert
8117 waren, praktisch zu erproben, um alsdann bis zum Frühjahr den Bau
8118 zahlreicher Luftschiffe für die Erde auszuführen. Die Überbringung
8119 der Botschaft des Zentralrats war mit dem Transport dieser neuen
8120 Apparate verbunden worden. Andernfalls hätte man sich
8121 wahrscheinlich damit begnügt, sie durch den Lichttelegraphen zu
8122 übermitteln oder die Ankunft des nächsten Raumschiffs von der Erde
8123 vor der Absendung abzuwarten. Aber die letzten Tage des
8124 Sonnenscheins am Nordpol mußten ausgenutzt werden, um Erfahrungen
8125 über die Brauchbarkeit der neuen Erfindung zu machen. Ill gab nun
8126 Aufklärungen über seine weiteren Absichten. Daran schloß sich eine
8127 längere Beratung der Martier, so daß die Feierstunde herangekommen
8128 war, als die Martier auseinandergingen.
8132 Grunthe und Saltner kehrten sehr entmutigt von ihrer Tagesarbeit
8133 zurück. Die Untersuchung des Ballons hatte ergeben, daß er in
8134 seiner ursprünglichen Gestalt nicht wieder herstellbar sei.
8135 Glücklicherweise waren die Ventile und das Netzwerk unverletzt. Vom
8136 Stoff des Ballons war jedoch ein großer Teil unbrauchbar geworden.
8137 Der Rest konnte indessen ausreichen, einen kleineren Ballon
8138 zusammenzunähen, vorausgesetzt, daß die Martier bei dieser Arbeit
8139 ihre Hilfe leisten wollten, denn die beiden Gelehrten allein hätten
8140 damit nicht zustande kommen können. Aber die Tragkraft dieses
8141 Ballons, bei dem man Proviant und Ballast sehr reichlich mitnehmen
8142 mußte, um auf eine lange Fahrt gerüstet zu sein, hätte dann nicht
8143 ausgereicht, um beide Forscher aufzunehmen. Grunthe kam deshalb
8144 wieder auf seinen Plan zurück, allein abzureisen und Saltner die
8145 Fahrt nach dem Mars mitmachen zu lassen. Vielleicht, so meinte er,
8146 würden die Martier ihnen ihre Hilfe bei der Herstellung des Ballons
8147 nicht versagen, wenn sie ihnen insoweit entgegenkämen, daß
8148 wenigstens einer von ihnen ihre Einladung nach dem Mars
8149 nachträglich annähme. Endlich dürfe man die Chance nicht aus der
8150 Hand geben, daß, wenn der Ballon verunglücke, wenigstens Saltner
8151 seine Erfahrungen auf dem Umweg über den Mars nach Europa bringe,
8152 wiewohl dies dann freilich nicht vor Ankunft der Martier geschehen
8153 könne.
8155 Saltner überzeugte sich schließlich, daß dieser Ausweg in der Tat
8156 der vorteilhafteste sei, da unter den gegebenen Verhältnissen ein
8157 Luftschiffer die Fahrt sicherer zurücklegen könne als zwei.
8158 Persönlich war er ja überhaupt nicht abgeneigt, die Martier zu
8159 begleiten. Auch Grunthe wäre, was seinen Forschereifer anbetraf,
8160 gern nach dem Mars gegangen, aber einer von ihnen mußte notwendig
8161 als Bote nach Europa. Freilich hatte sich auch Saltner zu dieser
8162 gefährlichen Fahrt erboten, aber es verstand sich von selbst, daß
8163 Grunthe, als der erfahrenere Luftschiffer, die Fahrt unternahm. So
8164 beschlossen denn beide, am nächsten Morgen mit den Martiern in
8165 diesem Sinn zu verhandeln. Für heute war die Verkehrsstunde schon
8166 vorüber.
8168 \section{20 - Das neue Luftschiff}
8170 Grunthe erwachte aus einem unruhigen Schlummer und sah nach der
8171 Uhr. Sie zeigte auf 9,6, das entsprach nach mitteleuropäischer Zeit
8172 ein Uhr früh; es war also noch mitten in der konventionellen
8173 Nacht.
8175 Er legte sich daher wieder auf sein Lager zurück. Während er sich
8176 seinen Gedanken hingab, vernahm er ein eigentümliches Zischen. Es
8177 unterschied sich deutlich von dem leichten, gleichmäßigen Rauschen
8178 des Meeres, das in den Schlafräumen nur schwach durch die Stille
8179 der Nacht hörbar war. Auch schien es aus der Luft herzukommen, nahm
8180 erst zu, um dann allmählich schwächer zu werden und schließlich zu
8181 verschwinden. Nach einiger Zeit begann das Zischen wieder, kam aber
8182 deutlich von einer andern Seite her. Sollten es Windstöße sein, die
8183 sich um die Insel erhoben? Aber auf diese Weise hätten sie sich
8184 wohl nicht geäußert. Als sich das Geräusch mehrfach wiederholte,
8185 stand Grunthe auf, und die Läden der Decke schoben sich, als sein
8186 Fuß den Boden berührte, an einer Stelle automatisch beiseite. Ein
8187 schräger rötlicher Sonnenstrahl schlich sich in das Zimmer, und ein
8188 Streifen des Himmels wurde sichtbar. Es war also noch immer klares
8189 Wetter, nur stand die Sonne bereits so tief, daß sie nur schwach
8190 durch die Atmosphäre hindurchdrang. Plötzlich verdunkelte sich der
8191 sichtbare Streifen des Himmels auf einen Moment, es war, als ob ein
8192 großer Gegenstand mit namhafter Geschwindigkeit über die Insel
8193 fortgeflogen wäre. Zugleich war das Zischen besonders laut
8194 geworden.
8196 Da das Zimmer keine seitlichen Fenster hatte, konnte Grunthe keinen
8197 Rundblick gewinnen. Er wußte aber, daß man an einigen Stellen die
8198 Hartglasbedachung der Decke öffnen konnte. Nur mußte man dazu die
8199 genügende Höhe erreichen, um bis zur Decke zu gelangen. Eine Leiter
8200 hatte er nicht zur Verfügung, er wollte deshalb zunächst versuchen,
8201 ob er nicht durch die Fenster des Sprechzimmers eine genügende
8202 Aussicht finden könne. Zu seiner Überraschung fand er die
8203 Verbindungstür von außen gesperrt. Dies ließ darauf schließen, daß
8204 bei den Martiern etwas im Werk sei, wobei sie von den Menschen
8205 nicht beobachtet zu werden wünschten. Um so mehr steigerte sich bei
8206 Grunthe das Verlangen, seine Wißbegier zu befriedigen.
8208 Er betrachtete sorgfältig die Decke in der Nähe der Luken und
8209 erkannte, daß sich dort verschiedene, zu den Apparaten der Martier
8210 gehörige Haken befanden, an denen man sehr gut Stricke befestigen
8211 konnte. Solche waren zur Genüge an den Körben vorhanden, die zur
8212 Ausrüstung des Ballons gedient hatten und in seinem Zimmer
8213 lagerten. Aus einem der leeren Körbe und zwei Seilen ließ sich eine
8214 Art schwebendes Trapez herstellen, das, an der Decke angehängt,
8215 gestatten mußte, den Kopf bis über das Dach zu erheben. Aber wie
8216 hinaufkommen? Er entschloß sich, Saltner zu wecken. Der räsonnierte
8217 eben ein wenig über die nächtliche Störung, als sich das Zischen in
8218 der Entfernung wieder hören ließ. Nun sprang er mit einem Satz in
8219 die Höhe und fuhr in seine Kleider. Auf Grunthes Schultern stehend,
8220 gelang es ihm, zwei Seile an der Decke zu befestigen, und nun war
8221 es nicht mehr schwer, einen Beobachtungsposten einzurichten.
8223 Vorsichtig steckten die beiden indiskreten Beobachter ihre Köpfe
8224 aus der Luke und wandten sich nach der Richtung, in welcher sich
8225 jetzt deutlich, aber in der Ferne, ein gleichmäßiges leises Sausen
8226 vernehmen ließ. Zu ihrem grenzenlosen Erstaunen sahen sie, daß
8227 dieses Geräusch von einem riesigen Vogel herzurühren schien, der
8228 mit ausgebreiteten Schwingen in ruhigem Segelflug durch die Luft
8229 glitt und in geringer Höhe über dem Wasser rings um die Insel
8230 schwebte. Jetzt näherte er sich derselben und schoß mit rasender
8231 Geschwindigkeit vielleicht zwanzig Meter über dem Dach der Insel
8232 hinweg. Trotz der kurzen Zeit, in welcher die beiden Männer den
8233 seltsamen Vogel beobachten konnten, sahen sie doch, daß er weder
8234 Kopf noch Füße besaß. Sein langgestreckter Körper hatte die Gestalt
8235 einer nach vorn und hinten konisch zulaufenden Zigarre, am hinteren
8236 Ende befand sich ein langer, flacher Schwanz als Steuerruder.
8237 Natürlich war den Beobachtern sofort klar, daß sie eine neue
8238 Erfindung der Martier vor sich hatten, ein den Verhältnissen der
8239 Erde angepaßtes Luftschiff. Die Martier stellten damit Übungen und
8240 Versuche an, wobei sie von den Menschen nicht beobachtet sein
8241 wollten.
8243 Das Luftschiff entfernte sich, kehrte dann in einem kurzen,
8244 eleganten Bogen um, brauste zurück und hielt plötzlich direkt über
8245 der Insel an. Man konnte beobachten, wie der ganze Schiffskörper in
8246 Schwingungen geriet, als der äußerst schnelle Flug binnen drei
8247 Sekunden zum Stillstand kam. Und nun geschah etwas noch
8248 Merkwürdigeres. Die Flügel und das Steuerruder waren plötzlich
8249 verschwunden. Etwa zehn Meter über dem Dach der Insel, aber so weit
8250 vom Standpunkt der beiden Deutschen entfernt, daß ihre eben nur aus
8251 der Luke hervorblickenden Köpfe kaum bemerkt werden konnten,
8252 schwebte der Schiffskörper frei in der Luft. Seine Länge mochte
8253 etwa zehn, sein Durchmesser gegen vier Meter betragen. Das Material
8254 zeigte dasselbe glasartige Aussehen wie die Raumschiffe der
8255 Martier, gestattete aber keine Durchsicht. Den Boden wie das
8256 Verdeck bildeten zwei glatte, nach oben und unten gewölbte Schalen,
8257 zwischen denen ein nur vorn und hinten geschlossener, etwa
8258 meterhoher Streifen freiblieb. Durch denselben konnte man
8259 beobachten, daß das Luftboot von zwölf Martiern bemannt war.
8261 Jetzt senkte sich das Boot auf das Dach der Insel langsam herab, wo
8262 es ohne Verankerung liegenblieb. Die Besatzung stieg aus, und
8263 andere Martier traten an ihre Stelle. Nur die beiden Männer, die an
8264 den beiden Enden des Bootes sich befunden hatten, nahmen ihre
8265 Plätze wieder ein. Sie waren Grunthe und Saltner unbekannt, und
8266 diese schlossen daher, daß es die mit dem ›Glo‹ angekommenen
8267 Konstrukteure des neuen Luftschiffes seien, die hier die Martier
8268 mit der Behandlung des Bootes bekannt machten. Die Galerien der
8269 Insel waren von zuschauenden Martiern besetzt, doch konnte man
8270 diese von dem tiefen Standpunkt Grunthes und Saltners aus nicht
8271 erblicken; auch der untere Teil des Luftschiffes blieb ihnen
8272 verborgen, und sie konnten die Bemannung nur in dem Augenblick
8273 sehen, in welchem sie das Schiff verließ oder betrat, was durch das
8274 Verdeck desselben zu geschehen schien.
8276 Ein neues Manöver begann. Ohne Flügel und Steuer, horizontal
8277 liegend, stieg das Boot mit zunehmender Geschwindigkeit senkrecht
8278 in die Höhe. Da war kein Luftballon sichtbar, keine Schraube, kein
8279 Flügelschlag hob es. In wenigen Minuten war es so hoch gestiegen,
8280 daß es dem bloßen Auge nur als ein Pünktchen mit Mühe wahrnehmbar
8281 erschien. Plötzlich vergrößerte sich der Punkt schnell. Das Schiff
8282 stürzte herab. Aber jetzt entfaltete es seine Flügel und sein
8283 Steuer, und wie ein riesiger Raubvogel sauste es in weitem Kreis um
8284 die Insel, streifte fast an der Meeresoberfläche hin und erhob sich
8285 dann wieder in einer Spirale. Dabei wurden offenbar Signale mit den
8286 Martiern der Insel gewechselt, die aber für Grunthe nicht
8287 verständlich waren. Man sah nun, daß das Schiff seine Flügel
8288 verkürzte oder zurücklegte, das Steuer stellte sich gerade, eine
8289 weiße Dampfwolke brach aus dem Hinterteil des Schiffes hervor, der
8290 ein kanonenschußartiger Knall und ein gewaltiges Brausen folgte –
8291 das Boot schoß schräg aufwärts steigend wie aus einem Geschütz
8292 geschleudert in die Ferne und war nach weniger als einer Minute in
8293 der Richtung des zehnten Meridians dem Auge entschwunden.
8295 Aus der Bewegung, welche sich jetzt auf der Insel bemerkbar machte,
8296 schlossen Grunthe und Saltner, daß das Schiff eine Fernfahrt
8297 angetreten habe und fürs nächste nicht wieder zu erwarten sei. Sie
8298 verließen daher ihren unbequemen Posten und zogen sich in ihr
8299 Zimmer zurück, jedoch entschlossen, die Rückkehr des Schiffes zu
8300 erwarten. Zu diesem Zweck wollten sie sich im Wachen ablösen.
8302 Diese Mühe hätten sie sich freilich sparen können, wenn sie gewußt
8303 hätten, wie weit das Schiff seine Aufklärungsfahrt ausdehnen
8304 sollte. Es wurde erst in der folgenden Nacht von den Martiern
8305 zurückerwartet.
8307 Die Versuche der Martier waren vollständig gelungen. Ihre auf dem
8308 Mars in Berücksichtigung der terrestrischen Verhältnisse
8309 ausgeführten Konstruktionen bewährten sich in überraschender Weise.
8310 Sie waren nun im Besitz eines Luftschiffs, welches sie nach
8311 Belieben in der Erdatmosphäre lenken konnten und mit welchem sie
8312 selbst einem Sturm zu widerstehen vermochten. Was die Menschen so
8313 lange vergeblich angestrebt hatten, die Techniker des Mars hatten
8314 es in verhältnismäßig kurzer Zeit erreicht.
8316 Allerdings besaßen ja die Martier vor allem ein Mittel, sich in die
8317 Luft zu erheben, das den Menschen fehlt, die Anwendung der
8318 Diabarie. Der Fortschritt der Luftschifffahrt bei den Menschen war
8319 früher immer daran gescheitert, daß man das aerostatische und das
8320 dynamische Luftschiff nicht in geeigneter Weise verbinden konnte.
8321 Wandte man den Luftballon an, um Lasten in die Höhe zu heben, so
8322 mußte der Apparat riesige Dimensionen annehmen, und es war dann
8323 unmöglich, ihn gegen die Windrichtung zu bewegen, weil er dem Wind
8324 eine zu große Angriffsfläche bot oder nicht genügend
8325 widerstandsfähig gegen seinen Druck gemacht werden konnte. Wählte
8326 man aber die dynamische Form des Luftschiffs, wobei durch Schrauben
8327 oder Flügel die Erhebung bewerkstelligt wurde, so fehlte es an
8328 Maschinen, um die erforderliche große Kraft zu entwickeln; denn um
8329 dies zu leisten, mußten die Maschinen selbst zu schwer werden.
8331 Diesen Schwierigkeiten waren nun die Martier dadurch enthoben, daß
8332 sie diabarische Fahrzeuge zu bauen vermochten, das heißt Fahrzeuge,
8333 für welche die Anziehungskraft der Erde nahezu ganz aufgehoben
8334 werden konnte. Bei der Luftschiffahrt geschah diese Aufhebung
8335 natürlich nicht so vollständig wie bei der Raumschiffahrt, sondern
8336 nur soweit, daß das Gewicht des Schiffes samt seinem Inhalt
8337 geringer wurde als das Gewicht der von ihm verdrängten Luft. Nach
8338 dem archimedischen Gesetz mußte es dann in der Luft in die Höhe
8339 steigen, und, je nachdem man seine Schwere vergrößerte oder
8340 verkleinerte, konnte man es senken oder heben. Man bedurfte dazu
8341 keiner Riesenballons und keiner Ballastmassen. Das Probeschiff der
8342 Martier wog mit seinem ganzen Inhalt etwa fünfzig Zentner und besaß
8343 eine Luftverdrängung von über hundert Kubikmeter. Es genügte also
8344 eine Erniedrigung des Gewichts bis auf fünf Prozent des
8345 eigentlichen Betrages, das heißt bis auf 125 Kilogramm, um zu
8346 bewirken, daß das Schiff in der Nähe der Erdoberfläche schwebte,
8347 denn soviel beträgt hier ungefähr das Gewicht der verdrängten
8348 hundert Kubikmeter Luft. Was aber die Martier bisher verhindert
8349 hatte, sich mit ihren Raumschiffen in die Atmosphäre zu wagen, war
8350 die mangelhafte Widerstandsfähigkeit des Stellits. Es galt somit
8351 für die Martier vor allem, einen Stoff zu finden, der sich
8352 diabarisch machen ließ und dabei doch die genügende Festigkeit
8353 besaß, um eventuell nicht nur den gewaltigen Druck eines
8354 Sturmwindes auszuhalten, sondern auch mit großer Geschwindigkeit
8355 gegen die Luft anzufliegen. Das war jetzt gelungen. Das neue
8356 Luftschiff vermochte einer mit 400 Metern Geschwindigkeit gegen
8357 dasselbe bewegten Luftmasse Widerstand zu leisten, ohne eine
8358 schädliche Verbiegung seiner Umhüllung zu erleiden. Dieser Stoff
8359 führte den Namen Rob.
8361 Diabarie und Rob fanden nun ihren dritten Verbündeten zur
8362 Vollendung der Aerotechnik in einer Modifikation des Repulsit. Man
8363 konnte natürlich in der Luft der Erde nicht wie im leeren Raum
8364 Repulsitbomben schleudern. Aber man hatte dafür eine Vorrichtung
8365 ersonnen, den kondensierten Äther des Repulsits so allmählich zu
8366 entspannen, daß man den unmittelbaren Rückstoß zur Fortbewegung
8367 benutzen konnte. So bedurfte es keiner Schrauben oder Flügel, die
8368 nicht nur viel Raum einnahmen, sondern auch leicht der Havarie
8369 ausgesetzt waren; man schoß sich direkt durch Reaktion, wie eine
8370 Rakete, durch die Luft. Die beiden großen Flügel und das Steuer,
8371 welche das neue Luftschiff trug, konnten unter Umständen gänzlich
8372 zusammengeschoben und eingezogen werden; sie dienten nur dazu, um
8373 das Gleichgewicht bei plötzlicher Änderung der Richtung zu bewahren
8374 und um nicht die großen Vorteile zu verlieren, welche der Segelflug
8375 bei günstigem Wind darbietet.
8377 Ill hatte das Schiff vom Mars mitgebracht und sich jetzt von seiner
8378 Tauglichkeit überzeugt. Die Versuche geschahen in der Nacht, das
8379 heißt während der Schlafenszeit, weniger, weil man die neuen
8380 Erfolge vor den Menschen verbergen wollte, als weil man bei einem
8381 etwaigen Mißerfolg keinerlei Zeugen zu haben wünschte. Immerhin
8382 beabsichtigte Ill nicht, die Menschen in die Fortschritte
8383 einzuweihen, welche die Martier gemacht hatten; da aber noch
8384 weitere Übungen angestellt werden sollten und man höchstens noch
8385 auf zwei Wochen Tageslicht rechnen konnte, so lag ihm selbst daran,
8386 Grunthe, wenn dieser auf seiner Weigerung beharren sollte,
8387 möglichst schnell von der Insel zu entfernen. Die Aufklärungsfahrt
8388 des Luftschiffs in der Richtung nach Europa hing mit dieser Absicht
8389 zusammen. Es stellte sich heraus, daß mit Anwendung des Repulsits
8390 Geschwindigkeiten von 200 Metern in ruhiger Luft mit Leichtigkeit
8391 erreicht werden konnten. Man bewegte sich dabei in Höhen von
8392 ungefähr zehn Kilometern, bei einer Luftverdünnung, welche
8393 allerdings von Menschen nur bei künstlicher Sauerstoffatmung
8394 ertragen werden konnte, den Martiern aber, wenn sie nur von Zeit zu
8395 Zeit etwas Sauerstoffzuschuß erhielten, keine besonderen
8396 Beschwerden verursachte. Heftige Luftströmungen konnten hier die
8397 Geschwindigkeit des Luftschiffs wohl zeitweise um die Hälfte
8398 steigern oder mindern, im Mittel jedoch vermochte man in der Stunde
8399 siebenhundert Kilometer zurückzulegen. Auf diese Weise konnte man
8400 vom Nordpol nach Berlin in sechs Stunden gelangen.
8402 Als die Lichtdepesche über das Gelingen dieser Probefahrten nach
8403 dem Mars gelangte, bewilligte der Zentralrat die Mittel zum Bau von
8404 hundertvierundvierzig Erd-Luftschiffen, welche bis zum nächsten
8405 Erd-Nordfrühjahr fertigzustellen seien – – – –
8407 Es war noch früh am Tage, und Saltner wollte sich eben von seinem
8408 Posten, auf dem er vergeblich nach der Rückkehr des Luftschiffes
8409 ausgeschaut hatte, nach dem Dach der Insel begeben, um Grunthe bei
8410 der Arbeit am Ballon zu helfen, als er in das Sprechzimmer gerufen
8411 wurde.
8413 Dort erwartete ihn La. Der kühle Ernst, welchen sie gestern gezeigt
8414 hatte, die fremde Haltung war verschwunden. Mit einem Lächeln auf
8415 den Lippen, in der ganzen hinreißenden Anmut ihres Wesens schwebte
8416 sie ihm entgegen und begrüßte ihn mit einer Zärtlichkeit, die ihn
8417 wehrlos machte. Sie zog ihn neben sich auf einen Sitz und sagte,
8418 seine Hand haltend:
8420 „Sei nur nicht gar so verwundert, Sal, heute ist wieder mein Tag,
8421 und was gestern war, geht uns nichts an. Oder hast du schon
8422 vergessen –?“
8424 „Wie könnte ich! Aber ich begreife nur nicht –“
8426 „Aber liebster Freund, das ist doch ganz einfach! Haben wir uns
8427 lieb?“
8429 „La!“
8431 „Und hab ich dir nicht schon gesagt, Liebe darf nicht unfrei
8432 machen? Und hast du nicht auch Se lieb?“
8434 „Ich bitte dich.“
8436 „Ich weiß es, und es ist ein Glück, sonst dürften wir uns so nicht
8437 sehen.“
8439 „Was ihr für seltsame Sitten habt!“
8441 „Können wir uns gehören für immer? Kannst du dauernd auf dem Mars
8442 leben oder ich auf der Erde? Oder irgendwo zwischen den Planeten?
8443 Und was hat das überhaupt mit der Liebe zu tun? Das sind ganz
8444 andere Fragen. Wir aber wollen uns der Schönheit freuen und des
8445 Glücks, das wir im freien Spiel des Gefühles genießen. Liebtest du
8446 mich allein, du wärest bald unfrei, über dich herrschte die
8447 Leidenschaft, der das Herzeleid folgt, und ich müßte mich dir
8448 entziehen. Wohl gibt es ein Glück zwischen Mann und Frau, das kein
8449 Spiel ist, sondern Ernst; doch davor stehen viele Prüfungen, und ob
8450 es möglich ist zwischen Nume und Mensch, das weiß noch niemand. Und
8451 damit wir nicht vergessen, daß Liebe ein Spiel ist, dürfen wir
8452 nicht ganz allein es führen, und doch allein, wann wir wollen. Und
8453 nun zerbrich dir nicht den törichten Kopf! Ich habe dir etwas
8454 Ernstes zu sagen.“
8456 „Noch etwas Ernsteres? Ich werde Mühe haben, mich in das eine zu
8457 finden. Aber es ist wahr, allgemeineres dürfen wir nicht über
8458 unserem – Spiel vergessen.“
8460 „Ich glaube, du verstehst mich noch immer nicht – Spiel heißt doch
8461 Kunstwerk, ein Trauerspiel ist auch ein Spiel, nur daß man nicht
8462 selbst dabei umkommt, sondern der Held, mit dem man fühlt. Und den
8463 Wert unseres Gefühls setzen wir nicht herab, nein, wir machen ihn
8464 reiner und höher, wenn wir ihn in die Freiheit des Spiels, in das
8465 Reich des selbstgeschaffenen schönen Scheines erheben. – Du Tor!
8466 Ist dieser Kuß ein Schein? – Nein, Schein ist nur, daß ich damit
8467 die Freiheit meines Selbst verliere. Und nun höre! Du kommst mit
8468 uns auf den Mars, damit du endlich einmal verständig wirst.“
8470 „Sprichst du so als meine geliebte La? Dann muß ich dir zeigen, daß
8471 ich dein gelehriger Schüler bin, indem ich meine Freiheit bewahre.
8472 Du weißt, warum ich nicht mit euch kommen kann.“
8474 „Ich weiß es, und du bist brav, und ich hab dich darum nur lieber.
8475 Ihr wart gestern Männer. Aber wenn wir nun die Bedingung erfüllen,
8476 daß ihr eure Nachrichten überbringen könnt, wenn wir einem von euch
8477 die Mittel zur Heimkehr verschaffen, will dann nicht der andere mit
8478 uns kommen?“
8480 „Und wer soll der andere sein?“
8482 „Das wird sich ja finden. Doch im Ernst, ich bin beauftragt, bei
8483 euch anzufragen, ob ihr darauf eingehen wollt. Sobald sich einer
8484 von euch beiden bereiterklärt, nach dem Mars mitzugehen, schaffen
8485 wir den andern sofort in seine Heimat.“
8487 „Merkwürdig! Und ich wollte euch heute denselben Vorschlag machen.
8488 Es hat sich gezeigt, daß der Ballon nur eine Person wird tragen
8489 können, das muß natürlich Grunthe sein. Wollt ihr uns eure Hilfe
8490 leihen, den Ballon herzustellen, so daß Grunthe abreisen kann, so
8491 bin ich bereit, mit euch nach dem Mars zu gehen.“
8493 „Das ist herrlich, liebster Freund, dafür muß ich dir danken. Und
8494 wegen des Ballons mache dir keine Sorge – wir haben einen
8495 sichereren Weg nach Deutschland –“
8497 „Das Luftschiff?“
8499 „Ihr habt gelauscht?“
8501 „Gesehen. Und damit wollt Ihr uns – aber dann könnte ich ja auch
8502 mit zurück?“
8504 „Nein, das ist Bedingung. Du mußt mit uns kommen –“
8506 „Ach, La, ich sträube mich ja nicht.“
8508 „So komm, wir wollen mit Ra und deinem Freund sprechen.“
8510 „Aber zuvor dürfen wir wohl noch ein wenig hier plaudern?“
8514 Es war sieben Uhr, zwei Stunden nach Feierabend, als das Luftschiff
8515 von seiner Fahrt zurückkehrte. Nachdem Ill den erstatteten Bericht
8516 mit großer Zufriedenheit entgegengenommen hatte, wurde das Schiff
8517 sofort zu einer neuen Fernfahrt in Bereitschaft gesetzt.
8519 Grunthe und Saltner hatten sich bereits in ihre Zimmer
8520 zurückgezogen, als das Schiff ankam, und daher nichts mehr von
8521 demselben bemerkt. In einer Unterredung mit Ill und Ra hatte
8522 Grunthe eingewilligt, die Fahrt auf dem Luftschiff der Martier
8523 anzutreten. Er bereitete sich darauf vor, indem er alle Gegenstände
8524 zusammenpackte, die er mitzunehmen wünschte. Man hatte ihm Gepäck
8525 im Gewicht von einem Zentner bewilligt, und außer seinen Büchern
8526 und Instrumenten packte er noch eine Anzahl Kleinigkeiten ein,
8527 welche seinen Landsleuten die Industrie der Martier verdeutlichen
8528 sollten. Darauf legte er sich zur Ruhe.
8530 Am folgenden Morgen, am zweiten Tag nach der Beratung mit den
8531 Martiern, hatten Grunthe und Saltner eben ihr Frühstück beendet,
8532 und Saltner hatte sich nach dem Sprechzimmer begeben, als Hil bei
8533 Grunthe eintrat. Dieser war damit beschäftigt, seine Effekten auf
8534 einen Platz zusammenzustellen.
8536 „Das ist Ihr Gepäck?“ fragte Hil. „Wünschen Sie sonst noch etwas
8537 mitzunehmen?“
8539 „Nichts weiter – es ist alles vollständig und wird das Gewicht von
8540 einem Zentner nicht überschreiten.“
8542 „So sind Sie also reisefertig?“
8544 „Ganz und gar – Sie sehen, ich bin sogar schon in meinem
8545 Reiseanzug, und da liegt mein Pelz. Wann soll die Fahrt beginnen?“
8547 „Sehr bald, vielleicht schon in dieser Stunde. Haben Sie Ihrem
8548 Freund noch etwas mitzuteilen?“
8550 „Nein, wir haben uns hinreichend ausgesprochen, hier sind seine
8551 Briefe und Tagebücher für die Heimat.“
8553 „Sie wären also bereit, sogleich aufzubrechen?“
8555 „Ich bin bereit.“
8557 Hil trat dicht an ihn heran und faßte seine Hände, als wollte er
8558 sich verabschieden. Dabei sah er ihm fest in die Augen. Grunthe
8559 fühlte sich von diesem Blick eigentümlich betroffen. Er konnte die
8560 Augen nicht fortwenden, und doch begann die Umgebung vor seinen
8561 Blicken zu verschwimmen. Er sah nur noch die großen, glänzenden
8562 Pupillen des Arztes.
8564 Dieser legte ihm jetzt langsam die Hände auf die Stirn und sagte
8565 bedeutsam:
8567 „Sie schlafen!“
8569 Grunthe stand starr, bewußtlos, mit offenen Augen. Hil drückte
8570 leise seine Augenlider herab und winkte mit dem Kopf rückwärts.
8571 Zehn Martier, die sich bereitgehalten hatten, traten ein. Sechs von
8572 ihnen nahmen Grunthe behutsam in die Arme, legten ihn auf ein
8573 Tragbett und schafften ihn aus dem Zimmer. Die vier andern folgten
8574 mit dem Gepäck. Grunthe wurde in das Luftschiff gebracht und
8575 sorgfältig in seinen Pelz gehüllt. Das Rohr des Sauerstoffbehälters
8576 wurde in seinen Mund geführt.
8578 Wenige Minuten darauf erhob sich das Luftschiff senkrecht in die
8579 Höhe. Nachdem es tausend Meter gestiegen war, schlossen sich die
8580 seitlichen Öffnungen. Der Reaktionsapparat spielte. Schräg aufwärts
8581 schoß es in der Richtung des zehnten Meridians nach Süden.
8583 Ra begab sich zu Saltner in das Sprechzimmer und sagte:
8585 „Wundern Sie sich nicht, daß Sie Ihren Freund nicht mehr vorfinden
8586 werden. Ich hoffe, daß wir Ihnen bald die Nachricht seiner
8587 glücklichen Ankunft in der Heimat melden können. Wir hielten es für
8588 notwendig, die Abreise zu beschleunigen.“
8590 Saltner sprang an das Fenster. Fern am Horizont leuchtete ein
8591 schwaches Dampfwölkchen auf, um alsbald zu verschwinden.
8593 Er war jetzt der einzige Europäer am Nordpol.
8595 Se trat zu ihm.
8597 „Seien Sie guten Muts, lieber Freund“, sagte sie. „Morgen geht
8598 unser Raumschiff nach dem Nu!“
8600 \section{21 - Der Sohn des Martiers}
8602 Auf der Nordseite der Stadt Friedau dehnt sich ein langgestreckter
8603 Hügelrücken. Sorgsam gepflegte Gärten ziehen sich an seinen
8604 Abhängen in die Höhe, aus deren Grün schmucke Villen hervorlugen.
8605 Vom Gipfel hernieder glänzt über den Baumkronen eines parkartigen
8606 Gartens ein weißes Landhaus, das ein erhöhter Kuppelbau auf den
8607 ersten Blick als eine Sternwarte erkennen läßt.
8609 Der wunderbar klare Septembertag, an dem die Besucher jenes über
8610 dem Nordpol schwebenden Ringes mit ihrem tausendmal vergrößernden
8611 Projektionsfernrohr die Karte von Deutschland durchmusterten,
8612 neigte sich seinem Ende zu. Sein mildes Licht lag über den
8613 zierlichen Gärten Friedaus, in denen großblumige Georginen den
8614 Rosenflor verdrängten, über den alten Bäumen des weiten fürstlichen
8615 Parks, der vom Fuß des Hügels beginnend fast die ganze Stadt umzog,
8616 und spiegelte sich dort im ruhigen Wasser des Teiches.
8618 Den breiten Kiesweg, welcher vom Hügel herab zwischen den Vorgärten
8619 der Villen nach dem Eingang des Parkes führte, schritt in Gedanken
8620 verloren der Besitzer jener Privatsternwarte. Im Schatten der Bäume
8621 angelangt, nahm er den weichen hellfarbigen Filzhut ab, und man
8622 sah, daß volles graues Haar seinen Kopf bedeckte. Aber es war nicht
8623 ergraut von der Last des Alters, es hatte stets diese Farbe gehabt.
8624 Unter der hohen Stirn leuchteten zwei mächtige tiefdunkle Augen.
8625 Sie waren jetzt nicht mehr sinnend zur Erde gerichtet, sondern
8626 spähten erwartungsvoll durch die Gänge des Parkes.
8628 Zwischen den Büschen am Ufer des Teiches schimmerte ein heller
8629 Sonnenschirm. Beim Geräusch der nahenden Schritte erhob sich von
8630 einer Bank unter dem Schatten einer breitästigen Linde eine
8631 anmutige Frauengestalt in eleganter Sommerkleidung. Der
8632 nachdenkliche Ernst, der über ihren feinen Zügen gelegen hatte,
8633 wich einem freundlichen Lächeln, als sie jetzt Ell entgegentrat,
8634 und in ihren dunkelblauen Augen blitzte es auf wie von einem
8635 stillen Glück, als sie ihm die Hand reichte.
8637 „Verzeihen Sie“, sagte Ell, indem er an ihrer Seite den Parkweg am
8638 Ufer des Teiches entlangwandelte, „ich habe mich verspätet,
8639 natürlich ohne meine Schuld.“
8641 „Auch ich bin eben erst gekommen“, erwiderte Isma Torm. „Ich habe
8642 Besuch gehabt. Frau Anton hat mir sehr weise Reden gehalten. Sie
8643 konnte gar kein Ende finden.“
8645 „Ich kann es mir denken, aber machen Sie sich nichts daraus. Sie
8646 können tun, was Sie wollen, den Menschen werden Sie es doch nicht
8647 recht machen.“
8649 Isma seufzte leise. „Sie sehen, ich bin doch gekommen!“
8651 Ell dankte ihr durch einen Blick. „Es ist die einzige Stunde am
8652 Tag, Isma, in der einmal der Weltärger verschwindet und ich frei
8653 und glücklich bin.“
8655 „Und Ihre Arbeit?“
8657 „Selbst diese ist nicht frei von Enttäuschung. Beschränktheit und
8658 Engherzigkeit, wohin Sie sehen. Sie wissen, daß ich mich über Kampf
8659 und Streit nicht beklage, denn das ist die Form, wodurch wir
8660 weiterkommen. Aber diese Unfähigkeit, das Ziel zu sehen, dieser
8661 Eigensinn, daß die Dinge nicht auch anders gingen!“
8663 „Was hat Sie denn heute geärgert, Ell? Schütten Sie nur das Herz
8664 aus.“
8666 „Es ist ja nichts Neues. Sie wissen, daß ich mich vor Jahresfrist
8667 entschlossen habe, meine Theorie der Gravitation zu
8668 veröffentlichen. Grunthe redete mir zu, obwohl er sagte, es wird
8669 niemand begreifen.“
8671 „Ich erinnere mich sehr gut. Es war –“
8673 „Ja damals –“
8675 „Und damals sagten Sie, das wäre Ihnen ganz gleichgültig.“
8677 „Das ist auch wahr. Was meine Person angeht, meinen Ruhm oder wie
8678 Sie es nennen wollen, das ist mir auch ganz gleichgültig. Aber um
8679 der Sache willen tut es mir leid. Was die Menschheit dadurch
8680 verliert, das schmerzt mich, und ich sehe, daß ihr so nicht zu
8681 helfen ist. Erst wird das Buch totgeschwiegen, die Gelehrten wissen
8682 nicht, was Sie damit anfangen sollen, dann kommt einer und
8683 behauptet, das wäre eine phantastische Hypothese, durch nichts
8684 bewiesen. Dabei habe ich aufgrund meiner Theorie das sogenannte
8685 Drei-Körper-Problem gelöst und die Richtigkeit bis auf die
8686 Hundertstelsekunden an der Störung der Marsmonde nachgewiesen. Aber
8687 glauben Sie, daß ein einziger Astronom meine Methode der Rechnung
8688 verstanden hat?“
8690 „Ko Bate“, sagte Isma lächelnd. „Das wollten Sie doch wohl sagen?
8691 Wahrscheinlich haben Sie sich nicht klar genug ausgedrückt.“
8693 „Allerdings, ich hätte darüber ein besonderes Buch schreiben müssen
8694 – ich glaubte nicht, daß man so schwerfällig sein würde. Ich habe
8695 die Methode gar nicht selbst erfunden, sondern schon in meinem
8696 achtzehnten Jahr von meinem Vater erlernt –“
8698 „Aber warum haben Sie das alles so lange geheimgehalten?“
8700 „Sie sehen ja, daß es noch immer zu früh ist. Könnten die andern
8701 mit mir in der gleichen Richtung weiterarbeiten, man würde auch
8702 technisch zu Resultaten kommen, die eine ganz neue Welt eröffnen
8703 müßten. Ach, dann würden wir vielleicht einmal frei von dieser
8704 schweren Erde.“
8706 „Immer wieder dieselbe Sehnsucht. Es ist ja doch hier ganz
8707 leidlich. Sie müssen Geduld haben. Und dies hat Sie heute verstimmt
8708 und aufgehalten?“
8710 „Dies weniger. Heute waren es praktische Sachen, Ärger mit den
8711 Behörden. Das ist eine Schwerfälligkeit – vornehmlich drüben im
8712 Nachbarstaat –, ein Reglementieren – alles muß in eine Schablone
8713 gepreßt werden. Und das hat mich mißmutig gemacht, ganz besonders,
8714 weil es auch Sie angeht.“
8716 „Mich? Ist etwas vorgefallen?“ fragte Isma ängstlich.
8718 „Nein, ich meine unsere Luftschifferstation. Man will sie
8719 verstaatlichen, neben die militärische unter das Kriegsministerium
8720 stellen, wahrscheinlich dann auch von hier fort verlegen.
8721 Jedenfalls verlangt man eine Staatsaufsicht – obwohl der Staat noch
8722 nicht einen Pfennig dazu gegeben hat.“
8724 „Aber warum denn?“
8726 „Ich glaube, man traut mir nicht. Im Falle eines Krieges will man
8727 wohl Sicherheiten haben. Sie wissen, die Abteilung ist eine
8728 internationale Gründung. Ich selbst habe meine besonderen Ansichten
8729 über Patriotismus.“
8731 „Ich bitte Sie, Ell, Sie sind doch ein Deutscher. Im Kriegsfall
8732 müssen wir uns selbstverständlich zur Verfügung stellen – aber, wer
8733 wird denn an Krieg denken. Ach, machen Sie mir nicht noch mehr
8734 Sorge!“
8736 „Ich bin ein Deutscher mit meinen Sympathien, staatsrechtlich bin
8737 ich es nicht, man kann mich also im Notfall ausweisen. Die Sache
8738 ist doch so – Deutschland oder Frankreich oder England, irgendeine
8739 Nation oder ein Staat ist ja kein Selbstzweck; Selbstzweck kann nur
8740 die Menschheit als Ganzes sein. Die einzelnen Völker und Staaten
8741 sind Mittel, im gegenseitigen Wettbewerb die Idee der Menschheit zu
8742 erfüllen. Wenn nun einmal der Staat, dem ich angehöre, durch seinen
8743 Erfolg nicht das zweckentsprechende Mittel wäre in Rücksicht auf
8744 die Idee der Menschheit, so wäre es unmoralisch, wenn ich als freie
8745 Persönlichkeit mich nur darum für ihn entschiede, weil ich ihm viel
8746 verdanke. Die ethische Forderung ist eine andere. Aber bei den
8747 Menschen wird immer nach dem unmittelbaren Gefühl entschieden, und
8748 das nennt man dann Patriotismus und hält für Pflicht, was doch bloß
8749 Neigung ist.“
8751 Isma blieb stehen. „Aber dann“, sagte sie langsam, „mit welchem
8752 Recht gehen wir hier spazieren? Ist das auch Pflicht?“
8754 „Gewiß, wenn sie auch mit der Neigung zusammenfällt. Sie werden
8755 sich selbst doch nicht danach beurteilen, was die Friedauer für
8756 richtig halten?“
8758 „Nein“, sagte Isma, indem sie lächelnd zu ihm aufblickte, „kommen
8759 Sie ruhig mit durch die Stadt. Glauben Sie nicht, daß wir bald eine
8760 Nachricht erwarten können?“
8762 „Die Depesche von Spitzbergen sagt uns, daß die Fahrt am 17. August
8763 angetreten ist. Es ist wohl möglich, daß in den nächsten Tagen eine
8764 Nachricht eintrifft.“
8766 „Sie sind noch immer guten Muts?“
8768 „Ich hoffe zuversichtlich. Glauben Sie mir, ich hätte Ihrem Mann
8769 nicht so aufrichtig zugeredet, wenn ich nicht überzeugt wäre, daß
8770 ihm die Expedition in besonderer Weise glücken wird.“
8772 „Ell, Sie denken noch an irgend etwas Unerwartetes; ich bitte Sie,
8773 seien Sie offen, fürchten Sie eine bestimmte Gefahr?“
8775 „Nichts, was zu fürchten ist, ich versichere Sie, Isma! Etwas
8776 Unerwartetes vielleicht, aber nichts zu fürchten!“
8778 „O bitte, was denken Sie? Ich habe schon oft bemerkt, daß Sie mir
8779 noch etwas verschweigen.“
8781 „Wahrhaftig, Isma, ich verschweige Ihnen nichts, was ich weiß, aber
8782 verlangen Sie nicht, daß ich Vermutungen Ausdruck gebe, die
8783 vielleicht völlig nichtig sind. Ich setze eine große Hoffnung auf
8784 die glückliche Wiederkehr der Expedition, und ich rechne mit
8785 Sicherheit darauf. So sicher, daß ich mir größte Mühe gebe, eine
8786 Stellung für Saltner ausfindig zu machen. Denn was soll er dann
8787 tun, wenn er zurückkehrt? Und sehen Sie, das hat mich auch heute
8788 gekränkt – glauben Sie, daß die Regierung den Mann anstellt, der
8789 eine so ruhmvolle Expedition mitmacht? Er ist ja ein Ausländer und
8790 hat seine Prüfungen nicht bei uns abgelegt!“
8792 „Lassen Sie ihn nur erst zurück sein. Mich beunruhigt dieses
8793 Unerwartete, wie Sie es nennen.“
8795 „Wirklich, es ist nur eine Art Ahnung, daß uns mit der Auffindung
8796 des Nordpols mehr gegeben werden wird als eine geographische
8797 Entdeckung.“
8799 „Das müssen Sie mir noch erklären.“
8801 „Vielleicht bald. Aber heute haben wir noch nicht einmal von Ihnen
8802 gesprochen. Was haben Sie getan, gelesen, erfahren?“
8804 „Herzlich wenig. Die Polarkarte habe ich wieder einmal studiert.“
8806 Im lebhaften Gespräch durchschritten sie die belebteren Teile der
8807 Anlagen. Hinter den Bäumen sank die Sonne, rot und golden leuchtete
8808 der Abendhimmel. Öfter begegneten sie jetzt Spaziergängern. Den
8809 meisten waren sie bekannt, man grüßte die beiden höflich, aber
8810 hinterher drehte man sich um und sah ihnen nach. Man warf sich
8811 Blicke zu oder zischelte eine Bemerkung.
8813 „Sie haben gut spazierengehen“, näselte ein kleiner Herr mit
8814 breitem, schnüffligem Gesicht seinem Begleiter zu, „er hat den Mann
8815 nach dem Nordpol geschickt.“
8817 „Das ist die Torm“, sagte ein junges Mädchen. „Jeden Tag geht sie
8818 mit dem Doktor Ell hier vorüber.“
8820 Die Friedauer waren sehr stolz darauf, daß alle Zeitungen von ihrer
8821 Nordpolexpedition erfüllt und die Lebensbeschreibungen ihrer
8822 Mitbürger überall zu lesen waren. Darum waren sie glücklich, auch
8823 über sie reden zu können. Sie taten es nach Herzenslust in ihrer
8824 menschenfreundlichen und liebevollen Weise und um so mehr, je
8825 weniger sie von ihnen wußten.
8827 Ell und Isma hatten die Anlagen verlassen und waren in eine der
8828 breiten mit Vorgärten vor den Häusern versehenen Alleen
8829 hineingeschritten. Sie standen vor der Tormschen Wohnung. Ell hatte
8830 schon Isma die Hand zum Abschied gereicht, und beide zögerten nur
8831 noch einen Augenblick, sich zu trennen. Da öffnete sich die Haustür
8832 und ein Telegraphenbote kam ihnen entgegen.
8834 „Guten Abend, Frau Doktor“, sagte er. „Da treff ich Sie ja noch. Es
8835 war oben niemand zu Hause.“
8837 Isma griff nach dem Telegramm. Sie riß es auf.
8839 „Von ihm! Aus Hammerfest!“ rief sie fieberhaft.
8841 „Das ist die Brieftaubenstation“, sagte Ell.
8843 Es dunkelte schon. Sie konnte die Buchstaben nicht mehr recht
8844 erkennen. Die Leute sahen ihr von den Fenstern aus zu.
8846 „Kommen Sie mit hinauf, Ell“, sagte sie. „Die Sache ist nicht so
8847 kurz. Das ist eine Ausnahme, heute dürfen Sie kommen!“
8849 Isma eilte voran. Als Ell in das Wohnzimmer trat, stand sie schon
8850 unter der elektrischen Lampe und las das Telegramm. Ihren Hut, der
8851 ihr das Licht nahm, hatte sie herabgerissen.
8853 „Da“, sagte sie, Ell das Papier reichend. „Er lebt! Er ist gesund!
8854 Lesen Sie, lesen Sie vor. Ich werde nicht daraus klug.“ Sie ließ
8855 sich in einen Sessel sinken und begann ihre Handschuhe
8856 abzustreiten.
8858 Ell warf einen Blick auf das Telegramm. Seine Hände bebten
8859 sichtlich. Er setzte sich.
8861 „Um Gottes willen, Ell, was ist – Sie zittern –“
8863 „Nicht aus Sorge, nein, nein – es war nur ein Augenblick der
8864 Überraschung. Hören Sie, Isma.“
8866 Er las:
8868 „Hammerfest, 5. September, 3 Uhr 8 Minuten. Soeben Brieftaube mit
8869 dem Stempel ›Ballon Pol‹ zurückgekehrt, brachte folgende
8870 Nachricht:
8872 Frau Isma Torm, Friedau, Deutschland.
8874 19. August, 5 Uhr 34 Minuten M.E.Z., nachmittags. Alle gesund. Nach
8875 dreißigstündiger direkt nördlicher, günstiger Fahrt schweben wir
8876 über dem Pol. Gewirr von Inseln in meist eisfreiem, nicht sehr
8877 ausgedehntem Bassin. Kleine, kreisrunde Insel, etwa fünfhundert
8878 Meter Durchmesser, von unbekannten Bewohnern als Pol markiert,
8879 trägt unerklärliche Apparate. Ihre Oberfläche enthält im größten
8880 Maßstab stereographische Polarprojektion der Nordhalbkugel bis
8881 gegen den dreißigsten Breitengrad. Bewohner nicht sichtbar. Da
8882 Landung nicht ratsam, setzen wir Reise fort. Innigsten Gruß.
8884 Torm.“
8886 Ell las die Depesche noch einmal sorgfältig durch, während Isma ihn
8887 erwartungsvoll ansah. Dann sprang er auf und machte einige Schritte
8888 durch das Zimmer. Auch Isma hatte sich erhoben.
8890 „Wir setzen die Reise fort! Das heißt, wir kommen wieder – nicht
8891 wahr, Ell, das heißt es doch? Es ist gelungen? O Gott sei Dank!“
8893 „Ja, es ist gelungen“, sagte Ell bedeutungsvoll.
8895 Isma trat auf ihn zu und ergriff seine beiden Hände.
8897 „Ich danke Ihnen, lieber Freund“, sagte sie, ihre tränenfeuchten
8898 Augen zu ihm aufschlagend, „ich danke Ihnen, es ist Ihr Werk!“
8900 Er zog sie sanft an sich, sie lehnte weltvergessen ihren Kopf an
8901 seine Schulter.
8903 „Isma!“ sagte er. Seine Lippen berührten ihre Stirn.
8905 Sie schüttelte leise den Kopf und trat zurück. „Setzen Sie sich“,
8906 sagte sie. „Und nun sprechen Sie, erklären Sie mir – das
8907 Rätselhafte, das Unerwartete –“
8909 „Es ist da.“
8911 „Aber was bedeutet es – ich verstehe nicht, ich bin ganz verwirrt.
8912 Ist es eine Gefahr?“
8914 „Es bedeutet – Isma, Sie werden es nicht glauben wollen, was es
8915 bedeutet – für uns alle. Wie soll ich es Ihnen sagen?“
8917 Er zog seinen Sessel an den ihrigen und ergriff ihre Hand.
8919 „Was ist Ihnen?“ fragte sie, ihn ängstlich anblickend.
8921 „Es bedeutet, daß die Bewohner des Planeten Mars auf dem Nordpol
8922 der Erde gelandet sind. Es, bedeutet, daß sie mit ihren Apparaten
8923 und Maschinen festen Fuß auf der Erde gefaßt haben. Es bedeutet,
8924 daß die Erde, die Menschheit binnen kurzem unter ihrer Leitung
8925 stehen wird – daß ein goldenes Zeitalter des Glückes und des
8926 Friedens die Not der Menschheit ablösen soll – und daß wir es
8927 erleben!“
8929 Seine Stimme hatte sich gehoben, er hatte mit Begeisterung
8930 gesprochen, seine Augen flammten tief, groß, dunkel und hafteten
8931 wie in weiter Ferne.
8933 Isma wußte nicht, was sie denken sollte.
8935 „Ell“, sagte sie schüchtern, „ich bitte Sie, Sie können in dieser
8936 Stunde nicht scherzen – wie soll ich das verstehen?“
8938 „Es ist die Wahrheit.“
8940 Es war mit einem Ausdruck gesprochen, daß ein Zweifel nicht möglich
8941 war.
8943 Isma schwieg. Sie lehnte sich zurück und strich das lichtbraune
8944 Haar aus der schmalen Stirn. Dann faltete sie ihre Hände und sah
8945 ihn bittend an.
8947 „Hören Sie, Isma, geliebte Freundin“, sprach Ell langsam, „hören
8948 Sie, was noch niemand weiß, noch niemand wissen durfte, und was
8949 ihnen manches erklären wird, das Ihnen an mir rätselhaft war. Es
8950 ist eine lange Geschichte.“
8952 Er verfiel in Schweigen.
8954 „Erzählen Sie“, bat sie innig. „Sie bleiben über Abend – ich kann
8955 heute nicht allein sein, und andere mag ich heute nicht sehen – ich
8956 muß alles wissen.“
8958 Ell erzählte. Er sprach vom Mars, von seinen Bewohnern, von ihrer
8959 Kultur, ihrer Güte, ihrer Macht. Er erklärte, wie sie zur Erde zu
8960 gelangen hofften, um die Menschheit ihrer Kultur, der Numenheit,
8961 entgegenzuführen, wie er sein Leben lang auf die Nachricht gehofft
8962 habe, daß der Pol im Besitz der Martier sei, wie er hauptsächlich
8963 darum die Polarforschung und Ausrüstung der Expedition betrieben
8964 habe. Und nun habe er keinen Zweifel mehr.
8966 Isma hatte ihm schweigend zugehört. Ihre Fassungskraft schien zu
8967 Ende.
8969 Als er schwieg, sagte sie:
8971 „Sie erzählen ein Märchen, ein schönes Märchen. Ich würde das alles
8972 für ein Märchen halten, wäre nicht die Depesche, und wären Sie
8973 nicht mein lieber, treuer Freund. So muß ich Ihnen glauben, obwohl
8974 ich nicht begreife, woher Sie das alles wissen und warum Sie
8975 niemals davon gesprochen haben. Wenn Sie es wußten, was am Pol zu
8976 erwarten war, so mußten Sie doch meinen Mann darauf vorbereiten.“
8978 Ell lächelte jetzt. „Das hab ich auch“, sagte er, „soweit ich
8979 durfte. Ich wußte ja nicht, ob meine Vermutung eintreffen würde,
8980 also durfte ich auch nicht davon sprechen. Denn eben haben Sie
8981 selbst gesagt, daß Sie mir ohne die Depesche nicht geglaubt hätten.
8982 Man hätte mir nicht geglaubt, man hätte mich für einen Narren
8983 gehalten, und ich hätte meine ganze Tätigkeit diskreditiert. Aber
8984 ich habe für alle Fälle gesorgt. Erinnern Sie sich der drei
8985 Flaschen Champagner, die Sie durch Saltner in den Korb schmuggeln
8986 ließen? Sie gingen durch meine Hände. Unter denselben befindet sich
8987 ein von mir entworfener Sprachführer – deutsch und martisch –, der
8988 beim Zusammentreffen mit den Marsbewohnern am Pol, auf das ich
8989 hoffte, gefunden werden mußte.“
8991 Isma reichte ihm lächelnd die Hand und sagte kopfschüttelnd: „Und
8992 nun sagen Sie mir das eine und Hauptsächlichste. Woher konnten Sie
8993 alles das wissen – wenn es wirklich wahr ist?“
8995 „Sie sollen auch dies wissen. Mein Vater war ein Nume. Er war kein
8996 Engländer, wie es hieß, kein auf der Erde Geborener. Ich stamme
8997 väterlicherseits von den Bewohnern des Mars.“
8999 Isma sah ihn sprachlos an. Sie konnte nicht zweifeln. Das
9000 Fremdartige seines Wesens, selbst seiner Erscheinung, das sie
9001 anfänglich abgestoßen, später so viel stärker gefesselt hatte, als
9002 sie sich selbst gestehen mochte – alles wurde ihr auf einmal
9003 erklärlich.
9005 Das Mädchen erschien an der Tür.
9007 „Kommen Sie“, sagte sie. „Wir wollen uns wenigstens zu Tisch
9008 setzen, es ist Zeit. Ich muß aber noch mehr hören, viel mehr.“
9010 „Wie oft haben wir Sie geneckt“, sagte Isma bei Tisch, „wenn Sie
9011 hier bei uns saßen und von den Marsbewohnern phantasierten. Es ist
9012 mir nie der Gedanke gekommen, daß Sie Ihre Erzählungen ernst meinen
9013 könnten.“
9015 „Ich habe mich auch gehütet, es so erscheinen zu lassen. Dann säße
9016 ich wohl im Irrenhaus. Und doch ist es so. Ich werde Ihnen die
9017 Aufzeichnungen meines Vaters zeigen, wenn Sie wieder einmal auf
9018 meinen Berg steigen. Und das meiste weiß ich aus seinem eigenen
9019 Mund. Sie sehen mich ungläubig an?“
9021 „Seien Sie nicht böse – ich glaube Ihnen, aber es will mir noch
9022 nicht in den Kopf, das Unerhörteste, was je geschehen ist – und
9023 mir, mir soll es begegnen –“
9025 „Zwischen uns soll sich nichts ändern, Isma! Aber ich hoffe, Ihnen
9026 jetzt erst ganz zeigen zu können, wie lieb ich Sie habe. Meine
9027 Pläne sind groß.“
9029 „Lassen Sie mich nur erst das Vergangene verstehen. Ihr Vater –“
9031 „Mein Vater hieß All. Er war Kapitän des Raumschiffes ›Ba‹, das
9032 heißt ›Erde‹, mit dem er bereits mehrere Fahrten nach dem Nordpol
9033 wie nach dem Südpol der Erde gemacht hatte, als er infolge eines
9034 Unglücksfalls mit sechs Gefährten auf dem Südpol zurückgelassen
9035 wurde. Als das Schiff in den nächsten Tagen nicht zurückkehrte,
9036 wußten sie, daß sie vor dem nächsten Frühjahr keine Hilfe zu
9037 erwarten hatten. Den Polarwinter am Südpol zu durchleben, war
9038 unmöglich. Unter unsäglichen Strapazen schleppten sie sich nach
9039 Norden bis an das Meeresufer. Mein Vater allein gelangte dort an,
9040 die übrigen waren den Anstrengungen erlegen. Es glückte ihm, von
9041 einem verspäteten Walfischjäger aufgenommen zu werden. Man hielt
9042 ihn für einen Schiffbrüchigen, der den Verstand verloren hatte. Er
9043 aber benutzte die Zeit der Überfahrt nach Australien, um die
9044 Sprache zu erlernen, ohne daß die Seeleute es wußten. Man brachte
9045 ihn in ein Hospital. Durch unerschütterliche Energie gewöhnte er
9046 sich an die Erdschwere und machte sich mit menschlichen
9047 Verhältnissen vertraut. Dann gewann er Freunde, die ihm die Mittel
9048 gaben, seine technischen Kenntnisse zu verwerten. Einige
9049 Erfindungen, die auf dem Mars längst bekannt waren, machten
9050 ungeheures Aufsehen. Es dauerte nicht lange, so war mein Vater ein
9051 reicher Mann. Er lernte meine Mutter kennen, die als deutsche
9052 Erzieherin in einem englischen Haus lebte. So wurde ich in
9053 deutscher Bildung aufgezogen. Außer meiner Mutter und mir erfuhr
9054 niemand das Geheimnis der Herkunft meines Vaters. Aber in mir
9055 pflegte er den Stolz, als Sohn eines Martiers teilzuhaben an der
9056 Numenheit. Immer habe ich den roten Planeten als meine eigentliche
9057 Heimat betrachtet, und einmal auf ihn zu gelangen, war mein
9058 Jugendtraum. Aber mein Vater starb, ehe ich das zweiundzwanzigste
9059 Jahr erreichte, ohne daß den Menschen eine Nachricht vom Mars
9060 gekommen war. Und das Vermächtnis meines Vaters – meine Mutter war
9061 noch vor ihm dahingegangen – stellte mir eine größere Aufgabe: die
9062 Erde den Martiern zu erschließen, die Menschheit teilnehmen zu
9063 lassen am Segen der martischen Heimat.
9065 Ich ging nach Deutschland, ich studierte und lernte den ganzen
9066 Jammer dieses wilden Geschlechtes kennen an der Stelle, wo die
9067 höchste Zivilisation des Planeten sich zeigen soll. Auch ein
9068 großes, herrliches Glück trat mir entgegen, aber es sollte mir
9069 nicht beschieden sein. Ich lernte Isma Hilgen kennen –“
9071 „Sie wissen –“
9073 „Ja, ja, Isma, Sie haben recht gehabt damals. Sie wären unglücklich
9074 geworden, wie ich es war. Ich ging nach Australien zurück. Aber
9075 meine Pläne, die Martier am Nordpol aufsuchen zu lassen, konnte ich
9076 nur von Europa aus verfolgen. Ich kaufte mich hier an – das andere
9077 wissen Sie.“
9079 Sie reichte ihm die Hand über den Tisch hinüber.
9081 „Ich nehme Sie bei Ihrem Wort“, sagte sie herzlich, „zwischen uns
9082 soll sich nichts ändern. Nein, ich fange an, vieles zu verstehen,
9083 was mich manchmal von Ihnen zurückschreckte. Wie konnte ich mir
9084 anmaßen, Ihnen das sein zu können, was Sie bei den Menschen
9085 suchten?“
9087 „Ich habe Sie niemals mehr geliebt, als wenn Sie mich für wandelbar
9088 hielten.“
9090 „Lassen Sie – wir dürfen jetzt nicht von uns sprechen. Was werden
9091 Sie zunächst tun?“
9093 „Das Telegramm muß natürlich veröffentlicht werden. Ich nehme es
9094 gleich mit. Aber die Aufklärung, welche ich Ihnen gegeben habe,
9095 bleibt vorläufig unter uns. Die Presse wird sogleich ihre Zweifel,
9096 Vermutungen und weisen Bemerkungen laut werden lassen. Dann gebe
9097 ich den Hinweis auf die Martier als eine Hypothese, ganz
9098 vorsichtig, nur um vorzubereiten.“
9100 „Aber sind Sie denn auch Ihrer Sache ganz sicher? Ich meine, daß es
9101 wirklich Ihre Landsleute sind, die sich am Pol befinden?“
9103 „Ich habe keinen Zweifel. Ich kann Ihnen noch etwas sagen, was ich
9104 selbst erst seit einigen Tagen weiß. Es wird sicherlich ebenfalls
9105 öffentlich zur Sprache kommen, sobald die Nachricht von der
9106 Expedition bekannt wird. Sie müssen wissen – mein Vater hat es mir
9107 erklärt –, daß die Martier nur am Nordpol oder am Südpol auf der
9108 Erde landen können. Ihre Raumschiffe suchen, sobald sie der Grenze
9109 der Atmosphäre sich nähern, genau in der Richtung der Erdachse
9110 heranzukommen. Es ist aber für sie gefährlich, in die Atmosphäre
9111 einzudringen. Deswegen ging man auf Anregung meines Vaters mit dem
9112 Plan um, in der Verlängerung der Erdachse außerhalb der Atmosphäre
9113 eine Station zu errichten, auf welcher die Schiffe bleiben und von
9114 der aus man dann auf andere Weise nach unten gelangt – ich erkläre
9115 Ihnen das ein andermal genauer, auch weiß ich ja nicht, ob die
9116 Pläne so ausgeführt worden sind, wie sie damals, vor mehr als
9117 vierzig Erdenjahren, bestanden. Sicherlich aber haben die Martier
9118 in irgendeiner Weise ihre Absicht durchgesetzt und eine
9119 Außenstation gegründet. Danach habe ich mit meinem Instrument
9120 gesucht, aber nur einmal einen Lichtpunkt bemerkt, den ich für die
9121 Station halten konnte, da er sich nicht mit den übrigen Sternen um
9122 die Weltachse drehte. Ich habe ihn seitdem nicht wieder finden
9123 können, obgleich ich die Stelle genau gemessen hatte; aber das
9124 wundert mich auch nicht, denn die Martier werden schon dafür
9125 sorgen, daß die Station möglichst wenig Licht ausstrahlt, und es
9126 sind gewiß nur vereinzelte Stunden, in denen die Station einmal auf
9127 so große Entfernung – ich berechne sie auf gegen 9.000 Kilometer –
9128 sichtbar wird. Nun wurde vor einigen Tagen von der Zentralstation
9129 für Kometen in Kiel ein Telegramm versendet, daß in Helsingfors ein
9130 Stern entdeckt wurde, der kein Stern sein kann, weil er am Umlauf
9131 des Himmels nicht teilnimmt und doch nicht im Pol steht, dagegen
9132 genau im Meridian in 36 Grad Höhe. Daraus läßt sich leicht
9133 berechnen, daß sich auf der Erdachse, genau in der Entfernung des
9134 Erdradius über dem Pol, ein leuchtender Körper befinden muß.
9135 Allerdings konnte dieser wegen leichten Nebels, vielleicht auch,
9136 weil er schwächer leuchtend wurde, bisher nicht wiedergefunden
9137 werden, aber die Angabe stimmt genau mit meiner früheren
9138 Beobachtung. Ein Körper, der an dieser Stelle über dem Nordpol
9139 stillsteht, kann gar nichts anderes sein als die geplante Station
9140 der Marsbewohner; eine andere Erklärung ist undenkbar. Diese
9141 Entdeckung wird meine Hypothese bestätigen, sobald sie bekannt
9142 werden wird. Man hat sie nur von Helsingfors aus mit so großer
9143 Vorsicht weitergegeben, weil man keine Erklärung dafür weiß und
9144 daher an eine Täuschung denken mußte. Wir werden also vorbereitet
9145 sein, wenn die Expedition zurückkommt –“
9147 „Wann, wann glauben Sie, daß dies möglich ist?“
9149 „Jeden Tag, jede Stunde kann die Nachricht eintreffen, daß sie
9150 bewohnte Gegenden erreicht haben, ja –“
9152 Ell unterbrach sich und sann nach.
9154 „Sie wollten noch etwas sagen, Ell! Sie wollten sagen, es müßte
9155 schon Nachricht da sein, wenn alles gut gegangen? Nicht wahr?“
9157 „Allerdings, es könnte schon Nachricht da sein, aber es ist auch
9158 durchaus kein Grund zur Beunruhigung, daß sie noch nicht da ist.
9159 Bedenken Sie – wir haben heute den fünften – also siebzehn Tage,
9160 nachdem die Expedition den Pol verlassen hat – sie können in
9161 Gegenden gelandet sein, von denen aus ein Bote Wochen braucht, um
9162 die nächste Telegraphenstation zu erreichen.“
9164 Isma preßte die Hände an ihre Stirn.
9166 „Es ist so seltsam“, sagte sie nachdenklich, „wie sehnte ich mich
9167 nach einer Nachricht, alle Gedanken gingen um die Expedition – und
9168 nun, nachdem Sie mir dies gesagt haben, dies Ungeheuerliche, das
9169 uns bevorsteht – wie schrumpft das alles zusammen, was Menschen
9170 tun. Ach, Ell, es ist eigentlich Unrecht –“
9172 „Durfte ich länger schweigen?“
9174 „Nein, mein Freund, ich danke Ihnen ja doch – aber – Sie müssen mir
9175 noch mehr sagen, vom Mars –. Sie müssen mich lehren –“
9177 „Was Sie wollen, Isma.“
9179 „Doch nicht heute – es ist schon spät.“
9181 „Wirklich, in der zehnten Stunde. Ich muß Sie verlassen. Aber auf
9182 Wiedersehen! Morgen wie gewöhnlich?“
9184 „Wie gewöhnlich – wenn nicht – – Nein doch, wir haben zu viel zu
9185 sprechen – kommen Sie hierher –“
9187 „Ich gehe jetzt auf die Redaktion und zur Post, das Telegramm steht
9188 morgen in allen Zeitungen, Sie werden den ganzen Tag über von
9189 Besuchen belagert sein.“
9191 „Dann flüchte ich lieber –. Ich komme hinaus zu Ihnen, bald nach
9192 Tisch. Ich will martisch lernen“, setzte sie mit einem halb
9193 komischen Seufzer hinzu. „Ach, Ell, was werden die nächsten Zeiten
9194 bringen?“
9196 „Großes für die Menschen!“ war seine ernste Antwort.
9198 Ell ging.
9200 \section{22 - Schnelle Fahrt}
9202 Auf die Veröffentlichung der Depesche Torms folgten heiße Tage für
9203 Isma. Glückwünsche, Anfragen und Besuche, teilnahmsvolle und
9204 neugierige, drängten sich. Einige Zeitungen schickten ihre
9205 Reporter, um ihren Lesern möglichst genau die Ansicht von Frau Torm
9206 über die Zustände auf dem Nordpol auseinanderzusetzen. Soweit Isma
9207 die Besuche nicht ablehnen konnte, beschränkte sie sich darauf zu
9208 sagen, sie teile die Vermutungen, welche Friedrich Ell sogleich am
9209 Tag nach dem Erscheinen des Telegramms in der Vossischen Zeitung
9210 ausgesprochen habe.
9212 Über die Möglichkeit einer Besiedelung des Pols durch die
9213 Marsbewohner erhob sich ein heftiger Streit in den Tagesblättern.
9214 Ein großer Teil des Publikums fand die Aussicht höchst interessant,
9215 welche sich für einen Verkehr mit den Martiern eröffnete. Andere
9216 hätten am liebsten die ganze Depesche für Schwindel erklärt; da
9217 dies aber nicht anging, behaupteten sie, Torm müsse sich jedenfalls
9218 getäuscht haben. Es wäre ja möglich, daß es Bewohner des Mars gebe,
9219 sie könnten aber nicht auf die Erde gelangen. Und selbst wenn sie
9220 das könnten, so wäre nicht einzusehen, warum sie nicht nach Berlin
9221 oder Paris kämen, sondern sich das Vergnügen machten, eine
9222 Riesenerdkarte am Nordpol zu konstruieren. Ein berühmter Physiker
9223 erklärte es als absolut unmöglich, daß menschenähnliche Wesen
9224 jemals von einem Planeten nach dem andern durch den Weltraum
9225 hindurchdringen könnten. Darauf stellte ein Geologe eine höchst
9226 geistreiche Hypothese auf, derzufolge sich notwendigerweise am Pol
9227 ein Vulkan bilden müsse, aus welchem von Zeit zu Zeit ein Teil des
9228 Erdinnern herausquelle. Die Lavaablagerungen seien infolge einer
9229 zufälligen Ähnlichkeit von Torm für eine Karte gehalten worden.
9230 Endlich erklärte sich der Redakteur der ›Geographischen
9231 Mitteilungen‹ dahin, daß es keinen Zweck habe, Vermutungen
9232 aufzustellen, weil man überhaupt erst weitere Nachrichten abwarten
9233 müsse. Der Mann hatte recht, fand aber am wenigsten Beifall.
9235 Die Friedauer fühlten sich mehr wie je befriedigt. Die Beachtung,
9236 welche ihre Stadt in der ganzen Welt fand, gab eine erhabene
9237 Veranlassung, um Glossen über Frau Torm daran zu knüpfen, wenn sie
9238 ihr in der Nähe der Ellschen Besitzung begegneten oder Ell an ihrer
9239 Seite durch die Gänge des Parkes wandelte; das taten sie zwar schon
9240 seit Jahren, aber jetzt war es doppelt schön, noch dieses
9241 Privatwissen über das allgemeine hinaus zu haben. Isma selbst
9242 kümmerte sich darum nicht. Mehr wie je war ihr das Urteil der
9243 Menschen gleichgültig geworden, während ihr der tägliche Verkehr
9244 mit Ell allein einigermaßen Beruhigung gewähren konnte. Ell hatte
9245 sie schon geliebt und um sie geworben, als sie noch als Isma Hilgen
9246 bei ihrer früh verwitweten Mutter in Berlin lebte. Damals hatte sie
9247 seine Bewerbung zurückgewiesen. Die Neigung des seltsamen Mannes
9248 konnte sie zwar nicht unberührt lassen, aber von der Fremdartigkeit
9249 seines Wesens war sie immer wieder abgestoßen worden. Als sie mit
9250 Torm sich verlobte, war Ell in die Fremde gegangen. Nach seiner
9251 Rückkehr hatte er sich ihr in uneigennützigster Freundschaft
9252 genähert. Sie wußte, daß er sie liebte, und sie ahnte die Kämpfe,
9253 die er im stillen mit seiner Leidenschaft führte. Aber sie hing an
9254 ihrem Mann mit inniger Zuneigung, und sie hatte Ell bald im Anfang
9255 gesagt, daß daran eine Änderung niemals eintreten würde. Damals gab
9256 er ihr das Versprechen, daß sie niemals durch ihn eine Störung
9257 ihres Glückes, ja nur eine trübe Stunde erfahren solle. Und dies
9258 Versprechen hatte er die Jahre hindurch gehalten. Wohl hatte manche
9259 andere sein Interesse gewonnen, und obwohl Isma sein gutes Recht
9260 dazu anerkannte, hatte sie sich dann doch eines schmerzlichen
9261 Gefühls nicht erwehren können. Aber sie wollte sich über ihr Gefühl
9262 keine Rechenschaft geben. Sie wußte, daß er ihrer Nähe, ihrer
9263 Freundschaft und ihres Glückes bedurfte, und jene seltsame
9264 Abstraktionsgabe, das Erbteil der Martier, in seiner Vorstellung
9265 sein Gefühl zu trennen von den harten Pflichten der Wirklichkeit,
9266 ermöglichten es Ell, als ein treuer und aufopfernder Freund ihr zu
9267 dienen. So herrschte zwischen beiden ein unbedingtes Vertrauen, das
9268 Isma die volle Sicherheit gab, auch sein Freundschaftsverhältnis
9269 mit Torm könne unter ihrem Verkehr nicht leiden. Zum Glück waren
9270 alle in der Lage, über das Gerede derer, die sie nicht kannten, die
9271 Achseln zucken zu können.
9273 Es war am achten September, am dritten Tag nach der Ankunft des
9274 Tormschen Telegramms. Gegen Abend hatte Ell seinen gewohnten
9275 Spaziergang mit Isma gemacht, die über das Ausbleiben jeder
9276 weiteren Nachricht lebhaft beunruhigt war. Auch Ell war es schwer
9277 geworden, ihr Mut zuzusprechen. Denn er sagte sich, daß man
9278 allerdings eine Nachricht hätte erwarten dürfen. Die Expedition
9279 hatte eine Anzahl Brieftauben mit, und man mußte annehmen, daß sie
9280 alsbald über die weitere Richtung ihrer Reise eine Depesche
9281 absenden würde. Doch die geflügelten Boten konnten auf dem weiten
9282 Wege leicht verunglücken. Es ließ sich zunächst gar nichts tun als
9283 geduldig warten.
9285 Eine milde Spätsommernacht lag über der Stadt, alles in tiefe
9286 Dunkelheit begrabend. Der Mond war noch nicht aufgegangen, ein
9287 leichter Wolkenschleier verhüllte das Sternenlicht. Regungslos
9288 streckten die hohen Bäume ihre dichtbelaubten Zweige aus und
9289 deckten mit undurchdringlicher Finsternis die Rasenplätze, die sich
9290 zwischen ihnen auf dem Hügel hinbreiteten, wo Ell seine Warte
9291 erbaut hatte. Es war schon spät, und nur aus der hohen geöffneten
9292 Tür, die von Ells Arbeitszimmer nach der weinumlaubten Veranda
9293 führte, schimmerte noch Licht. Von dort ging eine Freitreppe in den
9294 Garten. Ell war an seinem Schreibtisch mit einer Arbeit
9295 beschäftigt, die er schon seit Jahren betrieb, einer Darstellung
9296 der Verhältnisse der Marsbewohner und einer Anleitung, ihre Sprache
9297 zu erlernen. Er wollte diese Bücher in dem Augenblick
9298 veröffentlichen, in welchem die ersten Martier mit den Menschen
9299 zusammenträfen.
9301 In seine Arbeit vertieft, vernahm er nicht, daß langsame Schritte
9302 über den Kiesweg des Gartens sich nahten, daß jemand die Treppe der
9303 Veranda erstieg. Erst als der Tritt auf der Veranda selbst erklang,
9304 drehte er sich um. In der Tür stand die Gestalt eines Mannes.
9306 „Wie kommen Sie in den verschlossenen Garten?“ fuhr Ell auf, indem
9307 er nach der Waffe auf seinem Schreibtisch griff.
9309 Seine vom Licht des Arbeitstisches geblendeten Augen konnten nicht
9310 sogleich erkennen, wen er vor sich habe.
9312 „Ich bin es!“ sagte eine ihm wohlbekannte Stimme.
9314 Ell zuckte zusammen und sprang empor. Er faßte mit den Händen nach
9315 seinem Kopf.
9317 „Eine Halluzination“, war sein Gedanke.
9319 Die Gestalt trat näher. Ell wich zurück.
9321 „Ich bin es wirklich, Herr Doktor, es ist Karl Grunthe.“
9323 „Grunthe!“ rief Ell. „Ist es möglich? Wo kommen Sie her?“
9325 „Direkt vom Nordpol, den ich heute gegen Mittag verließ.“
9327 Ell hatte ihm die Hände entgegengestreckt. Bei diesen Worten trat
9328 er wieder zurück.
9330 „Ich will Ihnen etwas sagen, Grunthe“, begann er. „Ich bin bei der
9331 Arbeit eingeschlafen, ich träume – Sie können es ja nicht sein. Das
9332 sehen Sie doch ein. Das Tor ist ja auch verschlossen, Sie können
9333 nicht über die Mauer klettern.“
9335 Grunthe trat jetzt auf ihn zu. Er schüttelte ihm die Hände.
9336 „Glauben Sie’s!“ sagte er. „Sie träumen nicht, Sie wachen. Es ist,
9337 wie ich sage. Erlauben Sie mir ein Glas Wasser, richtiges, frisches
9338 Quellwasser, das habe ich vermißt. Hier, trinken Sie auch. Kommen
9339 Sie, setzen Sie sich. Ich will Ihnen alles erklären. Aber so
9340 schnell geht das nicht.“
9342 Ell faßte Grunthe an den Schultern und schüttelte ihn. Er lachte.
9343 Dann setzte er sich und starrte Grunthe noch einmal an.
9345 Grunthe zog seine Uhr und verglich sie mit dem Chronometer in Ells
9346 Zimmer.
9348 „Keine Abweichung“, sagte er.
9350 „Sie sind es doch, Grunthe!“ rief Ell. „Jetzt glaube ich es.
9351 Verzeihen Sie, aber nun bin ich wieder klar. Um Gottes willen,
9352 sprechen Sie, schnell! Wo ist Torm?“
9354 „Torm ist nicht zurückgekehrt“, sagte Grunthe langsam, indem sich
9355 die Falte zwischen seinen Augen vertiefte.
9357 Ell sprang wieder auf.
9359 „Er ist verunglückt?“
9361 „Ja.“
9363 „Tot?“
9365 „Wahrscheinlich. Der Ballon wurde in die Höhe gerissen. Wir
9366 verloren das Bewußtsein. Als wir wieder zu uns kamen, war Torm
9367 verschwunden. Er ist bis jetzt nicht wiedergefunden worden.“
9369 „Bis jetzt? Das heißt, Sie haben noch eine Hoffnung?“
9371 „Auch der Fallschirm fehlte, es ist möglich, daß er sich damit
9372 gerettet hat – aber sehr unwahrscheinlich. Wohin sollte er gekommen
9373 sein?“
9375 Ell trat an die Tür und starrte in die Nacht, wortlos – dann drehte
9376 er sich plötzlich um.
9378 „Und Sie, Grunthe?“ rief er. „Und Saltner?“
9380 „Wir wurden von den Bewohnern der Polinsel gerettet. Mich brachten
9381 sie hierher in einem Luftschiff. Saltner ist noch am Pol, er reist
9382 morgen auf den Mars. Da sind seine Briefe, da sein Tagebuch.“ Er
9383 legte zwei Päckchen auf den Tisch.
9385 „So sind sie da?“ fragte Ell fast jubelnd.
9387 „Sie sind da. Wir haben Ihren Sprachführer gefunden. Und wenn Sie
9388 sich gefaßt haben, so kommen Sie mit mir. Ich bin nicht allein,
9389 meine Begleiter sind hier.“
9391 „Wo? Wo?“
9393 „Auf dem mittleren Rasenplatz neben dem Sommerhäuschen liegt das
9394 Luftschiff. Man erwartet Sie!“
9396 Ell wollte hinausstürzen. Die Füße versagten ihm. Er setzte sich
9397 wieder.
9399 „Ich kann noch nicht. Bitte, erzählen Sie mir erst noch etwas. Dort
9400 steht Wein, geben Sie mir ein Glas!“
9402 Grunthe holte den Wein. Dann schilderte er kurz ihr Schicksal am
9403 Pol, die Aufnahme bei den Martiern, die Station des Ringes.
9404 Allmählich wurde Ell ruhiger.
9406 Er holte eine Laterne.
9408 „Gehen wir!“ sagte er.
9410 Grunthe nahm die Laterne. Sie durchschnitten die dunkeln Gänge des
9411 Gartens. An dem bezeichneten Rasenplatz angekommen, blieb Grunthe
9412 stehen und erhob die Laterne. Ein dunkler Körper zeigte sich
9413 undeutlich in der Mitte des Platzes. Grunthe gab die Losung: „Bate.
9414 Grunthe it Ell.“
9416 Darauf setzte er in der Sprache der Martier hinzu: „Wir sind
9417 vollständig ungestört und sicher. Sie können Licht machen.“
9419 Seit dem Tod seines Vaters hatte Ell kein martisches Wort mehr
9420 vernommen. Die Laute berührten ihn überwältigend. Jetzt sollte er
9421 den Numen, den Stammesgenossen des Vaters entgegentreten.
9423 Ein mattes Licht durchglänzte den Bau des Luftschiffs und ließ eine
9424 Falltreppe erkennen, welche auf das Verdeck führte. Ell folgte dem
9425 vorankletternden Grunthe. Oben erwartete sie der wachhabende
9426 Steuermann und geleitete sie in das Innere des Schiffes hinab.
9427 „Warnen Sie den Herrn“, sagte er zu Grunthe, „wir haben
9428 Marsschwere.“
9430 „Ich danke“, versetzte Ell, „ich passe auf.“
9432 Der Steuermann sah den martisch redenden Menschen verwundert an,
9433 ging aber schweigend voran. Sie durchschnitten einen schmalen Gang,
9434 zu dessen beiden Seiten die Mannschaften in Hängematten nach ihrer
9435 anstrengenden Fahrt ausruhten, und befanden sich vor der Tür der
9436 Kajüte. Sie öffnete sich. Der Steuermann trat zurück; Grunthe und
9437 Ell standen in dem hellerleuchteten Raum.
9439 Ell schrak zusammen und drohte das Gleichgewicht zu verlieren, da
9440 er seine Bewegungen der geringen Schwere noch nicht anzupassen
9441 vermochte. Von Grunthe gestützt, starrte er sprachlos mit
9442 weitgeöffneten Augen auf die hohe Gestalt, die ihm gegenüberstand.
9444 „Vater“, wollte es sich auf seine Lippen drängen – –
9446 „Mein Freund, Dr. Friedrich Ell“, sagte Grunthe vorstellend. „Der
9447 Herr Repräsentant der Marsstaaten, Ill.“
9449 „Ill re Ktohr, am gel Schick – Ill, Familie Ktohr aus dem
9450 Geschlechte Schick“, sagte Ill mit Betonung, indem er Ell scharf
9451 beobachtete. Auch ihm klopfte das Herz, er sah seine Vermutung
9452 bestätigt. „Ich bin“, setzte er hinzu, „der jüngste Bruder des
9453 Kapitän All, der im Jahre –“
9455 „Mein Vater!“ rief Ell. „Er war mein Vater! Und so sah er aus, nur
9456 gebeugter vom Druck –“
9458 Ill schloß seinen Neffen in die Arme und ließ ihn dann sanft auf
9459 den Diwan gleiten.
9461 „Ich dachte es mir“, sagte er, „als die erste Nachricht zu uns kam,
9462 daß ein Ell auf der Erde unsre Sprache kenne. Darum erbot ich mich
9463 freiwillig hierherzugehen, als einer von uns den Auftrag übernehmen
9464 sollte. Laß dich noch einmal ansehen! Welch ein Glück, dich zu
9465 finden! Und nicht bloß für uns. Nun habe ich die Hoffnung, daß sich
9466 die Planeten verstehen werden.“
9470 Stunden vergingen, und noch immer saßen der Oheim und sein Neffe in
9471 der Kajüte des Raumschiffes in eifrige Besprechungen vertieft.
9472 Grunthe hatte sich sogleich nach der Erkennungsszene zurückgezogen.
9473 Er war nach Torms Arbeitszimmer gegangen. Das Bedürfnis nach Schlaf
9474 fühlte er nicht, denn fast während der ganzen Fahrt hatte er in
9475 Schlummer gelegen. Erst in der Abenddämmerung hatte man ihn
9476 geweckt. Er sah unter sich das Häusermeer von Berlin, welches das
9477 Luftschiff in weitem Bogen umkreiste. Man ließ sich jetzt
9478 Erklärungen von ihm über die Bedeutung der hervorragenden Gebäude
9479 geben und dann den Weg nach Friedau zeigen, das man von Berlin aus
9480 mit dem Luftschiff in 25 Minuten erreichen konnte. Man hatte jedoch
9481 im Dunkeln zu der Fahrt absichtlich eine Stunde gebraucht. Längere
9482 Zeit nahm dann die Landung in Anspruch, weil diese ganz langsam und
9483 geräuschlos vor sich gehen sollte. Die Martier wollten dabei nicht
9484 bemerkt werden, um nicht während ihrer Anwesenheit im Land
9485 irgendwie die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
9487 Sie wußten ja nicht, ob man sie nicht bei der Abfahrt stören
9488 könnte, und wollten auf alle Fälle jeden Konflikt vermeiden. Ob sie
9489 dagegen bei ihrer freien Fahrt in der Luft zufällig einmal gesehen
9490 wurden, darauf kam es ihnen jetzt nicht mehr an. Nachdem sie
9491 Grunthe zurückgebracht, mußte es ja doch bekannt werden, daß sie da
9492 waren und mit ihren Luftschiffen über die Erde fuhren. Nur ihre
9493 volle Freiheit wollten sie nicht aufs Spiel setzen.
9495 Grunthe hatte sich in Torms Zimmer die Zeitungen der letzten Wochen
9496 zusammengesucht. Es war ihm ein Bedürfnis, sich über die Vorgänge
9497 bei den Menschen während der Zeit seiner Abwesenheit zu
9498 unterrichten. Aber wie engherzig und beschränkt kam ihm jetzt alles
9499 vor! Und dennoch, er war entschlossen, das Mögliche zu tun, um den
9500 Einfluß der Martier abzuwehren.
9502 Die ersten Spuren der Dämmerung zeigten sich im Osten, als Ell mit
9503 fieberhaft leuchtenden Augen wieder eintrat.
9505 „Sind sie schon fort?“ fragte Grunthe, sich erhebend.
9507 „Noch nicht.“
9509 „Aber es wird bald hell.“
9511 „Ill bleibt noch bis zur Nacht. Ich soll ihn begleiten, er will
9512 über die Hauptstädte Europas einen Überblick gewinnen. Aber ich
9513 kann heute früh noch nicht fort. In der Sache ist es eigentlich
9514 nicht recht zu zögern, aber ich kann nicht.“
9516 „Sie dürfen freilich jetzt nicht fort. Wir müssen die Resultate der
9517 Expedition bekanntmachen. Sie sind dabei unentbehrlich.“
9519 „Wir haben uns schon geeinigt. Ich will nur eben Anordnung treffen,
9520 daß heute niemand im Garten zugelassen wird. Auf den alten Schmidt
9521 können wir vertrauen, er wird die Tür geschlossen halten und wie
9522 ein Cerberus wachen. Mein Oheim ist mit dem Ruhetag einverstanden,
9523 den die Mannschaft wie er selbst nötig hat. Jetzt will er mir nur
9524 einmal die Leistungsfähigkeit des Luftschiffs bei größter
9525 Geschwindigkeit zeigen. Die Luft ist ganz still. Wir wollen uns
9526 Wien betrachten. In einer Stunde, noch vor Sonnenaufgang, sind wir
9527 zurück. Wir fahren jetzt nach Osten, über Wien wird es schon hell
9528 genug sein. Kommen Sie mit, wir können die Zeit zum Erzählen
9529 benutzen. Nachher frühstücken wir zusammen.“
9531 Er sprach in großer Aufregung und suchte dabei nach seinem Mantel.
9533 „Sie brauchen weiter nichts mitzunehmen“, sagte Grunthe. „Pelze
9534 sind im Schiff. Instruieren Sie nur Schmidt, daß er niemand
9535 einläßt. Ich aber will lieber hierbleiben.“
9537 Ell weckte den Kastellan. Es dürfe niemand in den Garten. Auch die
9538 Sternwarte bleibe heute geschlossen. In besonderen Fällen oder wenn
9539 Bekannte kämen, solle man ihn selbst rufen. Er verlasse sich auf
9540 sein unbedingtes Schweigen über alles, was er etwa
9541 Außergewöhnliches sehe.
9543 Der alte Mann, der schon seinem Vater gedient hatte und mit Ell
9544 nach Deutschland gekommen war, versprach sein Bestes. Seine Frau,
9545 welche auch die häusliche Bedienung für Ell führte, kam niemals
9546 über ihr eigenes kleines Gemüsegärtchen, das außerhalb der
9547 Gartenmauer lag, hinaus. Von ihr war keine Störung zu befürchten.
9549 Ell begab sich nach dem Rasenplatz. Das Luftschiff war zur Abfahrt
9550 bereit. Die Lichter wurden gelöscht. Geräuschlos hob es sich
9551 senkrecht in die Höhe. Die Stadt lag im Schlummer, niemand bemerkte
9552 den dunkeln Körper, der in wenigen Augenblicken in der Dämmerung
9553 entschwunden war.
9555 Ell saß stumm in seinen Pelz gehüllt und blickte durch die
9556 Robscheiben dem schnell emporsteigenden Frührot entgegen.
9558 „Ein neuer Tag“, sagte er leise, „wirklich ein Tag! Ich fliege! O
9559 heiliger Nu!“
9561 Aber sie, Isma, was würde sie sagen? Er vergaß seine Umgebung. Das
9562 Herz krampfte sich ihm schmerzhaft zusammen. Wie sollte er ihr das
9563 Schreckliche mitteilen? Da ihm alles geglückt, da seine höchste
9564 Sehnsucht erfüllt, seine Heimat wiedergefunden war, da sollte ihr
9565 das Lebensglück entrissen werden? Er suchte sich in ihre Seele zu
9566 versetzen und vermochte es nicht. Er trauerte um den Freund, und
9567 inniges Mitgefühl mit der Freundin drängte die Tränen in sein Auge.
9568 Er sah sie die schmalen Hände ringen, er sah, wie ihre großen
9569 dunkelblauen Augen starr wurden. Er hätte sein Leben dafür gegeben,
9570 diesen Schmerz ihr abzunehmen, ihr den Verlorenen zu retten und
9571 wiederzubringen. Es war aussichtslos. Was vermochte er für sie zu
9572 tun? Und in allem Schmerz konnte er es nicht hindern, daß es wie
9573 eine leise Hoffnung ihn durchzog, ob es ihm nicht möglich sei, ihr
9574 das entschwundene Glück zu ersetzen. Er drängte den Gedanken
9575 zurück. Er dachte an seine nahen, großen Aufgaben. Aber die nächste
9576 war ja doch – sie zu benachrichtigen.
9578 Eine Frage Ills riß ihn aus seinen Grübeleien.
9580 Zur Rechten erglänzte die Kette der Alpen im Licht der aufgehenden
9581 Sonne. Das Luftschiff breitete seine Schwingen aus und umkreiste,
9582 sich tiefer senkend, in weitem Bogen die Kaiserstadt an der Donau.
9583 Drei-, viermal strich es bis dicht über den Spitzen der Türme hin,
9584 dann erhob es sich wieder und floh vor den Strahlen der Morgensonne
9585 nach Nordwesten. Es erreichte Friedau, noch bevor der erste
9586 Sonnenstrahl die Kuppel der Sternwarte, des höchsten Punktes der
9587 Umgebung, vergoldete, und ließ sich langsam auf den Rasenplatz
9588 nieder.
9590 Einige Arbeiter, die aufs Feld gingen, liefen herzu, aber da sie
9591 das Schiff hinter den Bäumen des Gartens verschwinden sahen,
9592 setzten sie ihren Weg wieder fort. Sie waren gewohnt, die
9593 Übungsballons der Luftschiffer bei Friedau aufsteigen zu sehen, und
9594 wunderten sich daher nicht weiter, daß einmal ein so sonderbarer
9595 Ballon hier niederging.
9597 \section{23 - Ismas Entschluß}
9599 Um dieselbe Zeit wurde Frau Isma Torm durch heftiges Läuten aus dem
9600 Schlummer geweckt.
9602 Man brachte ihr ein Telegramm. Mit klopfendem Herzen las sie:
9604 „Hammerfest, den 9. September.
9606 Brieftaube ›Ballon Pol‹ brachte folgende Nachricht:
9608 Frau Isma Torm. Friedau. Deutschland, 21. August, 2 U. 30 Min.
9609 nachm. M.E.Z.
9611 Ballon durch unbekannte Kraft in die Höhe gerissen. Ich verlor das
9612 Bewußtsein. Erwachte, als der Ballon auf dichte Wolkendecke schnell
9613 abstürzte. Korb gekentert. Ballon nur durch stärkste Erleichterung
9614 zu retten. Grunthe und Saltner bewußtlos, nicht transportierbar.
9615 Ich verließ den Ballon mit dem Fallschirm, konnte Brieftauben
9616 mitnehmen. Ich fiel langsam durch
9618 Wolken, trieb vom Pol in unbekannter Richtung ab, konnte mich auf
9619 Festland retten. Entdeckte Spuren von wandernden Eskimos und fand
9620 ihr Lager. Ziehe mit ihnen nach Süden, habe noch zwei Tauben. Hoffe
9621 auf glückliche Heimkehr. Sei unbesorgt. Ich bin unverletzt und bei
9622 Kräften. Torm.“
9624 Sie klammerte sich an die letzten Worte. „Hoffe auf glückliche
9625 Heimkehr. Sei unbesorgt. Ich bin unverletzt und bei Kräften.“ Aber
9626 wo? Wo? Jenseits unzugänglicher Meere und Eiswüsten, kurz vor
9627 Beginn der ewigen Nacht, angewiesen auf das Mitleid einiger
9628 armseliger Eskimos! Der Ballon gescheitert – die gehofften, stolzen
9629 Resultate verloren! Wie konnte er heimkehren – und wann?
9631 Und sie – sie hatte ihn ermutigt, ihm zugeredet, als er darum
9632 sorgte, sie allein zurückzulassen. War sie nicht mitschuldig an
9633 seinem Unglück? Hatte sie nicht zu sehr dem Freund vertraut, der
9634 des Gelingens so sicher schien? Eine furchtbare Angst erfaßte sie.
9635 Hätte sie ihn nicht beschwören müssen, das gefährliche Unternehmen
9636 um ihretwillen zu unterlassen? Sie hatte sich eingebildet, der
9637 großen Sache, der Wissenschaft mutig das Opfer ihres häuslichen
9638 Glückes zu bringen, aber nun kam es über sie wie eine schreckliche
9639 Anklage – hätte sie den Mut auch gehabt, wenn nicht Ell sie gebeten
9640 hätte? Wenn sie nicht dem Freund zuliebe, dem sie das eine
9641 Lebensglück versagt, nun zur Erreichung seines innigsten Wunsches
9642 ein Opfer hätte bringen wollen? Und wenn das Opfer angenommen war?
9643 Sie schauderte zusammen. Nein, nein, sie wollte nicht mutlos sein.
9644 Das durfte sie sich ja sagen, sie hatte sich nie verhehlt, daß sie
9645 jeden Augenblick auf das Schlimmste gefaßt sein mußte. Aber was sie
9646 dann tun würde? Das hatte sie niemals sich zur vollen Klarheit
9647 gebracht. Jetzt mußte es sein. Sie wollte handeln. Wenn Hilfe
9648 möglich war – es gab von den Menschen nur einen, der hier helfen
9649 konnte. O, er würde ihr helfen! Sie glaubte an ihn.
9651 Eine Stunde später zog sie die Klingel an dem großen eisernen
9652 Gitter, das den Vorgarten des Wohngebäudes neben der Sternwarte von
9653 der Straße abschloß.
9655 „Ist der Herr Doktor schon zu sprechen?“ fragte sie den öffnenden
9656 Kastellan.
9658 Der Alte nahm sein Käppchen ab und kratzte sich verlegen hinter dem
9659 Ohr.
9661 „Ei, ei, die Frau Doktor sind es? Hm! Hm! Na, ich will gleich
9662 einmal fragen. Kommen Sie nur inzwischen herein. Es ist freilich –
9663 Hm! –“
9665 „Sagen Sie, ich müßte den Herrn Doktor sofort sprechen, es sind
9666 wichtige Nachrichten angekommen.“
9668 Der Alte schlurfte ins Haus.
9670 Ell beriet mit Grunthe die Form, welche den ersten Mitteilungen zu
9671 geben sei, als ihm Frau Torm gemeldet wurde.
9673 Er sprang auf und warf die Feder weg.
9675 „Führen Sie die gnädige Frau sogleich in die Bibliothek.“
9677 „Es sind wichtige Nachrichten da, sagte die Frau Doktor.“ Mit
9678 diesen Worten ging der Kastellan ab.
9680 „Sie hat Nachrichten!“ rief Ell erbleichend. „Und sie kommt selbst,
9681 um diese Zeit! Woher kann sie es wissen?“
9683 Er stürzte hinaus. Vor der Tür des Bibliothekzimmers hielt er an.
9684 Er mußte sich erst sammeln. Dann trat er ein, ruhig, gefaßt. Aber
9685 das Herz schlug ihm. Sein Gesicht war bleich und übernächtig.
9687 Isma stand mitten im Zimmer und stützte ihre Hand auf den großen
9688 Tisch, der mit aufgeschlagenen Kartenwerken und Tabellen bedeckt
9689 war. Sie fand keine Worte.
9691 „Isma“, sagte er, „Sie haben – was wissen Sie?“ Sie brach in
9692 Schluchzen aus. Er eilte an ihre Seite. Wieder lehnte sie an seiner
9693 Schulter. Er führte sie an das Sofa.
9695 „Fassen Sie sich, liebste Freundin, fassen Sie sich!“
9697 „Ich weiß nicht, was ich tun soll“, sagte sie unter Tränen. Sie zog
9698 die Depesche aus ihrer Tasche und reichte ihm das zerknitterte
9699 Papier.
9701 Ell las.
9703 Er atmete tief auf.
9705 „Gott sei gedankt!“ rief er aus tiefstem Herzen.
9707 Isma sprang auf und wich zurück. Ihr Blick fiel feindlich auf ihn.
9708 ihre Augen wurden starr. Sie drohte zusammenzubrechen.
9710 „Was ist Ihnen, Isma?“
9712 „Ich – ich –“, sagte sie, die Hand auf das Herz pressend, „ich habe
9713 wohl nicht recht verstanden – oder – oder – sagten Sie nicht –?“
9715 „Gott sei Dank, sagte ich, denn Ihr Mann ist gerettet.“
9717 „Gerettet?“
9719 „Ja, hier steht es ja.“
9721 „Gerettet?“
9723 „Ihre Nachricht ist jünger als die meinige, ist von ihm selbst“,
9724 fuhr Ell fort. „Ich aber empfing diese Nacht durch Grunthe die
9725 Nachricht, daß der Ballon abgestürzt und Ihr Mann verschwunden sei.
9726 Ich glaubte ihn tot und wußte nicht, wie ich Ihnen, Isma – aber was
9727 ist Ihnen?“
9729 Isma ergriff seine Hände. „O, Ell, Ell, verzeihen Sie mir!“
9731 Er sah sie erstaunt an.
9733 „Sie halten ihn für gerettet?“ rief sie, indem ihr das Blut in die
9734 Wangen stieg. „Im ewigen Eis, in der Polarnacht? Wie soll er
9735 gerettet werden?“
9737 „Da er glücklich aus dem Ballon auf die Erde gelangt ist und im
9738 Schutz der Eskimos steht, so droht ihm unmittelbar keine Gefahr.“
9740 „Aber der Winter?“
9742 „Wo die Eskimos überwintern, wird es Ihrem Mann auch gelingen. Es
9743 ist gewiß keine angenehme Aussicht, aber wie viele Forscher haben
9744 schon einen Winter in den Schneehütten der Eskimos zugebracht. Und
9745 darauf war er, mußten wir alle gefaßt sein, daß ein solcher Unfall
9746 eintrat. Nein, Isma, liebste Freundin, ängstigen Sie sich nicht.
9747 Wir werden dafür sorgen, daß im Frühjahr auf allen Seiten des Pols
9748 nach ihm gesucht wird. Vielleicht erhalten wir noch eine Nachricht.
9749 Er hat ja noch Tauben. Sehen Sie –“, er streichelte ihre Hand und
9750 versuchte zu lächeln, „verzeihen Sie mir, aber die Depesche, die
9751 Ihnen nur Trauriges meldete, für mich war sie eine Erlösung. Alles,
9752 was Grunthe und Saltner von Ihrem Mann wußten, bestand darin, daß
9753 er aus dem Ballon verschwunden war, als sie von ihrer Ohnmacht
9754 erwachten. Der Fallschirm wurde im Meer gefunden, von Torm keine
9755 Spur. Sie können sich denken, Isma, was ich in Ihrer Seele fühlte,
9756 wie mir zumute war, als ich Sie jetzt vor mir sah. Da atmete ich
9757 auf, als ich Ihre Depesche las. Nach dem, was ich wußte, ist es
9758 vielleicht die beste Nachricht, die sich überhaupt erhoffen ließ.
9759 Ich brauche nicht zu sagen, wie sehr ich den Unfall Ihres Mannes
9760 bedauere; Sie aber dürfen stolz sein. Er hat sich selbst geopfert
9761 und die Gefährten dadurch gerettet. Alle Resultate der Expedition
9762 sind geborgen, selbst meine kühnsten Hoffnungen erfüllt.“
9764 Isma starrte in die Ferne. Das Schicksal Torms nahm noch alle ihre
9765 Gedanken in Anspruch.
9767 „Und ist Ihnen denn dies alles gleichgültig geworden?“ fragte Ell.
9768 „Sie fragen nicht einmal, woher ich meine Nachricht habe?“
9770 „Wie können wir uns des Erreichten freuen, und er, dem wir es
9771 verdanken, hat nichts von alledem? Den langen Winter – ach, wohl
9772 noch ein Jahr. – Ist es denn nicht möglich, noch jetzt, gleich,
9773 etwas für ihn zu tun?“
9775 Ell sah sie schmerzlich enttäuscht an und schüttelte nur den Kopf.
9777 Sie verstand seinen vorwurfsvollen Blick. Eine feine Röte überzog
9778 ihr Gesicht, und sie schlug ihre großen, sanften Augen wie bittend
9779 zu ihm auf. Sie sah entzückend aus. Ell wendete sich ab, er konnte
9780 den Anblick nicht länger ertragen.
9782 Isma legte ihre Hand auf seinen Arm.
9784 „Verzeihen Sie mir, mein lieber Freund“, sagte sie herzlich.
9785 „Erzählen Sie mir! Ich sehe ja selbst ein, daß ich mich in Geduld
9786 fassen muß. Aber es hätte mich so glücklich gemacht, sogleich etwas
9787 tun zu können.“
9789 Ell schwieg noch immer. Er stützte den Kopf in seine Hand.
9791 „Ich hab Sie darum nicht weniger lieb“, sagte Isma einfach.
9793 Beide sahen sich tief in die Augen.
9795 Ell sprang auf und machte einige Schritte durch das Zimmer. Dann
9796 blieb er vor Isma stehen.
9798 „Ich dachte einen Augenblick – eine Möglichkeit, aber nein, es geht
9799 nicht. Es geht nicht.“
9801 Er setzte sich ihr gegenüber.
9803 „Hören Sie zu“, sagte er. „Was ich Ihnen jetzt sage, wird Ihnen
9804 unglaublich erscheinen. Aber die Beweise sollen Sie selbst sehen.
9805 Grunthe ist hier. Und Saltner ist auf der Reise nach dem Mars. Oben
9806 in meinem Garten liegt ein Luftschiff der Martier. Mein Oheim Ill,
9807 der Bruder meines Vaters, hat Grunthe darin hierhergebracht. Die
9808 Fahrt nach dem Pol dauert sechs Stunden –“
9810 „Um Gottes willen, Ell, hören Sie auf!“ rief Isma zurückweichend,
9811 die gefalteten Hände nach ihm ausstreckend. In ihren Augen malte
9812 sich Angst. Sie fürchtete für seinen Verstand. War das seine fixe
9813 Idee, die jetzt mit ihren Wahnvorstellungen zum Ausbruch kam?
9815 Er stand auf und ging zur Tür. Isma blieb ratlos sitzen. Nur wenige
9816 Augenblicke, dann sprang sie auf.
9818 Grunthe trat in das Zimmer. Er machte seine steife Verbeugung.
9820 Isma starrte auf ihn wie auf eine Erscheinung.
9822 „Lesen Sie diese Depesche“, sagte Ell zu Grunthe. „Frau Torm hat
9823 sie heute früh empfangen.“
9825 Grunthe las, sah noch einmal nach dem Datum, und sagte dann: „Das
9826 ist eine sehr günstige Nachricht, unter den einmal vorhandenen
9827 Umständen.“
9829 „Und nun bitte, Grunthe“, rief Ell, „tun Sie mir den Gefallen und
9830 geben Sie Frau Torm einen kurzen Bericht über Ihre Erlebnisse.
9831 Kommen Sie, setzen wir uns.“
9833 Grunthe sprach in seiner knappen, fast trockenen Weise. Da war
9834 nichts übertrieben, keine Vermutungen, kein subjektives Urteil,
9835 alles klar wie ein mathematischer Beweis.
9837 Isma saß regungslos. Ihre weitgeöffneten Augen hingen an Ell. Es
9838 überkam sie wie ein Gefühl der Ehrfurcht.
9840 „Und nun ich hier bin“, schloß Grunthe, „darf ich keine Minute
9841 versäumen, den Bericht fertigzustellen. Wir haben alle unsre Kräfte
9842 anzustrengen, das zu beweisen, was uns niemand wird glauben wollen.
9843 Ich darf daher wohl auf Entschuldigung rechnen, wenn ich mich jetzt
9844 wieder zurückziehe. Würden Sie mir noch einen Augenblick schenken?“
9845 setzte er zu Ell gewendet hinzu.
9847 Er verbeugte sich gegen Isma und wollte gehen.
9849 Da sprang Isma auf und trat dicht vor Grunthe, der mit
9850 zusammengekniffenen Lippen stehenblieb.
9852 „Ist es wahr“, fragte sie, „das Luftschiff liegt noch draußen?“
9854 „Gewiß.“
9856 „Und in sechs Stunden kann man zum Nordpol gelangen?“
9858 Grunthe nickte bestätigend.
9860 „Ich bin heute früh selbst in einer Stunde nach Wien und wieder
9861 zurückgefahren“, setzte Ell hinzu.
9863 „Ich danke Ihnen“, sagte Isma zurücktretend.
9865 „Entschuldigen Sie mich auf einen Augenblick – ich bin sogleich
9866 wieder hier“, sagte Ell zu Isma, indem er mit Grunthe das Zimmer
9867 verließ.
9869 Sie nickte schweigend. Ihre Gedanken waren bei dem Luftschiff. In
9870 sechs Stunden konnte man am Nordpol sein – nur sechs Stunden! So
9871 lange braucht der Schnellzug nach Berlin. Das ist eine
9872 Spazierfahrt. Sechs Stunden nur trennten sie von Hugo. – – Wenn das
9873 Glück günstig war, wenn das Schiff die richtige Bahn beschrieb, so
9874 mußte man ihn bemerken, so konnte man ihn aufnehmen und
9875 zurückbringen – noch heute konnte er in Friedau sein –
9877 Ach, aber ihn scheiden die Wüsten des Eises, die unzugänglichen
9878 Meere, die noch kein Forscher zu durchqueren vermochte – dort sitzt
9879 er in der kläglichsten Schneehütte, Monat auf Monat, ohne Licht,
9880 ohne Tat – in ewiger Nacht trauernd und sich sehnend nach der
9881 Heimat, umgeben von den Gefahren des furchtbaren Winters. – – Und
9882 hier daheim, hier reifen die Früchte seiner kühnen Fahrt, hier
9883 drängt sich von Stunde zu Stunde neues, lebendiges Schaffen, hier
9884 vollzieht sich das Unerhörte, noch nie Gewesene – von den Sternen
9885 steigen die Götter herab, um die Menschen zu laden zu ihrem seligen
9886 Wandel – hier, in dieser Stadt, in diesem Hause wird ein neues
9887 Zeitalter geboren, und er weiß nichts davon, kann nicht teilnehmen
9888 an dem Großen, was die ganze Erde erfüllt, an dem Höchsten, was
9889 erlebt wurde und was ihr Herz so erwartungsvoll schlagen macht –
9890 und sie muß es allein erleben –
9892 Und vielleicht nur sechs Stunden –
9894 Allein – den ganzen Winter allein in solcher Zeit, wo Seele zu
9895 Seele gehört – allein? Ja, wenn sie allein wäre! Aber der Freund?
9896 Wo bleibt er? Er ist länger draußen aufgehalten, aber er wird
9897 kommen – er wird kommen so wie heute, dann jeden Tag, der einzige
9898 Vertraute, mit dem sie alles teilen muß, was das Herz bewegt – mit
9899 ihm wird sie allein sein, der ihr so wert ist, so lieb, und nun vor
9900 ihr steht in einem neuen, geheimnisvollen Licht, der Sohn einer
9901 höheren Welt, zu dem sie aufblickt – –
9903 Nein, nein! Sie will nicht allein sein, und nicht allein mit ihm –
9905 Sie ringt die Hände und geht auf und ab im Zimmer. Sie blickt nach
9906 der geschlossenen Tür und glaubt seine Stimme zu hören. Sie blickt
9907 nach der Uhr – und der Gedanke läßt sie nicht los: Nur sechs
9908 Stunden! In sechs Stunden kann alles entschieden sein –
9910 Ja, wenn sie mitfahren könnte, durch die Lüfte reisen nach dem
9911 Reich des Eises, wo er weilt – sie würde ihn finden, sie würde ihn
9912 ausspähen, wo er sich auch bärge, im Boot von Seehundsfell, in der
9913 Hütte von Schnee – bis in die Gletscherspalte würde ihr Auge
9914 dringen – sie schauerte zusammen. Vielleicht schon lag er – sie
9915 mochte das Schreckliche nicht denken. Diese furchtbare Ungewißheit
9916 – nein, das konnte, das wollte sie nicht ertragen. Und die Fragen,
9917 die ewigen, und das Mitleid – und das höhnische Zischeln, ob sie
9918 sich wohl tröstet – – oh!
9920 Sie stampfte mit dem Fuß auf und preßte die Hände krampfhaft
9921 zusammen. Dann stand sie still wie ein Bild aus Stein. Und nun
9922 wußte sie es. Sie atmete tief auf. Die Starrheit löste sich. Ihr
9923 Entschluß war gefaßt.
9925 Nur sechs Stunden!
9927 Das Luftschiff zog sie mit magischer Gewalt an. Sie wollte fort,
9928 sie wollte an den Pol, sie würde ihn finden, den Verlorenen, sie,
9929 Isma Torm. Wenn es ein Unrecht war, daß sie um des Wunsches des
9930 Freundes willen den Mann nicht zurückhielt, so mochte dies ihre
9931 Buße sein, und die seinige!
9933 Sie setzte sich und überdachte alles noch einmal in voller Ruhe.
9935 Es war das Richtige, es mußte so sein.
9937 Isma erhob sich und schritt auf die Tür zu, als ihr Ell aus
9938 derselben entgegentrat.
9940 Er stutzte bei ihrem Anblick. Die Trauer und Angst aus ihren Zügen
9941 war verschwunden. Sie stand aufgerichtet vor ihm. Aus ihren
9942 tiefblauen Augen sprach jene Innigkeit des Gefühls, die ihn immer
9943 hingerissen hatte. Auf ihren Lippen lag es wie ein leises Lächeln.
9945 „Ell“, sagte sie – sie stockte einen Augenblick wie verlegen „bei
9946 Ihrer Freundschaft, wenn Sie mich liebhaben –“
9948 „Isma!“
9950 „Wollen Sie mir eine Bitte erfüllen?“
9952 „Was Sie wollen!“
9954 „Sprechen Sie bei Ihrem Oheim für mich, daß er mich in seinem
9955 Luftschiff mit nach dem Pol nimmt und mich wieder hierherbringt,
9956 wenn wir Hugo gefunden haben – ja, ja – ich werde ihn finden, wenn
9957 ich mit dem Luftschiff ihn suchen darf – o, weigern Sie sich nicht
9958 –“
9960 Sie faßte seine Hände und sah ihn flehend an. Zwei Tränen traten in
9961 ihre Augen.
9963 „Und – kommen Sie selbst mit!“ setzte sie hinzu.
9965 Ell fand nicht sogleich Worte. Das hatte er nicht erwartet.
9967 „O Isma, Isma“, rief er endlich. „Was verlangen Sie? Diese Reise
9968 ist nichts für Sie. Die Nume werden selbst suchen, sie suchen
9969 schon, und was die nicht finden, werden auch Sie nicht finden.“
9971 „Ich werde es. Was sind fremde Augen gegen die der Frau? Ich werde
9972 sehen, wo andere nicht hinblicken. Es sind nur sechs Stunden – so
9973 nahe –, und ich soll hier müßig sitzen – den Gedanken ertrage ich
9974 nicht –“
9976 „Ich bitte Sie, Isma, bedenken Sie meine Lage. Jetzt darf ich, kann
9977 ich nicht von hier fortgehen. Jetzt gilt es, die Menschheit auf den
9978 Besuch der Martier vorzubereiten. Was ich seit Jahren erwartet, ich
9979 muß nun die Konsequenzen ziehen –“
9981 „Es handelt sich vielleicht nur um wenige Tage.“
9983 „Die habe ich meinem Oheim zu andern Zwecken versprochen. Und dann
9984 muß ich wahrscheinlich nach Berlin.“
9986 „Dann bin ich also ganz allein“, sagte Isma leise.
9988 „Nein, nein – ich komme bald wieder.“
9990 Isma wandte sich schweigend ab. Dann kehrte sie plötzlich zurück
9991 und sagte fast hart:
9993 „Führen Sie mich zu Ihrem Oheim, ich will ihn bitten. Und wenn Sie
9994 nicht fortkönnen, lassen Sie mich allein mitgehen. Lassen Sie mich
9995 hingehen, Ell!“
9997 Ell kämpfte mit sich. Mit düstern Blicken starrte er durchs
9998 Fenster.
10000 „Wo ist das Schiff?“ fragte Isma. „Ich will die Nume bitten, sie
10001 werden einer verlassenen Frau nicht abschlagen, was der einzige
10002 Freund ihr nicht gewähren will.“
10004 „Isma, seien Sie vernünftig!“
10006 „Das Vernünftige ist die Pflicht. Und dies ist der einzige Weg, sie
10007 zu erfüllen.“
10009 „Und meine Pflicht ist die Versöhnung der Planeten. Dagegen muß das
10010 Geschick des einzelnen zurücktreten.“
10012 „Darum eben gehe ich allein.“
10014 „Das werde ich nie zugeben.“
10016 „Ich will“, sagte Isma finster. „Ich will zu meinem Mann.“
10018 Ell stöhnte. Er sah, wie sie entschlossen der Tür zuschritt. Sie
10019 drehte sich noch einmal um, mit tiefer Trauer im Antlitz.
10021 „Bleiben Sie, Isma“, rief er. „Ich bringe Ihnen Hugo, wenn es in
10022 der Macht der Menschen steht und der Nume!“
10024 „Nehmen Sie mich mit!“
10026 „Kommen Sie zu Ill. Alles hängt von seiner Entscheidung ab.“
10028 Ell brachte Isma zu seinem Oheim. Es hätte ihr wenig genutzt, ihre
10029 Sache bei Ill zu vertreten, wenn nicht Ell sie zu der seinigen
10030 gemacht hätte. Denn Ill verstand nicht deutsch, Ell mußte daher die
10031 Verhandlungen führen. Ill, der Isma mit herzlichster Teilnahme
10032 begegnete, versprach sofort, daß nach seiner Rückkehr mit Hilfe des
10033 Luftschiffes die sorgfältigste Durchforschung des arktischen
10034 Gebietes vorgenommen werden solle, so lange die Martier dazu noch
10035 Zeit hätten. Dazu wäre er ohnehin entschlossen gewesen, und nur die
10036 Zurückführung Grunthes und die Aufsuchung Ells hätten zuvor
10037 erledigt werden müssen. Übrigens würde schon jetzt nach Torm
10038 gesucht, da noch ein kleineres Luftboot, freilich zu weiteren
10039 Reisen nicht verwendbar, in Dienst gestellt werde. Er sähe daher
10040 nicht ein, wozu es notwendig sei, daß Ell oder gar Isma zu diesem
10041 Zweck ihm an den Pol folgen sollten. Ersterer wäre jetzt in
10042 Deutschland nicht zu entbehren, um Grunthe in der Darstellung der
10043 Resultate der Expedition zu unterstützen. Man würde ihn auch
10044 jedenfalls seitens der Regierung zu Rate ziehen.
10046 Ell gab dies gern zu; es war ja vollständig seine Ansicht. Er
10047 sagte, daß er nur den innigsten Wunsch von Frau Torm vertrete. Isma
10048 brachte nun selbst ihre Bitte vor, mit rührendem Ton, in Ills
10049 Gegenwart. Ell, der jetzt erst hörte und im übrigen erriet, was
10050 Isma zur Reise antrieb, fühlte seinen Widerstand gebrochen. Er
10051 unterstützte nunmehr ihre Bitten und wollte sie unter keinen
10052 Umständen verlassen. Er stellte daher Ill vor, daß sich seine Reise
10053 wohl mit seinen Pflichten gegen die Martier vereinen lasse, da sie
10054 doch nicht länger als acht bis zehn Tage dauern würde. Denn
10055 gleichviel, ob Torm gefunden werde oder nicht, vor ihrer Abreise
10056 nach dem Mars würden ja die Martier ihn und Isma zurückbringen. In
10057 dieser Zeit aber sei er um so eher entbehrlich, als sich die erste
10058 Aufregung über das Erscheinen der Martier erst einigermaßen legen
10059 müsse, ehe es zu ernsthaften Entschlüssen der Regierungen kommen
10060 könne. Bis dahin sei er wieder zu Hause; inzwischen reiche Grunthe
10061 vollständig aus, die erforderliche Auskunft zu geben. Es stehe also
10062 dabei eigentlich weiter nichts in Frage, als daß die Martier sich
10063 der Mühe unterzögen, noch einmal eine Fahrt vom Pol nach Friedau
10064 und zurück zu machen. Das aber sei doch in zwölf Stunden erledigt.
10066 Ell führte dies, hin und wieder von seinem Oheim unterbrochen, in
10067 eifriger Rede aus. Isma hörte dem Gespräch, von dem sie kein Wort
10068 verstand, geduldig zu. Sie erschrak, wenn sie aus Ills Augen auf
10069 eine ablehnende Antwort schließen zu müssen glaubte. Jetzt aber
10070 lächelte Ill und sagte:
10072 „Die Transportfrage, euch beide mitzunehmen und wieder
10073 herzubringen, ist für uns kein Hindernis. Persönlich würde es mich
10074 sehr freuen, dich bei mir zu haben, und sogar sachlich könnte es
10075 von Vorteil sein, da Fälle denkbar sind, in denen wir unser Schiff
10076 verlassen müssen, um das Land zu betreten; und dann würdest du mit
10077 den Eskimos, die wir mitnehmen werden, mehr leisten können als wir.
10078 Ich wundere mich aber, warum du für den Wunsch der Frau Torm so
10079 eifrig eintrittst, der eigentlich nur einer Stimmung, man möchte
10080 fast sagen, einer Einbildung entspringt.“
10082 „Sie hegt nun einmal den Wunsch“, erwiderte Ell etwas verlegen,
10083 „sie hält die Reise für ihre Pflicht, und es ist der einzige Trost,
10084 den ich ihr gegenwärtig geben kann, wenn ich ihren Wunsch zu
10085 erfüllen suche.“
10087 Ill blickte seinem Neffen mit Herzlichkeit ins Auge. „Du liebst
10088 diese Frau.“
10090 Ell schwieg.
10092 „Und du willst sie mitnehmen und begleiten, um ihr den Gatten
10093 wiederzugeben?“
10095 „Ja.“
10097 „So machst du ihren Wunsch zu dem deinen?“
10099 „Vollständig.“
10101 „Ich möchte dir deine erste Bitte nicht abschlagen. Aber es ist
10102 noch ein prinzipielles Bedenken. Zugegeben, deine Abwesenheit von
10103 hier für kurze Zeit wäre allenfalls belanglos. Es könnte aber ein
10104 unglücklicher Zufall eintreten, der uns verhindert, hierher
10105 zurückzukehren. Deine Abwesenheit könnte sich auf den ganzen Winter
10106 ausdehnen. Dann übernehmen wir eine furchtbare Verantwortung. Das
10107 Verständnis zwischen den Planeten steht auf dem Spiel.“
10109 „Ich weiß es. Es ist der Gedanke, der mich zuerst der Bitte von
10110 Frau Torm widerstehen ließ, der mich in Konflikt mit mir selbst
10111 brachte. Aber gerade, weil wir nicht allwissend sind, dürfen wir
10112 einen solchen Umstand nicht in die Berechnung ziehen; er ist nur
10113 als Zufall zu behandeln; ich kann morgen tot sein, auch wenn ich
10114 nicht aus meinem Zimmer gehe. Ich habe mich nun einmal um Ismas
10115 willen entschlossen; was daraus wird, muß ich mit meinem Gewissen
10116 abmachen. Daß ich nicht eigennützig handle, weißt du.“
10118 „Sonst hätte dein Wunsch für uns nicht existiert.“
10120 „So aber, da es sich nur um Chancen des Gelingens oder Mißlingens
10121 handelt, dürfen wir auch nicht vergessen, daß mit der größeren
10122 Wahrscheinlichkeit unsre Reise das Verständnis zwischen den
10123 Planeten fördern wird. Wenn es uns gelingt, Torm zu retten, wenn er
10124 durch die Nume hierhergebracht wird, so haben wir das Zutrauen der
10125 Menschen und ihren Glauben an uns in viel höherem Grad gewonnen,
10126 als sie selbst durch mein Fernsein verloren werden könnten. Ich
10127 glaube also, daß wir im Interesse der Planeten selbst wirken, wenn
10128 wir Torm suchen. Dieser Grund ist mir allerdings erst jetzt
10129 eingefallen.“
10131 Ill lächelte wieder. „Er würde auch gelten, wenn Frau Torm uns
10132 nicht begleitete. Wir gewinnen aber durch sie eine Zeugin, die uns
10133 von Nutzen sein kann. Doch gleichviel. So will ich denn einen
10134 Vorschlag machen, das Äußerste, was ich zugeben kann. Ich beurlaube
10135 dich von der Begleitung nach Rom, Paris und London. Dagegen kürze
10136 ich unsern Aufenthalt in Europa ab und komme von Petersburg aus
10137 nicht erst hierher zurück, sondern gehe sogleich von dort nach
10138 Norden. Wollt Ihr also mit, so müßt ihr – wir haben heute, nach
10139 eurer Zeitrechnung –?“
10141 „Den 9. September.“
10143 „Nun gut. So haltet euch bereit, im Laufe des 11. Septembers mit
10144 uns aufzubrechen.“
10146 Ell sprang in die Höhe. Er dankte Ill und sagte freudig zu Isma:
10147 „Wir dürfen mit. Aber wir müssen übermorgen reisefertig sein.“ Und
10148 mit ernsterem Ausdruck setzte er hinzu: „Wollen Sie nicht lieber
10149 von Ihrem Vorhaben abstehen? Sie können gewiß sein, daß die Nume
10150 alles tun werden, um Hugo aufzufinden. Bleiben Sie hier, Isma!“
10152 Isma stand einen Augenblick unschlüssig. Sie sah sich in der Kajüte
10153 des Luftschiffes um, in welcher sie saßen.
10155 Ill drückte auf einen Griff. Auf beiden Seiten der Kajüte öffnete
10156 sich je eine Tür.
10158 „Hier sind noch zwei Kabinen, je für einen Gast“, sagte er. „Sie
10159 werden es etwas eng, aber sonst ganz bequem haben. Es versteht sich
10160 von selbst, daß ihr meine Gäste seid“, setzte er zu Ell gewendet
10161 hinzu.
10163 Isma verstand nicht seine Worte, aber seine Handbewegung. Sie
10164 streckte Ill schüchtern ihre Hand entgegen, die er zwischen die
10165 seinigen nahm.
10167 „Ich danke Ihnen“, sagte sie, „von ganzem Herzen.“ Dann wandte sie
10168 sich zu Ell. Sie sah ihn mit einem Blick an, dem er nicht
10169 widerstehen konnte.
10171 „O zürnen Sie mir nicht, mein lieber, treuer Freund. Ich werde es
10172 Ihnen nie vergessen, was Sie heute für mich taten. Ich kann nicht
10173 hierbleiben, ich will hinaus. Und wenn Sie mitgehen, so danke ich
10174 ihnen, denn unter diesen Fremden allein – es ist mir alles so
10175 beängstigend – und keiner versteht mich – aber mit Ihnen – o Ell,
10176 ich weiß, welches Opfer Sie mir bringen, und ich habe es nicht um
10177 Sie verdient.“
10179 Mit Tränen in den Augen reichte sie ihm die Hände.
10181 „Also übermorgen.“
10183 „Noch eins“, sagte Ill, „eine Bedingung, die ich machen muß. Unsere
10184 Nachforschungen werden am 12. September beginnen. Sie müssen aber
10185 am 20. unter allen Umständen aufhören. Sind wir bis dahin nicht
10186 glücklich gewesen, so müssen Sie es tragen. Am Morgen des 21.
10187 September setzt Sie dieses Schiff wieder hier ab. Und so Gott will,
10188 schon früher und – zu dreien.“
10190 Ell übersetzte Isma die Worte.
10192 „Gott sei uns gnädig!“ sagte sie leise.
10194 „Und wie ist es mit der Reise nach den Hauptstädten?“ fragte Ell.
10196 „Die mache ich morgen. Ich habe es mir nach deinen Karten und
10197 Angaben schon berechnet. Die ganze Fahrt von hier nach Rom, über
10198 Paris nach London und von dort zurück könnten wir in kaum fünf
10199 Stunden zurücklegen. Wir werden uns aber viel mehr Zeit nehmen. Nur
10200 hier breche ich ungesehen auf, vor Sonnenaufgang. Denn da wir
10201 wieder hierher zurückkommen, würde ich dir und uns die ganze
10202 Bevölkerung auf den Hals ziehen und vielleicht ernstliche
10203 Schwierigkeiten haben, wenn man von unserm Hiersein wüßte. Dagegen
10204 werden wir unsere Fahrt, wenn wir erst jenseits der Alpen sind, und
10205 dann in Frankreich und England, zum Teil absichtlich langsam und
10206 möglichst vor aller Augen ausführen. Die Menschen sollen sehen, was
10207 wir können, sie werden dann Grunthe eher glauben. Auf irgendeinem
10208 unzugänglichen Alpengipfel werden wir einige Stunden ungestört
10209 Mittagsruhe halten. Paris, London, Amsterdam, Brüssel besuchen wir
10210 im Lauf des Nachmittags und Abends. Sobald es dunkel genug ist,
10211 landen wir wieder hier. Und nun besorge deine Geschäfte und bereite
10212 alles vor.“
10214 Ell führte Isma aus dem Schiff. Sie zitterte an seinem Arm.
10216 „Sie muten sich zuviel zu, liebste Freundin.“
10218 „Nein, nein“, sagte sie. „Ich weiß, was ich kann. Es ist nur die
10219 ungewohnte geringe Schwere in dem Schiff – aber ich werde mich
10220 daran gewöhnen. Es ist schon wieder besser in der freien Luft.“
10222 „Ill wird es gewiß arrangieren können, daß Sie nicht immer in der
10223 Marsschwere zu sein brauchen.“
10225 „Das ist ja alles gleichgültig. Nun will ich nur schnell nach
10226 Hause. Sie können sich denken, daß ich viel zu tun habe“, sagte sie
10227 mit schwachem Lächeln.
10229 „Warten Sie, ich will einen Wagen holen lassen.“
10231 „Das dauert zu lange. Können Sie mich nicht hier aus dem
10232 Parkpförtchen lassen? Dann spare ich Weg.“
10234 „Gewiß, ich habe den Schlüssel hier.“
10236 Ell öffnete die kleine Tür in der Mauer. Sie führte auf einen
10237 Promenadenweg, der von den Friedauern vielfach benutzt wurde, da er
10238 zu einem beliebten Spazierort führte. Es war inzwischen neun Uhr
10239 geworden.
10241 Isma zog den Schleier vor das Gesicht. Noch ein herzlicher
10242 Händedruck, und sie schritt schnell den Weg nach der Stadt hinab.
10244 Zwei Herren begegneten ihr, die sie scharf ansahen und sich dann
10245 etwas zuflüsterten.
10247 Ell war noch einen Augenblick stehen geblieben und hatte ihr
10248 nachgeblickt. Als er in die Tür zurücktreten wollte, waren die
10249 beiden Spaziergänger herangekommen.
10251 „Ach, guten Morgen, Herr Doktor“, sagte der eine mit näselnder
10252 Stimme. „Was macht der Nordpol?“
10254 „Schon so früh interessanten Besuch gehabt? Wie?“ sagte der andere.
10255 „Wohl sehr besorgt um den Herrn Gemahl?“
10257 Ell sah den Sprecher von oben bis unten an und drehte ihm, ohne ein
10258 Wort zu sagen, den Rücken. Vor dem Blick Ells wich er erschrocken
10259 zurück, und aus Ärger über seine eigene Verlegenheit rief er Ell
10260 protzig nach:
10262 „Na, na, man wird doch wohl fragen dürfen?“
10264 Ell drehte sich um. „Nein, Herr von Schnabel, was einen nichts
10265 angeht, wird man nicht fragen dürfen. Adieu.“
10267 „Ich bitte doch, soll das vielleicht eine Zurechtweisung sein? Dann
10268 möchte ich allerdings noch um eine Aufklärung bitten.“
10270 „Tun Sie, was Sie wollen“, sagte Ell. „Ich habe keine Zeit.“ Er
10271 schloß die Tür hinter sich und ging zu Grunthe zurück.
10273 \section{24 - Die Lichtdepesche}
10275 Sobald die Redaktion der ersten Berichte beendet war, begab sich
10276 Grunthe nach dem Ministerium, um seine Anwesenheit in Friedau und
10277 die vorgelegten Dokumente beglaubigen zu lassen. Von dort trug er
10278 die Depeschen sogleich nach dem Telegraphenamt. Die Beamten hatten
10279 ihn verwundert angestarrt. Einige Friedauer erkannten ihn unterwegs
10280 und versuchten, ihn auszuforschen. Aber auf alle Fragen hüllte er
10281 sich in Schweigen, und so gelang es ihm, noch ziemlich ohne
10282 Aufsehen nach der Sternwarte zurückzugelangen, während sich in der
10283 Stadt bereits das Gerücht von der Rückkehr der Expedition und
10284 wunderbare Fabeln von den Bewohnern des Mars verbreiteten.
10286 Noch ehe Grunthe zurückkehrte, erhielt Ell den Besuch eines ihm
10287 befreundeten Oberlehrers des Friedauer Gymnasiums, Dr. Wagner. Der
10288 elegant gekleidete Herr trat mit einem etwas gezwungenen Lächeln
10289 ein und sagte, nach der ersten Begrüßung verlegen sein
10290 Schnurrbärtchen drehend: „Ich habe da einen etwas fatalen Auftrag,
10291 den ich aber nicht ablehnen konnte. Weil wir uns ja kennen, dachte
10292 ich, ich könnte die Sache am besten beilegen. Weißt du, du hast da
10293 heute früh mit dem Herrn von Schnabel –“
10295 Ell machte eine abwehrende Bewegung.
10297 „Na ja“, sagte Wagner, „es ist ein nicht sehr angenehmer Herr, hä,
10298 außerdem so etwas“ – er klopfte mit dem Finger an die Stirn –
10299 „seinerseits taktlos und dabei furchtbar empfindlich. Du hast ihn
10300 ja wahrscheinlich ganz mit Recht abfallen lassen, aber er fühlt
10301 sich von dir brüskiert, und ich soll da eine Art von Erklärung
10302 fordern.“
10304 „Mit dem größten Vergnügen“, erwiderte Ell lächelnd, „ich habe ihm
10305 verwiesen, naseweise Bemerkungen zu machen über Dinge, die ihn
10306 nichts angehen. Ich habe ihn vielleicht etwas schroff behandelt,
10307 aber einerseits hat er es verdient, andrerseits hatte ich den Kopf
10308 wirklich mit wichtigeren Dingen voll, als sie die Neugier von Herrn
10309 Schnabel erregen. Wenn es ihn tröstet, so sage ihm, daß mir nichts
10310 ferner gelegen hat als ihn beleidigen zu wollen.“
10312 „Hm – ich weiß nicht, ob ihm das genügen wird, er verlangt, daß du
10313 deine Äußerungen formell zurücknimmst.“
10315 „Ich habe nichts zurückzunehmen, da ich nur die Wahrheit gesagt
10316 habe, er muß sich also schon an der Erklärung genügen lassen, daß
10317 ich ihn nicht beleidigen wollte. Eine Unhöflichkeit ist noch keine
10318 Beleidigung. Wenn er sich aber seiner Fragen wegen entschuldigen
10319 will, so bin ich auch bereit, wegen der unhöflichen Form meiner
10320 Antwort um Entschuldigung zu bitten. Ich dächte, die Angelegenheit
10321 wäre erledigt.“
10323 „Ich fürchte“, sagte Wagner verlegen, indem er aufstand, „es werden
10324 sich da wohl noch weitere Folgen daran knüpfen. Ich kenne ja deine
10325 Ansichten über dergleichen Affären, ich bin auch ganz deiner
10326 Meinung, aber, hä, in meiner Stellung, ich muß da Rücksichten
10327 nehmen, weißt du, du wirst mir’s also zugutehalten – ich wollte nur
10328 vermitteln und werde ihm zureden. Wenn es nur nützt! Er wird dir
10329 wohl da noch einen Kartellträger schicken.“
10331 „Er soll sich nur die Mühe sparen, ich würde den Herrn an die Luft
10332 setzen. Aber ich danke dir für deine Bemühung. Also, wie gesagt,
10333 erkläre ihm in aller Form, daß mir jede Absicht einer Beleidigung
10334 ferngelegen hat, daß ich mir aber das Recht vorbehalten müßte, mir
10335 unberufene Fragen zu verbitten, und er sich in bezug hierauf
10336 zunächst selbst zu entschuldigen hätte. Und nun entschuldige du
10337 auch mich, alter Freund, du wirst heute noch merkwürdige Dinge von
10338 mir hören.“
10340 Wagner wollte weiter fragen, aber Ell verabschiedete sich
10341 freundschaftlich, und Wagner ging kopfschüttelnd ab.
10343 Schon eine Stunde später – Grunthe war eben zurückgekommen, und Ell
10344 wollte sich mit ihm zu Tisch setzen – Ill hatte die Einladung
10345 abgelehnt, er wollte ruhen –, erschien der Kartellträger des Herrn
10346 von Schnabel und überbrachte Ell eine Forderung.
10348 Der Herr, ein junger Assessor, hatte sich seines Auftrages kaum in
10349 feierlichster Weise erledigt, als Ell ihm mit blitzenden Augen
10350 entgegentrat und ihn anfuhr:
10352 „Wie können Sie sich unterstehen“, rief er, „mich durch eine
10353 derartige Zumutung zu beleidigen? Wofür halten Sie mich? Bin ich
10354 ein rauflustiger Bruder Studio oder ein pflichtvergessener Narr?
10355 Ich bin ein Mann, der seine Arbeitskraft ernsten Dingen schuldet.
10356 Übrigens bedauere ich Sie“, sagte er milder, „Sie haben sich
10357 jedenfalls nicht klargemacht, was Sie tun. Ich wünsche von der
10358 Sache nichts mehr zu hören.“
10360 Der Assessor wollte auffahren, aber auf eine Handbewegung Ells
10361 machte er kehrt und verließ das Zimmer.
10363 Ell setzte sich mit Grunthe zu Tisch.
10365 „Das wird auch Zeit“, sagte er, noch etwas erregt von dem letzten
10366 Auftritt, während er seine Serviette entfaltete, „daß mit diesem
10367 Unfug einmal aufgeräumt wird. Das ist so einer von den Punkten, in
10368 denen die Martier keinen Spaß verstehen. Ich will hoffen, daß es
10369 nicht zu Konflikten kommt.“
10373 Im Lauf des Nachmittags wurden von allen Zeitungen, nicht bloß in
10374 Deutschland, sondern in ganz Europa, Extrablätter ausgegeben.
10376 „Neues vom Nordpol!“ – „Die Bewohner des Mars auf der Erde!“ – „In
10377 sechs Stunden vom Nordpol!“
10379 So und ähnlich lauteten die Ausrufe auf den Straßen. Man riß sich
10380 die Blätter aus der Hand. Vom Erlös für dieselben hätte man allein
10381 eine neue Nordpolexpedition ausrüsten können.
10383 Die Blätter enthielten zuerst die Depesche Torms an Isma. Sodann
10384 folgten ein knapper Bericht Grunthes über die weiteren Erlebnisse
10385 der Expedition und kurze Angaben über die Martier und seine
10386 Heimkehr. Endlich eine Bestätigung der letzteren durch Ell und die
10387 Beglaubigung seitens des fürstlichen Staatsministeriums in
10388 Friedau, daß Grunthe die im Bericht erwähnten Dokumente und
10389 Effekten persönlich vorgelegt habe.
10391 Nur eines war mit Stillschweigen übergangen, nämlich daß sich das
10392 Luftschiff noch in Friedau befinde. Dagegen war die Abstammung Ells
10393 kurz erwähnt worden, weil sie dazu dienen konnte, das
10394 Unbegreifliche einigermaßen der menschlichen Vorstellungskraft
10395 näherzurücken.
10397 Ein ausführlicher schriftlicher Bericht war noch vormittags an den
10398 Reichskanzler abgegangen. Am Abend schon traf eine telegraphische
10399 Depesche ein, durch welche Grunthe und Ell ersucht wurden, sich
10400 sobald als möglich mit allen Beweisstücken persönlich in Berlin
10401 einzustellen. Se. Majestät habe sofortigen Bericht eingefordert.
10402 Eine Stunde später erhielt Grunthe ein Glückwunsch-Telegramm des
10403 Kaisers, ebenso Frau Torm eine in sehr liebenswürdiger Form
10404 ausgesprochene Beileidsbezeugung, in welcher das Vertrauen auf die
10405 glückliche Heimkehr ihres Gatten ausgedrückt war.
10407 Von dem Augenblick an, in welchem die Extrablätter ausgegeben
10408 wurden, war die Sternwarte Ells von Besuchern bestürmt. Das
10409 Läutwerk des Telephons kam so wenig zur Ruhe wie die Türklingel,
10410 und bald häuften sich Telegramm auf Telegramm, Glückwünsche und
10411 Anfragen. Da dies vorauszusehen war, hatte Ell einige seiner
10412 persönlichen Freunde in Friedau gebeten, ihn zu unterstützen. Sie
10413 ordneten die Eingänge der Depeschen und empfingen die Besuche. Ell
10414 und Grunthe ließen sich nicht sehen. Beide trafen die
10415 Vorbereitungen zu ihren Reisen. Grunthe mußte allein nach Berlin
10416 gehen, was ihm nicht sehr angenehm war. Ell gab ihm die
10417 fertiggestellten Manuskripte mit. Ein Berliner Verleger hatte ihm
10418 bereits telegraphisch einen hohen Preis geboten für alles, was er
10419 über die Martier schreiben wolle. Ell verlangte das Zehnfache und
10420 erhielt es sofort zugestanden, da der Verleger wußte, daß man von
10421 London aus das Zwanzigfache geben würde. Ell bestimmte das Honorar
10422 für die Teilnehmer der Expedition.
10424 Isma hatte auf Ells Rat ihre Besorgungen sogleich am Vormittag
10425 gemacht, soweit sie dazu in die Stadt gehen mußte. Denn es ließ
10426 sich erwarten, daß sie keine Ruhe mehr finden würde, sobald die
10427 Nachricht bekannt geworden sei. Sie fühlte sich zu angegriffen, um
10428 die sich drängenden Besuche anzunehmen, fand aber ebenfalls einige
10429 Freundinnen, die ihr diese Mühe abnahmen und sich ein Vergnügen
10430 daraus machten, ihr spezielles Wissen immer wieder aufs neue
10431 mitzuteilen. Von ihrer Absicht, zu verreisen, sagte sie nichts. Nur
10432 ihrem Mädchen teilte sie mit, daß sie in den nächsten Tagen auf
10433 etwa eine Woche von Friedau fortgehen würde; sie konnte ihr
10434 vertrauensvoll die Wohnung überlassen.
10436 Am folgenden Tag reiste Grunthe frühzeitig, bald nachdem sich das
10437 Luftschiff der Martier unbemerkt entfernt hatte, nach Berlin ab.
10438 Die Flut der Anfragen bei Ell nahm noch zu. Es kamen jetzt auch
10439 auswärtige Besucher, und nicht alle durfte er abweisen. Vor dem
10440 Gittertor der Sternwarte stand den ganzen Tag über eine Menge
10441 Neugieriger und guckte in den Hof, als ob dort etwas zu sehen wäre.
10442 Gegen Abend verließ Ell durch die Parkpforte sein Grundstück und
10443 begab sich zu Isma, um sie zu fragen, ob er ihr noch irgendwie
10444 behilflich sein könne. Isma dankte.
10446 „Es ist ja nur eine kurze Reise“, sagte sie wehmütig lächelnd.
10448 Man verabredete, daß sie am andern Morgen frühzeitig an der
10449 Parkpforte sein solle. Ihren kleinen Handkoffer konnte das
10450 Dienstmädchen tragen.
10452 Auf dem Rückweg besorgte Ell noch einigen Proviant, den er auf
10453 Grunthes Rat mitnehmen wollte, weil die Lebensmittel der Martier
10454 für den Anfang vielleicht Isma und ihm nicht zusagen würden. Er
10455 nahm daher seinen Weg durch die Stadt. Hier aber heftete sich bald
10456 die Straßenjugend neugierig an seine Fersen und folgte ihm auf
10457 jedem Schritt. Anfänglich hielten die Kinder sich scheu zurück,
10458 dann brachte ein Witzbold das Wort auf: „Das ist der vom Monde, der
10459 Mann vom Monde! Guck här, ’s kummt eener vom Monde!“ Ell beeilte
10460 sich, nach Hause zu gelangen. Er nahm sich nicht Zeit, eines der
10461 Extrablätter zu kaufen, zu denen sich das ›Friedauer
10462 Intelligenzblatt‹ in Ermangelung einer Abendausgabe aufgerafft
10463 hatte.
10465 Das Extrablatt brachte bereits einen Bericht über den Empfang
10466 Grunthes beim Reichskanzler, der indessen offenbar der Phantasie
10467 eines Berliner Korrespondenten entsprungen war. Dann aber enthielt
10468 es Depeschen aus Rom, Florenz, von der meteorologischen Station des
10469 Montblanc, aus Paris und London über die Beobachtung eines
10470 Luftschiffs. Das Luftschiff war zuerst in Rom wahrgenommen worden,
10471 wo es am Morgen schon um sieben Uhr auftauchte, die Stadt umkreiste
10472 und nach allen Richtungen hin überflog. Es entfernte sich nach
10473 einer Stunde, wurde im Laufe des Vormittags noch in verschiedenen
10474 italienischen Städten gesehen, um 11 Uhr umflog es in unmittelbarer
10475 Nähe die Spitze des Montblanc, so daß die anwesenden Touristen die
10476 Bemannung des Fahrzeugs erkennen konnten. In Paris und London waren
10477 diese Nachrichten schon durch Extrablätter bekanntgegeben, man
10478 achtete also am Nachmittag gespannt darauf, ob sich das Schiff
10479 zeigen würde. Alsbald verbreitete sich in Paris das Gerücht, das
10480 Luftschiff sei eine Erfindung der Preußen und speziell dazu
10481 bestimmt, die Befestigungen von Paris auszukundschaften. In der Tat
10482 erschien das Luftschiff um 3 Uhr nachmittags am Horizont und
10483 umkreiste in langsamem Segelflug die Forts im Südosten der Stadt.
10484 Man wurde unruhig und löste einen Warnungsschuß. Darauf stieg das
10485 Schiff etwas höher und umflog nun den ganzen Kreis von
10486 Befestigungen, aber auf der inneren Seite nach der Stadt zu, so daß
10487 man ihm nichts anhaben konnte, ohne die Stadt selbst zu gefährden.
10488 Um fünf Uhr schoß es in die Höhe und erschien eine halbe Stunde
10489 später in London. Es überschritt die Themse bei Greenwich, zog dann
10490 in einem weiten Halbkreis nördlich um die Stadt, wandte sich am
10491 Hyde Park wieder nach Osten und kreuzte über dem Häusermeer. Auf
10492 allen freien Plätzen standen dichtgedrängte Volksmassen, welche mit
10493 Tüchern winkten und Hurra schrien. Böllerschüsse wurden gelöst, und
10494 die Schiffe auf dem Fluß hißten ihre Flaggen. Das Luftschiff aber
10495 kümmerte sich um nichts. Sobald die Sonne sich zum Untergang
10496 neigte, zog es die Flügel ein und stieg senkrecht so hoch in die
10497 Lüfte, daß es den Blicken entschwand, und man nicht angeben konnte,
10498 wohin es sich gewendet hatte.
10500 Um zehn Uhr abends senkte sich eine dunkle Masse langsam auf den
10501 Garten der Sternwarte von Friedau.
10503 Es war zwischen zwei und drei Uhr nachts, als Ell davon erwachte,
10504 daß die Sonne hell in sein nach Norden gelegenes Schlafzimmer
10505 hineinschien. Verwirrt richtete er sich auf, aber ehe er bis an das
10506 Fenster gelangte, war die Erscheinung verschwunden. Die Nacht war
10507 nur vom matten Schimmer des aufgehenden Mondes erhellt. Plötzlich
10508 aber leuchtete ein beschränkter Bezirk der Landschaft wieder im
10509 Sonnenlicht, und diese erhellte Stelle veränderte ihren Ort, in
10510 gerader Linie von Norden nach Süden laufend, bis sie den Garten der
10511 Sternwarte, jetzt etwas westlich vom Haus, wieder erreichte. Da die
10512 Richtung des in der Luft deutlich erkennbaren Lichtstreifens unter
10513 einer Neigung von etwa 24 Grad direkt nach Norden lief, so war es
10514 Ell sofort klar, daß man die Gegend von der Ringstation der Martier
10515 aus mit einem riesigen Reflektor systematisch absuchte. Denn dieser
10516 Punkt lag für die Friedauer Warte in einer Höhe von 23 Grad 56
10517 Minuten. Ell kleidete sich daher schleunigst an und begab sich nach
10518 dem Garten, wo das Luftschiff lag.
10520 Er bemerkte, daß das Schiff seine Lage verändert hatte. Es befand
10521 sich jetzt auf der Südseite des geräumigen Rasenplatzes, so daß der
10522 Blick nach Norden über die Bäume freier wurde und die Spitzen
10523 derselben tiefer als 24 Grad lagen. Als er auf den Platz trat, war
10524 das Schiff und die südliche Baumwand so stark von der Sonne
10525 beleuchtet, daß er geblendet wurde. Aber noch hatte er das Schiff
10526 nicht erreicht, als das Licht verschwand. Sein Weg wurde jetzt nur
10527 durch den schwachen Schein einer Lampe aus dem Innern des Fahrzeugs
10528 erhellt.
10530 Ill war damit beschäftigt, einen Ell unbekannten Apparat
10531 einzustellen. Ein Offizier des Schiffes war ihm dabei behilflich.
10533 „Entschuldige, wenn ich störe“, sagte Ell, „aber ich glaubte
10534 bemerkt zu haben, daß man Zeichen von der Außenstation gibt.“
10536 „Es ist so“, sagte Ill, „und sie haben uns jetzt gefunden. Es muß
10537 etwas Wichtiges passiert sein. Nimm Platz und gedulde dich ein
10538 wenig. Wir werden sogleich die Unterhaltung beginnen können. Die
10539 Verbindung ist bereits optisch hergestellt, wir müssen jetzt
10540 langwellige unsichtbare Strahlen anwenden, um telephonieren zu
10541 können.“
10543 Ell fragte erstaunt: „Telephonieren? Du willst mit der Station
10544 sprechen?“
10546 „Ja“, sagte Ill, „vermittels der Strahlen. Aber es muß nun
10547 vollständige Ruhe herrschen.“
10549 Ell setzte sich still in den Hintergrund. Eine Hoffnung stieg in
10550 ihm auf. Sollte man vielleicht Torm gefunden haben?
10552 Ill brachte sein Ohr an den Apparat. Ell vermochte nichts zu hören,
10553 auch was Ill sprach, konnte er nicht vernehmen, da es ganz leise in
10554 den telephonischen Apparat gesprochen wurde.
10556 Etwa eine halbe Stunde mochte so vergangen sein. Dann wendete sich
10557 Ill zu seinem Neffen.
10559 „Wir müssen unsern Aufbruch aufs möglichste beschleunigen“, sagte
10560 er. „Meine Anwesenheit auf der Insel ist dringend erforderlich,
10561 voraussichtlich unsere Hilfe.“
10563 „Was ist geschehen? Keine Nachricht von Torm?“
10565 „Bis jetzt nicht. Ich sagte dir bereits, daß wir noch ein kleineres
10566 Luftboot in Betrieb setzen wollten. Das ist geschehen. Es bedarf
10567 nur vier Mann zur Besatzung, kann aber auch nur die halbe
10568 Geschwindigkeit im Mittel erreichen wie hier unser Luftschiff. Für
10569 die Fahrten im Polargebiet hat es sich jedoch, wie ich eben
10570 erfahre, als sehr geeignet erwiesen. Die Unsern sind damit in drei
10571 Stunden bis zum 80. Breitengrad nach Süden gelangt. Mit diesem Boot
10572 sind die Nachforschungen nach Torm aufgenommen worden. Und bei
10573 dieser Gelegenheit ist es zu dem unangenehmen Zwischenfall
10574 gekommen, der meine sofortige Rückkehr erfordert.“
10576 „Ein Unglücksfall?“
10578 „Ein Konflikt mit einem europäischen Kriegsschiff.“
10580 „Nicht möglich! Wo?“
10582 „Auf 81 Grad Breite, 294 Grad Länge ungefähr. Infolge eines
10583 Mißverständnisses jedenfalls – ich sehe darin noch nicht ganz klar
10584 – sind unsre Leute am festen Land, während sie verunglückten
10585 Matrosen des Kriegsschiffs Hilfe zu bringen versuchten, von anderen
10586 überfallen worden. Zwei gerieten in Gefangenschaft der Menschen,
10587 die beiden anderen konnten auf dem Luftboot entfliehen. Das Boot
10588 selbst ist beschossen worden und scheint dabei gelitten zu haben.
10589 Ich muß also mit unserm Schiff hin, um auf jeden Fall die beiden
10590 Leute zurückzuholen. Und so bleibt gar nichts übrig, du mußt dich
10591 sogleich aufmachen und versuchen, Frau Torm zu wecken und
10592 hierherzubringen, wenn sie dabei beharrt, uns zu begleiten. Größte
10593 Eile tut not. Wir machen inzwischen unser Schiff klar.“
10595 Es war für Ell eine recht peinliche Aufgabe, mitten in der Nacht
10596 und möglichst ohne Aufsehen zu erregen Isma zur Reise nach dem
10597 Nordpol abzuholen. Doch es mußte geschehen. Schließlich kam es
10598 jetzt schon nicht mehr darauf an, ob sich die bösen Zungen von
10599 Friedau noch etwas mehr aufregten.
10601 Isma, die in dieser Zeit stets gefaßt war, durch eine Nachricht aus
10602 dem Schlaf geweckt zu werden, eilte ans Fenster, als Ell die
10603 Hausklingel ertönen ließ. Sie erkannte Ell. Wenige Worte genügten
10604 zur Verständigung. Eine halbe Stunde später verließ sie das Haus,
10605 ohne daß ihr Mädchen, das auf der andern Seite der Wohnung schlief,
10606 erwacht wäre. Ein paar Worte, die Isma auf einem Zettel zurückließ,
10607 besagten nur, daß sie ihre Reise unerwartet schnell hätte antreten
10608 müssen. Aus der Dunkelheit tauchte Ell neben ihr auf und nahm ihr
10609 den Handkoffer ab. Ein verschlafener Nachtwächter sah ihnen
10610 verwundert nach.
10612 In tiefer Ruhe, wie ausgestorben lag die Stadt Friedau, als im
10613 ersten Grauen der Morgendämmerung das Luftschiff der Martier sich
10614 erhob, um alsbald mit der größten Anspannung seiner Maschine sich
10615 durch die Höhen des Luftmeers nach Norden zu schnellen.
10617 \section{25 - Engländer und Martier}
10619 Das englische Kanonenboot ›Prevention‹ hatte den Auftrag, die im
10620 Interesse der Polarforschung angelegten Depots im Smith-Sund und
10621 weiter nach Norden, soweit es die Eisverhältnisse ohne Gefährdung
10622 des Schiffes gestatteten, zu revidieren und zu vermehren. Kapitän
10623 Keswick traf die Lage sehr günstig. Die Kane-Bai war in ihrer Mitte
10624 völlig eisfrei, sie wurde in rascher Fahrt passiert, die
10625 ›Prevention‹ dampfte in den Kennedy-Kanal hinein und drang ohne
10626 Schwierigkeiten bis über 80,7 Grad Breite vor; hier legte sie sich
10627 an einer günstigen Stelle vor Anker und schickte ein Boot zur
10628 Aufsuchung eines passenden Ortes aus, um an dem felsigen Ufer eine
10629 Niederlage von 3.600 Rationen zu errichten. Man fand in einer
10630 kleinen Bucht eine natürliche Felsenhöhle, in welcher die Vorräte
10631 sicher geborgen werden konnten. Während die Bemannung des Bootes
10632 zum größten Teile mit dieser Arbeit beschäftigt war, erstieg
10633 Leutnant Prim mit zwei Matrosen den Hügel über der Höhle, um dort
10634 als Signal einen Cairn zu errichten. Die Spitze des Hügels sah auf
10635 eine breite, teilweise mit Eis bedeckte Ebene, so daß der Cairn auf
10636 weithin, sowohl vom Land als vom Wasser aus, zu sehen sein mußte.
10637 Denn dieser zu errichtende ›Steinmann‹ sollte dazu dienen, in
10638 seinem Innern die Dokumente aufzunehmen, welche die Lage der in der
10639 Umgegend niedergelegten Depots bezeichneten, er mußte daher einen
10640 Platz erhalten, wo er für etwa hierher vordringende Reisende auf
10641 weithin wahrgenommen werden konnte. Der Steinmann war soweit
10642 fertig, daß der Offizier die Blechbüchse mit den Papieren darin
10643 deponieren konnte, und die Matrosen waren damit beschäftigt, den
10644 Bau zu schließen und noch mehr zu erhöhen. Als Leutnant Prim
10645 inzwischen auf dem Hügel herumkletterte, bemerkte er in der Ferne
10646 einige dunkle Punkte, die er alsbald als weidende Moschusochsen
10647 erkannte. Sie zogen nach Süden und näherten sich langsam seinem
10648 Standpunkt. Alsbald war die Jagdlust in ihm erwacht, er ergriff
10649 eines der mitgebrachten Gewehre und bedeutete seine Leute, ihre
10650 Arbeit zu vollenden und ihm dann nachzukommen. Er hoffte rasch
10651 einen guten Schuß tun zu können. Bald war er hinter einigen
10652 Felsvorsprüngen verschwunden.
10654 Die Matrosen schlenderten ebenfalls in der Umgebung umher, um noch
10655 einige große Steine aufzusuchen, als sie im Norden, rechts von der
10656 Seite, wohin der Offizier, nur die Moschusochsen im Auge haltend,
10657 gegangen war, einen dunklen Punkt über dem Horizont auftauchen
10658 sahen. Derselbe nahm schnell an Größe zu und erwies sich zu ihrem
10659 nicht geringen Erstaunen als ein riesiger Vogel, der seinen Flug
10660 mit großer Geschwindigkeit direkt auf sie zu nahm. Eine Weile
10661 standen sie still und starrten auf die merkwürdige Erscheinung.
10662 Dann liefen sie nach dem Cairn zurück, um ihre Gewehre zu holen. Da
10663 sich das rätselhafte Tier bereits stark genähert hatte, ergriff sie
10664 Furcht, und sie zogen es vor, so schnell wie möglich den Hügel
10665 hinabzulaufen, um Zuflucht bei ihren Gefährten zu finden. Zwischen
10666 den Felstrümmern, von Zeit zu Zeit nach dem Ungeheuer sich
10667 umblickend, das sich jetzt in weitem Bogen nach dem Steinmann hin
10668 zu senken schien, verfehlten sie jedoch die Richtung und kamen an
10669 eine mit Eis gefüllte, steil abfallende Schlucht. Plötzlich stieß
10670 der Vorangehende einen Schrei aus. Er hatte auf dem steilen Abhang
10671 einen Fehltritt getan und stürzte, auf die Felsvorsprünge
10672 aufschlagend, in die Schlucht. Sein Gefährte blickte ihm mit
10673 Entsetzen nach und wollte den Versuch machen, zu ihm
10674 hinabzuklettern. Mit den Händen sich anklammernd, ließ er sich eben
10675 auf einen tiefer liegenden Felsen nieder, als plötzlich über ihm
10676 der glänzende Leib des Riesenvogels mit eingezogenen Flügeln
10677 erschien. Er bebte in abergläubischer Furcht, seine Glieder
10678 zitterten, er vermochte sich nicht länger zu halten und stürzte
10679 ebenfalls in die Tiefe.
10681 Kaum hatten die vier Martier in dem vom Pol herkommenden Luftboot,
10682 das die Matrosen für ein Luftungeheuer gehalten hatten, das Unglück
10683 erkannt, das sie durch ihr Erscheinen unschuldigerweise angerichtet
10684 hatten, als sie das Luftboot langsam und vorsichtig sich in die
10685 Schlucht hinabsenken ließen. Bald hatten sie die Körper der
10686 Unglücklichen erreicht. Blutüberströmt lagen sie vor ihnen.
10687 Obgleich keine Hoffnung war, die Menschen ins Leben zurückzurufen,
10688 wollten sie doch ihre Leichen nicht in der Schlucht liegen lassen.
10689 Da es unzweckmäßig war, sie in das Boot hineinzunehmen, legten sie
10690 die Verunglückten in das Netz, das sich unter ihrem Boot ausspannen
10691 ließ. Dann erhoben sie sich mit ihnen und dirigierten das Boot nach
10692 der Spitze des Hügels. Sie überzeugten sich hier, daß beide
10693 Menschen tot seien. Sie legten sie am Fuße des Cairn nieder und
10694 brachten dann ihr Luftboot in eine gesicherte Lage in der Nähe.
10695 Zwei von ihnen blieben im Boot zurück, während die beiden andern
10696 noch einmal nach dem Steinmann zurückgingen, um ihn näher zu
10697 untersuchen. Die Öffnung war noch nicht vermauert, und sie
10698 entdeckten bald die Büchse mit den Dokumenten. Sie öffneten diese
10699 und musterten den ihnen unverständlichen Inhalt. Während sie
10700 hiermit beschäftigt waren, kehrte Leutnant Prim zurück. Das Boot
10701 der Martier konnte er von seinem Standpunkt aus nicht sehen, auch
10702 hatte er es vorher, nur auf das Wild und seinen Weg achtend, nicht
10703 wahr genommen. Jetzt erblickte er zwei fremde, seltsam gekleidete
10704 Männer, die sich seiner Papiere bemächtigt hatten. Und neben ihnen
10705 – entsetzt wich er zurück – lagen die beiden Matrosen, entseelt,
10706 mit blutigen, zerschmetterten Stirnen. Er konnte nicht anders
10707 glauben, als daß er ihre Mörder vor sich habe. Er riß das Gewehr in
10708 die Höhe und rief sie an.
10710 Die Martier blickten erstaunt empor. Sie deuteten auf die
10711 verunglückten Matrosen und riefen Prim zu, daß sie sie aus der
10712 Schlucht herausgebracht hätten. Er dagegen befahl ihnen, die
10713 Papiere hinzulegen und sich zu ergeben. Natürlich verstanden sie
10714 sich gegenseitig nicht. Noch einige Rufe hin und her, ohne daß die
10715 Martier Miene machten, sich zurückzuziehen, wie es Prim verlangte,
10716 da knallte sein Gewehr, und die Kugel durchbohrte die blecherne
10717 Büchse, welche der eine der Martier in der Hand hielt. Ein zweiter
10718 Schuß aus dem Repetiergewehr folgte sofort, aber der Martier hatte
10719 sich bereits beiseite geworfen, die Kugel ging fehl. Im nächsten
10720 Augenblick ließ Prim das Gewehr machtlos aus der Hand fallen. Er
10721 war nicht verwundet, aber die Hand war gelähmt, er konnte sie nicht
10722 bewegen. Der andere Martier hatte mit seinem Telelyt-Revolver die
10723 motorischen Nerven der Hand gelähmt.
10725 Inzwischen hatten die mit der Hinterlegung des Depots beschäftigten
10726 Mannschaften ihre Arbeit beendet. Die im Boot zurückgelassene Wache
10727 war auf das Erscheinen des Luftboots, das jedoch bald wieder durch
10728 die Felshöhe über ihnen verdeckt wurde, aufmerksam geworden und
10729 hatte die übrigen Seeleute verständigt. Diese machten sich sofort
10730 unter Führung eines Unteroffiziers daran, den Hügel zu ersteigen.
10731 Da ertönten die beiden Schüsse, welche ihre Schritte
10732 beschleunigten. Im Augenblick darauf rannten sie mit Geschrei auf
10733 den Gipfel des Hügels zu. Prim, der sich von seiner
10734 augenblicklichen Verwirrung erholt hatte, riß mit der linken Hand
10735 seinen Revolver aus dem Gürtel und stürzte auf die Martier zu,
10736 indem er rief: „Hierher, Leute, hier sind die Mörder! Faßt sie!“
10738 Der Martier erhob aufs neue seine Waffe – sein Begleiter war
10739 unbewaffnet –, und auch der Revolver entfiel dem Offizier – er
10740 konnte seine linke Hand ebenfalls nicht mehr bewegen. Gleichzeitig
10741 aber wurde der Martier durch einen Stoß in den Rücken
10742 niedergeworfen. Die Matrosen waren im Sturmlauf herangekommen. Im
10743 Handgemenge waren die Martier ohnmächtig. Sie wußten dies und
10744 machten daher auch keinen weiteren Versuch, sich zu wehren. Auf den
10745 Befehl des wütend gewordenen Offiziers wurden sie gefesselt, und
10746 die Matrosen trieben sie mit Fauststößen vor sich her, um sie in
10747 das Boot zu bringen.
10749 Die Schüsse und das nachfolgende Geschrei hatten die beiden im Boot
10750 zurückgebliebenen Martier aufmerksam gemacht; da sie aber nicht
10751 schnell genug über die Felsen hätten klettern können, die sie vom
10752 Schauplatz des Kampfes trennten, ließen sie das Luftboot so weit
10753 aufsteigen, daß sie beobachten konnten, was geschehen. Sobald sie
10754 ihre Kameraden gefangen sahen, versuchten sie, ihnen mit dem
10755 Luftboot zu Hilfe zu kommen. Aber kaum näherte sich dieses, als die
10756 Engländer ein Schnellfeuer eröffneten. Die Geschosse drangen in die
10757 Rob-Wände des Bootes ein, und wenn sie dieselben auch nicht
10758 durchschlugen, so lag doch die Gefahr nahe, daß sie Stellen trafen,
10759 an denen der feine Mechanismus des Steuerapparates beschädigt
10760 werden konnte. Die Martier stiegen daher mit ihrem Boot schleunigst
10761 so hoch, daß sie von den Kugeln nicht mehr gefährdet waren, und
10762 überlegten, was zu tun sei. Sie besaßen zwei Telelytgewehre, mit
10763 denen sie imstande gewesen wären, aus sicherer Entfernung die ganze
10764 Mannschaft zu vernichten oder wehrlos zu machen, um dann ihre
10765 Kameraden zu befreien. Aber da sie sowohl selbst, der Luftströmung
10766 wegen, nicht völlig ruhig liegen konnten, und auch die Gefangenen
10767 mitten zwischen den Matrosen in Bewegung waren, konnten sie aus so
10768 großer Entfernung nicht auf ein sicheres Zielen und genau
10769 berechenbare Wirkung vertrauen. Während sie zögerten, wurden ihre
10770 Kameraden in das Boot gebracht, das sich mit schnellen
10771 Ruderschlägen vom Ufer entfernte. Sie folgten ihm in der Höhe und
10772 sahen bald das Kriegsschiff in der Ferne. Als sie dieses nun in
10773 schnellem Flug erreichen und umkreisen wollten, bemerkten sie zu
10774 ihrem Schrecken, daß der Mechanismus des Steuerruders nicht mehr
10775 völlig funktionierte. Sie konnten ihr Boot nur langsam und in
10776 beschränkter Weise lenken. Unter diesen Umständen beschlossen sie,
10777 so schnell wie möglich nach der Insel am Pol zurückzukehren. Sie
10778 brauchten dazu die doppelte Zeit wie gewöhnlich. Von hier aus wurde
10779 nach der Außenstation gesprochen, von der aus es möglich war, Ill
10780 mit seinem größeren Luftschiff, das zur Verteidigung wie zum
10781 Angriff mit Repulsitgeschützen ausgerüstet war, zur Hilfe
10782 herbeizurufen.
10784 Kapitän Keswick scheitelte bedenklich den Kopf zum Bericht des
10785 Leutnants Prim, der es übrigens nicht für nötig hielt, sich über
10786 seinen mißglückten Jagdversuch näher auszulassen. Keswick konnte
10787 sich nicht recht vorstellen, wie diese beiden Männer, die sich
10788 offenbar nur mit Mühe aufrecht zu erhalten vermochten, ohne Waffen
10789 die harten Köpfe seiner Matrosen hätten zerschlagen können. Noch
10790 mehr freilich wunderte ihn die Lähmung der Hände seines Leutnants.
10791 Eine nähere Untersuchung erforderte aber vor allem, daß mit den
10792 beiden Fremdlingen ein Verhör angestellt wurde. Diese indessen
10793 sprachen kein Wort.
10795 Keswick trat zu ihnen und betrachtete sie näher. Er redete sie auf
10796 englisch und französisch an und auch in der einzigen Sprache, von
10797 der er noch etwas wußte, auf chinesisch. Sie verstanden ihn
10798 offenbar nicht. Aber sie öffneten jetzt zum erstenmal ihre bisher
10799 halb geschlossen gehaltenen Augen. Finster blickten sie auf ihre
10800 Fesseln und richteten dann ihre Augen voll auf den Kapitän. Es lag
10801 nichts Feindseliges in diesem Blick, aber ein tiefer Vorwurf und
10802 zugleich ein mächtiger Stolz. Unwillkürlich wich Keswick zurück.
10803 Auch die herumstehenden Offiziere und Matrosen fühlten sich seltsam
10804 betroffen.
10806 „Nehmen Sie den Leuten die Fesseln ab“, sagte der Kapitän. „Das ist
10807 hier nicht nötig. Und behandeln Sie sie anständig.“
10809 Sobald die Stricke entfernt waren, begann der ältere der Martier zu
10810 sprechen. Obgleich der Kapitän kein Wort verstand, machte die Rede
10811 doch den Eindruck, daß er hier etwas noch nie Vorgekommenes und
10812 Unerklärliches erfahre. Er wußte nichts zu tun, als die Achseln zu
10813 zucken.
10815 „In dieser Sache entscheide ich nicht allein“, sagte er dann zu
10816 seinem ersten Offizier. „Die Geschichte mit dem Luftschiff ist zu
10817 rätselhaft. Hätten wir nicht selbst in der Ferne so ein Ding
10818 gesehen, ich würde nichts glauben. Die Leute sehen nicht aus, als
10819 ob sie von der Erde stammten. Und verstehen kann man sie nicht. Ich
10820 nehme sie mit nach England. Wir sind überdies hier mit unserer
10821 Aufgabe fertig.“
10823 Die ›Prevention‹ machte Dampf auf und steuerte nach Süden.
10827 Mit rasender Geschwindigkeit jagte Ills Luftschiff in einer Höhe
10828 von zwölf Kilometern über das europäische Nordmeer, der Küste
10829 Grönlands entgegen. Im Osten glänzten schillernde Nebensonnen,
10830 während das Tagesgestirn selbst unterm Horizont blieb. Denn die
10831 Fahrt war nach Nordwesten gerichtet, und die aufgehende Sonne
10832 konnte das Luftschiff nicht einholen. Ein ewiger Dämmerschein
10833 erleuchtete die unter leichtem Cirrusgewölk lagernde Meeresflut,
10834 daß sie wie eine ungeheure Schale von dunklem, mit lichten Streifen
10835 durchzogenem Marmor schimmerte. Still war’s ringsum. Nur das
10836 gleichmäßige Zischen des Reaktionsapparats und das Pfeifen der
10837 durchschnittenen Luft um den zusammengepreßten Robpanzer des
10838 Schiffes ließ seine eintönige Weise vernehmen.
10840 „Luftdruck 170 Millimeter.“ Ell las die Angabe an seinem eigenen
10841 Barometer ab. Er warf einen nachdenklichen Blick auf die Wand,
10842 hinter welcher Isma schlummerte. Ill hatte dort selbst aufs
10843 umsichtigste für ihr Wohlbefinden gesorgt.
10845 „Schlafen Sie“, hatte er gesagt. „Sie müssen jetzt Ruhe haben. Wenn
10846 wir in die hohen Breiten gekommen sind, werden wir unseren Flug
10847 mäßigen und in die Nähe der Erdoberfläche hinabsteigen. Dann wollen
10848 wir Sie wecken.“
10850 In einen warmen Pelz gehüllt ruhte Isma in ihrer Hängematte. Über
10851 Mund und Nase schloß sich die weiche Maske, die mit dem Ventil des
10852 Sauerstoffapparats verbunden war, um ihr Handgelenk war ein
10853 elastischer Ring gelegt, der ihren Pulsschlag auf ein Meßinstrument
10854 übertrug. An der Außenwand ihrer Kabine, die Ell jetzt beobachtete,
10855 zeigten zwei Zifferblätter den Gang, die Frequenz und die Stärke
10856 der Atmung und des Pulses. „Vollständig normal“, sagte Ill
10857 lächelnd, der Ells Augen gefolgt war. Dann blickte er wieder auf
10858 die Orientierungsscheibe. Der Projektionsapparat, welcher auf der
10859 Unterseite des Schiffes angebracht war, bildete auf der Scheibe die
10860 überflogene Gegend ab.
10862 „Im Nordwesten taucht die Küste auf“, begann Ill wieder. „Es ist
10863 die Gegend, die auf euren Karten als ›König-Wilhelms-Land‹
10864 bezeichnet ist. Noch eine Stunde, bis das Festlandeis überflogen
10865 ist, dann wollen wir hinabsteigen. So lange laß sie nur
10866 schlummern.“
10868 „Ich denke“, sagte Ell, „daß wir das Schiff im Kennedy-Kanal oder
10869 in der Kane-Bai treffen. Ich bin nur neugierig, was es für ein
10870 Landsmann ist.“
10872 „Unser Feind, leider“, sagte Ill ernst, „wer es auch sei.“
10874 Ill war längere Zeit schwankend gewesen, ob er zuerst nach dem Pol
10875 fahren solle, um noch nähere Erkundigungen einzuziehen, oder ob er
10876 besser täte, direkt das Kriegsschiff aufzusuchen. Er entschloß sich
10877 für das Letztere. Denn jede Minute konnte kostbar sein, jede mußte
10878 die Leiden der Nume verlängern, jede konnte ihr Leben gefährden.
10879 Dazu stand die Wichtigkeit dessen, was er am Pol erfahren konnte,
10880 in keinem Verhältnis, selbst eine genauere Ortsangabe für den
10881 Schauplatz des Ereignisses hätte nichts ihm genützt. Es waren
10882 seitdem über zwölf Stunden vergangen, und das Schiff konnte
10883 inzwischen seinen Ort um hundert und mehr Kilometer verändert
10884 haben. Er durfte darauf rechnen, von seinem Luftschiff aus die
10885 Fahrstraße in jenen Gegenden verhältnismäßig schnell zu
10886 durchforschen. Schwere Bedenken erregte ihm die Frage, wie er
10887 verfahren solle, wenn man ihm die friedliche Herausgabe der Martier
10888 verweigere. Zwar besaß er die Mittel, selbst ein mächtiges
10889 Kriegsschiff zu vernichten. Aber dazu hätte er sich nie
10890 entschließen können, es sei denn, wenn er die eigene Existenz nicht
10891 anders retten konnte. Mußte er Gewalt anwenden, so sollte es nur so
10892 geschehen, daß die Menschen doch nachträglich imstande waren, mit
10893 ihrem Schiff in ihre Heimat zurückzukehren. Ob es aber möglich sein
10894 würde, bei den Menschen etwas durchzusetzen, ohne sie zuvor schwer
10895 zu schädigen, das war die Sorge, die Ill beschäftigte. Er mußte die
10896 schließliche Entscheidung den Verhältnissen überlassen, wie der
10897 Augenblick sie bieten würde.
10899 Nach einer Stunde war das ewige Eis des grönländischen Festlands
10900 überflogen. Die weiten Felder des Humboldtgletschers senkten sich
10901 zum Meer hinab. Das Luftschiff mäßigte seinen Flug und stieg
10902 abwärts, so schnell es die Rücksicht auf die Insassen gestattete,
10903 die sich an den höheren Luftdruck erst gewöhnen mußten. Jetzt war
10904 die Höhe von 1.500 Metern erreicht.
10906 Ill schob leise die Tür zu Ismas Schlafraum beiseite und entfernte
10907 die Maske von ihrem Gesicht. Sie erwachte und schaute sich erstaunt
10908 um. Er löste den Ring von ihrem Handgelenk und sagte ihr, daß sie
10909 jetzt, falls sie es wünsche, sich erheben könne. Darauf entfernte
10910 er sich und zog die Tür wieder zu.
10912 Wenige Minuten darauf trat Isma in die Kajüte. Ihre Wangen waren
10913 gerötet. Verlegen blickte sie umher.
10915 „Wo sind wir?“ fragte sie.
10917 „An der Westküste von Grönland, auf dem 80. Grad nördlicher
10918 Breite“, sagte Ell, ihr die Hand reichend. Sie ließ sich auf einen
10919 Sessel fallen und bedeckte die Augen mit den Händen. Sie schwieg
10920 lange.
10922 „Lassen Sie mich sehen“, sagte sie dann.
10924 Man trat aus der Kajüte in das Schiff. Die seitlichen Fenster waren
10925 jetzt teilweise geöffnet. Man konnte hinausblicken.
10927 Ein farbenprächtiges Nordlicht entsandte seine zuckenden Strahlen
10928 über das Firmament, während im Nordosten die Morgendämmerung ihren
10929 bleichen Schein entfaltete. Tief unten, in undeutlichen Reflexen
10930 schimmernd, erstreckten sich die zerrissenen Eismassen des
10931 Humboldtgletschers, der als eine Riesenmauer von Eis über dem Meer
10932 abbrach. Am westlichen Horizont erhob sich wie eine dunkle Wand der
10933 eisfreie Meeresspiegel der Kane-Bai.
10935 Isma stand lange in den überwältigenden Anblick versunken.
10937 „Es ist ja noch Nacht?“ sagte sie dann fragend. „Wie spät ist es
10938 denn?“
10940 „Es ist sogar, nach Ortszeit, noch eine Stunde früher, als bei
10941 unsrer Abfahrt in Friedau“, antwortete Ell, „weil wir nach Westen
10942 gefahren sind. Trotzdem sind wir vier Stunden unterwegs. In Friedau
10943 ist es jetzt etwa acht Uhr morgens.“
10945 „In Friedau!“ Isma zog den Pelz dichter um ihre Schultern. Und
10946 unter ihr die Gletscher Grönlands!
10948 Ein Schwindel drohte sie zu erfassen.
10950 „Kommen Sie in die Kajüte“, sagte Ill. „Es ist jetzt erst wenig da
10951 unten zu erkennen, aber wir steigen noch tiefer und reisen nicht
10952 weiter nach Westen. Nun wird die Sonne bald aufgehen, es wird
10953 heller und wärmer werden. Inzwischen lassen Sie uns für ihre
10954 Kräftigung sorgen. Auch in den ungewohntesten Situationen ist
10955 Frühstücken eine empfehlenswerte Handlung. Ell hat daran gedacht,
10956 daß Sie ihren Friedauer Morgenkaffee nicht zu entbehren brauchen.“
10958 Ell übersetzte getreulich die Worte des Oheims.
10960 Ein Lächeln glitt über Ismas Züge. „Sie denken an alles“, sagte
10961 sie, Ell anblickend, „und ich – was werde ich nicht alles vergessen
10962 haben! Hoffentlich hat Luise meinen Zettel gefunden.“
10964 „Etwas habe ich doch vergessen“, sagte Ell zu Ill, „nämlich ein
10965 Signalbuch, für den Fall, daß uns das Schiff Signale macht.
10966 Übrigens würden wir sie doch nicht beantworten können.“
10968 „Richtig, es ist schade“, antwortete Ill, „dafür besitzen wir ein
10969 vorzügliches Sprachrohr, mit dem wir uns verständlich machen
10970 können.“
10972 Sie begaben sich in die Kajüte, und ausnahmsweise, um Isma zu
10973 ehren, wohnte Ill dem gemeinschaftlichen Frühstück bei, obwohl er
10974 sich auf einige Züge aus einem martischen Mundstück beschränkte. Er
10975 verfolgte inzwischen den Gang des Schiffes auf der
10976 Projektionsscheibe.
10978 Als Ell und Isma wieder den offenen Schiffsraum betraten, war es
10979 Tag geworden. Das Schiff strich in mäßiger Bewegung – immerhin noch
10980 mit Schnellzugsgeschwindigkeit – mit weit ausgebreiteten Flügeln in
10981 etwa dreihundert Meter Höhe über die Meeresoberfläche hin. Es hatte
10982 sich der Ostküste von Grinnell-Land genähert und folgte nun dem
10983 offenen Fahrwasser in ihrer Nähe nach Norden. Isma spähte mit Ells
10984 Relieffernrohr eifrig nach der Küste hinüber. Auf den Uferschollen
10985 sonnten sich Seehunde, zahllose Vögel saßen auf den Klippen, selbst
10986 einige Moschusochsen konnte sie auf einer entfernten Ebene mit
10987 Hilfe des vorzüglichen Glases erkennen. Überall glaubte sie
10988 Menschen oder Hütten von Eskimos zu sehen, es war ihr, als müßte
10989 sie jeden Augenblick auf Torms Spuren stoßen, und erst allmählich
10990 begann sie ruhiger zu werden. So also sah die Gegend aus, die er im
10991 Geleit der tranduftenden Gastfreunde durchzog! Ob es wohl glücken
10992 würde?
10994 Der Anruf des Martiers, der den Ausguck im Vorderteil des Schiffes
10995 hielt, unterbrach ihr Sinnen.
10997 \section{26 - Der Kampf mit dem Luftschiff}
10999 Am Horizont zeigte sich eine Rauchwolke, die sich vergrößerte. Das
11000 Dampfschiff, nach Süden steuernd, und das nach Norden fliegende
11001 Luftschiff, das seine Geschwindigkeit sogleich steigerte und die
11002 Flügel verkürzte, näherten sich rasch. Bald konnte man die Formen
11003 des Schiffes durch das Glas unterscheiden. Der Wimpel am Großtopp
11004 ließ es als Kriegsschiff erkennen. Jetzt hatte man auch an Bord der
11005 ›Prevention‹ das Luftschiff gesehen. Dieses senkte sich bis auf
11006 hundert Meter über die Oberfläche des Meeres und schoß direkt auf
11007 das Kanonenboot zu. Dort stieg eine weiße Dampfwolke in die Höhe,
11008 und ein Kanonenschuß donnerte über die Flut. Man konnte jetzt die
11009 Flagge erkennen.
11011 „Es ist ein Engländer“, sagte Ell. „Er fordert uns auf, unsere
11012 Flagge zu zeigen.“
11014 Eine Flagge führte zwar das Luftschiff nicht, man hatte aber diesen
11015 Fall vorgesehen und, um keine besonderen Verwicklungen
11016 hervorzurufen, eine Flagge improvisiert, die dem Banner der
11017 vereinigten Marsstaaten nachgebildet war. Sie bestand einfach in
11018 einem schwarzen Tuch von dreieckiger Gestalt, das in der Mitte
11019 einen großen orangenfarbigen Kreis trug.
11021 Die Flagge wurde jetzt gehißt, das Luftschiff setzte aber seinen
11022 Lauf fort. Ill wollte denselben erst in unmittelbarer Nähe des
11023 Schiffes anhalten. Vorsichtshalber stieg er jedoch schnell in
11024 größere Höhe.
11026 Ell beobachtete mit dem Glas die Vorgänge an Deck des Schiffes.
11028 „Die gefangenen Martier sind jedenfalls unter Deck“, sagte er. „Das
11029 Schiff ist klar zum Gefecht – ich glaube, man will auf uns
11030 schießen. Willst du nicht lieber anhalten?“
11032 „Wie ist das Schiff bewaffnet?“ fragte Ill.
11034 „Es ist, soviel ich davon verstehe, ein sogenannter Torpedo-
11035 Rammkreuzer. Den Rammsteven und die Torpedos haben wir freilich
11036 nicht zu fürchten, aber das 25-Zentimeter-Geschütz auf dem Deck ist
11037 eine furchtbare Waffe. Es schleudert mit einer Geschwindigkeit von
11038 über 600 Metern Granaten, die vielleicht den dritten Teil des
11039 Gewichts unseres ganzen Schiffes haben. Ein einziger Schuß
11040 zerschmettert uns in Atome.“
11042 „Wenn er uns trifft. Aber wie du siehst, sind wir bereits wieder
11043 auf achthundert Meter gestiegen und dem Schiff so nahe, daß sie dem
11044 Geschütz nicht die genügende Erhebung geben können.“
11046 Ein gewaltiger Knall unterbrach ihn. Kapitän Keswick hatte sein
11047 Riesengeschütz sprechen lassen. Aber das Geschoß flog, bedeutend
11048 tiefer als das Luftschiff, unter ihm hin, ohne Schaden zu tun.
11050 „Die Sache ist nicht so gefährlich“, sagte Ill, „selbst wenn wir in
11051 der Schußlinie wären, könnten wir den Schuß aufnehmen – da wir
11052 dreimal so viel Masse haben als das Geschoß, würde es uns nur eine
11053 Geschwindigkeit von höchstens zweihundert Metern geben, und das ist
11054 für uns das Gewöhnliche.“
11056 Ell sah ihn erstaunt an.
11058 „Ich meine, wenn wir den Stoß auffangen.“
11060 „Aber wir werden doch zerschmettert.“
11062 „Keine Sorge! Wir müssen nur aufpassen. Jetzt aber wollen wir
11063 verhandeln.“
11065 „Wollen Sie sich nicht lieber in die Kajüte begeben?“
11067 Diese Frage richtete Ill an Isma, die den Vorgängen mit Herzklopfen
11068 gefolgt war. „Diese Herren sehen mir gerade so aus, als wollten sie
11069 uns mit ihren Flintenschüssen begrüßen.“
11071 „O lassen Sie mich hier“, bat Isma. „Könnte nicht vielleicht – mein
11072 Mann – auf dem Schiff sein?“
11074 „Das werden wir alles erfahren. Ell soll durch das Sprachrohr die
11075 Verhandlung als Dolmetscher führen.“
11077 Wirklich beschoß man das Luftschiff jetzt aus den Gewehren. Es
11078 schwebte aber bereits so hoch und so nahe senkrecht über dem
11079 englischen Kanonenboot, daß die Kugeln ihm keinen Schaden tun
11080 konnten, obwohl sich die Engländer zum Zielen auf den Rücken
11081 legten. Jetzt fiel eines der abgeschossenen Langbleie auf das
11082 Verdeck des Schiffes selbst zurück und durchschlug seine Planken.
11083 Das Feuer mußte eingestellt werden, da die Kugeln die Schützen
11084 selbst zu treffen drohten.
11086 Die Martier entfalteten nunmehr eine große, weiße Fahne als Zeichen
11087 der Freundschaft und des Friedens. Alsdann senkte sich das
11088 Luftschiff, immer mit gleicher Geschwindigkeit senkrecht über dem
11089 Kriegsschiff bleibend, zu diesem herab, erst schnell, dann
11090 langsamer, bis es sich in einer Höhe von etwa fünfzig Metern über
11091 den Spitzen der Masten hielt.
11093 Die Besatzung des Schiffes bestand aus tapferen Männern. Aber bei
11094 diesem Anblick pochte allen das Herz in der Brust. Wenn die Fremden
11095 Verräter waren? Wenn sie jetzt eine Dynamitbombe herabfallen ließen
11096 jeder sagte sich, daß das Schiff dann verloren war. Und sie waren
11097 wehrlos. Aber hätte das Luftschiff feindlich vorgehen wollen, so
11098 hätte es dies sicherer aus der früheren Höhe tun können.
11100 Der Kapitän stand mit finsteren Blicken auf der Kommandobrücke.
11102 Jetzt zuckte er zusammen. Aus der Höhe kam ein Anruf in englischer
11103 Sprache.
11105 „Wer seid Ihr?“ fragte er durch das Sprachrohr entgegen.
11107 Ell versuchte eine Erklärung zu geben. Das Luftschiff habe keine
11108 feindlichen Absichten. Es gehöre demselben Staat an wie die beiden
11109 Gefangenen, die sich auf dem englischen Schiff befänden. Sie seien
11110 Bewohner des Planeten Mars, die auf dem Nordpol der Erde eine
11111 Kolonie angelegt hätten. Die beiden würden zu Unrecht
11112 gefangengehalten, sie hätten sich an den Engländern nicht
11113 vergriffen, vielmehr die in den Abgrund gestürzten heraufbefördert.
11114 Das Luftschiff wolle nichts als die beiden Gefangenen zurückhaben.
11115 Man möge sie in der Nähe ans Land setzen, wo das Luftschiff sie
11116 abholen werde. Außerdem wolle man wissen, ob das Schiff Nachricht
11117 von der deutschen Nordpolexpedition Torm habe.
11119 Kapitän Keswick erwiderte, von der Tormschen Expedition habe er bis
11120 jetzt keinerlei Spuren gefunden. Was die andere Frage beträfe, so
11121 verböte es ihm seine Ehre, mit dem Luftschiff zu verhandeln, so
11122 lange es sich über seinem eigenen Schiff in bedrohender Stellung
11123 befände. Der Kommandant möge zu ihm an Bord kommen; er garantiere
11124 ihm unbehinderte Rückkehr.
11126 Es trat eine Pause ein. Auf beiden Schiffen wurde Kriegsrat
11127 gehalten.
11129 Ill wollte ohne weiteres dem Wunsch des Kapitäns nachgeben und ihn
11130 besuchen, aber Ell riet ihm dringend davon ab.
11132 „Traust du ihm nicht?“ fragte Ill.
11134 „Das nicht“, sagte Ell, „sein Wort wird er halten. Aber nach den
11135 Anschauungen der Menschen würden wir damit anerkennen, daß wir uns
11136 den Bestimmungen des englischen Kriegsschiffs unterordnen. Der
11137 Hochmut der Engländer würde dadurch nur wachsen und die
11138 Verhandlungen erschweren. Wir nehmen für uns selbst den Charakter
11139 eines Kriegsschiffs in Anspruch.“
11141 „Es mag sein, doch liegt kein Grund vor, unsre Stellung über dem
11142 Schiff beizuhalten, wenn sie den Kapitän beunruhigt. Ich habe mich
11143 nur hierhergelegt, um überhaupt zu Wort zu kommen. Wir können ja
11144 auch jeden Augenblick hierher zurückkehren, wenn wir wollen; nur
11145 nützt es uns wenig. Mit einer Vernichtung des Schiffes zu drohen,
11146 geht nicht an, da ich sie doch nicht ausführen würde und auch die
11147 Leute sich sagen dürften, daß wir das Schiff nicht in Grund bohren
11148 werden, so lange unsere Kameraden sich darauf befinden.“
11150 Ell rief nun durch das Sprachrohr hinab, daß sich das Luftschiff in
11151 einiger Entfernung niederlassen werde. Auf demselben befinde sich
11152 einer der höchsten Beamten des Mars, der nicht daran denke, sich
11153 zuerst dem Kapitän vorzustellen. Der Kapitän möge daher entweder zu
11154 ihm an Bord kommen oder eine Stelle am Ufer zur Zusammenkunft
11155 bestimmen. Im übrigen genüge es, wenn der Kapitän die beiden
11156 Martier ans Land sende. Das Luftschiff werde sich dann sogleich
11157 entfernen, sobald es die beiden aufgenommen hätte.
11159 Ohne eine Antwort abzuwarten, ließ Ill das Luftschiff nach dem Land
11160 zu lenken.
11162 Der Engländer hatte inzwischen seinen Lauf angehalten und lag jetzt
11163 still. Ihm gegenüber, etwas über einen Kilometer entfernt, in
11164 geringer Höhe über dem Ufer, schwebte das Luftschiff der Martier in
11165 vollkommener Ruhe. Flügel und Steuer waren eingezogen. Der
11166 Hinterteil des Fahrzeugs war gegen das Kriegsschiff gewendet und
11167 zeigte die Öffnung eines bis dahin nicht sichtbar gewesenen Rohres.
11168 Kapitän Keswick hatte seinen Zweck erreicht, Zeit zu gewinnen und
11169 das unheimliche Fahrzeug über seinem Kopf zu entfernen. Er fühlte
11170 sich wieder sehr erhaben. Er dachte nun erst recht nicht daran, die
11171 Gefangenen auszuliefern. Verhielt es sich wirklich so, daß sie
11172 Marsbewohner waren – und eine bessere Erklärung angesichts des
11173 Luftschiffes wußte keiner seiner Offiziere –, so wollte er sich den
11174 Triumph nicht nehmen lassen, diese seltsamen Geschöpfe nach London
11175 zu bringen. Daß man auf dem Mars auch englisch verstand und sich
11176 nach der deutschen Nordpolexpedition erkundigte, war schließlich
11177 nicht wunderbarer als die Existenz des Luftschiffes überhaupt. Die
11178 Zumutung, einem englischen Kriegsschiff Bedingungen zu stellen,
11179 hielt Kapitän Keswick für eine Frechheit. Seiner Ansicht nach hatte
11180 das fremde Schiff einfach zu gehorchen.
11182 Er signalisierte daher jetzt, das Schiff möge sofort die Flagge
11183 streichen und sich ergeben. Da er sich aber allerdings selbst
11184 sagte, daß man drüben die Signale nicht verstehen würde, so
11185 schickte er einen Offizier in der Jolle soweit vor, bis er durchs
11186 Sprachrohr mit dem Luftschiff reden konnte, und ließ durch ihn
11187 seinen Befehl ausrichten. Das Luftschiff solle landen und die
11188 Besatzung sich von demselben ohne Waffen auf tausend Schritt
11189 zurückziehen. Geschähe das nicht, bis das Boot wieder an Bord sei,
11190 so würde er Gewalt anwenden.
11192 Ill ließ antworten, es würde ihm sehr leid tun, wenn er seinerseits
11193 Gewalt anwenden müßte, um seine Genossen wieder zu erhalten. Bei
11194 der geringsten Feindseligkeit seitens der Engländer würde er sich
11195 jedoch gezwungen sehen, ihr Schiff kampfunfähig zu machen. Sollte
11196 einem der Martier Leides geschehen, so hafteten Kapitän, Offiziere
11197 und Mannschaft mit ihrem Leben.
11199 Der Offizier brachte diese Antwort zurück.
11201 „Wir werden mit den Leuten deutlicher reden“, sagte Keswick.
11203 Leutnant Prim hätte sich gern aus Vergnügen die Hände gerieben,
11204 aber sie waren immer noch steif. Er konnte nicht einmal seinen
11205 Feldstecher halten. Das Luftschiff lag vollkommen ruhig, es konnte
11206 gar kein besseres Ziel für das 25-Zentimeter-Geschütz geben, es
11207 war nicht zu verfehlen.
11209 Ell beobachtete, daß das Boot kaum beim Schiff angekommen war, als
11210 man das Geschütz richtete.
11212 „Wir sind verloren“, rief er Ill zu.
11214 Dieser hatte schon seine Vorkehrungen getroffen. Er sah scharf auf
11215 die Mündung des Geschützes.
11217 „Halte dich fest und befürchte nichts“, sagte er zu Ell gewendet.
11218 Seine Hand lag am Griff des Repulsitapparates. Von dem Moment, in
11219 welchem der Schuß an Bord des Kriegsschiffs gelöst wurde, bis zu
11220 demjenigen, in welchem das Geschoß das Luftschiff treffen konnte,
11221 mußten fast zwei Sekunden vergehen. Das genügte ihm.
11223 Jetzt blitzte drüben der Schuß auf. Das vernichtende Geschoß war
11224 entsandt. Ell fühlte, wie sich ihm die Kehle zusammenschnürte, aber
11225 er vertraute auf die Kraft der Nume. Isma hatte sich auf seine
11226 Bitte schon vorher zurückgezogen und war sich der unmittelbaren
11227 Gefahr glücklicherweise nicht bewußt.
11229 Ill hatte gleichzeitig den Griff des Repulsitgeschützes gedreht.
11230 Das Luftschiff erhielt einen Stoß und sauste durch die Luft. Hinter
11231 ihm, etwa in der Mitte zwischen dem englischen Schiff und dem
11232 martischen, gab es einen ohrenbetäubenden Krach. Die Granate
11233 zersprang in der Luft, als sei sie an eine feste, unsichtbare Mauer
11234 gestoßen. Die Bruchstücke flogen nicht weiter, sie fielen direkt
11235 nach unten und ließen das Meer unter sich aufschäumen.
11237 Im Moment aber spannte das Luftschiff seine Flügel aus, in engem
11238 Kreis kehrte es zurück, binnen zehn Sekunden war es wieder bei der
11239 ›Prevention‹ angelangt, hinter dem Kanonenboot sank es bis zur
11240 halben Höhe seiner Masten. Ein zweiter Repulsitschuß knickte die
11241 eisernen Masten wie Strohhalme, die mit einer scharfen Sense
11242 abgeschnitten werden. Zugleich aber wurden sie wie von einem
11243 Sturmwind fortgetragen, der sie über das Schiff hinwegfegte und
11244 gegen hundert Meter weiter ins Meer fallen ließ. Auf dem Verdeck
11245 selbst wurde nichts direkt von dem Schuß betroffen; nur die
11246 entstehende gewaltige Luftwelle warf die gesamte Mannschaft über
11247 den Haufen und setzte das ganze Schiff in schwankende Bewegung. Ehe
11248 sich die Engländer wieder auf ihre Füße gefunden hatten, war das
11249 Luftschiff, in kurzer Wendung aufsteigend, umgekehrt und ruhte in
11250 etwa tausend Meter Höhe senkrecht über dem Kanonenboot.
11252 Ill hatte nur die Wirkung seiner Waffen zeigen wollen. Der im
11253 Repulsitgeschütz sich entspannende Äther entwich mit einer
11254 Geschwindigkeit, welche der des Lichtes vergleichbar war, und riß
11255 die Luft und alles, was in seinem Weg lag, mit sich fort, obgleich
11256 seine Masse nur wenige Gramm betrug. Er breitete sich kegelförmig
11257 aus und mußte daher das ihm entgegen fliegende Sprenggeschoß
11258 auffangen und zur Ruhe bringen. Ill wollte jetzt das Luftschiff
11259 wieder sich herabsenken lassen, um neue Verhandlungen zu beginnen,
11260 aber die zur Wut gereizten Feinde beschossen es aus ihren Gewehren
11261 ohne Rücksicht auf die Gefahr, von ihren eigenen Kugeln getroffen
11262 zu werden. Wie sollte er nun, ohne Menschenleben zu vernichten und
11263 das Schiff selbst unbrauchbar zu machen, die Herausgabe der
11264 Gefangenen erzwingen?
11266 Ill hätte durch den Telelyten das Geschütz demontieren oder das
11267 Schiff leck machen können. Der Telelyt ist ein Apparat, durch
11268 welchen chemische Wirkung in jeder beliebigen Form erzeugt werden
11269 kann, soweit nur die direkte Bestrahlung des Gegenstandes vom
11270 Apparat aus möglich ist. Wenn man zum Beispiel glühenden Sauerstoff
11271 durch den Telelyten treten ließ, so wurde die chemische Energie
11272 durch Strahlung fortgepflanzt und kam auf dem bestrahlten Körper,
11273 etwa dem Gußstahl des Geschützes, wieder als chemische Energie zum
11274 Vorschein, so daß der Stahl einfach verbrannt wurde.
11276 Ill hätte auch sein Repulsitgebläse auf das Schiff richten und
11277 dieses an beliebiger Stelle auf den Strand treiben können.
11279 Aber er wollte sich nicht dazu entschließen. Das Geschütz konnte
11280 ihm nicht schaden, wenn er sich über dem Schiff hielt, und auch
11281 sonst nicht, wenn er die Abgabe des Schusses rechtzeitig bemerkte.
11282 Und das Schiff selbst wollte er nicht untauglich zur Fortsetzung
11283 der Reise machen. Er versuchte daher nochmals zu verhandeln und
11284 ließ zu diesem Zweck wieder die weiße Fahne aufziehen, obwohl Ell
11285 meinte, daß dieses Entgegenkommen falsch verstanden werden würde.
11287 „Was wollen die Schufte?“ rief der Kapitän wütend, ließ aber das
11288 Feuer einstellen. Das Luftschiff senkte sich. Als es so nahe
11289 gekommen war, daß man sich durchs Sprachrohr verständigen konnte,
11290 fragte Ell, ob man jetzt bereit sei zu kapitulieren.
11292 „Mit euch Freibeutern gibt es keine Verhandlungen“, schrie Keswick
11293 zurück. „Ehe ich meine Flagge streiche, sprenge ich das ganze
11294 Schiff samt euren sauberen Brüdern in die Luft.“
11296 „Wir verlangen nicht, daß ihr die Flagge streicht“, lautete die
11297 Antwort. „Es genügt, wenn ihr die Gefangenen ans Land setzt. Aber
11298 unsere Geduld ist jetzt zu Ende. Stößt das Boot mit unseren
11299 Landsleuten nicht binnen zehn Minuten vom Schiffe ab, so macht euch
11300 auf das Schlimmste gefaßt. Bis jetzt haben wir euch nur eine Probe
11301 gegeben.“
11303 „Der Teufel soll euch holen. Feuer auf die Hunde!“ schrie Keswick
11304 wütend.
11306 Aber schon hatte sich das Luftschiff fortgeschnellt. Nach wenigen
11307 Sekunden war es bereits wieder über einen Kilometer vom Schiff
11308 entfernt, das jetzt mit voller Dampfkraft nach Süden strebte.
11310 Da Ill keine Zeit dadurch verlieren wollte, daß sich die Entfernung
11311 des Schiffes von der Küste vergrößerte, beschloß er zunächst, den
11312 Dampfer aufzuhalten. Er erhob sich so hoch, daß er nicht beschossen
11313 werden konnte, und richtete dann einen Repulsitstrom gegen die
11314 Meeresoberfläche in einiger Entfernung vor dem Schiff. Das Meer
11315 kochte auf, als hätte man einen Berg hineingestürzt. Ein haushoher
11316 Wogenwall wälzte sich von der getroffenen Stelle im Kreise nach
11317 außen und zwang das englische Schiff, seinen Kurs zu ändern.
11318 Alsbald erregte das Luftschiff durch einen zweiten Repulsitschuß an
11319 geeigneter Stelle einen neuen Wirbel, und so zwangen die Martier
11320 ihren Gegner, sich dahin zu wenden, wohin sie ihn haben wollten.
11321 Bald aber war die ganze Umgebung wie von einem Sturm aufgewühlt,
11322 und die ›Prevention‹ hatte die größte Mühe, sich in dem tollen
11323 Wogengang zu halten. Von einem Gebrauch des Geschützes konnte beim
11324 Schwanken des Schiffes jetzt nicht die Rede sein. Inzwischen waren
11325 die zehn Minuten Frist längst abgelaufen. Ill ließ dem Schiff noch
11326 Zeit, um einen Felsenvorsprung herum in ruhigeres Wasser zu
11327 gelangen. Hier erwartete er den Engländer.
11329 Der Kapitän sah nun wohl ein, daß er dem Luftschiff nicht entkommen
11330 könne. Aber er war immer noch zu hartnäckig, um nachzugeben. Das
11331 Luftschiff lag wieder vollständig ruhig und ließ das Kanonenboot
11332 herankommen, während die Vorgänge auf demselben aufs genaueste
11333 beobachtet wurden. Ill konnte mit seinem Sprachrohr sich bis auf
11334 tausend Meter verständlich machen. Er rief nochmals hinüber, wenn
11335 man jetzt nicht gehorche, werde er auf das Schiff selbst schießen.
11337 Der Dampfer machte eine Wendung und stoppte. Die Martier glaubten,
11338 es geschehe, um ein Boot auszusetzen; aber das Manöver hatte nur
11339 den Zweck, zum Schuß zu kommen. Ehe die Martier es erwarten
11340 konnten, blitzte der Schuß auf. Die Entfernung war zu kurz, um den
11341 Gegenschuß der Martier genau abzumessen. Er erfolgte sofort, aber
11342 er war zu heftig. Mit rasender Geschwindigkeit schleuderte der
11343 Rückstoß das Luftschiff fort. Die Insassen wurden von ihren Plätzen
11344 geworfen. Isma stieß einen Schrei aus und klammerte sich
11345 schreckensbleich an die Wand. Zum Glück hatte sie keinen Schaden
11346 genommen. Das Luftschiff gehorchte wieder dem Steuer, die Bewegung
11347 wurde gemäßigt, es kehrte in weitem Bogen zurück und lagerte sich
11348 in einer Entfernung von etwa acht Kilometern vom Kriegsschiff auf
11349 der Spitze eines Hügels, von wo aus man mit dem Fernglas die
11350 Vorgänge auf dem Schiff gut beobachten konnte.
11352 Hier sah es schlimm aus. Unter dem Gegenstoß des Repulsits war das
11353 Sprenggeschoß explodiert, aber die Trümmer waren nicht in das Meer
11354 gefallen, sondern, weil die Wirkung zu stark gewesen war, auf das
11355 Schiff zurück. Ein Teil der Mannschaft und der Kapitän selbst waren
11356 verwundet. Der Verschluß des Geschützes war abgeschlagen. Dichter
11357 Qualm drang aus einem der zertrümmerten Schornsteine.
11359 Ill nahm das Glas vom Auge. Ein finsterer Ernst lagerte über seinen
11360 Zügen.
11362 „Es ist schrecklich“, sagte er. „Ich habe das Meinige getan, um
11363 Blutvergießen zu vermeiden. Auch das jetzige Unglück ist gegen
11364 meine Absicht geschehen, wir hatten bei der Plötzlichkeit des
11365 Überfalls nicht länger Zeit, unsern Schuß abzuwägen. Die Menschen
11366 sind wahnsinnig.“
11368 Er sann lange nach.
11370 „Ich erwäge“, sagte er dann, „ob ich es gegen unsere Genossen
11371 verantworten kann, wenn ich jetzt nachgebe und das Schiff entlasse.
11372 Aber ich bin ja nicht einmal sicher, ob man ihr Leben schonen wird,
11373 nachdem dieses Blut geflossen ist. Das also ist unser erstes
11374 Zusammentreffen mit den Menschen, das ist die Verbrüderung der
11375 Planeten! Ich hatte es mir anders gedacht. Ich höre, die Menschen
11376 haben unsern Planeten nach dem Gott des Krieges genannt; wir
11377 wollten den Frieden bringen, aber es scheint, daß die Berührung mit
11378 diesem wilden Geschlecht uns in die Barbarei zurückwirft. Gott
11379 gebe, daß diese Begegnung kein Vorzeichen ist. Indessen – wir
11380 können nicht mehr zurück. Wir wollen aus dem einen Fall noch keine
11381 Schlüsse ziehen.“
11383 Er wandte sich zu Isma und sagte ihr bedauernde Worte, daß ihre
11384 Reise mit so schrecklichen Ereignissen begönne. Ell wollte eben
11385 seine Äußerungen übersetzen, als der wachthabende Martier meldete:
11387 „Das Schiff setzt ein Boot aus.“
11389 Es war so, man sah, daß die beiden Martier in das Boot
11390 hinabgelassen wurden. Dieses ruderte dem Land zu. In einer kleinen
11391 Bucht, deren Ufer mit Eisschollen bedeckt waren, landeten die
11392 Engländer. Sie warfen die Gefangenen rücksichtslos auf eine
11393 Scholle, feuerten ihre Gewehre in die Luft ab, um ein Signal zu
11394 geben, und kehrten dann schleunigst zurück an Bord ihres Schiffes.
11396 Sofort befahl Ill, daß das Luftschiff aufsteigen solle, um die
11397 Genossen abzuholen. Der Weg war nicht weit, doch lag die kleine
11398 Bucht auf der anderen Seite des Kriegsschiffs, das man in einem
11399 Bogen umgehen mußte, um sich nicht etwaigem Gewehrfeuer
11400 auszusetzen. Dann senkte sich das Schiff mit eingezogenen Flügeln
11401 nahe am felsigen Abhang hinab. Hierbei streifte es einmal bis dicht
11402 an einen Felsen und legte sich stärker nach der Seite, als
11403 beabsichtigt war. Der Ingenieur machte ein bedenkliches Gesicht. Es
11404 kam bei diesen langsamen Bewegungen auf und nieder auf die äußerste
11405 Präzision in der Funktion des diabarischen Apparats an, und es
11406 schien ihm, als ob das Schiff auf der linken Seite nicht mit
11407 derselben Geschwindigkeit seine Schwere ändere wie auf der rechten.
11408 Man war jetzt auf der breiten Eisscholle angelangt.
11410 Die gefangenen, nunmehr befreiten Martier befanden sich in üblem
11411 Zustand. Sie waren zwar nicht gefesselt, aber der Druck der
11412 Erdschwere, dem sie seit achtzehn Stunden – denn es war inzwischen
11413 Mittag geworden – ausgesetzt waren, die beim Kampf und zuletzt beim
11414 Transport erlittenen Mißhandlungen und der Mangel an für sie
11415 genießbarer Nahrung hatten sie körperlich schwer mitgenommen. Sie
11416 atmeten beglückt auf, als im Innern des Luftschiffes ihre Leiden
11417 gemildert wurden. Ill wandte sich betrübt ab, als er erfuhr, welche
11418 Behandlung ihnen zuteil geworden war. Die Strafe der Engländer war
11419 hart, dachte er, aber verdient. Und doch, im Grunde waren sie
11420 unschuldig an ihrem Irrtum.
11422 Und nun vorwärts zum Pol! In anderthalb Stunden konnte er erreicht
11423 sein. Das Luftschiff erhob sich langsam, und wieder bemerkte der
11424 Steuermann die Ungleichmäßigkeit der Diabarie auf den beiden Seiten
11425 des Schiffes. Er machte Ill darauf aufmerksam, doch konnte man die
11426 Ursache nicht sogleich auffinden. Inzwischen war die Höhe des
11427 Felsufers überstiegen. Die Flügel wurden nun ausgebreitet, und vom
11428 Reaktionsapparat getrieben glitt das Schiff auf schiefer Ebene
11429 weiter aufwärts und nordwärts.
11431 Plötzlich vernahm man einige scharfe Schläge gegen die Flügel des
11432 Schiffes.
11434 „Höher!“ rief Ill. „Höher und schneller!“
11436 Mit dem Schiff und den geretteten Gefährten beschäftigt, hatte man
11437 kaum noch auf den Engländer geachtet. Auch war man so weit von ihm
11438 entfernt, daß die Martier außer Schußweite zu sein glaubten. Die
11439 Engländer aber hatten, als sie sahen, daß das Luftschiff sich
11440 entfernte, ihm auf gut Glück noch einige Schüsse aus ihren
11441 weittragenden Gewehren nachgesendet, und einige Kugeln hatten es
11442 erreicht.
11444 „Höher“, lautete der Befehl. Aber als der diabarische Apparat
11445 dementsprechend gestellt wurde, legte sich das Schiff auf die
11446 Seite. Infolge der Flügelstellung beschrieb es sofort eine Spirale
11447 nach rückwärts und kam dadurch nochmals in den Bereich der
11448 feindlichen Geschosse. Man mußte die Diabarie der rechten Seite
11449 wieder vermindern, da die linke nicht folgte. Das Schiff schwebte
11450 zwar, aber man konnte es nur langsam und in engen Grenzen heben und
11451 senken. Der Repulsitapparat war dagegen in Ordnung und trieb das
11452 Schiff vorwärts. Es entfernte sich nun vom Schauplatz des Kampfes
11453 nach Norden, in verhältnismäßig geringer Höhe über der Erde. Ein
11454 Gebirge, das noch zu überwinden war, konnte nur durch das
11455 Vorwärtstreiben mit schräggestellten Flügeln genommen werden.
11456 Infolgedessen nahm die Fahrt bis zum Pol die vierfache Zeit wie
11457 gewöhnlich in Anspruch.
11459 Endlich kam die Polinsel Ara zu Gesicht, und das Schiff senkte sich
11460 vorsichtig auf das Dach derselben. Aufs äußerste ermüdet entstiegen
11461 die Martier dem Fahrzeug, von den Bewohnern der Insel freudig
11462 bewillkommt. Isma wurde der Obhut der Gemahlin Ras übergeben und
11463 von ihr aufs freundlichste aufgenommen. Ehe sie die Treppe in die
11464 Wohnung hinabstieg, warf sie noch einen forschenden Blick auf die
11465 Umgebung und suchte in Gedanken die Stelle zu finden, wo der
11466 Fallschirm des Ballons herabgestürzt war. Dann reichte sie Ell die
11467 Hand. Sie wollte zu ihm sprechen, aber sie fand keine Worte. Nur
11468 ihr Blick dankte ihm. „Auf Wiedersehen!“
11472 Bereits vierundzwanzig Stunden hatte Isma auf der Polinsel
11473 zugebracht, ohne daß die in Aussicht genommenen Entdeckungsfahrten
11474 nach ihrem Mann angetreten wurden. So sehr sie sich danach sehnte,
11475 hatte sie doch keine Zeit, ungeduldig zu werden, denn die Fülle der
11476 neuen Umgebung beschäftigte sie ausreichend. Die Gegenwart Ells gab
11477 ihr die erforderliche Zuversicht in den neuen Verhältnissen.
11478 Saltner mit Se, La und Fru waren bereits nach dem Mars abgegangen,
11479 aber unter den noch anwesenden Martiern befanden sich noch mehrere,
11480 mit denen sie sich deutsch unterhalten konnte, so vor allem der
11481 Vorsteher Ra, dessen Frau und der Arzt Hil. Von ihnen erhielt sie
11482 nicht nur Nachricht über die Verhältnisse des Mars, sondern auch
11483 Einzelheiten über die Schicksale der Gefährten ihres Mannes, die
11484 ihr Gemüt lebhaft bewegten.
11486 Man begab sich eben zu der üblichen Plauderstunde ins
11487 Empfangszimmer, wo Isma und Ell jetzt die Plätze einzunehmen
11488 pflegten, die für Grunthe und Saltner eingerichtet waren, als Ell
11489 mit bekümmertem Antlitz eintrat.
11491 Isma sah ihn erschrocken an.
11493 „Was ist geschehen?“ rief sie.
11495 „Fassen Sie sich, liebste Freundin.“
11497 „Hugo ist –?“
11499 „Nein, nein – wir wissen nichts – aber wir können ihn nicht
11500 suchen.“
11502 „Warum nicht?“
11504 „Das Luftschiff ist unbrauchbar geworden.“
11506 „Um Gottes willen!“
11508 „Der diabarische Apparat hat durch den übermäßigen Luftdruck bei
11509 unserm zweiten Verteidigungsschuß auf das Kanonenboot einen Fehler
11510 erhalten. Außerdem ist eine verirrte Gewehrkugel in denselben
11511 eingedrungen und hat den Differential-Regulator verletzt. Bei der
11512 Untersuchung stellte sich heraus, daß die Reparatur hier nicht
11513 möglich ist. Der auseinandergenommene Apparat läßt sich nur in der
11514 Werkstätte auf dem Mars mit den dortigen Mitteln wieder einsetzen.
11515 Leider ist auch das kleine Luftboot für weitere Fahrten nicht mehr
11516 zu verwenden. Wir müssen die Nachsuchungen aufgeben.“
11518 Isma saß starr. „Mein armer Mann!“ sagte sie tonlos.
11520 „Geben Sie sich um seinetwillen nicht so großer Sorge hin“, suchte
11521 Ell sie zu trösten. „Er wird sicherlich glücklich heimkehren.
11522 Vielleicht früher als wir“, setzte er zögernd hinzu.
11524 Isma sah ihn an. Dann schlug sie die Hände vor das Gesicht und ließ
11525 sie endlich langsam herabsinken.
11527 „Wir können nicht – zurück –?“
11529 „Es ist unmöglich – in diesem Jahr.“
11531 „Und ich – ich glaubte – in acht Tagen – – o ich Törin! Was hab ich
11532 getan! O wäre ich nicht so eigensinnig gewesen.“
11534 „Es ist der Fall, vor dem Ill uns warnte.“
11536 Isma weinte still. Ell saß ratlos neben ihr.
11538 „Was nun?“ fragte sie endlich.
11540 „Es bleibt uns nichts übrig, als mit Ill und Ra nach dem Mars zu
11541 gehen. Im ersten Frühjahr kehren wir mit neuen Luftschiffen zurück.
11542 Bis dahin hilft uns nichts als Fassung.“
11544 „Nach dem Mars!“ flüsterte Isma wie geistesabwesend. Dann stand sie
11545 auf. Sie trat vor Ell. Ihren Schmerz bezwingend, reichte sie ihm
11546 beide Hände.
11548 „Vertrauen Sie mir!“ sagte er.
11550 Sie sahen sich in die Augen.
11552 „Ich werde tun, was Sie verlangen“, erwiderte Isma. „Ich habe das
11553 Geschick herausgefordert. Ich muß es tragen.“
11555 „Ob auf dem Mars oder auf der Erde – wir können dieselben
11556 bleiben.“
11558 \part{Zweites Buch}
11560 \section{27 - Auf dem Mars}
11562 Über dem Südpol des Mars, um den Halbmesser des Planeten von seiner
11563 Oberfläche entfernt, also in einer Höhe von 3.390 Kilometern,
11564 schwebt die ausgedehnte Außenstation für die Raumschiffahrt.
11566 Ungleich gewaltiger ist die Anlage als die am Nordpol der Erde,
11567 denn über siebzig Raumschiffe vermögen gleichzeitig hier Platz zu
11568 finden. Das abarische Feld, das die Außenstation in der Richtung
11569 der Achse mit dem Pol des Planeten verbindet, befördert stündlich
11570 einen geräumigen Flugwagen.
11572 Heute waren die aufsteigenden Wagen bis auf den letzten Platz
11573 besetzt. Nicht nur die Bevölkerung der nächsten Umgebung drängte
11574 sich zu den Flugwagen, selbst aus den entlegeneren Gegenden waren
11575 Neugierige auf den schnellen Bahnwagen herbeigeeilt, um der
11576 Rückkehr des Regierungsschiffes von der Erde beizuwohnen. Denn
11577 heute wurde der ›Glo‹ erwartet. Die Lichtdepesche hatte gemeldet,
11578 daß der Repräsentant Ill auf der Erde den Sohn seines verunglückten
11579 Bruders, des verschollenen Raumfahrers All, aufgefunden habe und
11580 zurückbringe. Man durfte auf merkwürdige Neuigkeiten von der Erde
11581 rechnen. Auch das Raumschiff ›Meteor‹, Kapitän Oß, welches bereits
11582 vor dem ›Glo‹ die Erde verlassen hatte, wurde erwartet. Es sollte
11583 den ersten Menschen von der Erde auf den Mars bringen. Man erzählte
11584 die wunderbarsten Geschichten von seiner furchtbaren Stärke. Zehn
11585 Nume seien notwendig, um ihn in Schranken zu halten.
11587 „Ist es denn wahr“, fragte eine besorgte Mutter, ihr Töchterchen
11588 ängstlich an sich ziehend, „daß die Menschen kleine Kinder
11589 fressen?“
11591 Ihre Nachbarin im Flugwagen antwortete: „Ich weiß es nicht im
11592 allgemeinen, aber der, den wir jetzt erwarten, frißt keine Kinder.
11593 Ich weiß es ganz genau, denn ich erwarte meine Schwester Se, die
11594 ihn kennt; wir haben mit dem ›Kometen‹, Kapitän Jo, Briefe von ihr
11595 bekommen, und sie schreibt, daß er ein ganz netter, beinahe
11596 zivilisierter Mann sei. Sie sehen, ich habe ja auch meinen kleinen
11597 Wast und sogar meine Ern mitgebracht. Haltet euch fest, Kinder, wir
11598 sind gleich da!“
11600 Die weiten Galerien des Ringes der Außenstation waren seit Stunden
11601 dicht mit Zuschauern besetzt, die sich vor den
11602 Projektionsfernrohren drängten und bald die Aussicht auf den Mars
11603 bewunderten, bald den gestirnten Himmel durchmusterten. Mit
11604 besonderer Vorliebe wurde die Erde aufgesucht, doch da sie fast in
11605 derselben Richtung wie die Sonne stand, konnte sie nicht gut
11606 beobachtet werden.
11608 Der ›Glo‹ war bereits nahe herangekommen, sein roter Glanz ließ ihn
11609 im Fernrohr nicht verkennen. Man konnte die Landung in zwei bis
11610 drei Stunden erwarten. Aber auch der ›Meteor‹ war schon
11611 signalisiert. In acht bis zehn Stunden mochte er eintreffen.
11613 Die Reise des ›Glo‹ war so beschleunigt worden, wie man es nie bei
11614 einem Raumschiff gewagt hatte. Die allgemeine Aufregung, die in
11615 allen Marsstaaten aufgrund der neuen Depeschen von der Erde
11616 entstanden war, machte wichtige politische Erwägungen und die
11617 Anwesenheit Ills im Zentralrat notwendig. Ill hatte außerdem das
11618 persönliche Interesse, Isma, der er sehr zugetan war, die
11619 Beschwerden der Reise möglichst abzukürzen. So war, durch die
11620 Stellung der Planeten begünstigt, das Außerordentliche gelungen;
11621 die Reise von der Erde zum Mars, also der Sonnenanziehung entgegen,
11622 war in acht Tagen zurückgelegt worden. Man hatte den ›Meteor‹,
11623 welcher sieben Tage früher von der Erde abgegangen war, überholt.
11624 Freilich durfte er sich nicht die Repulsitverschwendung gestatten
11625 wie das im Auftrag des Zentralrats fliegende Eilraumschiff.
11627 Mit rührender Sorgfalt hatte Ill, den Ratschlägen Ells folgend,
11628 Isma den Aufenthalt im Raumschiff behaglich zu machen gesucht. Die
11629 Raumkrankheit, eine Folge der zeitweiligen Aufhebung der
11630 Gravitation, pflegte selbst erprobten Raumschiffern nicht ganz
11631 fernzubleiben. Auch Isma hatte unter ihr zu leiden. Aber die
11632 Beschwerden, die ihr durch die geringe Schwere innerhalb des
11633 Raumschiffes drohten, waren ihr durch eine sinnreiche Konstruktion
11634 ihres Schlafraumes sehr erleichtert worden. Derselbe stellte zwar
11635 nicht viel mehr als einen durch geeignete Ventile ausreichend
11636 gelüfteten Kasten vor, aber es war darin künstlich Schwere und
11637 Luftdruck der Erde erzeugt. Und so konnte Isma nicht nur während
11638 des Schlafes ganz nach ihrer Gewohnheit ruhen, sondern auch im
11639 Laufe des Tages sich von Zeit zu Zeit zur Erholung dahin
11640 zurückziehen. Sie fühlte sich daher vollkommen wohl, als der ›Glo‹
11641 sich bereits dem Mars näherte.
11643 Wie oft auch ihre Gedanken sehnsüchtig nach der Erde zurückeilten
11644 und sich um das Schicksal ihres Mannes mit Bangen bewegten, so war
11645 doch die Fülle der neuen Eindrücke gewaltig genug, um sie aufs
11646 lebhafteste zu beschäftigen und zu zerstreuen. Die Notwendigkeit,
11647 nun ein halbes Erdenjahr auf dem Mars zuzubringen, ließ sie die
11648 Muße der Reise benutzen, mit Ells Hilfe in die Sprache der Martier
11649 einzudringen, während sich Ill gleichzeitig das Deutsche aneignete.
11650 Auch an weiblicher Gesellschaft während der Überfahrt fehlte es
11651 Isma nicht, da gegen zehn Frauen verschiedenen Lebensalters mit dem
11652 ›Glo‹ von der Erde zurückkehrten.
11654 Längst war die schmale Sichel der Erde als ein lichter Stern unter
11655 die übrigen zurückgesunken, und die Verkleinerung des Sonnenballs
11656 infolge der größeren Entfernung von ihm ließ sich, wenn man die
11657 Strahlung durch ein dunkles Glas abblendete, sichtlich bemerken.
11658 Immer mächtiger trat das Ziel der Reise, der Mars, als hell
11659 leuchtende Scheibe hervor. Jetzt hatte man sich über die Marsbahn
11660 erhoben, um, in unmittelbarer Nähe des Planeten, sich in der
11661 Richtung der Achse auf seinen Südpol hinabsinken zu lassen. Nur
11662 noch etwa 13.000 Kilometer trennten das Raumschiff von der
11663 Außenstation. Aber um diese Strecke zu durchfliegen, die man bei
11664 der vollen Fahrtgeschwindigkeit fern vom Planeten in zwei bis drei
11665 Minuten zurücklegte, bedurfte man jetzt ebenso vieler Stunden. Es
11666 galt, die Geschwindigkeit zuletzt durch Repulsitschüsse so zu
11667 vermindern, daß man gerade auf dem Ring der Außenstation zur Ruhe
11668 kam. Die Schwierigkeit der Landung erforderte die volle
11669 Aufmerksamkeit des Kapitäns Fei.
11671 Als bevorzugte Gäste des Zentralrats konnten sich Isma und Ell bei
11672 Ill auf einer kleinen reservierten Tribüne dicht neben der
11673 Kommandobrücke aufhalten. Isma mit bangem Herzen, Ell in freudiger
11674 Aufregung, die nur durch die Teilnahme am Geschick der Freundin
11675 gedämpft war, hefteten ihre Blicke erwartungsvoll auf die neue
11676 Welt, die sich zu ihren Füßen auftat.
11678 \tb{}
11679 Es war Sommer am Südpol des Mars, und so zeigten sich, hier von der
11680 Achse aus gesehen, etwa zwei Drittel von der Scheibe des Planeten
11681 beleuchtet, während ein Drittel in tiefem Dunkel lag. Auf dem
11682 erhellten Teil vermochte man jetzt die Südhalbkugel bis gegen den
11683 zehnten Grad südlicher Marsbreite zu überblicken. Dieser Horizont
11684 verengte sich mehr und mehr beim Herabsinken des Raumschiffes,
11685 während infolge der größeren Annäherung das Bild des Planeten an
11686 Ausdehnung zunahm und die Einzelheiten immer deutlicher
11687 hervortraten. Infolge der dünnen, durchsichtigen, wolkenlosen
11688 Atmosphäre lag die Gestaltung der Oberfläche bis an den Rand der
11689 sichtbaren Fläche klar vor Augen. in der Nähe des Poles und nach
11690 der Schattengrenze hin dehnten sich weite Gebiete von grauer, ins
11691 Blaugrüne spielender Färbung, das Mare australe der Astronomen der
11692 Erde. Der Pol selbst war eisfrei, aber westlich von ihm lagen
11693 zwischen den dunklen Landesteilen noch langgestreckte Schneeflächen
11694 bis zum 80. Breitengrad hinab. Zwei ausgedehnte große Flecken, die
11695 weiter nördlich zwischen dem 60. und 70. Breitengrad hellrot im
11696 Sonnenschein glänzten, bezeichnete Ill als die Wüsten Gol und Sek;
11697 sie werden auf der Erde die beiden Inseln Thyle genannt. Im übrigen
11698 Teil der sichtbaren Scheibe herrschte diese hellrote Farbe vor,
11699 doch an mehreren Stellen von breiten und ausgedehnten grauen
11700 Gebieten unterbrochen. Alle diese dunkeln Stellen waren
11701 untereinander durch dunkle Streifen verbunden, die sich geradlinig
11702 durch die hellen Gebiete hindurchzogen. Die hellen Teile sind teils
11703 sandige, teils felsige Hochplateaus, trockene und fast
11704 vegetationslose Gegenden, in denen sich nur spärliche Ansiedlungen
11705 zur Gewinnung der Mineralschätze des Bodens befinden. Dicht
11706 bevölkert dagegen sind die dunklen Teile, deren Erdreich von
11707 Feuchtigkeit durchdrungen und mit einem üppigen Pflanzenwuchs
11708 bedeckt ist.
11710 \tb{}
11711 Ein seltsames Farbenspiel entwickelte sich an der Schattengrenze,
11712 an welcher die Sonne für die Marsbewohner im Aufgehen und die Nacht
11713 zu entschwinden im Begriff war. Während der Nacht bedeckte sich die
11714 Oberfläche des Planeten infolge der starken Abkühlung weithin mit
11715 einer Nebelschicht. Wo diese dichter war, dauerte es einige Zeit,
11716 ehe sie von den Strahlen der Sonne aufgesogen wurde, und hier
11717 erschienen glänzende Lichter durch den Reflex der Strahlen auf den
11718 Nebeln. Einzelne der Hochplateaus erhoben sich so weit, daß sie mit
11719 Schnee oder Reif bedeckt waren, der aber bald in den Strahlen der
11720 Sonne verschwand.
11722 Ill wies nach einer Stelle nahe am nördlichen Rand des
11723 Vegetationsgebiets, schon an der Grenze des Horizonts, wo der graue
11724 Grund eine Mannigfaltigkeit von teils helleren, teils dunkleren
11725 Konturen aufwies und wohin durch die benachbarten roten Wüsten eine
11726 besonders große Anzahl dunkler Streifen zusammenliefen.
11728 „Dort liegt Kla“, sagte er, „der Sitz des Zentralrats, und dort
11729 werden wir zunächst wohnen. Nur wenn der Sommer noch weiter
11730 fortgeschritten ist, rücken wir weiter nach dem Südpol vor.“
11732 „Es wird mir leicht werden“, bemerkte Isma mit einem wehmütigen
11733 Lächeln, „denn ich werde nicht viel Gepäck haben.“
11735 „Daran wird es Ihnen nicht fehlen, ich werde es mir nicht nehmen
11736 lassen, Ihnen eine vollständig eingerichtete Wohnung zur Verfügung
11737 zu stellen. Sie werden sich dann wohl bequemen, unsere Tracht
11738 anzunehmen, denn es wird Ihnen nicht angenehm sein, aufzufallen.
11739 Übrigens müssen Sie wissen, daß ein Umzug von einem Ort zum andern
11740 kein Einpacken und Umräumen erfordert. Wir ziehen mit unserm ganzen
11741 Haus. Sie bestellen nur beim nächsten Transportbüro, wann und wohin
11742 Sie befördert sein wollen, legen sich ruhig schlafen und sind am
11743 andern Morgen an Ort und Stelle.“
11745 „Es wird nämlich meistens in der Nacht gezogen“, erklärte Ell
11746 weiter. „Die Häuser stehen auf Rollschlitten und werden auf unsern
11747 Gleitbahnen befördert. Größere Lasten lassen sich vorteilhafter in
11748 der Nacht fortbringen, am Tag würden wir bei der herrschenden
11749 Trockenheit stärkeren Wasserverbrauch haben.“
11751 „Hat denn jede Familie ihr eigenes Haus?“
11753 „In den wohlhabenden Staaten gewiß, und wo man es sich gestatten
11754 kann, sogar jede einzelne Person. Die Häuser sind nicht sehr groß,
11755 es werden aber diejenigen einer Familie zu einer zusammenhängenden
11756 Gruppe verbunden. Sie werden es bald sehen, denn wir nähern uns dem
11757 Ziel. Blicken Sie gerade unter uns. Der glänzende Punkt – es ist
11758 schon eine kleine Scheibe – ist der Ring der Außenstation. Von dort
11759 bringt uns der Fallwagen nach Polstadt, wo wir zunächst
11760 übernachten.“
11762 „Das Letztere“, bemerkte Ill, „ist noch nicht gewiß. Vielleicht
11763 müssen wir unsre Reise sogleich fortsetzen. Doch gehen unsre Wagen
11764 so ruhig und sind so bequem eingerichtet, daß Sie keinerlei
11765 Anstrengung zu fürchten haben.“
11767 An der unteren Wölbung des Raumschiffs flammte das Zeichen der
11768 Marsstaaten auf. Der ›Glo‹ hatte sich bis dicht über die Station
11769 gesenkt, deren Raumschiffe wie eine Stadt aus riesigen Kuppeldomen
11770 im Sonnenschein strahlten. Alle diese Schiffe ließen jetzt ihre
11771 Symbole und Flaggenzeichen an ihren Wölbungen zur Begrüßung
11772 aufleuchten. Fast unmerklich langsam glitt das Schiff auf seinen
11773 Platz nieder. Kein Laut unterbrach die Stille, durch die Leere des
11774 Weltraums pflanzte sich kein Schall fort. Aber hinter den
11775 durchsichtigen Wänden der Galerien sah man eine gedrängte Menge,
11776 die dem nahenden Schiff mit Schleiern ihr Willkommen zuwinkte.
11778 Der aufnehmende Zylinder senkte sich in die Empfangshalle, der
11779 ›Glo‹ ruhte an seinem Ziel; der Stationsbeamte betrat durch die
11780 Eingangsluke das Schiff. Ill mit seinen Gästen zog sich zunächst in
11781 das Innere des Schiffes zurück. Nach Erfüllung der erforderlichen
11782 Förmlichkeiten wurde das Verlassen des Schiffes gestattet. Zunächst
11783 strömten die von der Erde abgelösten Martier heraus und wurden von
11784 ihren Verwandten und Freunden jubelnd bewillkommnet. Erst nachdem
11785 dieses rege Gewühl sich einigermaßen gelegt hatte, nahte sich eine
11786 Deputation von Mitgliedern des Zentralrats und andern offiziellen
11787 Persönlichkeiten und betrat das Innere des Raumschiffs. Hier
11788 erfolgte die Begrüßung und formelle Vorstellung von Ell und Isma,
11789 indem Ill in Kürze die notwendigsten Erklärungen gab. Ein erster
11790 telephotischer Bericht war bereits von der Erde aus vorangegangen.
11792 Obgleich dieser Empfang im Innern des Schiffes ziemlich lange
11793 währte, hatten die Zuschauer es sich doch nicht nehmen lassen, in
11794 der Empfangshalle zu warten. Absperrungen gab es nicht. Es verstand
11795 sich von selbst, daß die Martier den Ausgang des Schiffes und den
11796 Weg nach der Abfahrtshalle des Fallwagens im abarischen Feld
11797 freiließen.
11799 Endlich erschien die Empfangsdeputation wieder und schritt den Weg
11800 nach dem Fallwagen voran. Hinter ihr kam Ill, der Isma führte,
11801 während Ell an seiner linken Seite ging.
11803 Isma hatte den Schleier dicht vor ihr Gesicht gezogen, sie wagte
11804 nicht, sich umzuschauen. Ill und Ell dankten nach martischer Sitte
11805 für die Willkommrufe, die ihnen entgegenschallten. Erst als Isma
11806 bereits auf der Treppe des Fallwagens stand, schob sie ihren
11807 Schleier zurück und warf einen Blick auf das bunte Bild der
11808 bewegten Menge. Ein enthusiastischer junger Mann, der sich bis
11809 dicht an die Treppe gedrängt hatte, warf ihr einen Gegenstand zu,
11810 den sie nicht kannte; doch ahnte sie wohl, daß dies eine Huldigung
11811 sein sollte. Es war allerdings nicht, wie sie vermutete, ein
11812 Blumenstrauß, sondern ein buntes Spielzeug, wie man sie kleinen
11813 Kindern schenkte. Hier auf der Außenstation, um den Marsdurchmesser
11814 vom Mittelpunkt des Planeten entfernt, herrschte nur der vierte
11815 Teil der Marsschwere, also nur ein Zwölftel der Erdschwere. Der
11816 Gegenstand, etwas höher als Ismas Kopf geworfen, schwebte daher so
11817 langsam herab, daß sie ihn bequem mit der Hand ergreifen konnte.
11818 Sie tat es und verneigte sich in ihrer natürlichen Anmut gegen die
11819 Anwesenden, für welche die Fremdartigkeit ihres Grußes einen
11820 besondern Reiz hatte.
11822 „Sila Ba!“ – „Es lebe die Erde!“ rief der Jüngling, und die
11823 Versammlung stimmte in den Ruf ein. „Sila Ill, Sila Ell, Sila Ba!“
11825 In der Tür des Wagens wandte sich Isma nochmals zurück. Sie faßte
11826 Mut und rief: „Sila Nu!“ Sie erschrak über ihre eigene Stimme. Denn
11827 selbst die Hochrufe der Martier klangen tief und halblaut, sie aber
11828 hatte ihre helle Menschenstimme nicht gedämpft, und so hob sich ihr
11829 Gruß deutlich in dem allgemeinen Geräusch ab. Die Martier waren
11830 entzückt.
11834 Der Verkehr auf weite Strecken und mit großer Geschwindigkeit wurde
11835 auf dem Mars durch zwei Arten von Bahnen vermittelt, Gleitbahnen
11836 und Radbahnen. Die Kraftquelle war die Sonnenstrahlung selbst; sie
11837 wurde auf den glühenden, trockenen Hochplateaus in ausgedehnten
11838 Strahlungsflächen gesammelt und den Motoren in Form von
11839 Elektrizität zugeleitet. Bei den Gleitbahnen befand sich zwischen
11840 der Schienenbahn und der Last, die auf Schlittenkufen mit
11841 eingelassenen Kugeln ruhte, eine dünne Wasserschicht, wodurch die
11842 Reibung so vermindert wurde, daß man riesige Massen mit großer
11843 Geschwindigkeit transportieren konnte. Noch viel rascher indessen
11844 fand der Personenverkehr auf den Radbahnen statt. Die zwischen drei
11845 Schienen laufenden Einzelwagen legten in der Stunde 400 Kilometer
11846 zurück. Der Verkehr durch Luftschiffe hatte sich bis jetzt nicht
11847 als vorteilhaft bewährt, doch beabsichtigte man nunmehr nach den
11848 neuen Entdeckungen, zu denen die Fahrten nach der Erde geführt
11849 hatten, den Bau neuer Luftschiffe mit Repulsitmotoren in Angriff zu
11850 nehmen. Ill hatte beim Empfang erfahren, daß er die Reise sogleich
11851 fortsetzen solle. Er bestieg daher mit seinen Gästen den von der
11852 Regierung gestellten Zug, um ohne Aufenthalt nach Kla zu gelangen.
11853 Trotzdem war hierzu eine zwölfstündige Fahrt erforderlich.
11855 Jene Bahnen wurden aber nur dann benutzt, wenn es sich darum
11856 handelte, große Strecken in kürzester Zeit zurückzulegen. Das
11857 Hauptverkehrsmittel war stets der Radschlitten, ein leichter, teils
11858 auf Kufen, teils auf Rädern ruhender Wagen für ein oder zwei
11859 Personen, den ein unter dem Sitz befindlicher kleiner Motor
11860 bewegte. Ferner kamen dazu die Stufenbahnen, die in regelmäßigen
11861 Abständen von etwa zehn Kilometern alle bewohnten Gegenden mit
11862 ihrem dichten Netz überspannten. Diese Stufenbahn war das Ideal
11863 einer Straße, in ihr war jene Phantasie des Märchendichters
11864 realisiert, daß statt des Reisenden die Wege selbst sich bewegten.
11865 Die Breite der eigentlichen Fahrstraße betrug etwa 30 Meter, und
11866 ebenso breit waren die parallellaufenden Zugangsstraßen. Diese
11867 bestanden aus zwanzig eng nebeneinander befindlichen Streifen von
11868 anderthalb Meter Breite, von denen der äußere sich mit einer
11869 Geschwindigkeit von drei Metern in der Sekunde fortschob. Jeder
11870 folgende, nach innen zu, hatte eine um drei Meter größere
11871 Geschwindigkeit, so daß die Bahn in der Mitte, die eigentliche
11872 Fahrstraße, sich mit einer Geschwindigkeit von 60 Metern in der
11873 Sekunde bewegte. Jeder Punkt derselben legte also in der Stunde
11874 über 200 Kilometer zurück. Die Streifen selbst erhielten ihre
11875 Bewegung durch Walzen, über welche sie in der Art von
11876 Transmissionsriemen gezogen waren. Man konnte die Stufenbahn sowohl
11877 zu Fuß als auf dem eigenen Radschlitten benutzen. An jeder Stelle
11878 konnte sie betreten und verlassen werden. Die Geschwindigkeit des
11879 ersten Streifens von drei Metern konnte man auf dem Mars, wo wegen
11880 der geringeren Schwere das Springen eine jedermann geläufige Sache
11881 war, leicht erreichen, noch bequemer mit Hilfe des Radschlittens.
11882 Man sprang oder fuhr also einfach auf diesen Streifen, und da jeder
11883 folgende Streifen zum vorhergehenden dieselbe relative
11884 Geschwindigkeit besaß, so gewann man, von Streifen zu Streifen
11885 schräg vorwärts gehend oder fahrend, die Geschwindigkeit der
11886 Hauptstraße. Diese benutzte man, ebenfalls fahrend oder gehend,
11887 soweit man wollte, um alsdann in derselben Weise sie wieder zu
11888 verlassen. Die linke Seite war zum Aufstieg, die rechte zum Abstieg
11889 bestimmt. Über die Stufenbahn führten alle hundert Meter leichte
11890 Brücken.
11892 Über den Bahnen erhoben sich, die ganze Breite in kühnen Bogen
11893 überspannend, die Riesengebäude des gewerblichen und
11894 Geschäftsverkehrs. Diese stiegen bis zur Höhe von hundert Meter an.
11895 Das leichte, feste Baumaterial gestattete bei der geringen
11896 Marsschwere diese gewaltigen Wölbungen und Säulenmassen. Gleich
11897 Palästen und Domen, in zierlichen Formen und lichten Farben,
11898 stiegen die Gebäude wie spielend in die klare Luft, überall auf
11899 ihren Dächern die Sonnenstrahlen sammelnd, um ihre Kraft zu
11900 verwerten. So zogen diese Hallen ohne Unterbrechung durch das Land,
11901 es in große Abschnitte von durchschnittlich hundert
11902 Quadratkilometer Fläche zerlegend. Eigentliche Städte oder Dörfer
11903 gab es hier nicht, die Orte gingen ineinander über, und nur als
11904 Verwaltungsbezirke schieden sich die Gebäude in zusammengehörige
11905 Gruppen. Diese Bauten überbrückten auch die Kanäle und die Bahnen,
11906 die sich meist in derselben Richtung mit ihnen hinzogen.
11908 Entfernte man sich aber von diesen Industriestraßen nur um einige
11909 hundert Schritte, so befand man sich in einer vollständig anderen
11910 Gegend. Gewaltige Riesenbäume, deren Gipfel zum Teil sogar die
11911 hundert Meter hohen Gebäude noch überragten, verdeckten mit ihren
11912 Zweigen die Nähe der Bauwerke. Es waren teils den Platanen, teils
11913 den Fichten gleichende Pflanzen, mit denen sich kein irdischer
11914 Baum, selbst nicht die berühmten Riesen des Yosemite-Tales,
11915 vergleichen konnte. Erst in einer Höhe von etwa vierzig Metern
11916 begann der Astansatz, und von hier aus bildete das Laubdach eine
11917 natürliche Wölbung, auf den geradlinig aufsteigenden Pfeilern der
11918 Stämme ruhend. Kein direkter Sonnenstrahl vermochte den Boden zu
11919 treffen, aber ein mildes, bläulich-grünes Licht schimmerte von den
11920 Blättern hernieder und verteilte sich gleichmäßig im Raum. Diese
11921 lebendigen Kuppeln ersetzten den Martiern den Schutz einer
11922 dichteren Atmosphäre, sie milderten den Gegensatz der Einstrahlung
11923 am Tag und der Ausstrahlung in der Nacht und schützten den Boden
11924 vor Verdunstung. Der gesamte Raum der von den Industriestraßen
11925 begrenzten Bezirke war eine solche entzückende Waldlandschaft, die
11926 übrigens nach der Mitte der Bezirke zu auch zuweilen von Lichtungen
11927 unterbrochen wurde und eine reiche Abwechslung des Pflanzenwuchses
11928 darbot.
11930 Auf beiden Seiten der Industriestraßen, in einem Streifen von etwa
11931 tausend Metern Breite, erstreckten sich die Privatwohnungen der
11932 Martier. Unter dem Riesendach der Bäume dehnte sich ein reizendes
11933 Gewirr von Garten- und Parkanlagen aus, Blumenbeete und kleine
11934 Teiche wechselten mit Gebüsch und Baumgruppen, deren Höhe das auf
11935 der Erde gewohnte Maß nicht überstieg. Mitten in diesen Gärten, die
11936 bald aufs anmutigste gepflegt, bald als einfache Rasenplätze sich
11937 darstellten, standen die Häuser der Martier, kleine einstöckige
11938 Gebäude, manchmal zu Gruppen zusammengeschlossen, im allgemeinen
11939 aber villenartig durchs Gelände zerstreut. Sie reihten sich, vom
11940 Blaugrün der Sträucher und bunten Blumenbosketts umgeben,
11941 unregelmäßig zu beiden Seiten der Wege, auf deren festem
11942 Moosteppich sich, für das Auge wenig bemerkbar, die Geleise der
11943 Gleitbahn hinzogen. Sämtliche Martier in den kulturell entwickelten
11944 Teilen des Planeten hielten sich in solchen ländlichen Wohnsitzen
11945 auf, sofern sie nicht gerade geschäftlich oder dienstlich in den
11946 Industrieräumen zu tun hatten. Es kamen hier auf einen
11947 Quadratkilometer ungefähr tausend Einwohner, so daß ein solches
11948 Straßenviertel von zehn Kilometern Länge und Breite in dem
11949 Streifen, der es umfaßte, gegen vierzigtausend Einwohner zählte.
11950 Hatte man diese Zone von Wohnstätten durchschritten und drang man
11951 auf einer der schmalen, sauber angelegten Straßen weiter in das
11952 Innere des Bezirks vor, so nahm die Landschaft wieder einen neuen
11953 Charakter an. Die Gärten hörten auf, an ihre Stelle trat die
11954 Wildnis des Waldes. Tiefe Stille herrschte ringsum, nur
11955 unterbrochen durch das leichte Summen kleiner Vogelarten oder das
11956 Zwitschern der singenden Blüten, die sich auf ihren schwanken
11957 Stengeln wiegten. Zahlreiche Wasseradern verzweigten sich unter den
11958 breiten Blättern einer Sumpfpflanze und sammelten sich zu einem
11959 stillen See, dessen dunkle Fläche seine Ufer widerspiegelte. Und
11960 alles dies war überragt und geschützt von dem sanft leuchtenden
11961 Blätterdach der Riesenbäume, das sich wie ein grünes Himmelszelt
11962 über die niedere Waldlandschaft hindehnte. Man war entrückt in die
11963 Einsamkeit ungestörter Natur, und nichts verriet, daß man auf dem
11964 eilenden Radschlitten in wenigen Minuten auf die Weltstraße
11965 gelangen konnte, wo Millionen geschäftiger Bewohner, die Kräfte der
11966 Sonne und des Planeten ausnutzend, arbeiteten. Es war ein Gesetz,
11967 daß in jedem Bezirk drei Fünftel des Flächenraums im Innern als
11968 Naturpark von jeder Ausbeutung und Bewohnung geschützt blieb, was
11969 jedoch eine geregelte Forstkultur darin nicht ausschloß. Je nach
11970 der areographischen Breite wechselte natürlich die Art der
11971 vorherrschenden Pflanzen. Ihr Wuchs wurde üppiger in der Nähe des
11972 Äquators, spärlicher nach den Polen zu. Doch gab es in den
11973 Niederungen nirgends eine eigentliche Waldgrenze, da nach den Polen
11974 hin die Feuchtigkeit das Klima milderte.
11976 Einen starken Gegensatz zu dem reichen Kulturleben und der
11977 Lebensfülle der Niederungen boten die felsigen Hochplateaus, auf
11978 denen es an einigen Stellen sogar beträchtliche Gebirge gab. Im
11979 allgemeinen erhoben sie sich jedoch nicht bedeutend über die
11980 Tiefebenen. Auch durch jene Wüsten zogen sich, uralten Kulturwegen
11981 folgend, die Industriestraßen hin, nur daß sie hier nicht ein
11982 dichtes Netz bildeten, sondern parallel verliefen und dadurch
11983 Streifen von dreißig bis dreihundert Kilometern Breite darstellten,
11984 die mit Bewohnern besetzt waren. Denn jeder solcher Streifen war
11985 von einem Kanal begleitet, der das Wasser von den Polen über den
11986 ganzen Planeten verbreitete. Nicht immer reichte die Wassermenge
11987 aus, alle diese Kanäle zu füllen, so daß die Breite des
11988 Vegetationsstreifens je nach der Stärke der Bewässerung wechselte.
11989 Es schien dann, von der Erde aus gesehen, als ob die dunklen
11990 Streifen, welche die Wüstengebiete auf die Länge von Tausenden von
11991 Kilometern durchsetzen, sich seitlich verschoben, verengten,
11992 verbreiterten oder auch verdoppelten. Sobald der Wasserzufluß hier
11993 aufhörte, verloren die schützenden Bäume ihr Laub und der Boden
11994 verdorrte, wenige Tage aber genügten auch wieder, dem Pflanzenwuchs
11995 seine Frische zurückzugeben.
11997 Die Bevölkerung dieser Weltstraßen stand unter ungünstigeren
11998 Lebensbedingungen als die der immer feuchten Niederungen, aber sie
11999 war doch ungleich besser gestellt als die Bewohner der Wüsten. Hier
12000 hausten in der Kultur zurückgebliebene Gruppen der Bevölkerung des
12001 Planeten, die zum Teil sogar noch Ackerbau trieben, wo geringe
12002 Einsenkungen infolge der nächtlichen Niederschläge den Anbau von
12003 Früchten gestatteten, zum größeren Teil aber im Bergbau und in den
12004 Strahlungs-Sammelstätten tätig waren. Denn jene Wüstengegenden,
12005 einst leer und unbewohnt, waren in der gegenwärtigen Kulturperiode
12006 des Planeten das Hauptreservoir und die Hauptquelle für die Energie
12007 geworden. Aus den Kalkfelsen, dem ausgetrockneten Ton- und
12008 Lehmboden und den darunter befindlichen, von Erzgängen reich
12009 durchsetzten Schichten zog die Bevölkerung des ganzen Planeten ihre
12010 Nahrung und ihre Macht. Aber die klimatischen Verhältnisse
12011 gestatteten nicht, die Verarbeitung an Ort und Stelle vorzunehmen.
12012 Die Gesteinsmassen wurden an den Rändern der Verkehrsstreifen
12013 gebrochen, wodurch diese sich allmählich verbreiterten. Die
12014 Sonnenstrahlung wurde auf der ganzen Hochfläche gesammelt und in
12015 der Form von Elektrizität über den Planeten verteilt. Die Bergleute
12016 an den Rändern der Kulturstreifen gelangten dabei zu Wohlstand,
12017 vermischten sich stetig mit der Bevölkerung der Niederungen und
12018 rekrutierten sich immer aufs neue aus dem Stand der Beds, den
12019 Wüstenbewohnern, die für die Besorgung der Sammelwerke
12020 unentbehrlich waren. Diese abgehärteten Wüstensöhne durchzogen im
12021 Sonnenbrand die weiten Hochflächen, um im Dienst der großen
12022 Strahlensammelkompagnien die Stromleitungen bei Sonnenaufgang in
12023 Tätigkeit zu setzen und bei Sonnenuntergang wieder abzustellen. Sie
12024 erhielten einen reichlichen Lohn, der ihnen wohl gestattet hätte,
12025 nach einer Reihe von Jahren ihren beschwerlichen Beruf aufzugeben,
12026 aber sie liebten ihre Hochflächen, wie ihre Väter sie geliebt
12027 hatten, wo in der Nacht der Himmel mit Millionen Sternen leuchtete,
12028 wo wallende Nebel der Morgensonne vorauszogen und dann das
12029 Glutgestirn den Boden unter den Füßen brennen ließ. Sie liebten die
12030 Wüste und schüttelten die Köpfe, sobald einer der Ihren in die
12031 Schächte am Wüstenrand hinabstieg. Sie betrachteten die Bewohner
12032 der Täler nur als die Lieferanten ihrer Bedürfnisse und fühlten
12033 sich als die eigentlichen Spender der Kraft des Planeten; aber sie
12034 wußten auch, daß sie trotz ihrer Sonne und Sterne verhungern
12035 müßten, wenn nicht die klugen Männer der Tiefe ihnen Steine in Brot
12036 verwandelten.
12038 Steine in Brot! Eiweißstoffe und Kohlenhydrate aus Fels und Boden,
12039 aus Luft und Wasser ohne Vermittlung der Pflanzenzelle! – Das war
12040 die Kunst und Wissenschaft gewesen, wodurch die Martier sich von
12041 dem niedrigen Kulturstandpunkt des Ackerbaues emanzipiert und sich
12042 zu unmittelbaren Söhnen der Sonne gemacht hatten. Die Pflanze
12043 diente dem ästhetischen Genuß und dem Schutz der Feuchtigkeit im
12044 Erdreich, aber man war nicht auf ihre Erträge angewiesen. Zahllose
12045 Kräfte wurden frei für geistige Arbeit und ethische Kultur, das
12046 stolze Bewußtsein der Numenheit hob die Martier über die Natur und
12047 machte sie zu Herren des Sonnensystems.
12049 \section{28 - Sehenswürdigkeiten des Mars}
12051 In einem der großen Bezirke, welche den Sitz der Zentralregierung
12052 des Mars umschlossen und den Gesamtnamen Kla führten, lag die
12053 Wohnung Ills nahe an der Grenze der Waldwildnis. Sie bestand aus
12054 mehreren miteinander verbundenen Einzelhäuschen, so daß das Ganze
12055 eine geräumige Villa darstellte. Die Anlagen, die sich um die
12056 Gebäude erstreckten, zeugten von sorgfältiger Pflege und feinem
12057 Geschmack. Am Eingang des Gartens saßen rechts und links in
12058 anmutiger Haltung zwei Frauengestalten, die sich im Scherz eine
12059 Blumengirlande zu entreißen suchten; sie zogen quer über den Weg an
12060 den entgegengesetzten Enden derselben und versperrten dadurch den
12061 Zutritt.
12063 Auf der schmalen, glatten Straße, die zwischen den Nachbargärten
12064 von dem Hauptweg abzweigend auf diesen Eingang hinführte, näherte
12065 sich rasch ein leichter, zweisitziger Radschlitten. Ein jüngerer
12066 Mann in der anliegenden Sommerkleidung der Martier lenkte
12067 denselben; der Sitz neben ihm war leer. Wer Ell mit dem grauen Haar
12068 und der Falte zwischen den Augen nachdenklich von seiner Sternwarte
12069 in Friedau hatte herabsteigen sehen, hätte ihn in diesem Martier
12070 nicht wiedererkannt. Ell fühlte sich in der Tat wie verjüngt,
12071 gleich als ob seine Erdenjahre ihm nach der Rechnung des Mars, zwei
12072 auf ein Marsjahr, angerechnet werden sollten. Ein unaussprechliches
12073 Glücksgefühl durchzog seine Seele; das Bewußtsein, dem Planeten
12074 zurückgegeben zu sein, den er für seine Heimat hielt, mitzuleben
12075 unter den Numen und ihren Götterwandel zu teilen, erhob ihn
12076 zunächst über alle die Sorgen, die bei dem Gedanken an das Geschick
12077 der Erde und seiner irdischen Freunde sich ihm aufdrängten. Es war
12078 ihm, als müßten alle diese Schwierigkeiten unter den Händen der
12079 Nume von selbst sich lösen, und er genoß in vollen Zügen die
12080 Seligkeit, all das Große und Herrliche zu sehen, von dem sein Vater
12081 mit dem Schmerz des Verbannten in unstillbarer Sehnsucht geredet
12082 hatte.
12084 Der Radschlitten glitt auf den Eingang des Gartens zu, und Ell ließ
12085 den Strahlenkegel einer kleinen, an der Lenkstange des
12086 Radschlittens befestigten Lampe einen Moment auf die Augen der
12087 rechts sitzenden Frau fallen. Sogleich richteten beide Figuren sich
12088 in die Höhe und erhoben wie zum Gruß die Arme, indem sich dabei die
12089 Girlande wie ein Triumphbogen emporschwang und den Eingang freigab.
12090 Der Schlitten glitt hindurch und hielt gleich darauf vor der
12091 Veranda des Hauses.
12093 Die beiden anmutigen Pförtnerinnen waren Automaten. Die Bestrahlung
12094 der Augen der rechtssitzenden löste eine chemische Reaktion aus und
12095 öffnete dadurch die Pforte. Zugleich wurde damit der Eintritt eines
12096 Ankommenden im Innern des Hauses signalisiert.
12098 Ell sprang aus dem Schlitten und eilte die Stufen der Veranda
12099 empor.
12101 Eine schlanke Frauengestalt trat ihm aus dem Haus entgegen.
12103 Ell blieb erstaunt stehen. Er erkannte nicht sogleich, wen er vor
12104 sich hatte. Er hatte Isma noch nicht im Kostüm der Martierinnen
12105 gesehen.
12107 „Isma!“ rief er jetzt, mit bewundernden Blicken sie anstarrend. Er
12108 wollte nach Martiersitte die Hände auf ihre Schultern legen, aber
12109 sie ergriff sie nach alter Gewohnheit mit den ihrigen und drückte
12110 sie freundschaftlich.
12112 „Ich kann nicht dafür“, sagte sie, verlegen errötend, „Frau Ma hat
12113 es nicht anders gewollt.“
12115 „Sie konnte es nicht besser treffen“, sagte Ell heiter, „ich
12116 wünschte, ich könnte so mit Ihnen durch die Straßen von Friedau
12117 gehen. Passen Sie auf, das kommt auch noch.“
12119 Isma schüttelte leise den Kopf. „Lassen Sie uns jetzt nicht an die
12120 Erde denken. Wenn ich allein bin, kommen meine Gedanken nicht fort
12121 davon, immer sehe ich den Zettel auf dem Tisch meines Zimmers, als
12122 ich die Lampe abdrehte, und dann die Gletscher zwischen den Felsen,
12123 wo – –. Nein, Ell, bis wir nicht handeln können und nichts Neues
12124 erfahren, lassen Sie mich in Ihrer Gegenwart versuchen, mit Ihnen
12125 auf dem Mars zu leben. Versuchen – wie ich dies Kleid versuche.“
12127 „Verzeihen Sie mir“, sagte Ell, „ich bin so überrascht von allem
12128 Neuen, daß ich nicht sogleich den richtigen Ton traf. Aber ich
12129 werde es. Und jetzt wollen Sie mir die Freude machen, mich zu
12130 begleiten?“
12132 Sie blickte wieder lächelnd an sich herab und zupfte an den dichten
12133 Falten des Schleiergewandes.
12135 „Ich will nur fragen, was noch zur Straßentoilette gehört“, sagte
12136 sie. „Nehmen Sie Platz.“ Sie schlüpfte in das Zimmer.
12138 Nach wenigen Minuten kehrte sie zurück. Sie trug jetzt den leichten
12139 Kopfputz der Martierinnen, wie er im Sommer üblich war, der nur den
12140 Vorderkopf bedeckte. Ein Kranz sehr feiner und zarter Federn
12141 schützte die Stirn und die Augen, indem er als ein
12142 halbkreisförmiger Schirm vortrat. Die Farbe war genau das tiefe
12143 Blau ihrer Augen, und von derselben Farbe war das den schlanken
12144 Formen sich anschließende weiche Panzerkleid, das, stärker als
12145 Seide, metallisch, wie die Flügeldecken mancher Käfer schimmerte.
12146 Der Schleier, auf beiden Schultern befestigt, wurde von einem
12147 Gürtel zusammengehalten, dessen Grund unsichtbar war, er erschien
12148 nur wie ein Kranz ineinander verschlungener Zweige. Vom Gürtel ab
12149 floß der Schleier, dessen Farbe genau dem Lichtbraun des Haares
12150 angepaßt war, in dichten Falten um die ganze Gestalt bis zu den
12151 Knöcheln, wurde aber von scheinbar vom Gürtel herabhängenden
12152 Blütengewinden durchsetzt. Dunkelblaue Schuhe vollendeten den
12153 Anzug. Es war, als hätte sich der schimmernde Lichtglanz der Augen
12154 und das zarte Gewölk des Haares um den ganzen Körper verbreitet.
12156 Hinter Isma erschien eine ältere, würdige Dame, Frau Ma, die Gattin
12157 Ills.
12159 „Guten Morgen“, rief Ell, ihr freudig entgegentretend. „Darf ich
12160 dir deinen Gast entführen?“
12162 Ma warf mit jugendlicher Frische den Kopf zurück und blinzelte Ell
12163 mit ihren gutmütigen Augen vergnügt an, ihn von oben bis unten
12164 musternd.
12166 „Ganz wie eingeboren!“ sagte sie lachend. „Eigentlich hatte ich
12167 mich auf einen Menschenneffen gefreut, der in Felle gekleidet
12168 umherläuft. So macht man’s wohl? Nicht?“
12170 Dabei streckte sie Ell ihre linke Hand entgegen.
12172 „Die rechte, Tante!“ sagte Ell.
12174 „Na also dann wohl die?“
12176 Ell ergriff die Hand und zog sie an seine Lippen.
12178 „So also wird das gemacht?“
12180 „Herren gegen Damen, wenn sie besonders aufmerksam sein wollen.
12181 Einer Tante darf man sogar um den Hals fallen.“
12183 „Na, ein andermal. Aber nun sag einmal, Neffe, wie gefällt dir das
12184 Kind?“ Dabei faßte sie Isma am Arm und drehte sie ohne weiteres um
12185 sich selbst. „Mir gefällt bloß nicht“, fuhr sie sogleich fort, „daß
12186 sie so traurige Augen macht. Das ist nichts, auf dem Nu muß man
12187 lustig sein. Nun nimm sie einmal mit und zeig ihr die Welt. Du
12188 sollst mir sie ein bißchen munter machen.“
12190 Sie ließ Isma gar nicht zu Wort kommen, sondern schob die beiden,
12191 sie freundlich auf die Schulter klopfend, nach der Treppe. Schon
12192 hatte Isma den Wagen bestiegen, und Ell wollte ihn eben in Bewegung
12193 setzen, als Ma rief:
12195 „Halt, halt! Isma, Frauchen, Sie haben ja Tuch und Schirm
12196 vergessen. Bleiben Sie nur sitzen. Ich hab’s schon drin
12197 zurechtgelegt.“
12199 Im Augenblick erschien sie wieder und warf ein kleines Rohr hinab.
12200 Ell fing es auf.
12202 Isma dankte.
12204 „Wenn Sie auf der einen Seite ziehen, ist’s ein Schirm, und auf der
12205 andern bekommen Sie ein Umschlagetuch. Da, an den Gürtel hängt
12206 man’s – – zeig’s ihr doch, Ell! Fahrt wohl, ihr Kinder.“
12208 Isma betrachtete das zierliche Röhrchen. „Ich denke“, sagte sie,
12209 „hier regnet es nur in der Nacht. Wozu braucht man da einen
12210 Schirm?“
12212 „Es ist auch eigentlich ein Sonnenschirm.“
12214 „Aber hier ist überall der wunderbare Baumschatten, und die Straßen
12215 draußen sind alle überwölbt.“
12217 „Es gibt auch Lichtungen und Übergänge, wo der Schirm unentbehrlich
12218 ist; denn wo die Sonne scheint, brennt sie gewaltig. Obwohl wir
12219 soviel weiter von ihr entfernt sind als auf der Erde, schützt uns
12220 doch nicht die dichte Erdenluft; es ist, als ob wir auf dem
12221 Gaurisankar ständen.“
12223 „Aber diese herrliche Vegetation.“
12225 „Den Verhältnissen angepaßt, und die sind doch wieder ganz andere
12226 als auf einem Gebirge. Hier in den Niederungen halten wir alle
12227 Wärme fest und geben keine wieder heraus. Dafür sorgen die großen
12228 pelzverbrämten Blätter unsrer Riesenbäume. Aber Sie sind an das
12229 Klima nicht gewöhnt, es ist vielleicht besser, wenn Sie während des
12230 Fahrens sich in das Tuch hüllen. Erlauben Sie.“
12232 Ell nahm Isma das Schirmröhrchen aus der Hand und zog an dem Ring,
12233 welcher das eine Ende abschloß. Eine kleine Rolle, nicht größer als
12234 ein Zeigefinger, schob sich heraus, scheinbar schwarz; aber unter
12235 Ismas Händen entfaltete sich das Röllchen zu einer großen Decke, in
12236 die man den ganzen Körper einhüllen konnte. Das Gewebe war ganz
12237 weich, locker und vollständig unsichtbar, die eingewebten dunklen
12238 Fäden dienten nur dazu, überhaupt erkennen zu lassen, wo das Tuch
12239 sich befand und wie weit es reichte. Isma hüllte sich behaglich
12240 hinein, und man bemerkte nicht, daß sie überhaupt ein Tuch
12241 umgeschlagen hatte; ihre Toilette blieb vollständig sichtbar.
12243 „Das ist ja wie das Zelt der Fee Paribanu“, sagte sie lächelnd.
12244 „Aber wie bekommt man denn das Tuch wieder in das Futteral?“
12246 „Man knüllt es einfach in der Hand zusammen und stopft es hinein.
12247 Diesen Lisfäden ist es ganz gleichgültig, wie sie zu liegen kommen,
12248 man kann sie zusammenpressen wie Luft.“
12250 „Jetzt ist es erst behaglich“, sagte Isma. „Und wie still und
12251 schön. Das ist ja wie in unserem Wald, nur Felsen scheint es nicht
12252 zu geben. Aber so viel Wasser! Und ich denke, der Mars ist so
12253 wasserarm?“
12255 „Das ist auch richtig, wir haben kein Meer, wenigstens kein
12256 nennenswertes. Unser ganzer Reichtum ist auf dem Land verteilt, da
12257 nutzen wir ihn aus.“
12259 Es war am frühen Vormittag. Die Wege hier im Waldesdickicht waren
12260 einsam, nur hin und wieder begegnete man einem Gleitwagen oder
12261 einem Spaziergänger. Ell hatte sein Gefährt langsam durch den
12262 Naturpark gelenkt, es näherte sich jetzt der gegenüberliegenden
12263 Grenze des Bezirks, die Wege wurden belebter, und die ersten Häuser
12264 der Wohnungszone erschienen. Ein starkes Geräusch wie das einer
12265 Säge unterbrach die Ruhe der Umgebung. Bei einer Wegbiegung wurde
12266 die Ursache sichtbar. Es war in der Tat eine große Säge, die, von
12267 einem elektrischen Motor getrieben, den sieben Meter im Durchmesser
12268 haltenden Stamm eines der Waldriesen bereits bis auf einen kleinen
12269 Rest durchnagt hatte. Das Alter – er zählte über sechstausend Jahre
12270 – hatte ihn vollständig gehöhlt und der Zusammensturz war zu
12271 befürchten; man mußte ihn beseitigen.
12273 „Mitten zwischen diesen anderen Bäumen“, rief Isma, „wie ist das
12274 möglich? Er muß ja in seinem Fall ringsum alles zermalmen.“
12276 Auch Ell wußte keine Auskunft zu geben. „Vielleicht sehen wir bald,
12277 was geschieht, wenn wir ein wenig warten, die Säge ist ja schon
12278 fast hindurch. Man muß doch keine Gefahr befürchten, denn nur ein
12279 kleiner Kreis ringsum ist abgesperrt.“
12281 Nach wenigen Minuten war die Säge aus der Rinde vollends
12282 herausgedrungen. Die Maschine schob sich beiseite, und die Arbeiter
12283 zogen sich außerhalb des abgesperrten Kreises zurück. Der
12284 Arbeitsleiter sprach in ein Telephon, dessen Drähte sich nach oben
12285 zwischen den Ästen der Bäume verloren. Gleich darauf vernahm man
12286 ein gewaltiges Rauschen zwischen den Blättern, einzelne Zweige
12287 wurden geknickt, und Blätter fielen herab. Der Riesenbaum schwankte
12288 ein wenig und hob sich langsam in die Höhe. Wie er gestanden,
12289 senkrecht, schwebte er aufwärts zwischen seinen gesunden Nachbarn,
12290 von denen nur einzelne Äste und Zweige mitgerissen wurden, die sich
12291 zu eng mit denen des gefällten Baumes verbunden hatten. Ein
12292 Streifen Sonnenlicht durchbrach das blaugrüne Laubdach.
12294 „Ich sehe es jetzt“, rief Ell. „Sie heben den Baum mittels
12295 Luftballons in die Höhe. So wird er sogleich bis zur Fabrik
12296 transportiert werden, wo man das Holz verarbeitet. Und raten Sie,
12297 was in dem hohlen Baum steckt!“
12299 „Nichts, vermutlich.“
12301 „Hier, Ihr Tuch. Vielleicht hunderttausend solcher Tücher. Sehen
12302 Sie, da –“
12304 Eine Anzahl Neugieriger, besonders aber Kinder, hatten sich um den
12305 abgesperrten Kreis gesammelt. Als die Schranken fielen, stürzten
12306 sie mit Jubel auf den Stumpf des Baumes zu und kletterten auf den
12307 Rand. Gleich darauf sah man sie, die Hände fest zusammengedrückt,
12308 davonlaufen.
12310 „Was haben sie da?“ fragte Isma.
12312 „Das Gewebe der Lisspinne, es füllt die Höhlung des Baumes zum
12313 großen Teil aus, und was unten im Stumpf bleibt, gehört dem, der es
12314 nimmt.“
12316 Ein kleiner Junge rannte auf Ells Wagen zu, den er im Eifer so spät
12317 bemerkte, daß er beim Ausweichen hinstürzte. Gleich war er wieder
12318 auf den Beinen, aber jetzt suchte er nach seiner Handvoll Lis, die
12319 ihm entfallen und nun kaum zu sehen war. Isma, die den Wagen
12320 verlassen hatte, sah das Gewebe zufällig am Boden glitzern und hob
12321 es auf. Sie betrachtete es neugierig. Der Knabe bemerkte es. Es war
12322 ein kleines, dickes, pausbäckiges Kerlchen, sehr ärmlich gekleidet.
12323 Er starrte Isma an. Sie hielt ihm das wirre, weiche Fadenknäuel
12324 hin. Seine Augen leuchteten groß auf, als er es wieder erhielt,
12325 aber er blieb wie angenagelt mit gespreizten Beinchen vor Isma
12326 stehen. Seine Blicke gingen jetzt zwischen Isma und seinen Händen
12327 hin und her. Er kämpfte offenbar einen großen Kampf. Dann hielt er
12328 das Päckchen Isma wieder hin und sagte, als wenn er ein Königreich
12329 vergäbe:
12331 „Ich schenke es dir.“
12333 „Warum?“ fragte Isma lächelnd.
12335 „Weil du kleine Augen hast.“
12337 Isma wußte nicht, ob sie recht verstanden habe, und sah Ell
12338 zweifelnd an.
12340 „Weil ich kleine Augen habe?“ wiederholte sie fragend.
12342 „Kleine Augen sind traurig, man schenkt ihnen“, sagte der Knirps.
12344 „Ich will dir –“ Isma unterbrach sich. „Ich will dir auch etwas
12345 schenken, weil du große Augen hast“, wollte sie sagen. Aber es fiel
12346 ihr ein, daß sie nichts zu verschenken habe. Der kleine Nume auf
12347 seinen Wackelbeinchen – was konnte sie ihm als Gegengabe bieten?
12349 Ell verstand sie. Er griff in die Wagentasche, in der sich einige
12350 kleine Erfrischungen befanden, und gab Isma ein Stückchen
12351 Naschwerk.
12353 „Das ist etwas für ihn“, sagte er.
12355 Der Junge lachte über das ganze Gesicht, als ihm Isma den Kuchen
12356 reichte. Diese Sprache verstehen die Kinder aller Planeten. Aber er
12357 biß nicht sogleich hinein.
12359 „Gib ihr auch“, sagte er zu Ell. „Du hast große Augen. Große Augen
12360 dürfen nicht essen, wenn kleine hungern.“
12362 Er beruhigte sich nicht eher, bis Isma einen Kuchen in der Hand
12363 hielt. Dann rannte er spornstreichs davon.
12365 Isma stieg ein. Der Wagen rollte weiter.
12367 „Was meinte er mit den kleinen Augen?“ fragte Isma.
12369 „Das ist eine sprichwörtliche Redensart. ›Kleine Augen‹ nennt man
12370 unglückliche, kranke, armselige Leute. Der Junge hat die Sache
12371 wörtlich genommen.“
12373 Man durchfuhr die Zone der Wohnhäuser, die Bäume hörten auf, der
12374 Wagen glitt unter die Säulenhallen der Industriestraße. Ell
12375 beschleunigte sein Tempo, er fuhr auf den Außenstreifen der
12376 Stufenbahn und war schnell auf der breiten Mittelstraße. In einem
12377 Gewühl von Fahrzeugen legte er hier seinen Weg zurück.
12379 Aus der Ruhe des ländlichen Hauses, in der Isma sich zunächst
12380 einige Tage bei der liebenswürdigen Pflege ihrer Wirte hatte
12381 erholen sollen, und jetzt aus der Einsamkeit des Waldfriedens fand
12382 sich Isma plötzlich in das Gedränge des Weltverkehrs, der Weltstadt
12383 im wörtlichen Sinn, versetzt. Denn diese Palastreihen bildeten in
12384 der Tat den Zusammenhang einer Riesenstadt, die sich über den
12385 größten Teil des Planeten verbreitete, nur mit der glücklichen
12386 Anordnung, daß sie meilenweite Wälder und auch Hunderte von Meilen
12387 ausgedehnte Wüsten zwischen ihren Mauern umschloß. Wenn Isma den
12388 Blick auf die Wagen und Fußgänger richtete, die sich in
12389 ununterbrochener Kolonne in derselben Richtung mit ihr bewegten
12390 oder auf der andern Seite der Straße ihr in rascher Gangart
12391 entgegenkamen, so glaubte sie in einer ungeheuern Völkerwanderung
12392 zu stecken. Dabei war das Geräusch keineswegs betäubend, denn auf
12393 diesem Planeten wickelte sich alles verhältnismäßig leise ab. Auch
12394 die relative Geschwindigkeit der Wagen und Fußgänger gegeneinander
12395 war nicht groß. Nur wenn sie nach den kühn aufstrebenden Säulen
12396 blickte, welche die mächtigen Wölbungen trugen, nach den Treppen
12397 und Aufzügen, die an den Seiten in die oberen Stockwerke führten,
12398 nach den Plakaten und Anschlägen, die sie von hier aus nicht zu
12399 entziffern vermochte, erkannte sie, daß der Weg selbst, auf dem ihr
12400 Radschlitten hinglitt, mit der dreifachen Geschwindigkeit eines
12401 irdischen Schnellzugs sie fortriß.
12403 Mit Erstaunen blickte sie auf ihren Nachbar zur Rechten, der den
12404 Wagen mit einer Sicherheit zwischen den übrigen hinlenkte, als wäre
12405 er seit Jahren an diese Beschäftigung gewöhnt. Allerdings hatte Ell
12406 bereits die wenigen Tage seines Aufenthalts benutzt, um sich
12407 gründlich in der Umgebung umzusehen. Er wohnte nicht weit von der
12408 Illschen Villa in einem eigenen Häuschen, hatte sich aber immer nur
12409 des Abends auf eine Stunde bei seinen Verwandten sehen lassen. Isma
12410 empfand diese Zurückhaltung nicht gerade als Zurücksetzung. Hatten
12411 sich doch beide auch in Friedau stets nur kurze Zeit gesprochen,
12412 und mußte sie sich doch sagen, daß ihn die neue Umgebung voll in
12413 Anspruch nahm. Aber nach dem gemeinsamen Erlebnis der Reise und
12414 hier, in der völligen Fremde, vermißte sie die Nähe des Freundes
12415 stündlich, des einzigen, der sie ganz zu verstehen vermochte.
12416 Gestern abend war dann der heutige Ausflug verabredet worden.
12418 Beide hatten, seitdem sie die Stufenbahn benutzten, kaum
12419 miteinander gesprochen. Ell mußte seine Aufmerksamkeit ganz auf den
12420 Weg richten, und Isma musterte neugierig und überrascht die
12421 Gesichter und Trachten rings um sie her. Offenbar strömten hier
12422 alle Klassen der Bevölkerung durcheinander, das ärmlichste Kleid
12423 erschien neben der elegantesten Toilette, der einfache Arbeitsanzug
12424 herrschte vor. Sie bemerkte bald, daß ihre von Ma ausgewählte
12425 Toilette sich sehen lassen durfte und sie sowohl wie ihr Gefährte
12426 nur durch ihre Züge und ihre bleichere Gesichtsfarbe auffielen.
12428 Nun wendete sich Ell wieder zu ihr. „Wir sind am Ziel“, sagte er.
12429 „jene helle Zahl dort – 608 – zeigt es an; bei 609 müssen wir die
12430 Bahn verlassen.“
12432 Er lenkte das Gefährt nach rechts. Die Bewegung verminderte sich
12433 merklich, Isma mußte sich fest im Wagen zurücklehnen. Jetzt glitt
12434 der Wagen auf die ruhende Straße. Nach wenigen Augenblicken hielt
12435 er unter einem Riesenportal hinter einer langen Reihe ähnlicher
12436 Fahrzeuge.
12438 Ell half Isma aus dem Wagen.
12440 „War es Ihnen unangenehm?“ fragte er, ihre Hand festhaltend. Sie
12441 erwiderte den leisen Druck seiner Finger. Sie freute sich, in
12442 seinen Augen wieder die gewohnte Sorge um sie zu lesen, die sie
12443 daheim so oft im stillen beglückt hatte.
12445 „Zuletzt begann ich etwas schwindlig zu werden“, antwortete sie.
12446 „Ich bin ganz froh, wieder einmal ein Stück zu Fuß gehen zu können.
12447 Wo führen Sie mich denn hin?“
12449 Er sah sie noch immer an. „Ich bin so glücklich, Sie hier zu
12450 haben!“
12452 Sie hob die Augen bittend zu ihm auf.
12454 „Was wollen Sie sehen?“ fragte er in anderem Ton. „Wir sind hier am
12455 Museum der Künste. Eine oder die andre Abteilung wollen wir
12456 betrachten.“
12458 „Was Sie wollen!“ sagte Isma heiter. „Wir ziehen nun einmal auf
12459 Abenteuer aus.“
12461 Ein Beamter befestigte eine Marke an Ells Wagen und reichte ihm die
12462 Gegenmarke. Dann schritten sie beide der Tür eines Aufzugs zu und
12463 ließen sich in das erste Stockwerk heben.
12465 \section{29 - Das heimliche Frühstück}
12467 Isma und Ell standen vor einem prachtvollen Portal, das die
12468 Aufschrift trug: ›Museum der schönen Künste‹. Es führte auf eine
12469 kreisförmige Galerie, die eine mächtige Rotunde umschloß. Der Blick
12470 öffnete sich sowohl nach unten wie nach oben. Man glaubte unten in
12471 das Gewühl des wirklichen Lebens zu blicken, in rascher
12472 Veränderung, von den Seiten immer neu herandrängend, sah man
12473 Gestalten in ihren gewohnten Beschäftigungen, in der Arbeit des
12474 Tages, andere mit dem Ausdruck des Leidens und den Mängeln der
12475 Wirklichkeit. Aber in der Mitte emporwallende Nebel umhüllten diese
12476 Figuren und hoben sie langsam in die Höhe. Je höher sie
12477 emporstiegen, um so mehr verschwand der Nebel und löste sich nach
12478 oben in immer helleres Licht auf. Die Gestalten wechselten ihren
12479 Ausdruck, ihre Blicke wurden frei, ihre Mienen verklärt, sie waren
12480 zu Werken der Kunst, zu reinen Formen geworden. Sie schienen zu
12481 ruhen, und doch stiegen immer neue Gestalten auf, ohne daß jene
12482 Bilderwelt an der Kuppel der Wölbung zunahm oder sich überfüllte.
12483 Es wär nicht möglich zu verfolgen, wie dieser Übergang in die Höhe
12484 sich vollzog, ein lebendiges Abbild des Mysteriums in der Seele des
12485 Künstlers.
12487 „Eine symbolische Darstellung des künstlerischen Schaffens“, sagte
12488 Ell.
12490 „Aber wo kommen diese Gestalten her und wohin gehen sie?“
12492 „Das Ganze beruht auf einer optischen Täuschung, und nach einigen
12493 Stunden würde man bemerken, daß dieselben Gruppen wiederkehren.
12494 Aber die Illusion ist vollständig. Nun suchen Sie sich eine dieser
12495 Überschriften aus.“
12497 Sie umschritten die Galerie. Die äußere Seite war ringsum von
12498 schmalen Türen umgeben, deren Aufschriften die Abteilungen nannten,
12499 zu denen man durch jene gelangte. Aber jede Hauptgruppe hatte
12500 wieder eine große Zahl Unterabteilungen, die historisch geordnet
12501 waren. Da zählte zum Beispiel bei der Malerei die ältere Malerei in
12502 der archaistischen Periode, das heißt vor Erfindung der
12503 selbstleuchtenden Farben, allein 30 Abteilungen, die jede mehrere
12504 Jahrhunderte umfaßte; die agrarische Periode zählte aus der Zeit
12505 der Handarbeit 315, aus der Zeit der Dampfkraft 56, der
12506 Elektrizität 212, der Energiestrahlung 25 Abteilungen. Die neuere
12507 Malerei begann erst seit der Erfindung der künstlichen Darstellung
12508 der Nahrungsmittel. Zwischen beiden lag eine Periode des Verfalls,
12509 die man den dreitausendjährigen sozialen Krieg nannte. Es war dies
12510 eine jetzt etwa 18.000 Jahre zurückliegende Zeit, in welcher ein
12511 allgemeiner Niedergang der Marskultur stattgefunden hatte. Sie war
12512 nämlich ausgefüllt durch furchtbare Kämpfe zwischen der
12513 ackerbautreibenden und der industriellen Bevölkerung. Durch die
12514 Darstellung der Lebensmittel aus den Mineralien ohne Vermittlung
12515 der Pflanzen glaubte sich die agrarische Bevölkerung in ihrer
12516 Existenz bedroht, obwohl sie längst nicht mehr den Bedarf an
12517 Lebensmitteln hatte decken können. Die Besitzer des Grund und
12518 Bodens waren als Herren der Nahrungsmittel zu unumschränkter Macht
12519 gelangt und wollten die Verbilligung der Volksernährung durch die
12520 neuen gewaltigen Fortschritte der Wissenschaft und industriellen
12521 Technik nicht dulden. Dieser Kampf füllte fast drei Jahrtausende in
12522 wechselnden Formen aus und endete erst mit der Vernichtung der
12523 Macht der Ackerbauer und der Begründung der vereinigten
12524 Marsstaaten. Während dieser Zeit hatte die Kunst keinerlei
12525 Förderung empfangen. Sie war erst wieder aufgeblüht, als statt der
12526 nüchternen Getreidefelder die anmutigen Wälder entstanden waren und
12527 der Erwerb von Grund und Boden für den einzelnen auf ein mäßiges
12528 Maximum beschränkt war.
12530 Isma ging ratlos an der Reihe der Überschriften entlang, die ihr
12531 Ell zu entziffern behilflich war. Sie schüttelte mutlos den Kopf.
12533 „Das ist mir zu viel und macht mich nur verwirrt. Suchen wir
12534 zunächst etwas ganz Einfaches, das ich verstehen kann. Was ist denn
12535 hier hinter der Malerei für eine Kunst?“
12537 „Die Tastkunst.“
12539 „Was ist das?“
12541 „Ich muß gestehen, ich weiß es selbst nicht recht.“
12543 „Lassen Sie uns sehen.“
12545 Ell öffnete die Tür. Sie führte in einen kleinen, mit zwei
12546 gepolsterten Bänken ausgestatteten Raum. Ell sah jetzt erst, daß
12547 sich in demselben ein Anschlag befand: ›Abgang alle zehn Minuten‹;
12548 eine Uhr zeigte, daß nur noch eine Minute zur Abgangszeit fehlte.
12549 Es war also nicht ein Zimmer, sondern eine Art Omnibus, worin man
12550 sich befand. Alle die Türen aus der Galerie führten in solche
12551 Coupés, die zu bestimmten Zeiten die Insassen nach den betreffenden
12552 Abteilungen des Museums beförderten. Denn die Anlagen waren zu
12553 ausgedehnt, um sie zu Fuß zu erreichen und sich bis dahin
12554 zurechtzufinden. Die Tür öffnete sich jetzt noch einmal, und zwei
12555 Damen flogen förmlich in den Raum. Gleich darauf setzte sich der
12556 Wagen in Bewegung.
12558 Die ältere der beiden Damen schnappte nach Luft; sie war eine sehr
12559 korpulente Erscheinung und nahm wenigstens zwei Plätze des Sofas
12560 ein.
12562 „Das war gerade die höchste Zeit!“ rief sie erhitzt und atemlos,
12563 indem sie ein feines Tuch hervorzog und fortwährend zwischen ihren
12564 kurzen, dicken Fingern rieb. „Diese Wagen gehen ja nur alle zehn
12565 Minuten. Der Besuch ist so schwach! Ja, es ist nur eine Kunst für
12566 Auserwählte. Sie schwärmen auch dafür?“ wandte sie sich zu Isma.
12567 „Sie sind Spitzistin? Nicht wahr?“ sagte sie, indem sie einen Blick
12568 auf Ismas schlanke und zarte Finger warf. „Ich bin natürlich
12569 Rundistin, aber das tut nichts. Sie wollen gewiß auch das neue
12570 Meisterwerk tasten? Blu hat sich wieder selbst übertroffen! Das ist
12571 das hohe Lied des Widerstandes, die Sphärenmusik des Hautsinns!“
12572 Und sie kniff die Augen schwärmerisch zusammen, daß sie zwischen
12573 den Fettpolstern ihrer Augenlider verschwanden.
12575 „Ich muß gestehen“, sagte Isma schüchtern, „ich bin noch ganz
12576 unerfahren in der Tastkunst. Ich weiß gar nicht –“
12578 „Was? Wie? Sie wissen nicht?“ Sie betrachtete Isma näher. „Sie sind
12579 wohl aus dem Norden von den Streifen, wenn ich fragen darf? Sie
12580 waren noch nie in Kla?“
12582 „Nein, meine Heimat ist fern von hier.“
12584 „Aber Blu sollten Sie doch kennen. Sie ist doch die größte –
12585 neidlos gestehe ich es, obwohl ich selbst Künstlerin bin. Und von
12586 allen Künsten ist wieder die Tastkunst die höchste. Auge, Ohr,
12587 Geruch, selbst Geschmack – was will das alles sagen! Der Tastsinn
12588 ist doch der intimste aller Sinne. Hier berühren wir die Dinge
12589 unmittelbar, sie bleiben uns nicht in der Ferne. Und schmecken ist
12590 ja eigentlich auch ein Tasten, nur ein unreines, gestört durch
12591 Gerüche und durch Salziges, Saueres, Bitteres, Süßes – aber die
12592 Fingerspitzen, die Handflächen, das sind die wahren Schlüssel zur
12593 Schönheit. Und hier im Tasten enthüllt sich die Kunst in ihrer
12594 höchsten Freiheit. Hier überwindet sie am reinsten die Macht des
12595 Wirklichen, das vitale Interesse. Was wir sehen, was wir hören,
12596 bleibt uns immer noch fern. Es ist keine Kunst, das ohne Verlangen
12597 zu betrachten, was wir doch nicht erreichen können. Aber die
12598 Gegenstände in den Händen halten und doch nichts von ihnen zu
12599 wollen als das reine, freie Spiel des Wohlgefallens, das ist echte
12600 Kunst. Spielt nicht ein jeder unwillkürlich mit dem, was er
12601 zwischen den Fingern hält? Dies zur Kunst zu erheben, das ist das
12602 wahrhaft Geniale! Das Rauhe, Glatte, Scharfe, Spitzige, Runde,
12603 Nachgebende, Elastische, Harte, Kratzende, Kribblige – ohne
12604 Gedanken, ohne Wünsche –, das ist das wahrhaft Ästhetische. Eine
12605 Tastsymphonie von Blu ist für mich das Höchste. Kommen Sie nur mit,
12606 ich werde sie Ihnen zeigen.“
12608 Isma blickte zu Ell hinüber.
12610 „Ich fürchte“, sagte er deutsch – es fiel auf dem Mars nicht auf,
12611 wenn man in Sprachen redete, die andere nicht verstanden, da die
12612 meisten Familien eigene Mundarten besaßen –, „ich fürchte, das wird
12613 für uns nichts sein. Wir sind wohl zu wenig auf diesen Kunstgenuß
12614 vorbereitet.“
12616 Die Dicke begann eben einen neuen Redestrom, als der Wagen hielt.
12617 Sie stürzte schleunigst hinaus. Ihre Begleiterin, die stumm
12618 geblieben war, folgte ihr, und Isma und Ell taten das gleiche.
12620 Man befand sich in einem großen Saal, in welchem man nichts
12621 erblickte als zahllose Kästen verschiedener Größe. Aufschriften
12622 gaben Verfasser und Inhalt des Tastkunstwerkes an, das sie
12623 enthielten. Vor einigen saßen Besucher in stiller Andacht und
12624 hielten die Arme bis zum Ellenbogen in zwei Öffnungen der Kästen
12625 versenkt.
12627 Die beleibte Dame suchte nach ihrem Katalog eine bestimmte Nummer.
12628 Vor dem betreffenden Kasten angelangt, streifte sie die Ärmel auf
12629 und steckte die Arme zunächst in ein Becken. Es war nicht mit
12630 Wasser gefüllt, sondern ein Luftstrom führte ein fein verteiltes
12631 ätherisches Öl gegen die Haut und bereitete durch diese Reinigung
12632 auf den nachfolgenden Kunstgenuß vor. Alsdann brachte die
12633 Kunstjüngerin durch einen Handgriff ein Uhrwerk in Gang, setzte
12634 sich auf einen Stuhl vor dem Kasten, steckte ihre Arme in die
12635 Öffnungen und versank in Schwärmerei. Isma und Ell hatten ihr auf
12636 gut Glück an dem ersten besten Kasten, der unbesetzt war, alles
12637 nachgeahmt. Aber nach wenigen Minuten zog Isma ihre Hände zurück.
12639 „Wollen Sie noch bleiben?“ fragte sie Ell.
12641 „Fällt mir nicht ein, wenn Sie nicht Lust haben. Ich wollte Sie nur
12642 nicht stören.“
12644 „Ich verzichte auf den Genuß. Ich kann nichts spüren als ein
12645 abwechselndes Drücken, Ziehen, Prickeln, Reiben – für mich ist das
12646 nur eine Art Massage.“
12648 „Mir ging es auch so. Es ist eine Kunst für Blinde. Wir müssen
12649 nicht tastkünstlerisch veranlagt sein. Wir wollen lieber nur einen
12650 kurzen Gang durch einen der andern Säle machen, und dann will ich
12651 Sie in das technische Museum führen.“
12653 Ohne von der Tast-Enthusiastin bemerkt zu werden, gingen die
12654 untastlichen Erdgeborenen nach dem Coupé zurück, das sie bald
12655 wieder in der Rotunde absetzte. Ein anderer Wagen, dicht von
12656 Besuchern erfüllt, trug sie in eine der Abteilungen für Skulptur.
12657 Hier fand sich Isma leichter zurecht. Es war eine Kunst für
12658 menschliche Sinne, eine Fülle großer Gedanken in wunderbarer
12659 Ausführung, aber doch im Grunde dieselbe unsterbliche Schönheit
12660 aller Vernunftwesen, wie sie auf der Erde auch schon vor
12661 Jahrtausenden ihre Meister fand. Das Neue und Überraschende lag nur
12662 in der Verfeinerung der Technik, in der Zartheit des Materials, in
12663 der spielenden Überwindung der Schwere, wodurch sich ungeahnte
12664 Effekte darboten. Nicht minder bewundernswert erschien die
12665 Architektur dieser Hallen, Wölbungen, Galerien. Oft sprangen die
12666 einzelnen Gemächer aus einem breiten Grundpfeiler in der Form von
12667 Blumenkelchen vor, die auf schlanken Stielen sich zu wiegen
12668 schienen. Diese Stiele enthielten die Treppen verborgen, auf denen
12669 man in die Gemächer gelangte. Isma erhielt den Eindruck, daß das
12670 Eigentümliche der martischen Kunst, das sie von der menschlichen
12671 unterschied, nicht in einer neuen Auffassungsform des Schönen lag;
12672 hier wirkten offenbar zeitlose Gesetze als bestimmende Ideen für
12673 die freie Gestaltung des Schönen bei allen bewußten Wesen. Der
12674 Fortschritt hing vielmehr ab von dem überlegenen Standpunkt der
12675 Technik, wodurch sich das Gebiet für die Anwendung des Ästhetischen
12676 ins Unermeßliche erweiterte. Nur die Intelligenz ist es, welche der
12677 ewigen Idee entgegenwächst. Ell bestätigte diese Bemerkung und
12678 stimmte Isma bei, nun zunächst ein oder das andre der technischen
12679 Wunderwerke aufzusuchen.
12681 „Ich fürchte nur, ich werde nichts davon verstehen“, sagte Isma.
12683 Sie waren inzwischen wieder in der Eingangsrotunde angelangt und
12684 hatten sich nach dem Ausgang hinabsenken lassen, wo ihr Schlitten
12685 bereitstand.
12687 „Was soll ich jetzt sehen?“
12689 „Frau Ma hat mir auf die Seele gebunden, Sie nach dem Retrospektiv
12690 zu führen. Das ist wohl die neueste und großartigste Entdeckung.“
12692 „Ich habe davon gehört und auch zu lesen versucht, aber Sie müssen
12693 mir die Sache noch einmal erklären. Ist es weit bis dorthin?“
12695 „Mit der Stufenbahn wenige Minuten. Aber wir können auch in einer
12696 halben Stunde quer durch den Wald fahren, und das will ich eben
12697 tun.“
12699 Er lenkte den Radschlitten über eine der Brücken, welche, die
12700 Bahnen und Kanäle überschreitend, in die Waldregion führten. Rasch
12701 glitt das Gefährt unter den Schatten der Bäume in die Zone der
12702 Wohnungen. Isma atmete auf.
12704 „Wie schön, daß wir bald wieder in die Waldeinsamkeit kommen!“
12705 sagte sie. „Da denke ich, wir sind daheim unter unsern Tannen, und
12706 Sie erzählen mir wieder von den Märchen des Mars –“
12708 „Und dabei packen wir unsre Butterbrote aus und frühstücken.“
12710 „Ach, Ell, ich wünschte, das ginge hier! Mir armem Menschenkind ist
12711 es schrecklich langweilig, immer so allein bei verschlossenen Türen
12712 essen zu müssen.“
12714 „Hier an der Straße und zwischen den Wohnungen geht es natürlich
12715 nicht. Sehen Sie, da ist die großartige Restauration, aber wenn wir
12716 zu speisen verlangten, würde man uns sofort jedem ein Extrakabinett
12717 anweisen, anders ist es unmöglich. Doch ich habe daran gedacht. Ich
12718 habe aus meinem Reisevorrat ein richtiges Erdenfrühstück
12719 eingesteckt; zwar das Brot ist trotz des luftdichten Verschlusses
12720 etwas altbacken, aber denken Sie, Friedauer Wurst und wirklichen
12721 Rheinwein! Wir suchen uns ein Plätzchen, wo uns niemand sehen kann.
12722 Ich freue mich wie ein Kind! Jedoch die gute Tante darf um Himmels
12723 willen nichts erfahren! Das wäre schlimmer, als wenn ich Ihnen auf
12724 dem Marktplatz von Friedau um den Hals fallen wollte!“
12726 „Stille von Friedau! Aber das Frühstück nehme ich an. Wir wollen
12727 dem Nu ein Schnippchen schlagen.“
12729 Ihre Augen glänzten schelmisch, indem sie zurückblickte, als
12730 fürchtete sie, gehört zu werden.
12732 „Eigentlich darf ich’s ja nicht als Nume. Ich bin da in meine
12733 Menschlichkeit zurückgefallen –“
12735 Isma richtete die Augen auf Ell. Er sprach im Scherz, aber sie
12736 hörte an der Art, wie er den Satz abbrach, daß ein ernstes Bedenken
12737 in ihm aufzutauchen begann.
12739 Ell sah, wie das glückliche Lächeln aus ihren Zügen zu verschwinden
12740 drohte, und er griff schnell nach ihrer Hand.
12742 „Nein, nein“, rief er, „geliebte Freundin, für Sie will ich nichts
12743 sein als der Mensch, der glücklich ist, wenn er Ihnen dienen kann.
12744 Aber ganz leicht ist es nicht. Denn sehen Sie – ein Nume soll ich
12745 nicht sein, damit Sie mich nicht verändert finden; und von der Erde
12746 soll ich nicht reden, damit Sie nicht traurig werden –“
12748 „Sie haben recht, mein treuer Freund – ich weiß ja selbst nicht,
12749 was ich will – ich verdiene gar nicht, daß Sie so gut sind –“
12751 Er ergriff ihre Hand und hielt sie fest. Seine Rechte lenkte den
12752 Radschlitten mühelos auf der glatten Bahn. Die letzten Wohnungen
12753 verschwanden. Dichtes Buschwerk bildete auf dem freien Rasen des
12754 Bodens ein Labyrinth von Plätzen und Gängen. Ein leichter,
12755 erfrischender Luftzug strömte über den Boden, denn die Lichtungen
12756 und die Industriestraßen, auf denen die Sonne brannte, wirkten um
12757 die Mittagszeit wie Schornsteine, welche die Umgebung ventilierten
12758 und die erwärmte Luft in die Höhe führten. Die Straße war einsam.
12759 Die Blumen musizierten leise, und kleine eichkätzchenartige Tiere
12760 spielten an den Stämmen der Bäume.
12762 Ell löste mit einem Druck des Fußes den Mechanismus aus, der die
12763 Kugelkufen emporhob und den Wagen auf zwei hochachsigen Rädern
12764 laufen ließ, so daß er sich auch auf unebenem Weg ohne
12765 Schwierigkeit bewegen konnte. Er verließ die Fahrstraße und fuhr
12766 auf dem Waldrasen zwischen Buschwerk und Bäumen dahin. Ein kleiner
12767 Weiher kam in Sicht, von einem klaren Bächlein genährt. Am Rande
12768 desselben hielt Ell den Wagen an; es war ein reizendes, stilles
12769 Ruheplätzchen. Kein Liebespaar konnte sich besser verstecken.
12771 „Hier können wir es wagen“, sagte Ell.
12773 Sie wollten nur frühstücken.
12775 Isma sprang aus dem Schlitten. Ell reichte ihr die Tasche mit dem
12776 heimlichen Vorrat. Beide sahen sich vorsichtig um und lachten dann
12777 über ihre Furcht. Sie packten ihre Schätze aus und vergaßen in
12778 heiterem Geplauder, daß über den Baumzweigen zu ihren Häuptern
12779 nicht der blaue Himmel der Erde, sondern das Blätterdach des
12780 martischen Riesenwaldes sich wölbte.
12782 „Kann man durch das Retrospektiv alles Vergangene sehen?“ fragte
12783 Isma.
12785 „Nein“, erwiderte Ell, „nur dasjenige, was unter freiem Himmel und
12786 bei genügender Beleuchtung vorgegangen ist. Der Erfolg beruht ja
12787 darauf, daß wir das Licht, welches damals von den Gegenständen
12788 ausgestrahlt wurde, auf seinem Lauf durch den Weltraum wieder
12789 einholen, sammeln und zurückbringen.“
12791 „Und wie ist das möglich?“
12793 „Ich habe Ihnen schon früher gesagt – was mir freilich die andern
12794 Menschen noch nicht glauben wollen –, daß die Gravitationswellen
12795 sich eine Million Mal so schnell fortpflanzen als das Licht. Sie
12796 können also das Licht auf seinem Weg einholen. Wenn zum Beispiel
12797 vor einem Erdenjahr irgend etwas unter freiem Himmel geschehen ist,
12798 so hat sich das von diesem Ereignis ausgesandte Licht jetzt bereits
12799 gegen zehn Billionen Kilometer weit in den Raum verbreitet. Die
12800 Gravitation aber durchläuft diesen Weg in einer halben Minute,
12801 trifft also nach einer genau zu berechnenden Zeit mit den damals
12802 ausgesandten Lichtwellen zusammen. Nun haben die Gelehrten der
12803 Martier ein Verfahren entdeckt, wodurch man bewirken kann, daß die
12804 den Lichtwellen nachgeschickten Gravitationswellen jene selbst in
12805 Gravitationswellen von entgegengesetzter Richtung verwandeln und
12806 somit zu uns zurückwerfen; sie laufen also in der nächsten halben
12807 Minute in der Form von Gravitationswellen den Weg zurück, den sie
12808 als Licht im Laufe eines Jahres durcheilt haben. Hier werden sie im
12809 Retrospektiv – und das ist die Großartigkeit dieser Erfindung – in
12810 Licht zurück verwandelt und durch ein Relais verstärkt, so daß man
12811 auf dem Projektionsapparat genau das Ereignis sich abspielen sieht,
12812 wie es sich vor einem Jahr vollzogen hat. Man kann den Versuch
12813 natürlich auf jeden beliebigen Zeitraum ausdehnen, aber die Bilder
12814 werden immer schwächer, je größer die vergangene Zeit ist, weil das
12815 Licht inzwischen im Weltraum zuviel Störungen erfahren hat. Es
12816 erfordert nun eine sorgfältige Berechnung, wann und wo ein Ereignis
12817 stattgefunden hat, das man zu sehen wünscht. Man kann daher das
12818 Retrospektiv – wenigstens vorläufig – nicht nach Belieben und
12819 schnell wie ein Fernrohr einstellen, sondern es gehört dazu ein
12820 umfangreicher Apparat, ein ganzes Laboratorium.“
12822 „Wir können also nicht zu sehen bekommen, was wir wollen?“
12824 „Nein, wir müssen uns mit dem begnügen, worauf der Apparat
12825 gegenwärtig eingestellt ist. Aber wenn es für einen bestimmten
12826 Zweck gerade notwendig ist, zum Beispiel um eine wichtige
12827 Rechtsfrage oder dergleichen zu entscheiden, so wird für diesen
12828 Zweck eine Berechnung und Einstellung vorgenommen.“
12830 „Kann man damit auch sehen, was zum Beispiel zu einer bestimmten
12831 Zeit auf der Erde vorgegangen ist?“
12833 „Ich zweifle nicht, daß sich das ermöglichen läßt.“
12835 „Und was kostet so eine Beobachtung, wenn man sie für einen
12836 besonderen Zweck machen lassen will?“
12838 „Dazu ist überhaupt die Erlaubnis der Staatsbehörde erforderlich.
12839 Es gibt nämlich, soviel ich weiß, bis jetzt kein Privat-
12840 Retrospektiv.“
12842 Isma schwieg nachdenklich. Dann sagte sie: „Nun weiß ich ja, was es
12843 mit dem Retrospektiv auf sich hat, und gefrühstückt haben wir auch,
12844 so daß wir eigentlich aufbrechen könnten. Aber es ist so schön
12845 hier, und ich bin gar nicht sehr neugierig, den Apparat zu sehen,
12846 denn was man wirklich dabei beobachtet, kann ja nicht viel sein,
12847 wenn man an dem vergangenen Ereignis kein Interesse hat.“
12849 „Das ist schon wahr, indessen Ma würde –“
12851 „Ich will es mir ja auch auf jeden Fall ansehen. Aber wir können
12852 wohl noch hier ein wenig ruhen.“
12854 Sie legte ihr Listuch unter den Kopf und streckte sich behaglich
12855 hin. „Wenn ich noch einen Schluck Wasser bekommen könnte!“ sagte
12856 sie.
12858 Ell nahm den mitgebrachten Becher und füllte ihn am Quell. Isma
12859 trank und gab das Glas dankend halb geleert zurück. Eben setzte es
12860 Ell an seine Lippen, um den Rest selbst zu trinken, als sich in der
12861 Ferne ein dumpfes Brausen erhob. Isma richtete sich erschrocken
12862 auf.
12864 „Was ist das?“ fragte sie. „Kommt jemand?“
12866 Ell hatte das Glas ohne zu trinken abgesetzt. Er lauschte. Das
12867 Brausen nahm zu. Er zog seine Uhr.
12869 „Es ist nichts“, sagte er, „es ist das Mittagszeichen.“ Er verglich
12870 sorgfältig die Uhr. Das Brausen mochte eine Minute gedauert haben,
12871 dann brach es mit einem hellen Schlag plötzlich ab.
12873 „Der Anfangspunkt der Planetenzeitrechnung wird so markiert. Hier
12874 bei uns, nicht weit von der Zentralwarte, fällt er nur kurze Zeit
12875 nach dem wahren Mittag. Aber ich glaube, wir müssen doch
12876 aufbrechen.“
12878 Er hatte nicht getrunken, sondern das Wasser unbemerkt, wie er
12879 glaubte, auf die Erde fließen lassen, und bückte sich jetzt, um
12880 alle Spuren des gemeinsamen Frühstücks zu beseitigen.
12882 Isma stand schweigend auf und begab sich in den Wagen. „Wir sind
12883 auf dem Mars“, seufzte sie leise. Sie lehnte sich zurück und schloß
12884 die Augen.
12886 Bald darauf kam Ell. Er betrachtete sie mit einem innigen Blick.
12887 Der Mittagston hatte ihn wieder auf den Mars zurückgeführt. Ein
12888 tiefes Mitleid mit dem Geschick der Freundin überkam ihn, und die
12889 ganze Fülle seiner Liebe fühlte er in sich aufsteigen. Er hätte
12890 sich zu ihr herabbeugen und ihre Lippen mit Küssen bedecken mögen.
12891 Und doch war etwas Trennendes zwischen sie getreten, dessen er sich
12892 nicht zu erwehren wußte. Er küßte die schmale Hand, die auf der
12893 Seitenlehne des Wagens ruhte.
12895 Isma öffnete die Augen und schüttelte leicht den Kopf.
12897 „Sie sind müde, Isma“, sagte Ell. „Hier, nehmen Sie von diesen
12898 Pillen, und Sie werden sich erquickt fühlen wie nach einem festen
12899 Schlaf.“
12901 „Nein, nein, solche Nervenreize mag ich nicht, das ist eine falsche
12902 Erquickung.“
12904 „Diese nicht. Es ist kein anregendes Nervengift, das den Körper zur
12905 Abgabe seiner letzten Energiereserve veranlaßt wie unsre irdischen
12906 Reizmittel. Es führt dem Blut und damit dem Gehirn wirklich die
12907 verbrauchte Energie wieder zu, und zwar genau in der Form, wie es
12908 durch den Schlaf geschieht. Die Pillen sind ganz unschädlich. In
12909 einer halben Stunde sind Sie wieder frisch wie am Morgen. Sie sind
12910 noch zu wenig an unsere Luft gewöhnt, Sie brauchen eine Hilfe in
12911 diesem Klima.“
12913 Isma nahm die Pillen. Ell schwang sich an ihre Seite, und der Wagen
12914 rollte nach der Straße zu. Der übrige Teil des Waldes und die
12915 Wohnungsräume wurden durchschnitten und die Industriestraße im
12916 Quartier Tru erreicht. Ell hemmte den Wagen vor einem Tor, das er
12917 für den Zugang zum Retrospektiv hielt. Er hatte sich jedoch in der
12918 Richtung getäuscht, in der er durch den Wald gefahren war, und
12919 bemerkte jetzt erst, daß er sich vor dem Erdmuseum befand.
12921 „Corsan ba“, las Isma die Rieseninschrift, „das heißt ja doch wohl
12922 ›Sammlungen von der Erde‹?“
12924 „Ja“, antwortete Ell, „ich habe mich geirrt. Wir müssen nach der
12925 anderen Seite – die Stufenbahn bringt uns in einer Minute hin.“
12927 „Ich hätte eigentlich Lust –“, sagte Isma zögernd, „könnten wir
12928 nicht hier einmal uns umsehen?“
12930 „Gewiß, aber Sie wollten ja heute nichts von der Erde wissen.“
12932 „Es ist schon wahr – aber ich bin neugierig, was ihr hier von dem
12933 wilden Planeten gesammelt habt. Und man wird die alte Erde doch
12934 nicht los.“ Sie seufzte. Unentschieden sah sie abwechselnd auf die
12935 Menge, die in den Eingang strömte, und dann auf Ell.
12937 „Es ist heute besonders stark besucht“, sagte dieser, „alles redet
12938 jetzt von den Menschen. Wenn man uns nur nicht erkennt – wir tun
12939 vielleicht besser, eine andere Zeit zum Besuch zu wählen.“
12941 „Sie sehen, man achtet gar nicht auf uns.“
12943 „Weil diese Leute erst hineingehen. Wenn wir am Ausgang ständen,
12944 wäre es vielleicht anders, unsere Gesichter würden auffallen.“
12946 „Ach was“, rief Isma lebhaft. „Nun will ich gerade hinein. Ich habe
12947 meinen dunklen Schneeschleier eingesteckt, durch den man nicht
12948 hindurchsehen kann. Wir sind nun einmal hier – kommen Sie, Ell!“
12950 Ell lächelte. „Das kommt von den Energiepillen“, sagte er. „Jetzt
12951 haben Sie wieder Mut. Nun, man wird uns nichts tun, aber wenn man
12952 Ihnen wieder Spielzeugtüten zuwirft, wie an der Polstation, so
12953 halten Sie sie nicht für Blumensträuße.“
12955 Isma schlug ihn mit ihrem Schirmröhrchen auf die Hand. „Zur Strafe
12956 kommen Sie mit“, sagte sie, „damit Sie meine Trophäen tragen
12957 können. Und nun gehe ich auch ohne Schleier trotz der kleinen
12958 Augen.“
12960 Sie traten in das Gebäude.
12962 \section{30 - Das Erdmuseum}
12964 Die einströmende Menge verteilte sich in den weiten Räumlichkeiten
12965 des Erdmuseums, so daß Isma und Ell zwar nirgends allein, aber doch
12966 nicht gerade beengt waren. Isma wollte gern sehen, was an der Erde
12967 die Aufmerksamkeit der Martier besonders fessele, und wandte sich
12968 daher solchen Gängen und Sälen zu, in denen sich die Hauptmasse der
12969 Besucher zusammendrängte; Ell folgte ihr und musterte wie sie nicht
12970 weniger die Beschauer als die Gegenstände. Ein riesiger Saal
12971 enthielt in historischer Darstellung eine vollständige Entwicklung
12972 der Raumschiffahrt. Ell hätte sich gern hier näher in die
12973 Einzelheiten vertieft, aber Isma interessierte sich wenig dafür und
12974 drängte weiter. Ein Wandelpanorama, das eine Reise nach der Erde
12975 darstellte, ließen sie beiseite liegen und hielten sich nur kurze
12976 Zeit bei der Darstellung des Luftexports von der Erde auf. Die
12977 Maschinen, die den Menschen auf der Polinsel nicht zugänglich
12978 gemacht worden waren, arbeiteten hier vor ihren Augen in gefälligen
12979 Modellen. Sie sahen, wie die Luft in starke Ballons gepumpt und im
12980 leeren Raum zum Erstarren gebracht wurde. Die gefrorenen Luftmassen
12981 hatten das Aussehen von bläulichen Eiskugeln und die Dichtigkeit
12982 des Stahls.
12984 Sehr dürftig war die Sammlung der pflanzlichen und tierischen
12985 Produkte der Erde, da sie nur aus den polaren Regionen stammte. Was
12986 der ›Glo‹ mitgebracht hatte, war noch nicht dem Museum übergeben
12987 worden. Dagegen hatte man schon die Nachrichten, Gegenstände und
12988 Abbildungen verwertet, die Jo im ›Meteor‹ von der Tormschen
12989 Expedition mitgebracht hatte. Hier drängten sich die Zuschauer
12990 dicht zusammen, und Isma und Ell waren gezwungen, ihrem langsamen
12991 Zug zu folgen. Es berührte sie ganz seltsam, als sie hier Grunthe
12992 und Saltner in verschiedenen lebensgroßen Aufnahmen vor sich sahen
12993 und auf dem Tisch eine Reihe von Ausrüstungsstücken, Kleidern und
12994 Kleinigkeiten ausgebreitet bemerkten, die Grunthe den Martiern
12995 überlassen hatte. Isma mußte an sich halten, um sich nicht
12996 einzumischen, als sie die Bemerkungen der Martier und die Scherze
12997 vernahm, die sie über die Menschen und ihre Industrie machten.
12999 Plötzlich faßte sie Ells Arm und drückte ihn, daß es schmerzte.
13001 „Was gibt es?“ fragte er.
13003 „O sehen Sie!“
13005 Eine Gruppe von Herren und Damen musterten eine Photographie.
13007 „Eine weibliche Bat!“ sagten sie. „Sie ist hübsch“, meinten die
13008 einen.
13010 „Viel zu mager“, die andern.
13012 Es war Ismas Bild. Die Photographie hatte sich unter Torms Effekten
13013 gefunden und war mit andern Kleinigkeiten hierhergekommen.
13015 Die neben Isma stehende Dame, die sie eben zu mager gefunden hatte,
13016 warf zufällig einen Blick auf ihr Gesicht. Sie stutzte und stieß
13017 ihre Nachbarin an. Ell sah, daß man auf seine Begleiterin
13018 aufmerksam wurde. Die Umstehenden wurden still.
13020 „Kommen Sie“, sagte er hastig zu Isma. „Man erkennt Sie.“
13022 Er zog sie fort, beide drängten sich durch das Gewühl. Sie wandten
13023 sich nach einer Stelle, wo das Gedränge geringer war, und glaubten
13024 plötzlich auf dem Dach der Polinsel zu stehen. Das Panorama des
13025 Nordpols breitete sich in naturgetreuer Nachahmung vor ihnen aus.
13026 Dicht zu ihren Füßen schien das Meer zu branden. Das Jagdboot der
13027 Martier lag zur Abfahrt bereit – zwei Eskimos lösten das Seil, das
13028 es am Ufer hielt. Im Boot saßen Martier mit ihren Kugelhelmen. Und
13029 dort – auf der andern Seite –, da standen Grunthe und Saltner, wie
13030 sie leibten und lebten. Grunthe, mit zusammengezogenen Lippen,
13031 schrieb eifrig in sein Notizbuch, Saltner sah lächelnd einer
13032 verhüllten Gestalt nach, die auf zwei Krücken dahinschlich und die
13033 Wirkung der Erdschwere auf die Martier veranschaulichen sollte.
13035 „Da sind unsre Freunde!“ rief Ell, wirklich überrascht. Es waren
13036 meisterhaft nachgebildete Figuren.
13038 Isma stand lange still. Die Plattform begann sich mit andern
13039 Besuchern zu füllen. „Wir wollen lieber gehen“, sagte sie. „Hier
13040 unten scheint es leer zu sein, vielleicht kommen wir dort an den
13041 Ausgang.“
13043 Gegenüber dem Haupteingang führte von dem nachgeahmten Teil des
13044 Inseldaches eine schmale Treppe abwärts. Ell blickte hinunter. „Es
13045 scheint niemand da zu sein“, sagte er.
13047 Sie stiegen hinab und befanden sich in einem Gemach, das einem der
13048 Gastzimmer auf der Insel nachgebildet war. Keiner von ihnen hatte
13049 beachtet, daß über der Tür die Inschrift ›Vorsicht‹ stand und vor
13050 derselben eine Anzahl Stöcke zum Gebrauch aufgestellt waren.
13052 „Oh, hier ist es angenehm“, rief Isma, indem sie sich auf einen der
13053 an der Wand stehenden Lehnstühle setzte. „Hier wollen wir uns ein
13054 wenig ausruhen.“ Sie bemerkte, daß irgendeine Veränderung mit ihr
13055 vorging, die ihr wohltat, wußte jedoch nicht, was der Grund sei.
13057 Ell wollte seinen Sessel in ihre Nähe heben, mußte aber dazu eine
13058 ungewohnte Kraft aufwenden. „Sind diese Sessel schwer!“ sagte er.
13059 Im selben Augenblick fiel ihm die Ursache ein.
13061 „Hier herrscht ja Erdschwere“, rief er überrascht. „Das ist also
13062 auch eine Demonstration, und darum ist es so leer hier.“
13064 „Das ist herrlich!“ sagte Isma vergnügt.
13066 Ein Martier trat in die Tür, knickte zusammen und zog sich sogleich
13067 zurück. Isma lachte laut. Sie sprang auf, drehte sich vor Vergnügen
13068 im Kreis und rief:
13070 „Kommt nur herein, meine Herren Nume, hier ist die Erde, hier
13071 zeigt, ob ihr tanzen könnt!“ Sie schlüpfte hierhin und dahin,
13072 rückte an den Stühlen und nahm ihren Hut ab. „Ich bin wie zu
13073 Hause!“ sagte sie. „Jetzt sieht man erst, daß die angebliche
13074 Leichtigkeit dieser Federhaube eigentlich Schwindel ist. Sehen Sie
13075 nur, wie eilig sie es hat, hinabzufallen!“
13077 Ell sah ihr schweigend zu. Er schüttelte leicht den Kopf. „Ein Kind
13078 der Erde“, dachte er bei sich. „Sie würde hier oben niemals
13079 heimisch werden.“
13081 Isma war vor eine Tür getreten. „Ob es dahinten auch noch schwer
13082 ist?“ fragte sie.
13084 Ell zog den Vorhang zurück. Es zeigte sich ein Balkon, von dem aus
13085 man ins Freie unter die Wipfel der Bäume blickte. Die Gestalt eines
13086 Mannes lehnte am Geländer. Er drehte der Tür den Rücken zu und sah,
13087 mit der Hand die Augen schützend, auf die Straße hinab.
13089 Ell und Isma blickten sich an. Dann lachte Isma auf.
13091 „Da haben sie ja den Saltner noch einmal hingestellt“, rief sie.
13092 „Und wie natürlich! Man möchte meinen, er müßte sich umdrehen und
13093 ›Grüß Gott‹ sagen.“
13095 Die Gestalt schnellte herum.
13097 „Grüß Gott!“ rief Saltners Stimme. Er sprang auf Ell und Isma zu
13098 und schüttelte ihnen die Hände.
13100 „Das ist gescheit“, rief er, „daß man schon einmal Menschen trifft.
13101 Das ist eine Freud! Aber um alles in der Weit, wie kommen denn Sie
13102 alleweil hierher? Ich bin ja gerad auf dem Weg zu Ihnen. Haben’s
13103 denn meine Depesche nicht erhalten?“
13105 „Wir sind seit heute früh von Hause fort.“
13107 „Ja, da wird sie halt dort liegen. Schauens, ich hab Ihnen heut
13108 früh telegraphiert, als wir von Frus Wohnort weggereist sind, um
13109 Sie zu besuchen. Unterwegs wollten sie mir den Kram hier zeigen,
13110 aber wie ich hier in das schöne schwere Zimmer gekommen bin, hab
13111 ich gesagt, nun lassens mich aus, jetzt bleib ich hier, bis Sie
13112 sich alles angeschaut haben, und dann holens mich wieder ab. Denn
13113 das hatt’ ich satt, daß mir die Herren Nume alle nachschauten und
13114 die Kinder mir nachliefen und meine gute Joppe anfaßten.“
13116 „Aber wie konnten Sie auch in Ihrem Reisekostüm von der Erde sich
13117 hier sehen lassen?“
13119 „Wissen Sie, ich bin halt ein Mensch, und so bleib ich einer. Ich
13120 werd mich doch nicht in eine neue Haut stecken, wo ich nicht einmal
13121 eine richtige Westentasch’ für meinen Zahnstocher hab? Und so gut
13122 wie Ihnen, Gnädige, würd mir’s Marsröckel auch nicht stehn.“
13124 Isma schüttelte ihm nochmals die Hand. „Sie sind der alte
13125 geblieben, Herr Saltner! Nun setzen Sie sich mit her, und lassen
13126 Sie sich erst einmal ordentlich von mir ausfragen!“
13128 Saltner schilderte in seiner anschaulichen und drastischen Weise
13129 auf Ismas Fragen die Einzelheiten der Expedition, über die Grunthe
13130 nur in seiner knappen Formulierung berichtet hatte, und ließ sich
13131 von Isma die Ereignisse aus Deutschland und ihre eigenen Erlebnisse
13132 seit der Ankunft Grunthes in Friedau erzählen. Über die Reise Ills
13133 nach dem Pol, den Kampf der Schiffe und die Fahrt nach dem Mars
13134 hatte er bis jetzt nur die Darstellungen kennengelernt, welche die
13135 kurzen Depeschen gaben, und die Gerüchte und Betrachtungen, welche
13136 die Zeitungen daran knüpften. Letztere gründeten sich auf die
13137 mündlichen Mitteilungen der von der Erde zurückgekehrten Martier.
13138 Der offizielle Bericht sollte erst erscheinen, nachdem er vom
13139 Zentralrat dem Hause der Deputierten vorgelegt worden. Dies mußte
13140 inzwischen geschehen sein, denn heute sollte die betreffende
13141 Sitzung stattfinden. Es war zu vermuten, daß die Beratungen darüber
13142 sich noch einige Tage hinziehen würden. Dann erst, nach Anhörung
13143 der Deputiertenversammlung, konnte der Zentralrat einen definitiven
13144 Beschluß fassen über die der Erde gegenüber zu treffenden
13145 Maßnahmen. Da hierbei alle auf der Erde tätig gewesenen höheren
13146 Beamten als Sachverständige eventuell gebraucht wurden, mußte Fru
13147 seinen Urlaub, auf den er sonst nach der Rückkehr von der Erde
13148 Anspruch hatte, unterbrechen, um sich in Kla aufzuhalten. Saltner,
13149 der als Gast der Marsstaaten selbst die Rechte eines Numen erhalten
13150 hatte, war auf seinen eigenen Wunsch unter die spezielle Fürsorge
13151 Frus gestellt worden und wollte nun auch in Kla in seiner Obhut
13152 bleiben. Der weiten Entfernung wegen, welche den gewöhnlichen
13153 Wohnort Frus von Kla trennte, mußte der Transport der Wohnungen
13154 schon am Tag beginnen, und Fru war mit Frau und Tochter und seinem
13155 Gast Saltner vorangereist. Sie wollten sich das Erdmuseum ansehen,
13156 und hier hatte Saltner seine Freunde von der Erde getroffen.
13158 Ill, von den Verhandlungen im Zentralrat völlig in Anspruch
13159 genommen, hatte sich zu Hause über die zu erwartenden Maßnahmen
13160 nicht geäußert und auch aus Schonung für Isma von den letzten
13161 Ereignissen nicht gesprochen. Ell war ganz in der Begeisterung für
13162 die wiedergefundene Heimat des Vaters aufgegangen. So erfuhr er
13163 sowohl wie Isma zuerst von Saltner, daß, wenigstens in den
13164 südlichen Teilen des Mars, aus denen Saltner kam und wo auch die
13165 Mehrzahl der auf der Erde gewesenen Martier herstammte, die
13166 anfängliche Begeisterung für die Erdbewohner sich stark abzukühlen
13167 begonnen hatte.
13169 Der Umschwung war durch das Verhalten der Engländer gegen das
13170 Luftschiff herbeigeführt worden, und sobald die Zeitungen Berichte
13171 über die Behandlung gebracht hatten, die den beiden gefangenen
13172 Martiern zuteil geworden war, begann in einigen Staaten, deren
13173 Bewohner sich durch lebhaftes Temperament auszeichneten, eine
13174 gereizte Stimmung Platz zu greifen. Man verlangte ein entschiedenes
13175 Vorgehen gegen das Barbarentum der Erdbewohner, und nur der Hinweis
13176 der ruhigeren Elemente darauf, daß man keinerlei Urteile abzugeben
13177 berechtigt sei, bevor nicht der amtliche Bericht vorliege, hielt
13178 die menschenfeindliche Bewegung in mäßigen Grenzen. Fru besorgte
13179 jedoch, wie Saltner mitteilte, daß die öffentliche Meinung nach dem
13180 Bekanntwerden des Berichts stark genug sein würde, um auf die
13181 Entschließungen des Zentralrats einen dem guten Verhältnis zur Erde
13182 ungünstigen Einfluß auszuüben.
13184 Isma fühlte sich beängstigt. Sie fürchtete, wenn es zu
13185 Feindseligkeiten der Martier gegen die Erde käme, daß sich ihrer
13186 Rückkehr Schwierigkeiten in den Weg legen könnten, daß vielleicht
13187 die erneute Aufsuchung Torms im Frühjahr durch Maßregeln vereitelt
13188 werden würde, die den Martiern wichtiger erschienen. Ell suchte sie
13189 zu beruhigen. Er sah die Sachlage in viel günstigerem Licht. Ill
13190 werde seinen Bericht jedenfalls so mild wie möglich gestalten. Aus
13191 der ungerechtfertigten Handlungsweise eines einzelnen Kapitäns
13192 könne man unmöglich ein Zerwürfnis zwischen den Planeten herleiten.
13193 Momentane Stimmungen des Publikums hätten auf dem Mars niemals
13194 einen dauernden politischen Einfluß, da ein jeder der Belehrung des
13195 Besseren zugänglich sei.
13197 „Aber wer weiß“, sagte Isma, „wie man auf der Erde denken mag!“
13199 „Wir hätten uns nicht der Gefahr aussetzen sollen, sie verlassen zu
13200 müssen“, sagte Ell etwas verstimmt.
13202 Isma wandte sich schmerzlich berührt ab, und Ell fuhr sogleich
13203 fort:
13205 „Aber an dem feindlichen Zusammenstoß der Schiffe hätten wir ja
13206 doch nichts geändert, auch wenn wir zu Hause geblieben wären. Ich
13207 wollte Ihnen keinen Vorwurf machen, Frau Torm, ich meine nur, wir
13208 dürfen uns jetzt keinen trübsinnigen Grübeleien hingeben. Da wir
13209 nun einmal hier sind –“
13211 „Da lassen wir ruhig die Nume weitersorgen, das will ich auch
13212 meinen“, sagte Saltner. „Es sind wirklich ganz prächtige Leute
13213 dabei, und wir Menschen müssen halt ein bissel zusammenhalten. Hier
13214 unser Doktor Ell, der wird sich ja wohl auch noch zu uns rechnen.
13215 Oder –“
13217 „Wo bleiben Sie, Sal?“ fragte eine tiefe Frauenstimme zur Tür
13218 herein. „Kommen Sie gefälligst heraus, wir haben auf der Erde
13219 Schwere genug genossen. Es ist übrigens irgend etwas Besonderes zu
13220 sehen, wo wir hingehen müssen.“
13222 „Das ist La“, rief Saltner, eilig aufspringend. „Oh, kommen Sie
13223 mit, ich mache Sie gleich alle bekannt.“ Und sich zu den
13224 Angekommenen wendend, rief er: „Da bringe ich Ihnen neue Menschen!
13225 Nun bin ich doch nicht mehr das einzige Wundertier.“
13227 Fru und die Seinigen begrüßten Ell und Isma sehr freundlich. Isma
13228 fühlte sich trotzdem etwas verlegen; bei aller taktvollen
13229 Zurückhaltung der Martier wußte sie doch, daß sie von ihnen, die
13230 zum ersten Mal ein weibliches Wesen von der Erde sahen, einer
13231 lebhaften Prüfung unterworfen wurde. Aber Las Herzlichkeit half ihr
13232 sogleich über diesen Zustand fort. Sie gab Isma nach Menschenart
13233 die Hand und redete sie deutsch an.
13235 „Ich weiß“, sagte sie, „welch bedauerliche Zufälle Sie zu uns
13236 führten, uns aber müssen wir es zum Glück anrechnen, eine Schwester
13237 von der Erde in Ihnen begrüßen zu dürfen. Unser Freund Saltner hat
13238 schon viel von Ihnen erzählt. Und Sie sind es ja gewesen, der die
13239 Martier die erste Gabe europäischer Arbeit verdanken – den
13240 Flaschenkorb nämlich, den Grunthe den unsrigen beinahe auf den Kopf
13241 geworfen hat. Ohne den Flaschenkorb hätten wir –“, sie wandte sich
13242 zu Ell, „Ihren prächtigen Leitfaden nicht gefunden, und ich könnte
13243 wahrscheinlich jetzt nicht in Ihrer Sprache mit Ihnen reden.“
13245 Sie zog dabei die Reproduktion des Büchleins aus ihrem
13246 Reisetäschchen und zeigte sie Ell, mit dem sie jetzt martisch
13247 weitersprach.
13249 Sie fragte ihn, welchen Eindruck das Denkmal auf ihn gemacht habe,
13250 das die Marsstaaten seinem Vater in der Ruhmesgalerie der
13251 Raumschiffer errichtet hatten. Aber dorthin war Ell noch gar nicht
13252 gekommen. Er wollte sogleich diesen Besuch nachholen, die andern
13253 aber wünschten einer soeben neu eröffneten Schaustellung
13254 beizuwohnen, nach der dichte Scharen von Besuchern hinströmten. Die
13255 Richtungsweiser, denen sie folgten, besagten nur ›Neues von der
13256 Erde‹, ohne nähere Angabe. Auch Isma war daher sehr gespannt,
13257 dieses Neue kennenzulernen, Ell ließ sich jedoch von seinem
13258 Vorhaben nicht abhalten. Er trennte sich am Eingang der Galerie von
13259 den übrigen, und man verabredete nur, sich in einer halben Stunde
13260 in der Lesehalle des Museums zu treffen.
13262 Die Besucher drängten nach dem Theater des Museums, worin von Zeit
13263 zu Zeit Vorträge über die Erde oder die Raumschiffahrt gehalten
13264 wurden. Diese wurden durch bewegliche Lichtbilder illustriert, die
13265 mit aller Kraft martischer Malerei und Technik so plastisch
13266 wirkten, daß sie vollkommen den Eindruck der Wirklichkeit
13267 hervorriefen. Als Frus mit ihrer Begleitung ankamen, war das
13268 Theater, obwohl es Raum für zwanzigtausend Personen bot, schon
13269 überfüllt. Da jedoch Fru bei der Einrichtung des Erdmuseums tätigen
13270 Anteil genommen hatte, wußte er seine Gesellschaft einen von den
13271 weniger ortsbekannten Besuchern meist übersehenen Gang zu führen,
13272 der auf eine Reihe noch freier Plätze auslief. Sie befanden sich in
13273 ziemlich versteckter Lage zwischen den architektonischen
13274 Verzierungen über einem der Eingänge. Sehr bald ertönte ein Signal,
13275 das den Beginn der Vorstellung bezeichnete, und die Riesenhalle
13276 verdunkelte sich. Auf der Bühne, das heißt auf einer Kreisfläche
13277 von etwa dreißig Metern Durchmesser zeigte sich eine vorzüglich
13278 dargestellte Gegend aus dem Polargebiet der Erde, ein Teil des
13279 Kennedy-Kanals, mit felsigen Ufern und Gletscherabstürzen, wie er
13280 aus der Vogelperspektive des Luftboots in einigen hundert Meter
13281 Höhe erschien. Die Polardämmerung lag über der Landschaft, die von
13282 einem strahlenden Nordlicht erhellt wurde. Nun erfolgten die
13283 Lichteffekte des Sonnenaufgangs, und es erschien das kleine
13284 Luftboot der Martier. Im Vordergrund erkannte man den Cairn, an
13285 welchem die Engländer bauten, man sah, wie sie denselben verließen,
13286 in den Abgrund stürzten, von den Martiern herausgeholt und am Fuße
13287 des Steinmannes niedergelegt wurden. Die ganze Szene, von den
13288 Zuschauern mit lebhaftem Beifall begleitet, wurde durch die
13289 künstlich verstärkte Stimme eines gewandten Redners erklärt.
13291 Es erschienen nun, vom Standpunkt der am Cairn befindlichen Martier
13292 aus nicht sichtbar, die englischen Seesoldaten; fratzenhafte
13293 Gestalten, wahre Teufel, in unmöglicher Kleidung, führten sie, ihre
13294 Gewehre schwingend, einen wilden Kriegstanz auf, der durchaus der
13295 Phantasie des martischen Wirklichkeitsdichters entstammte. Isma und
13296 Saltner war es peinlich, den Eindruck zu beobachten, den diese
13297 Szene auf das Publikum ausübte. Es nahm sie in vollem Glauben auf
13298 und wollte sich über die abenteuerlichen Wilden totlachen.
13300 Saltner schüttelte den Kopf. „Ich bin kein Freund der Englishmen“,
13301 sagte er, „aber so sehen sie doch nicht aus, und so benehmen sie
13302 sich auch nicht. Man bringt ja den Martiern ganz falsche Begriffe
13303 von den Menschen bei.“
13305 „Unseren gefangenen Landsleuten, denen so übel mitgespielt wurde,
13306 sind sie jedenfalls so erschienen“, sagte La. „Sie haben ihre
13307 Schilderungen offenbar unter dem Eindruck der erlittenen
13308 Mißhandlungen gemacht.“
13310 „Ich bedauere trotzdem“, bemerkte Fru unwillig, „daß man hier diese
13311 Aufführung veranstaltet, es ist unsrer nicht würdig. Aber seit
13312 jenem Zwischenfall ist leider von einem Teil der Presse die Ansicht
13313 verbreitet worden, daß die Menschen nicht als vernünftige Wesen zu
13314 betrachten und als gleichberechtigt zu behandeln seien. Das ist
13315 nicht gut.“
13317 Die Szene änderte jetzt ihren Charakter aus dem Komischen in das
13318 Schauerliche. Die Engländer stürzten unter wildem Geheul, das
13319 akustisch wiedergegeben wurde, auf die beiden Martier zu und
13320 überfielen sie. Die Martier scheuchten sie majestätisch zurück, und
13321 es entwickelte sich zunächst eine Art Diskussion, die durch das
13322 menschliche Kauderwelsch, welches Englisch vorstellen sollte, einen
13323 Augenblick ins Komische umzuschlagen schien, aber sofort die
13324 Entrüstung der Zuschauer wachrief, als eine neue Schar von Wilden
13325 den Martiern in den Rücken fiel und sie hinterrücks niederriß. Dann
13326 wurden den unglücklichen Opfern die Arme zusammengeschnürt und sie
13327 an langen Stricken fortgeschleppt.
13329 Bei diesem Anblick brach im Theater ein unheimlicher Lärm aus. Wie
13330 ein Wutschrei ging es durch die Masse der Zuschauer. Die Fesselung,
13331 die Beraubung der persönlichen Bewegungsfreiheit, war die größte
13332 Schmach, die einem Numen angetan werden konnte. Die Gesamtheit der
13333 Martier fühlte sich dadurch beleidigt. Und seltsam, während man die
13334 Menschen eben als unvernünftige Wesen belacht hatte, betrachtete
13335 man sie doch jetzt als verantwortlich für ihre Handlungen. Die
13336 Darstellung hatte offenbar die Tendenz, die Menschen als böse zu
13337 zeigen, indem das Folgende ihre Intelligenz zu verdeutlichen
13338 bestimmt war. Das englische Kriegsschiff dampfte herbei. Es schien
13339 ganz im Vordergrund zu liegen, und in einem kaum verfolgbaren
13340 Wechsel des Bildes befand man sich plötzlich an Bord desselben. Die
13341 vorzügliche Einrichtung, die musterhafte Ordnung, die Waffen und
13342 Maschinen bewiesen die hohe technische Kultur der Menschen; dagegen
13343 stach die rohe Behandlung der Gefangenen häßlich ab und empörte die
13344 Zuschauer nur um so heftiger. Mit Jubel wurde daher das Erscheinen
13345 des großen Luftschiffes begrüßt und der Kampf zwischen den Martiern
13346 und Menschen mit Enthusiasmus verfolgt. Die erhabene Friedensliebe
13347 der Nume schien verschwunden, in dieser gereizten Versammlung
13348 wenigstens kam sie nicht zum Ausdruck. Und als in einem ästhetisch
13349 wunderbar gelungenen Schlußtableau auf der Eisscholle am Felsenufer
13350 Ill selbst erschien und den Gefangenen die Fesseln löste, artete
13351 die Vorstellung zu einer eindrucksvollen patriotischen Kundgebung
13352 aus. Die Rufe „Sila Nu“ und „Sila Ill“ brausten durch das Haus.
13354 Isma lehnte sich ängstlich zurück. Sie fürchtete jeden Augenblick,
13355 sich selbst oder wenigstens Ell auf der Bühne erscheinen zu sehen;
13356 aber mit diesen den Martiern befreundeten Menschen wußte die
13357 tendenziöse Dichtung nichts anzufangen, sie waren einfach
13358 fortgelassen. Saltner war wütend. „So was dürfte die Polizei gar
13359 nicht erlauben“, sagte er, „bei uns würde man das gleich verboten
13360 haben.“
13362 „Was wollen Sie“, sagte La, „dies ist eine Privatveranstaltung. Sie
13363 können das Theater mieten und morgen eine Verherrlichung der Erde
13364 aufführen.“
13366 Sie sah ihn lächelnd an, und er schwieg.
13368 „Es muß auch etwas geschehen“, sagte Fru, „um der Verbreitung
13369 dieser Menschenhetze entgegenzuwirken. Lassen Sie uns gehen.“
13371 \section{31 - Mars-Politiker}
13373 Die Entleerung des Theaters geschah trotz der ungeheueren
13374 Zuschauermenge in wenigen Minuten, denn zahlreiche breite Gänge
13375 führten nach allen Seiten auseinander und mündeten nach der Straße
13376 hin. Man hörte überall unter dem Eindruck der Vorstellung
13377 verächtlich über die Menschen sprechen, doch hatte die übertriebene
13378 Darstellung der Menschen als Wilde das Gute, daß niemand auf die
13379 Vermutung kam, in Isma und Saltner solche Erdbewohner vor sich zu
13380 haben, obwohl Saltner in seiner Joppe, die Hände in den Taschen, in
13381 recht auffallender Weise einherschlenderte und den prüfenden
13382 Blicken, die ihn gelegentlich trafen, ungeniert begegnete. Aber da
13383 jetzt alle in gleicher Richtung sich bewegten und noch von den
13384 Eindrücken erfüllt waren, die sie eben erhalten hatten, so achtete
13385 man wenig auf ihn.
13387 Erst als sich Fru mit seiner Begleitung in dem Vorraum der
13388 Lesehalle zwischen dichten Gruppen sich lebhaft unterhaltender
13389 Martier hindurchdrängen mußte, wurde man wieder auf ihn aufmerksam.
13390 Hier begegneten sich Besucher des Theaters und solche, die aus der
13391 Lesehalle kamen und sich soeben mit den neuesten Nachrichten
13392 bekanntgemacht hatten. Es herrschte eine sichtliche Erregung.
13393 Verkäufer riefen die neuen Blätter aus für diejenigen, die sich das
13394 in der Halle Gelesene in eigenen Exemplaren mit nach Hause nehmen
13395 wollten.
13397 „Der Bericht des Zentralrats!“ – „Die Rede des Repräsentanten
13398 Ill!“
13400 „Die Rede des Deputierten Eu!“ – „Der Antrag Ben.“
13402 „Karte der Erde!“ – „Leben und Tod des Kapitäns All.“
13404 „Der Sohn des Numen auf der Erde.“ – „Bild des Baten Saltner!“ –
13405 „Bildnis der Batin Torm.“
13407 Isma und Saltner verstanden das in eigentümlichem Tonfall
13408 herausgestoßene Martisch der Ausrufer nicht. Fru und La suchten
13409 schnell mit ihren Begleitern aus dem Gewühl in die Lesehalle zu
13410 gelangen. Aber Saltner erkannte in der Hand eines Verkäufers sein
13411 wohlgetroffenes Bildnis.
13413 „Was?“ rief er. „Da werd ich wohl gar feilgehalten. Das ist mir
13414 doch noch nicht passiert, das muß ich mir mitnehmen.“
13416 Die um den Verkäufer Herumstehenden hatten ihn nun natürlich
13417 sogleich erkannt. Bald war die Gruppe von Neugierigen umringt, und
13418 es fielen manche nicht sehr schmeichelhafte Äußerungen.
13420 Saltner nahm sein Bild in Empfang und zahlte. Man hatte ihm als
13421 Gast der Regierung einen anständigen Reisefonds übermittelt.
13423 „Da schaut mich an“, sagte er, sich in Positur stellend, „wenn Ihr
13424 noch keinen anständigen Bat gesehen habt.“ Und auf martisch fügte
13425 er hinzu: „Nun, seh ich aus wie ein Engländer?“
13427 La drängte ihn vorwärts. Sie führte Isma am Arm, die ihren Schleier
13428 vorgezogen hatte und ihrer martischen Tracht wegen nicht auffiel.
13429 Die Nahestehenden blickten Saltner nicht gerade wohlwollend an,
13430 belästigten ihn aber in keiner Weise und folgten ihm auch nicht,
13431 als er sich durch sie hindurchdrängte, obwohl ihm jetzt jeder
13432 nachsah. So gelangten alle in das Innere der Lesehalle, die aus
13433 einer Reihe großer Säle bestand.
13435 Die langen Tafeln waren dicht besetzt. Viele der Lesenden benutzten
13436 diese Zeit, um ihrer offiziellen Lesepflicht zu genügen. Denn jeder
13437 Martier war verpflichtet, bei Verlust seines Wahlrechts, aus zwei
13438 Blättern, von denen eines ein oppositionelles sein mußte, täglich
13439 über die wichtigsten politischen und technischen Neuigkeiten sich
13440 zu unterrichten. Die größeren Blätter gaben zu diesem Zweck kurze
13441 Auszüge besonders heraus.
13443 Im Saal herrschte absolute Stille. Hier wurde nicht gesprochen. An
13444 den Wänden befanden sich jedoch kleinere Abteilungen, verschlossene
13445 Logen, in mehreren Stockwerken übereinander, in denen sich Bekannte
13446 zusammensetzen und ihre Meinungen austauschen konnten. In eine
13447 solche Plauderloge begab sich Fru mit seinen Begleitern. Er schloß
13448 die Tür und trat an einen Fernsprecher, der zur Verwaltung führte.
13449 Hier nannte er seinen Namen und die Nummer der Loge. Dann fragte
13450 er, ob Ell re Kthor, am gel Schick, nach ihm gefragt habe. Die
13451 Antwort besagte, ja, er befinde sich in Loge 408. Fru ließ ihm nun
13452 die Nummer seiner Loge sagen und ihn zu sich bitten. Auf demselben
13453 Weg machte er eine Bestellung auf eine Reihe Erfrischungen, die
13454 alsbald auf automatische Weise in dem Schrankaufsatz des Tisches
13455 erschienen, der auch hier die Mitte des Zimmers einnahm.
13457 Es befand sich darunter für jeden Anwesenden eine Schüssel mit
13458 Wasser, das durch eine kleine Flamme in lebhaftem Sieden erhalten
13459 wurde.
13461 „Ach“, rief Saltner, „das sind heiße Boffs, das ist die beste
13462 Frucht auf diesem künstlichen Planeten; das ist wirkliche Natur.“
13464 Isma kannte die Speise noch nicht und fragte danach.
13466 „Um Himmels willen“, sagte Saltner, „nennen Sie die Boffs nicht
13467 eine Speise, sonst dürfen wir sie ja nicht zusammen essen. Das ist
13468 eben das Beste daran, daß sie nicht als Speise, sondern als
13469 Erfrischung gelten, weil sie wirkliche Früchte, in der Natur
13470 gewachsen sind, eine Art Erdgurken, oder wie man sie nennen soll,
13471 und deshalb hier gemeinschaftlich gegessen –“
13473 „O pfui“, sagte La, ihn leicht auf den Arm schlagend. Sie las
13474 bereits eifrig in einer Zeitung, in die sie sich jetzt wieder
13475 vertiefte.
13477 „Ich wollte sagen, genossen, ästhetisch verwendet werden dürfen.
13478 Aber gut schmecken sie doch.“
13480 Er zog die Schüssel an sich heran und griff – zum Erschrecken Ismas
13481 – mit der Hand in das siedende Wasser, eine der rötlichen,
13482 gurkenartigen Früchte hervorziehend.
13484 „Sie brauchen nicht zu fürchten, daß Sie sich verbrennen“, sagte er
13485 lachend zu Isma. „Das Wasser ist gar nicht heiß, es siedet in
13486 unverschlossenen Gefäßen hier schon bei 45 Grad Celsius. Das ist ja
13487 ein Planet ohne Luftdruck.“
13489 „Lassen Sie endlich unsern Nu in Frieden“, sagte La lachend, indem
13490 sie die Zeitung beiseite legte, „sonst werden Sie mit dem nächsten
13491 Schiff nach dem Südpol Ihrer abscheulichen schweren Erde
13492 transportiert. Lesen Sie lieber die neuesten Beschlüsse, sie werden
13493 Sie interessieren. Ich fürchte nur, mit dem Urlaub wird es diesmal
13494 nichts sein. Wer weiß, ob wir nicht wieder fort müssen!“
13496 Isma horchte auf.
13498 „Nach der Erde?“ fragte sie. „Schickt man Schiffe jetzt nach der
13499 Erde?“
13501 In diesem Augenblick trat Ell ein. Er sah erregt aus. In der Hand
13502 hielt er einen Stoß Blätter und Zeitungen, die er teils gekauft,
13503 teils aus dem Saal entnommen hatte.
13505 Ehe er sich in die Lesehalle begab, hatte er lange vor dem Denkmal
13506 seines Vaters gesessen. Es war eine Porträtstatue in Lebensgröße,
13507 die All in seinen jüngeren Jahren darstellte, in der Kleidung des
13508 Raumschiffers. Man glaubte ihn durch die Stellithülle des
13509 Raumschiffs auf der Kommandobrücke stehend zu sehen und mit ihm auf
13510 die unter ihm liegende Erde hinabzublicken. Aus seinen Augen sprach
13511 der feste Entschluß, auf diesen Planeten siegreich seinen Fuß zu
13512 setzen.
13514 „Du hast uns den Weg gezeigt, den wir nun betreten“, so klang es in
13515 Ells Seele. „Dir verdanken wir die Erde, die du mit deinem Leben
13516 uns gewonnen hast.“
13518 Die jugendlichen, kräftigen Züge des Bildes schienen sich zu
13519 verwandeln. Ell sah in ihnen wieder den schwermütigen, ernsten
13520 Mann, wie er ihn gekannt, nur der siegreiche Blick des Auges war
13521 geblieben, der ihm entgegenfunkelte, wenn der Vater dem Jüngling
13522 von der Heimat sprach und von der großen Aufgabe, die Erde zu
13523 gewinnen für die Numenheit. Er gedachte des eigenen Lebens und der
13524 letzten Jahre, die er auf der Erde gearbeitet hatte, erfüllt von
13525 dem Gedanken, daß der Menschheit Glück abhinge von ihrer Befreiung
13526 durch die Kultur der Martier. Und jetzt stand er auf dem Mars, nun
13527 blickte er hinab auf die Erde, und es war ihm, als verlöre sich das
13528 Schicksal der Erdbewohner wie eine Episode in der Geschichte der
13529 Sterne, als lebe er mit den Numen um der Nume willen und sähe in
13530 der Besetzung der Erde nur eine der Stufen, das höchste Leben des
13531 Geistes im Kampf mit den widerstrebenden Kräften der Natur zu
13532 erhalten. Was war ihm nun die Menschheit? Was wär sie ihm gewesen?
13533 Wenn er sie zu lieben glaubte, war es nicht allein die Eine
13534 gewesen, in der er die Menschheit liebte? Was hielt ihn noch an dem
13535 barbarischen Planeten? Das Andenken seiner Mutter? Sie war dahin;
13536 dieses Andenken blieb ihm überall. Und die tiefblauen Augen der
13537 heißgeliebten Frau, deren weltfernes Leuchten durch all die Jahre
13538 hindurch mit unverminderter Kraft in seinem Herzen gewirkt hatte?
13539 Sie wirkten fort und fort mit ihrer zarten Gewalt – die teuren
13540 milden Züge, von denen ein glückliches Lächeln zu gewinnen sein
13541 steter Gedanke, für die er nahe daran gewesen war, seine Numen heit
13542 zu vergessen, um sie zu erobern mit den Mitteln der Menschen für
13543 sich und um ihretwillen ein Mensch zu werden wie die andern! Und
13544 jetzt, jetzt konnte er dies sicherer wie je, nie war er diesem Ziel
13545 näher gewesen. Aber diese Frau war hierhergekommen, weil sie
13546 ausgezogen war, ihren Mann zu suchen, und er hatte sich ihr gelobt,
13547 ihn finden zu helfen. Sie wird ihn finden, und drunten in Friedau
13548 oder in einer andern Stadt, wohin der Ruhm des Polentdeckers sie
13549 führen würde, da wird sie glücklich sein und der Reise nach dem
13550 Mars und des fernen Freundes gedenken wie eines Traumes, der
13551 zerronnen ist. Und er? Sollte er weiter leben dort unten, um eine
13552 flüchtige Stunde ihrer Nähe zu gewinnen, um sich zu versichern, daß
13553 er zu ihr gehöre, wie ein teures Schmuckstück ihres Daseins? Sollte
13554 er wieder zwischen diesen engherzigen Schlauköpfen wandeln, um ihre
13555 ganze, verständnislose Wirtschaft zu verachten?
13557 Nein, nun er die Freiheit der Heimat gekostet hatte, konnte er
13558 nicht dauernd auf die Erde zurückkehren. Was war ihm noch die
13559 Menschheit?
13561 „Ein Vermächtnis hast du uns gelassen, o Vater“, so sagte Ell im
13562 stillen zu sich, „die Erde, auf der du littest, zu gewinnen zu
13563 einem höheren Zweck. Und ich vor allen habe die Pflicht, dies
13564 Vermächtnis anzutreten. In Frieden wollen wir die Menschheit
13565 gewinnen und ihr zum Segen. Und, ein Menschensohn, weiß ich von
13566 ihren Schmerzen zu sagen. Aber wenn unseliger Mißverstand zum
13567 Streit führt, so kann mein Platz nur dort sein, wo du gestanden
13568 hast.“
13570 Er erhob sich. Bald umwogte ihn wieder der Verkehr des Tages. Er
13571 begab sich nach der Lesehalle. Begierig griff er nach den neuen
13572 Depeschen und studierte sie, bis Fru ihn rufen ließ.
13574 „Wissen Sie schon alles?“ war gleich seine erste Frage beim
13575 Eintritt. Er sprach martisch. La antwortete lebhaft. Fru und seine
13576 Gattin mischten sich ein. Die Martier sprachen schnell und eifrig.
13577 Ell hatte offenbar noch etwas Wichtiges erfahren. Isma und Saltner
13578 konnten dem schnellen Gespräch nicht folgen. Die Menschen schienen
13579 einen Augenblick vergessen. Es war nur eine Minute der Erregung.
13580 Dann wandte sich La mit ihrem freundlichen Lächeln zu Isma.
13582 „Haben Sie alles verstehen können?“ fragte sie. „Ihr Freund bringt
13583 uns wichtige Mitteilungen.“
13585 „Ich konnte nicht folgen“, sagte Isma.
13587 Jetzt erst wandte sich Ell zu Isma. Sie sah ihn an. In ihren Augen
13588 lag es wie eine schmerzliche Bitte: Verlaß mich nicht. Ich bin
13589 einsam. Ich weiß nicht, was das alles soll. Sie fragte ihn jetzt:
13591 „Was gibt es denn Neues? Erzählen Sie nun auch mir einmal.“
13593 Und während dieser kurzen Worte wechselte ihr Ausdruck. Der
13594 ängstliche Zug wich einem frohen Vertrauen. Sie fühlte sich wieder
13595 sicher, seitdem er neben ihr weilte.
13597 „Ist es etwas Ungünstiges?“ fragte sie weiter, als Ell zögerte.
13599 La war der Wechsel in Ismas Mienen nicht entgangen. Sie hatte das
13600 Aufblitzen ihrer Augen beobachtet, als Ell eintrat, und jetzt die
13601 Beruhigung ihrer Stimmung. Und ebenso unbemerkt blickte sie auf Ell
13602 und las in seiner Seele. Er wandte sich mit einem fragenden Blick
13603 an sie, aber sie beugte sich schnell zu Saltner hinüber.
13605 „Ich weiß wirklich nicht“, sagte Ell, „was wir von der Sache zu
13606 erwarten haben, aber jedenfalls können wir jetzt auf eine
13607 schnellere Entwicklung gefaßt sein. Es werden Schritte getan, noch
13608 während des Winters Nachrichten von der Erde zu erhalten.“
13610 „Wie ist das möglich?“ fragte Isma.
13612 „Haben Sie die Vorgänge in der Kammer von heute vormittag gelesen?“
13613 Isma schüttelte den Kopf.
13615 „Wir sind eben erst gekommen“, sagte Fru, „und wissen selbst noch
13616 nichts Zusammenhängendes. Wir bemerkten nur, daß die Stimmung gegen
13617 die Erde umgeschlagen zu sein scheint.“
13619 „Ich sah eben hier zufällig“, fügte La hinzu, „daß die Südbezirke
13620 auf eine starke Armierung des Erdsüdpols dringen und ein Vorgehen
13621 von dort aus wünschen, und ich wußte nicht, was das zu bedeuten
13622 hat.“
13624 „Dann erlauben Sie, daß ich in Kürze mitteile, was ich gelesen
13625 habe. Der Bericht der Regierung stellte den Konflikt mit dem
13626 englischen Kriegsschiff und die Gefangennahme und Behandlung
13627 unserer Leute als das dar, was er war, ein unglücklicher Zufall
13628 und die Tat eines untergeordneten Kapitäns, für die man kaum die
13629 englische Regierung, geschweige denn die Bewohner der Erde
13630 verantwortlich machen dürfe. Sie erklärte, daß durch diesen
13631 Zwischenfall an dem ursprünglichen Plan nichts geändert werde. Man
13632 wolle im Beginn des nördlichen Erdfrühjahrs eine starke
13633 Luftschifflotte bereithalten, um, sobald die Nordstation zugänglich
13634 sei, die zu diesem Zweck früher als sonst eröffnet werden sollte,
13635 sofort sämtliche Großmächte der Erde in ihren Hauptstädten
13636 aufzusuchen. Man werde den Regierungen einen Vertrag über den
13637 Verkehr und die Handelsbeziehungen zum Mars vorschlagen und die
13638 Vorkehrungen so treffen, daß sich das Übereinkommen ruhig und
13639 friedlich vollziehe. Nur einen böswilligen Widerstand werde man im
13640 Interesse der Gesamtheit eventuell mit Gewalt niederwerfen, indem
13641 man über den betreffenden Staat das Protektorat der Marsstaaten
13642 aussprechen werde.
13644 Diese Erklärung fand aber lebhaften Widerspruch, sowohl von der
13645 Opposition gegen die Erdkolonisation, die unter der Führung von Eu
13646 schon immer die weitgehenden Pläne der Erdbesiedelung bekämpfte,
13647 als auch von einer erst infolge der letzten Nachrichten
13648 entstandenen Gruppe, denen das Vorgehen gegen die Erde nicht scharf
13649 genug erschien. Und beide standen nun zusammen. Denn Eu vertrat
13650 jetzt den Standpunkt, es wäre von Anfang an das beste gewesen, sich
13651 überhaupt nicht um die Menschen zu kümmern; nachdem aber die
13652 Regierung einmal den Fehler gemacht habe, die Existenz der Nume zu
13653 verraten und durch feindselige Handlungen gegen die Menschen sich
13654 bloßzustellen, verlange es die Pflicht der Numenheit, den
13655 Erdbewohnern auch den richtigen Begriff derselben und Aufklärung
13656 über die Bedeutung und die Absicht der Nume zu geben. Es sei
13657 Menschenblut geflossen und der Numenheit Schmach angetan worden.
13658 Die Sühne könne nur in einer großen Tat friedlicher Kultur
13659 bestehen. Es müsse den Erdbewohnern gezeigt werden, daß wir ihre
13660 Gewohnheit des Kampfes mit den Waffen verabscheuen und als
13661 unsittlich verwerfen. Es sei deswegen über die ganze Erde der
13662 Planetenfrieden zu gebieten und die Entwaffnung sämtlicher Staaten
13663 zu verlangen.“
13665 „Jesus Maria!“ rief Saltner. „Das nenn ich einen Radikalen! Ich hab
13666 schon nichts dagegen, aber, was meinens, was sie bei uns auf dem
13667 Kriegsministerium dazu sagen werden?“
13669 „Das Verlangen der chauvinistischen Gruppe“, fuhr Ell fort, „war
13670 nicht weniger radikal. Sie erklärten, die Menschen hätten durch ihr
13671 Verhalten bewiesen, daß sie dem Begriff der Numenheit noch nicht
13672 zugänglich seien. Sie seien nicht als freie Persönlichkeiten zu
13673 behandeln und nicht würdig des Weltfriedens. Man solle sie im
13674 Gegenteil ruhig untereinander wüten lassen, aber die ganze Erde und
13675 ihre Bewohner als Eigentum der Marsstaaten erklären. Die einzelnen
13676 Gebiete der Erde seien unter die einzelnen Marsstaaten aufzuteilen,
13677 um die Einkünfte derselben zu vermehren. Die Menschen seien
13678 ausdrücklich als unfrei und Nicht-Nume zu bezeichnen und die
13679 Erdstaaten durch vom Zentralrat eingesetzte Gouverneure zu
13680 beaufsichtigen. Im Resultat aber waren beide oppositionelle
13681 Parteien einig, die Unterwerfung der Erde müsse sofort mit allen
13682 Mitteln in Angriff genommen werden.
13684 Die Debatte war sehr heftig, und die Regierung hatte einen schweren
13685 Stand. Noch während der Sitzung schloß sich die chauvinistische
13686 Gruppe zu einer Fraktion der ›Antibaten‹ zusammen, und aus großen
13687 Teilen des Landes trafen bereits zustimmende Erklärungen ein für
13688 die Menschenfeinde.
13690 Allmählich gelang es jedoch der Regierung, den Parteien begreiflich
13691 zu machen, daß man die Erdbewohner aus Unkenntnis unterschätze;
13692 eine derartige Bestimmung über sie werde nicht durchzusetzen sein,
13693 ohne zu den Gewalttätigkeiten zu führen, die man gerade verabscheue
13694 und verhüten wolle. So kam ein Kompromiß zustande, zunächst noch
13695 ein genaueres Studium der Machtverhältnisse der Erdstaaten
13696 abzuwarten. Doch mußte die Regierung ihrerseits zugestehen,
13697 sogleich wenigstens von England eine Bestrafung des Kapitäns der
13698 ›Prevention‹ und eine Genugtuung für die Mißhandlung der Gefangenen
13699 zu verlangen.
13701 Dieser Kompromiß zwischen Opposition und Regierung fand endlich im
13702 Antrag Ben seinen Ausdruck. Danach sollte sobald als möglich ein
13703 Raumschiff nach der Südstation der Erde abgehen und drei große
13704 Erdluftschiffe dahin bringen. Vom Südpol aus sollte zunächst mit
13705 der englischen Regierung verhandelt werden, um eine Genugtuung für
13706 die Gefangennahme der beiden Martier und die Beschädigung des
13707 Luftschiffs zu verlangen. Man sollte sich jedoch dabei der größten
13708 Mäßigung befleißigen, einerseits um die wohlmeinende, obwohl ernste
13709 Gesinnung der Martier zu zeigen, andrerseits weil man es vor Beginn
13710 des Frühjahrs der nördlichen Erdhalbkugel nicht zu einer größeren
13711 Aktion kommen lassen durfte. Denn die Station auf dem Südpol bot
13712 weder den Raum noch die Sicherheit der Landung für eine größere
13713 Flotte der Martier; auch wäre es wenig praktisch gewesen – soviel
13714 sah auch die antibatische Opposition ein –, vom Südpol aus mit den
13715 Großmächten der Erde zu verhandeln, da der Weg vom Südpol bis
13716 Berlin oder Petersburg selbst für ein Luftschiff der Martier fast
13717 vierundzwanzig Stunden in Anspruch nahm. Der Zentralrat wurde mit
13718 der sofortigen Ausführung der Maßnahmen beauftragt. Die letzte
13719 Depesche besagte bereits, daß der Zentralrat einen besonderen
13720 Erdausschuß mit einjähriger Amtsdauer und weitreichenden
13721 Vollmachten ernannt und den Repräsentanten Ill zum Leiter desselben
13722 bestimmt habe. Das ist augenblicklich der Stand der Dinge“, schloß
13723 Ell. „Was sagen Sie dazu?“
13725 Er warf die Zeitungen auf den Tisch und ging erregt auf und ab.
13726 Niemand antwortete sogleich. Die Nachrichten waren nicht nur von
13727 weittragender politischer Wichtigkeit, sie mußten zugleich das
13728 private Geschick der hier Versammelten unmittelbar beeinflussen.
13729 Die Mienen waren düster geworden. Nur Isma pochte das Herz freudig.
13730 Sie war sofort entschlossen, alles daranzusetzen, um nach dem
13731 Südpol und von dort nach Hause zurückzukehren. Wollte man sich mit
13732 England in Verbindung setzen, so mußte doch ein Luftschiff nach
13733 bewohnten Gegenden, wenn nicht nach London, so wenigstens nach den
13734 Kolonien, wahrscheinlich nach Australien, abgesandt werden, und mit
13735 diesem hoffte sie reisen zu können. Und wenn dies nicht möglich
13736 war, so konnte sie immerhin auf baldige Nachrichten von der Erde
13737 rechnen. Diese Gedanken und Wünsche gingen durch ihr Gemüt, während
13738 ihre Hände das Flugblatt zerknitterten, das ihr Porträt zeigte; es
13739 hatte sich unter den von Ell mitgebrachten Papieren befunden.
13741 „Wollen Sie nicht Platz nehmen?“ sagte La zu Ell. Er setzte sich
13742 hastig und beschämt. Das Menschenblut in ihm hatte ihn hin- und
13743 hergetrieben. Als Martier schickte sich das ja nicht, da verhielt
13744 man sich ruhig. Er ärgerte sich.
13746 „Das ist fatal, höchst fatal“, begann jetzt Fru. „Ich halte den
13747 Beschluß für einen schlimmen politischen Fehler. Auch Ill wird
13748 dieser Ansicht sein, aber er konnte jedenfalls nicht mehr
13749 durchsetzen. Unsre Politiker kennen die Verhältnisse zu wenig.
13750 Verhandlungen, denen wir nicht die Tat auf dem Fuße folgen lassen
13751 können, müssen unsern Standpunkt erschweren und bei den Regierungen
13752 der Erde nur die Meinung erwecken, daß sie uns nicht ernst zu
13753 nehmen brauchen.“
13755 „Eine sakrische Dummheit ist’s“, platzte Saltner deutsch heraus.
13757 „Sie fürchten“, sagte La, sich zu Ell wendend, „daß wir auf diese
13758 Weise zur Anwendung von Gewalt gedrängt werden?“
13760 „Wohl möglich“, erwiderte Ell. „Doch die Menschen werden bald
13761 begreifen, daß sie sich uns fügen müssen. Wir werden ihnen zeigen,
13762 daß wir nur ihr Bestes wollen.“
13764 „Ich fürchte Schlimmeres“, entgegnete La lebhaft. „Die Verhältnisse
13765 werden sich so entwickeln, daß die antibatische Bewegung immer mehr
13766 Nahrung erhält. Statt des Friedens werden wir den Kampf zwischen
13767 den Planeten bekommen, man wird die Menschen nicht als
13768 gleichberechtigt anerkennen – es wird furchtbar werden.“
13770 „Oh, lassen Sie uns zurückkehren!“ rief Isma. „Bitten Sie Ihren
13771 Oheim, daß uns das erste Schiff nach dem Südpol mitnimmt.“
13773 Ell antwortete nicht. Er blickte finster vor sich hin. Fru stand
13774 auf. „Ich glaube“, sagte er, „es ist das beste, wenn wir unsere
13775 Reise fortsetzen und Ihren Oheim aufsuchen. Bis wir an unser
13776 provisorisches Quartier und an Ihre Wohnung gelangen, ist die
13777 Ruhezeit gekommen. Wir treffen uns dann alle zur Plauderstunde bei
13778 Ill.“
13780 „Wir wollten noch nach dem Retrospektiv“, sagte Ell.
13782 „Dazu ist es ohnehin schon zu spät.“
13784 „Ich habe heute genug gesehen“, fügte Isma hinzu.
13786 Man brach auf. Der Weg bis zu dem Depot der Radschlitten, wo auch
13787 Fru seinen viersitzigen Gleitwagen gelassen hatte, betrug einige
13788 Minuten. La nahm Ismas Arm.
13790 „Am Schlitten bekommen Sie Ihre Damen wieder“, sagte sie zu Ell und
13791 Saltner. Sie schritt mit Isma voran.
13793 „Sie möchten gern nach der Erde zurück, nicht wahr?“ sagte sie zu
13794 Isma. „Ich sah es Ihnen an, und Sie hoffen, nach dem Südpol
13795 mitzugehen. Aber würden Sie auch ohne Ell gehen?“
13797 „Er wird mitgehen, wenn man uns überhaupt mitnimmt. Er muß gehen,
13798 er gehört jetzt auf die Erde.“
13800 La schwieg. Sie streifte Isma mit einem teilnehmenden Blick und
13801 sah, wie eine feine Röte ihre Wangen bedeckte.
13803 „Meine Frage darf Sie nicht verletzen“, sagte sie bittend. „Ich
13804 kann mir wohl denken, daß es für Sie schwer sein muß, die weite
13805 Reise ohne Begleitung eines Menschen zu machen. Aber ich glaube
13806 auch nicht, daß man Sie jetzt mitnehmen wird. Das Schiff wird zu
13807 Ausrüstungszwecken voll in Anspruch genommen sein. Und auf dem
13808 Südpol finden Sie nicht die Bequemlichkeit wie auf dem Nordpol. Ich
13809 wollte Sie nur bitten, sich nicht Hoffnungen zu machen, die
13810 vermutlich enttäuscht werden müssen. Aber jedenfalls dürfen Sie
13811 darauf rechnen, daß Sie nun bald Nachrichten von der Erde bekommen.
13812 Dafür wird Ill Sorge tragen. Und Sie brauchen sich nicht verlassen
13813 unter uns zu fühlen. Ich werde mich herzlich freuen, wenn ich Ihnen
13814 dienen kann.“
13816 Isma dankte, aber sie konnte sich eines bedrückenden Gefühls nicht
13817 erwehren. Warum bedurfte sie dieses Mitleids? Sie fühlte sich
13818 verletzt, ohne La zürnen zu können.
13820 Die Radschlitten erschienen. Man verabschiedete sich. Mit Benutzung
13821 der Stufenbahn konnte man in einer halben Stunde zu Hause sein.
13823 Isma saß stumm an Ells Seite. Sie sah, daß seine Gedanken nicht mit
13824 ihr beschäftigt waren. Sie wollte ihn jetzt nicht fragen, was er zu
13825 tun gedenke. So tauschten sie nur flüchtige Worte, bis der Wagen
13826 vor Ills Haus hielt.
13828 \section{32 - Ideale}
13830 La ließ ihre Hände von der Schreibmaschine herabgleiten und lachte
13831 herzlich, indem sie sich in ihrem Sessel zurücklehnte.
13833 „Nein“, sagte sie, „das ist ja nicht zu glauben! Das ist wirklich
13834 zu komisch. Diese Bate! ich glaube, da muß selbst Schti lachen.“
13836 Ein allerliebstes, schneeweißes Flügelpferdchen, nicht größer wie
13837 ein kleines Kätzchen, flatterte von dem Büchergestell, wo es
13838 gesessen, auf die Lehne von Las Armstuhl und blickte sie mit seinen
13839 klugen Augen ernsthaft an. Das Tierchen sah wirklich aus wie ein
13840 Miniatur-Pegasus, nur hatte es statt der Hufe zierliche Zehen, mit
13841 denen es sich anklammern konnte. Zoologisch betrachtet gehörte es
13842 zu den Insekten und war eine Art Heuschrecke, die aber auf dem Mars
13843 warmes Blut besaßen und die höchstentwickelte Gruppe der Insekten
13844 darstellten. Der Kopf war der eines Pferdes mit fast
13845 menschenähnlichem Ausdruck, die Flügel saßen an den Schultern und
13846 glichen denen einer Libelle.
13848 „Schti muß lachen!“ sagte La.
13850 Das Tierchen stieß einen Laut aus wie eines helles Lachen. „Ko
13851 Bate, Ko Bate“, sprach es dann deutlich.
13853 La streichelte ihm das weiche Fellchen, und es rieb sein Köpfchen
13854 an ihrer Hand.
13856 „Schti muß studieren!“ Das gut abgerichtete Tierchen flog auf das
13857 Bücherbrett und setzte sich gravitätisch hin.
13859 La fuhr in ihrer Schreibarbeit fort. Auf dem Gestell über der
13860 Schreibmaschine stand eines der deutschen Bücher, die Ell
13861 mitgebracht hatte. Es war ein kurzgefaßter Grundriß der
13862 ›Weltgeschichte‹, das heißt des wenigen, was man über die
13863 Geschichte der abendländischen Menschheit wußte. La übersetzte das
13864 Buch in Ills Auftrag ins Martische. Während sie ihre Augen langsam
13865 über den Text gleiten ließ, lagen ihre Hände auf der Klaviatur und
13866 ihre Finger schrieben ganz mechanisch in martischen Zeichen den
13867 Sinn der gelesenen Sätze nieder. Die Arbeit nahm ihre
13868 Aufmerksamkeit nicht mehr in Anspruch, als der Strickstrumpf die
13869 einer älteren Kränzchendame, und hinderte sie nicht, sich lebhaft
13870 mit Ell zu unterhalten, der zum Besuch gekommen war.
13872 „Es ist eigentlich mehr traurig als komisch“, sagte Ell. „Denn die
13873 Sache geht nicht immer bloß mit dem Knallen ab. Oft genug kommen
13874 schwere Verwundungen und Todesfälle vor, und das Leben eines
13875 Mannes, der verpflichtet wäre, der Menschheit und den Seinigen sich
13876 zu erhalten, ist einem sinnlosen Vorurteil hingeopfert.“
13878 „Das ist abscheulich. Aber ich denke, Vernunft und Gesetz verbieten
13879 den Zweikampf. Wie ist er denn noch möglich?“
13881 „Durch Unvernunft. Es gibt nämlich Menschen, die sich einbilden
13882 Vernunft und Gesetz seien zwar ganz gut für das Volk, aber dieses
13883 würde den Respekt vor Vernunft und Gesetz verlieren, wenn es nicht
13884 durch eine auserwählte Gruppe von Menschen in Schranken gehalten
13885 würde. Diese Auserwählten könnten sich jedoch nur dadurch als
13886 solche erweisen, daß sie sich einen gewissen Zwang, eine Pönitenz
13887 auferlegten, indem sie selbst zum Teil auf das höchste Gut der
13888 Menschheit, Vernunft und Freiheit, verzichten und sich zum Sklaven
13889 überlebter Formen machen. Sie meinen wohl, durch den Widerspruch,
13890 den ihre Sitten erwecken, in der Allgemeinheit die Herrschaft der
13891 Vernunft um so mehr zu stärken.“
13893 „Welch edle Seelen, so zum Besten der Kultur sich selbst zu opfern!
13894 Ein wahrhaft menschlicher Gedanke, die Kultur durch Unkultur des
13895 eigenen Lebens zu fördern! Es wäre ein bloßer Irrtum, wenn er nicht
13896 leider dadurch unmoralisch würde, daß der egoistische Zweck
13897 unverkennbar ist.“
13899 „Gewiß, sich selbst als Kaste zu unterscheiden. Es will jeder etwas
13900 Besonderes sein.“
13902 „Das soll er ja auch“, sagte La, „etwas Besonderes aber nur durch
13903 seine Freiheit, durch die innere Freiheit, mit der wir die Mittel
13904 bestimmen, in unserm Leben das Vernunftgesetz zu verwirklichen.
13905 Aber diese Leute lassen, nach Ihrer Schilderung, die innere
13906 Freiheit gar nicht gelten, weil sie sie nicht kennen. Sie setzen
13907 ihre Ehre in Äußerlichkeiten. Ich kann mir denken, wie schwer es
13908 ihnen sein mußte, in dieser Gesellschaft zu leben.“
13910 „Ich kann auch nicht in ihr leben“, erwiderte Ell. „Für sie besteht
13911 die Ehre eines Menschen in dem, was andere von ihm halten und
13912 sagen; deswegen glauben sie auch, sie könnte durch Beleidigungen
13913 vernichtet, durch rohe Gewalt wiederhergestellt werden. Als ob mich
13914 der Wille eines andern erniedrigen könnte, als ob es nicht die
13915 größte Selbsterniedrigung wäre, die eigene Vernunftbestimmung der
13916 fremden Meinung unterzuordnen! Und da ich in ihr leben mußte, so
13917 war mein inneres, wahres Leben eine Lüge in ihrem Sinne, eine
13918 Umgehung ihrer konventionellen Sitten. Doch das ist das wenigste,
13919 das ist für mich nur unangenehm, für meine Freunde beschwerlich.
13920 Aber das Unerträgliche, das Schmerzende liegt in dem Gedanken, daß
13921 diese Millionen und Abermillionen vernünftiger Wesen durch ihre
13922 bloße Dummheit, durch die mangelhafte Entwicklung ihres Gehirns,
13923 durch die fehlende Bildung in einem Zustand gehalten werden, der
13924 sie schwach, elend, unglücklich, unzufrieden und ungerecht macht.
13925 Denn sie sind nicht böse. Sie wollen das Gute, sie wollen die
13926 Freiheit. Ihr Gefühl ist lebendig und warm. Darin sind sie uns
13927 gleichstellend; die Idee des Guten, als die Selbstbestimmung, durch
13928 die wir Vernunftwesen sind, ist in ihnen wirksam wie in uns,
13929 insofern sind sie unsere Brüder. Aus der Menschheit erblühten
13930 Religionen tiefster Wahrhaftigkeit und Kraft, die ihnen die
13931 Offenbarung gaben, um die es sich handelt – unser individuelles
13932 Leben in Raum und Zeit, den Inhalt unsres Daseins, den wir Natur
13933 nennen, zu gestalten zu einem Mittel, um als freie Vernunftwesen
13934 über Raum und Zeit das Reich der Ideen zu umfassen. Und Weise sind
13935 ihnen erstanden, die gezeigt haben, wie es zu begreifen sei, daß
13936 das Leben des einzelnen abrollt wie ein Rädchen im Getriebe der
13937 Weltenuhr und dennoch das Ich dessen, der es selbst lebt, das ganze
13938 Uhrwerk erst zu schaffen hat. Aber die wenigsten haben die Weisheit
13939 verstanden. Sie haben das Gesetz, aber sie mißdeuten es und wissen
13940 es nicht anzuwenden; sie verfallen stets in Irrtum. Und deswegen,
13941 weil es Unwissenheit ist und nicht Mangel an Wille und an Gefühl
13942 für das Gute, deswegen glaube ich, daß wir der Menschheit helfen
13943 können. Verständiger müssen wir sie machen – nur nicht verständiger
13944 im Sinne der Menschen, für die verständig nur bedeutet: klug sein
13945 auf Kosten der andern.“
13947 „Möge Sie dieser Glauben nicht täuschen. Ich fürchte, es ist nicht
13948 bloß der Mangel an Verständnis des Zusammenhangs der Dinge, es ist
13949 noch mehr die Unfähigkeit, das wirklich zu wollen, was man als gut
13950 erkannt hat, es ist die Schwäche des Charakters hier, die Stärke
13951 des Egoismus dort, weshalb die Menschen den unvermeidlichen Kampf
13952 ums Dasein in so bedauernswerter Weise führen.“
13954 „Das bestreite ich nicht, daß diese Mängel zur Erniedrigung der
13955 Menschen beitragen, aber doch nur subjektiv, indem sie den
13956 einzelnen unfähig machen, des Glücks der inneren Freiheit sich zu
13957 erfreuen. Aber auch hier kann nur eine Vertiefung der Einsicht
13958 helfen. Die Handlungen sind ja immer bedingt durch diejenigen
13959 Vorstellungen, denen der höchste Gefühlswert zukommt, und diese
13960 Gefühlswerte richtig zu verteilen, ist Sache der Bildung.“
13962 „Wenn aber jemand“, sagte La, „ganz genau weiß, zum Beispiel ein
13963 Schüler, deine Pflicht verlangt jetzt, das und das zu tun, diese
13964 Arbeit zu vollenden, und wenn du es nicht tust, so wirst du nicht
13965 bloß Reue haben, sondern auch sinnlich schwer dafür büßen, und
13966 trotz dieser klaren Einsicht verleitet ihn doch eine momentane
13967 Lust, und sei es bloß das Lustgefühl der Faulheit, die Arbeit nicht
13968 zu tun, so sehen Sie doch, alle Einsicht hilft nichts gegen die
13969 Willensschwäche.“
13971 „Das spricht gerade für mich“, erwiderte Ell lebhaft.
13972 „Willensschwäche ist doch nur falsche Richtung des Willens,
13973 Richtung auf das Unterlassen statt auf das Handeln. Vorstellungen
13974 sind immer dabei entscheidend. Die Einsicht war dann eben
13975 tatsächlich noch nicht vorhanden, nicht umfassend genug. Dem
13976 Schüler in Ihrem Beispiel haben sich etwa die Vorstellungen
13977 eingeschlichen, die an ihn gestellte Forderung sei ein
13978 unberechtigter Zwang oder die gefürchteten Nachteile werden zu
13979 umgehen sein und dergleichen. Der Erwachsene, der den Zusammenhang
13980 klarer durchschaut, wird einfach seine Pflicht tun. In anderen
13981 Fällen wird er sich in der Lage des Schülers befinden, aber diese
13982 Fälle werden immer seltener, je weiter die Einsicht reicht. Wenn
13983 mich der Zorn übermannt, so daß ich den Gegner verletze, so beruht
13984 mein Fehler darauf, daß ich nicht Zeit zur Überlegung hatte. Warum
13985 sind die Nume soviel milder als die Menschen? Weil sie schneller
13986 denken. Im Augenblick des Affekts ist das Bewußtsein des Menschen
13987 ganz vom sinnlichen Reiz erfüllt, er vermag nicht alle die
13988 Gedankenreihen zu durchlaufen, die ihm die Folgen seiner Handlungen
13989 zeigen; er braucht dazu längere Zeit, und dann ist es zu spät. Der
13990 Nume fühlt nicht minder lebhaft den Reiz, vielmehr noch viel
13991 feiner; aber sein Gehirn ist so geübt, daß im Moment der ganze
13992 Zusammenhang der Folgen seines Zustandes ihm ins Bewußtsein tritt
13993 und sein Handeln bestimmt. Das ist es, was man Besonnenheit nennt.
13994 Nicht mit Unrecht hielten sie die Griechen für die höchste der
13995 Tugenden, aber sie wußten sie nicht zu erringen. Lassen Sie uns den
13996 Irrtum verringern, und wir werden die Menschen bessern.“
13998 „Die Leidenschaften werden Sie nicht ausmerzen.“
14000 „Daran denke ich natürlich nicht. In ihnen ruht ja der Wert des
14001 Lebens, und die Nume freuen sich ihrer. Nur die Art ihrer Wirkung
14002 können wir und müssen wir durch den Verstand regulieren. Auch die
14003 Schwächen der Nume – und die werd en Sie nicht leugnen – beruhen
14004 auf demselben Grund wie die der Menschen. Sie sind vom Leben
14005 sinnlicher Wesen untrennbar. Die starken Gefühle sind die großen
14006 Reservoirs der Energie des Gehirns, aus denen sie zur
14007 Wechselwirkung des Lebens herausströmt. Wären sie nicht mehr da, so
14008 hörte das Leben auf, so hörte das Denken auf. Aber auf den Weg
14009 kommt es an, den die Entladung der Gehirnenergie bei der Explosion
14010 des Gefühls nimmt. Es ist damit wie bei unsern Gebirgen auf der
14011 Erde. Sie sind die Sammelbecken der Gewässer, die von ihnen
14012 herabströmend den Völkern ihre segenspendende Kraft verbreiten. Die
14013 Niveauunterschiede müssen überall sein, wo Energieaustausch, wo
14014 Leben und Geschehen sein soll. Aber wie dieses Herabströmen
14015 stattfindet, das macht den Unterschied von Barbarei und Kultur. Der
14016 reißende Wildbach zerstört und verrinnt nutzlos. Bepflanzen wir die
14017 Abhänge, verteilen wir die Wasser, führen wir sie durch Turbinen
14018 und wandeln ihre Arbeit durch Maschinen um, so schaffen sie die
14019 Kultur. Diese Pflanzungen, diese Maschinen sind im Gehirn die
14020 Zellen der Rindensubstanz, in denen der Weltzusammenhang sich
14021 bildet. Die Macht des Gedankens ist es, die den Ausgleich der
14022 Gefühle zur Kultur lenkt. Und diese läßt durch Lehre und Erziehung
14023 sich erweitern. Das zu tun, sind wir den Menschen schuldig, wie
14024 Erwachsene den Kindern. Denn Kinder sind sie.“
14026 „Ja“, sagte La, „Kinder sind sie, das habe ich auch gefunden, und
14027 darum mögen Sie in Ihren Ansichten recht haben, Ell. Wie das Kind
14028 nur die eine Wirklichkeit kennt, wie das Spielzeug, die Mutter und
14029 die Erde am Himmel ihm keine andre Realität besitzen als seine
14030 Hand, und diese keine andere als das Produkt seiner Phantasie, so
14031 können auch die Menschen die Arten der Wirklichkeit nicht
14032 unterscheiden. Selbst ein geistig so hochstehender Mann wie Saltner
14033 vermag es nicht zu begreifen, daß dasselbe lebendige Individuum
14034 gleichzeitig ganz verschiedene Realitäten besitzt, je nach dem
14035 Zusammenhang, in welchem es sich bestimmt. Die Frau an der
14036 Schreibmaschine ist ein Stück Naturmechanismus, die den notwendigen
14037 Zusammenhang zwischen verschiedenen Zeichen für dieselbe
14038 Vorstellung registriert, wenn sie, wie ich hier, eure langweilige
14039 Geschichte übersetzt. Dieselbe Frau, wenn sie den Freund zärtlich
14040 anblickt, ist ein Stück des Phantasiespiels, das unser Leben mit
14041 seinem schönen Schein verklärt. Und wenn sie ein Versprechen
14042 einlöst, ist sie ein Stück der ethischen Gemeinschaft der Nume.
14043 Aber keine dieser Realitäten wirkt auf die andere, kann die andere
14044 verpflichten, außer in der freien Bestimmung der Persönlichkeit
14045 dieser Frau selbst. Das kann unser Freund nicht verstehen. Er denkt
14046 immer, es müsse noch ein anderer Zusammenhang bestehen, notwendig
14047 wie die Natur in Raum und Zeit, zwischen diesen Tätigkeiten –“
14049 „Sehen Sie – dieser Mangel der Einsicht ist es, welcher die
14050 menschliche Gesellschaft beschwert. Stets werfen sie das
14051 Verschiedene zusammen als Eines, indem sie es mit falschen
14052 Gefühlswerten belasten. Da ist der religiöse Glaube; er ist die
14053 Form, wie die Persönlichkeit das Weltgesetz in ihr Gefühl aufnimmt;
14054 die Menschen aber machen daraus ein Bekenntnis, das andre
14055 verpflichten soll und sich damit aufhebt. Da ist das Vaterland, die
14056 nationale Gemeinschaft; sie ist ein Mittel, die Macht des einzelnen
14057 zusammenzufassen, um für die Menschheit zu wirken; die Menschen
14058 umkleiden sie mit einem Gefühl, das sie zum Selbstzweck macht und
14059 infolgedessen Feindschaft der Nationen bewirkt. Da ist der
14060 natürliche, berechtigte Trieb der Selbsterhaltung; die Menschen
14061 machen daraus einen vernichtenden Egoismus, der zum Kampf der
14062 Gesellschaftsklassen führt. Und so mit allem. Hier kann Aufklärung
14063 helfen. Natürlich nicht, um Vollendung zu schaffen, die es
14064 überhaupt nicht gibt, aber eine höhere Stufe der Kultur. Es wäre
14065 nicht das erste Mal, daß Aufklärung die Menschen befreit hat, aber
14066 da mußte sie sich blutig durchkämpfen. Diesmal soll eine überlegene
14067 Macht den Sieg von vornherein gewähren.“
14069 „Aber wie denken Sie sich diese Einwirkung? Ehe Anschauungen und
14070 Gewohnheiten sich ändern, müssen Generationen vergehen – die
14071 Menschheit selbst muß sich ändern –“
14073 „Die Planeten haben Zeit. Aber die Hauptsache wird schnell
14074 geschehen. Die Menschen brauchten Jahrtausende, um den
14075 gegenwärtigen Stand ihres Wissens zu gewinnen; unter der Leitung
14076 geschickter Lehrer eignet sich heute der einzelne dieses Wissen in
14077 wenigen Jahren an. Wir werden die heutigen Menschen nicht zu Numen
14078 machen, aber wir werden sie in diesem Sinn führen. Nur muß unsre
14079 Bevormundung ihre Freiheit nicht beschränken, sondern allein den
14080 richtigen Gebrauch derselben erzielen. Das Niveau der Gesamtbildung
14081 läßt sich binnen kurzem so heben, daß sie eine klare Einsicht in
14082 das gewinnen, was im Leben möglich und erstrebbar ist. Sie werden
14083 erkennen, daß es eine Utopie ist, die Gleichheit der
14084 Lebensbedingungen anzustreben, daß die Gleichheit nur besteht in
14085 der Freiheit der Persönlichkeit, mit der ein jeder sich selbst
14086 bestimmt, und daß diese Freiheit gerade die Ungleichheit der
14087 Individuen in der sozialen Gemeinschaft voraussetzt. Wir haben ja
14088 doch viele Jahrtausende hindurch die sozialen Kämpfe durchgemacht,
14089 bis wir erkannt haben, daß der Kampf selbst unvermeidbar, die
14090 Gehässigkeit aber auszuschließen ist, daß in einem edlen Wettstreit
14091 alle Stufen der Lebensführung nebeneinander bestehen können. Nur
14092 eines ist dazu notwendig: dem einzelnen die Zeit zu geben, sich
14093 selbst zu bilden, zu kultivieren. Die Menschen können sich darum
14094 nicht selbst helfen, wenigstens nicht helfen, ohne den furchtbaren
14095 Kampf von Jahrtausenden, weil sie die Mittel nicht haben, den
14096 Massen die Sicherheit der notwendigsten Lebenshaltung zu geben.
14097 Diese Not der Massen können wir abstellen, ohne jene Utopie der
14098 Nivellierung des Vermögens. Wir können ihnen zeigen, daß das Hin-
14099 und Herschwanken des individuellen Besitzes sich nicht ändern läßt
14100 und auch nicht geändert zu werden braucht, daß aber jedem, der
14101 arbeitet, ein befriedigendes, seinen Fähigkeiten angemessenes
14102 Auskommen gewährleistet werden kann und daß niemand Not zu leiden
14103 braucht. Denn wir können den Menschen die Quelle des Reichtums
14104 erschließen durch unsre Technik, und wir können erzwingen, daß die
14105 damit verbundenen Besitzänderungen sich in Ruhe vollziehen. Den
14106 kleinlichen Eigennutz, den Krämersinn, die Unduldsamkeit, die
14107 Klassenherrschaft bringen wir zum Verschwinden, sobald ein jeder
14108 klar zu durchschauen vermag, welche Stelle im großen Zusammenwirken
14109 der einzelnen er ausfüllt. Der tückische, nagende Neid entflieht
14110 aus der Welt, und Menschenliebe hält den siegreichen Einzug.“
14112 Ell war aufgestanden, seine Augen leuchteten, begeistert sah er in
14113 die Zukunft, die ihm nahe herangekommen schien. La hatte die Hände
14114 von der Schreibmaschine herabsinken lassen. Sie blickte ihn an.
14116 „Halten Sie mich nicht für einen Schwärmer“, fuhr er fort. „Nicht
14117 daß ich meinte, Leid und Schmerz aus der Menschheit verbannen zu
14118 können. Ohne sie stände das Weltgetriebe still. Aber reinigen
14119 können wir dieses Leid, veredeln zu dem heiligen Schmerz, der
14120 untrennbar ist von der Liebe und dem Einblick in uns selbst. Die
14121 fremden Schlacken können wir ausstoßen, die aus der Not, der Roheit
14122 und der Dummheit stammen.“
14124 „Sie glauben an die Menschheit“, sagte La. Auch sie erhob sich und
14125 streckte ihm die Hand entgegen. „Ich begann an ihr zu zweifeln, ich
14126 will es Ihnen gestehen. Ob sich Ihr Traum erfüllen läßt, ich weiß
14127 es nicht, aber ich danke Ihnen, daß Sie ihn träumen, daß Sie ihn
14128 mir erzählten. Sie haben mir neuen Mut gemacht, denn ich fürchtete
14129 manchmal, daß das Zusammentreffen mit den Menschen beiden Teilen
14130 verderblich werden könnte.“
14132 „Fürchten Sie das nicht, La. Die Erde ist reich, viel reicher als
14133 der Mars. Sie empfängt von der Sonne fast das Zehnfache der Energie
14134 wie wir. So lange die alte Sonne strahlt, ist das Leben gesichert.
14135 Was läßt sich unter unseren Händen aus dieser Riesenkraft schaffen!
14136 In einem Jahr wird die Erde bedeckt sein mit Fabriken, in denen wir
14137 mit Hilfe der Sonnenenergie aus den unerschöpflichen Quellen der
14138 Erde von Luft, Wasser und Gesteinen Lebensmittel erzeugen und
14139 verteilen, die nahezu nichts kosten. Die äußere Not ist mit einem
14140 Schlag auch von dem Ärmsten genommen. Die Besitzer des Bodens
14141 können wir ohne Mühe entschädigen. Ich rechne, daß wir für jeden
14142 Menschen in den zivilisierten Staaten – denn diese können
14143 allerdings vorläufig erst in Betracht kommen – im Durchschnitt vier
14144 bis sechs Stunden gewinnen, die er nunmehr allein seiner geistigen
14145 Ausbildung widmen kann. Wir führen unsere Lehrmethoden ein. Die
14146 Menschen sind lernbegierig. Die unmittelbare Zuführung von
14147 Gehirnenergie wird ihnen die neue Anstrengung zur Lust machen. Die
14148 Wahnvorstellungen der Tradition in allen Bevölkerungsklassen werden
14149 verschwinden. Die Rüstungen, die Kriege hören auf. Wir üben in
14150 dieser Hinsicht zunächst einen leichten Zwang aus, bis die bessere
14151 Einsicht durchgedrungen, die bessere Haltung zur Gewohnheit
14152 geworden ist. Denn dies freilich wird notwendig sein; der Mensch
14153 muß zu jeder großen Veränderung erst gezwungen werden, bis er den
14154 Vorteil begreift und das Neue lieben lernt. Ich habe alles schon
14155 mit Ill durchgesprochen.“
14157 „Sie müssen die Menschen besser kennen als ich“, sagte La. „Aber
14158 glauben Sie denn, daß das alles sich ohne Gewalt durchführen
14159 läßt?“
14161 „Ich hoffe es. Wenn aber nicht, so werden wir sie anwenden –“
14163 „O Ell, da sprechen Sie als Mensch – und das ist meine große Sorge
14164 – ihr Menschen werdet uns vergessen machen, daß Gewalt ein Übel
14165 ist, unwürdig –“
14167 Die Klappe des Fernsprechers löste sich.
14169 „Ist La zu Hause?“ fragte Saltners Stimme.
14171 „Ja, ja“, rief La. „Kommen Sie nur. Sie haben sich den ganzen Tag
14172 noch nicht sehen lassen.“
14174 „Ich komme sogleich.“
14176 \section{33 - Fünfhundert Milliarden Steuern}
14178 Eine Minute später trat Saltner ein. Seine Miene verzog sich ein
14179 wenig enttäuscht, als er Ell in lebhaftem Gespräch mit La fand.
14180 Gleich nach der Begrüßung holte er ein Zeitungsblatt hervor.
14182 „Da“, sagte er, „lesen Sie bitte. Wenn die Nume so sind, weiß man
14183 wirklich nicht, ob man lachen soll oder sich entrüsten. Zur
14184 Abwechslung werde ich mich einmal entrüsten. Es ist –“
14186 „Sal, Sal“, rief La lachend, „setzen Sie sich, bitte, ruhig her,
14187 und dann wollen wir sehen, ob wir nicht lieber lachen wollen.“
14189 Sie faßte seine Hand und zog ihn an ihre Seite. „Der Streit der
14190 Planeten soll uns nichts anhaben“, sagte sie leise.
14192 Ell ergriff das Blatt und las:
14194 „Wie wir aus sicherer Quelle erfahren, soll die Ausrüstung des nach
14195 dem Südpol der Erde zu entsendenden Raumschiffs weitere zwanzig bis
14196 dreißig Tage in Anspruch nehmen. Man macht angeblich noch Versuche,
14197 um die Luftschiffe gegen etwaige Angriffe von Menschen
14198 widerstandsfähiger zu machen. Ja, es soll der Bau dieser Schiffe
14199 überhaupt stark im Rückstand sein. Wir finden diese Verzögerung
14200 seitens der Erdkommission unverantwortlich. Die Erregung gegen die
14201 Menschen wächst sichtlich und mit vollem Recht. Man hat aus den
14202 Berichten der Augenzeugen erfahren, daß die Darstellung jenes
14203 Zwischenfalls mit dem englischen Kriegsschiff von der Regierung
14204 viel zu milde gefärbt war. Die den Numen angetane Schmach erfordert
14205 eine schnelle Bestrafung der Schuldigen. Wozu überhaupt diese
14206 Umstände mit dem Erdgesindel?“
14208 „Erdgesindel! Hören Sie!“ rief Saltner, „Da soll doch gleich –“
14210 Ein Händedruck Las hielt ihn auf seinem Platz. „Lesen Sie weiter“,
14211 sagte sie zu Ell.
14213 „Wir haben genaue Informationen über die Verhältnisse auf der Erde
14214 eingezogen. Sie sind geradezu haarsträubend. Von Gerechtigkeit,
14215 Ehrlichkeit, Freiheit haben diese Menschen keine Ahnung. Sie
14216 zerfallen in eine Menge von Einzelstaaten, die untereinander mit
14217 allen Mitteln um die Macht kämpfen. Darunter leidet die
14218 wirtschaftliche Kraft dermaßen, daß viele Millionen im
14219 bedrückendsten Elend leben müssen und die Ruhe nur durch rohe
14220 Gewalt aufrecht erhalten werden kann. Nichtsdestoweniger überbieten
14221 sich die Menschen in Schmeichelei und Unterwürfigkeit gegen die
14222 Machthaber. Jede Bevölkerungsklasse hetzt gegen die andere und
14223 sucht sie zu übervorteilen. Wer sich mit der Wahrheit hervorwagt,
14224 wird von Staats wegen verurteilt oder von seinen Standesgenossen
14225 geächtet. Heuchelei ist überall selbstverständlich. Die Strafen
14226 sind barbarisch, Freiheitsberaubung gilt noch als mild. Morde
14227 kommen alle Tage vor, Diebstähle alle Stunden. Gegen die
14228 sogenannten unzivilisierten Völker scheut man sich nicht, nach
14229 Belieben Massengemetzel in Szene zu setzen. Doch genug hiervon! Und
14230 diese Bande sollen wir als Vernunftwesen anerkennen? Wir meinen, es
14231 ist unsre Pflicht, sie ohne Zaudern zur Raison zu bringen durch die
14232 Mittel, die ihr allein verständlich sind, durch Gewalt. Es sind
14233 wilde Tiere, die wir zu bändigen haben. Denn sie sind um so
14234 gefährlicher, als sie Spuren von Intelligenz besitzen. Leider hat
14235 man sich, wie es scheint, in der Regierung durch einzelne Exemplare
14236 dieser Gesellschaft täuschen lassen, und wir wollen nur hoffen, daß
14237 hierbei bloß ein Irrtum und nicht eine Rücksicht auf gewisse
14238 Beziehungen vorliegt –“
14240 Ell unterbrach sich.
14242 „Das ist denn doch zu arg!“ rief er. „Das sind Verdächtigungen, die
14243 man sich nicht gefallen lassen kann.“
14245 „Meine Befürchtung!“ sagte La. „Die Berührung mit den Menschen
14246 bringt einen Ton in unser Verhalten, wie er sonst im öffentlichen
14247 Leben nicht Sitte war. Nein, Ell, nein, meine lieben Freunde, Sie
14248 sind gewiß nicht daran schuld; es liegt in der Sache selbst – die
14249 antibatische Bewegung setzt eine Verrohung des Gemüts überhaupt
14250 voraus.“
14252 Saltner rieb sich ingrimmig die Hände. „Lesen Sie nur weiter“,
14253 sagte er. „Jetzt haben Sie sich entrüstet, und ich werde wieder
14254 lachen.“
14256 „Wir halten es für sinnlos“, las Ell weiter, „daß zwischen Wilden
14257 wie den Erdbewohnern und zwischen Numen überhaupt eine Verbindung
14258 verwandtschaftlicher Art stattfinden könne. Der Fall Ell bedarf
14259 entschieden einer näheren Untersuchung und Aufklärung. Wir haben
14260 diesen angeblichen Halbnumen noch nicht gesehen. Aber ein richtiges
14261 Exemplar der Menschheit hatten wir zu betrachten das zweifelhafte
14262 Vergnügen. Wer dieses stupide Gesicht mit den blinzelnden Punkten,
14263 die Augen sein sollen, diesen unanständigen, ungefärbten Anzug,
14264 diese rohen Bewegungen einmal gesehen hat, der wird sich sagen,
14265 diese Rasse kann von uns nur als vielleicht nutzbares Haustier
14266 geduldet werden.“
14268 Ell warf das Blatt fort.
14270 La brach in ein herzliches, leises Lachen aus, in das Saltner
14271 einstimmte. Sie trat vor Saltner und nahm seinen Kopf zwischen ihre
14272 Hände. „Ich muß mir doch einmal unser Haustierchen betrachten“,
14273 sagte sie lustig. „Sie sind wirklich ausgezeichnet geschildert.“
14275 Sie sah in seine Augen, ihre Züge wurden ernster, ihr Blick inniger
14276 und tiefer. „Mein lieber, braver Freund“, sagte sie. Sie bog seinen
14277 Kopf zurück und küßte ihn.
14279 Ell lächelte nun auch. „Wenn man so entschädigt wird“, sagte er,
14280 „muß man ja bedauern, nicht auch kräftiger geschildert zu sein.
14281 Aber Sie haben recht, man muß auf dieses dumme Zeug keinen Wert
14282 legen. Trotzdem bin ich froh, daß man Frau Torm wenigstens aus dem
14283 Spiel gelassen hat.“
14285 „Es lohnt sich natürlich nicht, sich darüber zu ärgern“, sagte
14286 Saltner, „nichtsdestoweniger kann das Geschreibe Unheil
14287 anrichten.“
14289 „Dazu ist es doch zu dumm, das nimmt niemand ernsthaft. Man kennt
14290 das Blatt als unzuverlässig.“
14292 „Aber ich habe hier noch etwas anderes, das vielleicht politisch
14293 nicht ohne Einfluß sein dürfte. Ich hörte, daß ähnliche Ansichten
14294 nicht nur in weiten Kreisen geteilt werden, sondern sogar im
14295 Zentralrat Anhänger besitzen. Lesen Sie folgende Vorschläge, die
14296 das neugegründete Blatt, die ›Ba‹, macht.“
14298 Ell nahm das Blatt und las: „Es ist bezeichnend für unsre
14299 Regierung, die sich 144 Luftschiffe für die Erde bewilligen ließ,
14300 daß sie jetzt im entscheidenden Augenblick kein einziges bereit
14301 hat. Aber für die Staaten ist es ein Glück. Die Begeisterung der
14302 Kolonialschwärmer hat Zeit, sich abzukühlen, und diese Abkühlung
14303 schreitet schnell vorwärts. Es wird auffallend still über unsre
14304 Brüder im Sonnensystem, die wir mit der Liebe und Freiheit der Nume
14305 umschließen sollen. Und es ist gut, daß wir zur Besinnung kommen.
14306 Man glaube nur nicht, daß uns die Menschen mit offenen Armen
14307 entgegenkommen werden. Unser Stand wird nicht leicht sein, und
14308 unsre Opfer werden sich höher und höher steigern. Sowohl die
14309 Menschenfreunde als die Antibaten unterschätzen den Widerstand, den
14310 wir zu erwarten haben. Deswegen sollen wir von vornherein klar
14311 sagen, was wir wollen, und dann rücksichtslos handeln, nicht auf
14312 ein Entgegenkommen rechnen, sondern ohne weiteres unsere
14313 Bedingungen mit dem Telelyt und Repulsit diktieren. Es mag sein,
14314 daß die Menschen sich zur Numenheit erziehen lassen, und wir sind
14315 die ersten, welche bereit sind, sie als Brüder anzuerkennen; aber
14316 dies wird uns nur möglich sein, wenn sie sehen, daß jeder
14317 Widerstand aussichtslos ist.“
14319 „Es kommen nun einige Stellen“, sagte Saltner, „die eigentlich
14320 nichts andres verlangen, als was die Regierung selbst wollte,
14321 nämlich warten, bis die Martier überall zugleich losschlagen
14322 können. Aber lesen Sie, bitte, die Vorschläge hier unten.“
14324 „Wir warnen davor, von der Erde zu viel zu erwarten. Wir werden sie
14325 niemals besiedeln können. Die Schwere und die Atmosphäre machen uns
14326 den dauernden Aufenthalt unmöglich. Wir werden immer nur einzelne
14327 Stationen mit wechselnder Besatzung drüben erhalten können. Die
14328 Ausnutzung des Reichtums der Erde muß durch die Menschen für uns
14329 geschehen. Etwa in folgender Weise. Die Gesamtstrahlung der
14330 Sonnenenergie auf die Erde beträgt –“ Ell unterbrach sich.
14332 „Ja“, sagte Saltner, „die Zahlen verstehe ich nicht. Aber es wäre
14333 mir doch ganz interessant zu wissen, wie hoch uns die Herren Nume
14334 eigentlich einschätzen.“
14336 „Ich will sie schnell umrechnen“, rief La. „Es ist ganz leicht. Sie
14337 wissen, unsere Münzeinheit gründet sich auf die Energiemenge, die
14338 von der Sonne während eines Jahres auf die Einheit der Fläche des
14339 Mars ausgestrahlt wird.“
14341 „Gehört hab ich’s schon“, sagte Saltner, „als man mir meinen
14342 ›Energieschwamm‹ ausgezahlt hat, aus dem ich alle Tage mein
14343 Taschengeld abzapfe. Aber warum Sie so rechnen, das weiß ich
14344 nicht.“
14346 „Es ist das Einfachste. Einen vergleichbaren Preis mit allen
14347 Kräften der Natur hat doch nur die Arbeit, eine gleichbleibende
14348 Arbeitsmenge können wir leicht mechanisch definieren und
14349 herstellen, und alle Arbeitskraft, die wir zur Verfügung haben,
14350 stammt von der Sonne. Wir fangen die gesamte Sonnenstrahlung auf,
14351 benutzen sie, um eine bestimmte Menge Äther zu kondensieren, und so
14352 besitzen wir eine überall verwertbare Einheit der Arbeit. Die
14353 Sonnenstrahlung haben wir mit der Erde gemeinsam, hier muß sich
14354 also auch eine Vergleichbarkeit unserer Währungen ergeben.“
14356 „Verzeihen Sie“, unterbrach sie Ell, „es besteht dabei noch eine
14357 Schwierigkeit. Ich habe nämlich die Umrechnung schon gemacht, um
14358 ein Urteil über das Budget der Erde aufzustellen. Aber auf der Erde
14359 vermögen wir Menschen nur einen sehr beschränkten Teil der
14360 Sonnenstrahlung, eigentlich nur die Wärme zu verwerten, während Sie
14361 auf dem Mars auch die langwelligen und die kurzwelligen Strahlen,
14362 die gar nicht durch unsere Atmosphäre gehen, in Wärme umwandeln und
14363 daher mitrechnen. Ich muß gestehen, daß ich nicht weiß, wie groß
14364 dieser Betrag ist.“
14366 „Das schlagen wir nach“, sagte La. Sie hatte schon das
14367 physikalische Lexikon ergriffen. „Hier steht es. Wir können
14368 rechnen, daß die Ihnen bekannte Strahlung der Sonne etwa den
14369 zwölften Teil der von uns benutzten beträgt.“
14371 „Dann ist es sehr einfach“, meinte Ell. „Die übrige Umrechnung habe
14372 ich schon früher für mich in Tabellen gebracht. Hier ist sie. Wir
14373 wollen also von den Angaben für den Mars nur ein Zwölftel rechnen.
14374 Dann kommt die Einheit der Sonnenstrahlung auf dem Mars etwa gleich
14375 500.000 Wärmeeinheiten auf der Erde, was ungefähr, soweit sich der
14376 Kohlenpreis fixieren läßt, einem Wert von fünfzig Pfennig
14377 entsprechen dürfte. So – nun will ich Ihnen die Berechnungen gleich
14378 in Mark vorlesen –“
14380 „Hören Sie“, warf Saltner ein, „der Wert einer Wärmeeinheit ist
14381 doch aber sehr schwankend, je nachdem –“
14383 „Ganz gewiß, ich will auch nur zur Bequemlichkeit statt einer
14384 Million Kalorien, was das genaue Maß des Arbeitswertes wäre, der
14385 Anschaulichkeit wegen eine Mark sagen; ein ungefähres Bild der
14386 Größenverhältnisse gibt es doch. Nach meiner Umrechnung also lautet
14387 der Artikel weiter:
14389 ›Die Gesamtstrahlung der Sonnenenergie auf die Erde beträgt im
14390 Laufe eines Erdenjahres 3.000 Billionen Mark, wovon aber nur 1.200
14391 bis auf die Erdoberfläche gelangen. Wir können indessen auf der
14392 Erde nur einen relativ viel kleineren Teil mit Strahlungssammlern
14393 besetzen als auf dem Mars, für den Anfang sicher nicht mehr als ein
14394 Prozent. Das gibt eine Billion Mark, die wir durch diese Anlagen
14395 den Menschen jährlich schenken. Allerdings müssen sie dafür
14396 arbeiten, aber die Arbeit wird ihnen reichlich bezahlt, wenn wir
14397 jährlich nur 500.000 Millionen Mark für uns als Steuer
14398 beanspruchen. Sie werden sich immer noch zehnmal besser stehen als
14399 bei ihren bisherigen Hilfsquellen, die ihnen außerdem noch zum
14400 großen Teil bleiben. Außer der Strahlungsenergie können wir uns
14401 noch Luft, Wasser, kohlensauren Kalk und andere Mineralien liefern
14402 lassen. Wir müssen nur die Lieferungen an Arbeit und Stoffen auf
14403 die einzelnen Staaten nach ihrer Bevölkerungszahl verteilen. Es
14404 wird sich empfehlen, dies so zu tun, daß die einzelnen Marsstaaten
14405 sogleich die betreffenden Erdgebiete zugeteilt erhalten, an die sie
14406 sich zu halten haben. Eine Vorschlagsliste gedenken wir demnächst
14407 zu veröffentlichen. Doch müssen wir den Anspruch unseres
14408 Nachbarstaates Berseb, die gesamten Vereinigten Staaten von
14409 Nordamerika für sich zu verlangen, schon heute zurückweisen; wenn
14410 diese große Ländermasse nicht geteilt werden soll, so wäre
14411 jedenfalls unser Hugal als der volkreichste Marsstaat am meisten
14412 berechtigt.‹“
14414 „Sackerment, das nenn ich bescheiden“, sagte Saltner nach einer
14415 Pause. „Fünfhundert Milliarden jährlich, ohne das übrige! Da haben
14416 Sie uns eine schöne Suppe eingebrockt, Meister Ell, mit Ihren
14417 berühmten Numen.“
14419 „Ich bitte Sie, Saltner“, antwortete Ell ärgerlich, „erstens sind
14420 das vage Projekte, auf die nicht viel zu geben ist; und zweitens,
14421 wenn der Mars Revenuen von der Erde zieht, so macht er sich eben
14422 nur für das Kapital und die Arbeit bezahlt, die er für die Kultur
14423 der Erde aufwendet, die Menschheit aber wird davon den größten
14424 Vorteil haben. An dieser meiner Überzeugung können alle die
14425 Auswüchse nichts ändern, die sich natürlich im Anfang einer so
14426 gewaltigen Unternehmung in der Phantasie unserer Landsleute bilden.
14427 Sie müssen sich nicht wundern, daß selbst den Numen der Gedanke zu
14428 Kopf steigt, durch die Erde auf einmal das Zehnfache derjenigen
14429 Energie zur Verfügung zu haben, welche die Sonne unserm Planeten
14430 allein spendet. Denn daß die Martier über die Erde verfügen können,
14431 ist doch nun nicht mehr zu leugnen.“
14433 „Na, darüber ließe sich doch noch Verschiedenes sagen. Ich würde
14434 den ersten martischen Satrapen, der mir meine Million Kalorien
14435 abknöpfen wollte, mir doch erst ein wenig mit meinen Fäusten
14436 betrachten. Darin sind wir halt eigen.“
14438 Ell zuckte die Achseln. „Es wird Ihnen wenig nützen“, sagte er.
14440 „Vielleicht doch“, entgegnete Saltner trocken, „wenn alle so
14441 dächten, oder wenigstens viele. Es könnte nützen. Zunächst denen,
14442 die etwa Lust hätten, sich auf die Seite der Martier zu stellen;
14443 die könnte es zur Besinnung bringen, wenn sie sehen, wie ehrliche
14444 Menschen über die Treue zum Vaterland denken. Und im Notfall mir
14445 selbst. Denn besser ist es, mit ein bissel Repulsit ausgelöscht zu
14446 werden, als unter die Fremdherrschaft sich beugen, und wenn sie
14447 sich noch so sehr mit dem Namen der Freiheit ausstaffiert. Aber wir
14448 wollen uns nicht erhitzen. Darf ich mir ein Pik nehmen?“ sagte er
14449 zu La.
14451 „Wir wollen uns allerdings nicht erhitzen“, erwiderte Ell mit
14452 eisiger Miene. „Darum sollten Sie sich selbst etwas vorsichtiger
14453 ausdrücken. Man könnte auch auf dem Mars fragen, was ein jeder, der
14454 auf seiner Oberfläche wandelt, der Sache der Nume schuldig ist. Und
14455 was den Begriff der Fremdherrschaft anbetrifft, so kommt es doch
14456 ganz darauf an, was man als fremd ansieht. Die Staatsangehörigkeit
14457 jedes einzelnen würde unangetastet bleiben; wenn aber der Staat
14458 selber der Leitung einer höheren Vernunft unterliegt, so würde das
14459 für jeden Bürger nur eine größere bürgerliche Freiheit, einen
14460 weiteren Schritt zur Selbstregierung bedeuten.“
14462 „Die sich in der Freiheit äußern würde, mehr Steuern zu zahlen.
14463 Oder meinen Sie vielleicht, man würde uns das Wahlrecht in den
14464 Marsstaaten oder einen Sitz im Zentralrat gewähren? Man wird uns
14465 immer nur als die Handlanger betrachten, die man vielleicht
14466 anständig füttert und im übrigen nach Belieben gängelt. Aber ein
14467 Haustier bin ich nit und werd ich nit. Ich nit!“
14469 „O ihr Blinden!“ rief Ell. „Seht ihr denn nicht, daß ihr nichts
14470 anderes seid als Sklaven, Sklaven der Natur, der Überlieferung, der
14471 Selbstsucht und eurer eigenen Gesetze, und daß wir kommen, euch zu
14472 befreien, daß ihr nur frei werden könnt durch uns?“
14474 „Ich glaub nicht an die Freiheit, die nicht aus eigner Kraft
14475 kommt.“
14477 „Wir wollen ja nur diese eigne Kraft stärken. Und nun weigert ihr
14478 euch wie ein Kind, das Arznei nehmen soll.“
14480 La hatte schweigend zugehört. Ell hatte sie wiederholt angeblickt,
14481 als wollte er sich ihrer Zustimmung versichern, aber ihre Augen
14482 ruhten auf Saltner. Was er sagte, war ihr aus dem Herzen
14483 gesprochen, sie freute sich des kräftigen Ausdrucks seiner
14484 einfachen, natürlichen Gesinnung, aber durch ihre Seele zog es
14485 schmerzlich. War es nicht eine verlorene Sache, für die er kämpfte?
14486 Das große Schicksal, das über die Planeten rollte, mußte es nicht
14487 diese trotzigen Erdenkinder zermalmen? Ell hatte doch recht, die
14488 Numenheit ist die Vernunft, ist die Freiheit, und ihr Sieg ist
14489 gewiß, wie auch der edle Irrtum des einzelnen sich sträube. Und
14490 dennoch! Was ist denn das Schicksal, wenn nicht die Festigkeit im
14491 ehrlichen Willen der Person? Was ist denn die Freiheit, wenn nicht
14492 der Entschluß, mit dem ein jeder nach seinem besten Wissen und
14493 Gewissen handelt, was ihm auch geschehe? Und welch höhere Freiheit
14494 konnten die Nume geben?
14496 „Nein, Ell“, sagte La jetzt langsam, als Saltner auf Ells letzten
14497 Vergleich nicht antwortete, „nein – nicht wie ein Kind. Saltner hat
14498 wie ein Mann gesprochen. Ein Nume mag es besser verstehen, aber
14499 besser wollen und fühlen kann man nicht. Und ich weiß, er wird auch
14500 so handeln.“
14502 Sie reichte Saltner die Hand. Ihre dunklen Augen schimmerten
14503 feucht, als sie sagte:
14505 „Warum muß es denn zum Streit kommen? Lassen Sie uns alles
14506 versuchen, daß Nume und Menschen Freunde werden. Es ist ja doch nur
14507 notwendig, daß sie sich kennenlernen, ehrlich kennenlernen. Lassen
14508 Sie uns den Irrtum, die Verleumdung bekämpfen, die sich
14509 einzuschleichen drohen. Noch ist es vielleicht Zeit! Nicht wahr,
14510 auch Sie wollen es, Ell?“
14512 „Was könnte ich Höheres wollen?“ erwiderte Ell warm. „Es war der
14513 Wunsch meines ganzen Lebens, die Versöhnung, das Verständnis der
14514 Planeten herbeizuführen, ihre Kulturarbeit zu vereinen. Seit ich
14515 die Nume persönlich kennengelernt habe, ist mein Wunsch lebhafter
14516 als je. Daß die Nume die Überlegenen sind, ist eine Tatsache. Wenn
14517 es zum Kampf kommt, werden die Menschen unterliegen, das folgt
14518 daraus. Daß ich trotzdem in diesem Fall auf der Seite der Nume
14519 stehen würde, ist ebenso natürlich wie der entgegengesetzte
14520 Standpunkt Saltners. Was ich nicht billige, ist nur das Mißtrauen,
14521 mit dem die Menschen uns begegnen, weil sie von einem Teil der
14522 Martier von oben herab behandelt werden. Aber diese Zeitungen sind
14523 doch nicht die Marsstaaten. Ich hoffe wie Sie, daß die
14524 entgegengesetzten Stimmen bald durchdringen werden. Hätte Saltner
14525 andere Blätter gelesen, er wäre sicherlich weniger bitter
14526 gestimmt.“
14528 „Ich habe auch die andern gelesen“, sagte Saltner, „den ganzen
14529 Vormittag habe ich mich mit den Zeitungen herumgeschlagen. Leider
14530 haben sie einen schweren Stand, zu beweisen, daß die Menschen
14531 anständige Leute sind. Was sie für uns sagen können, das müssen
14532 ihnen die Martier halt glauben. Aber was sich gegen uns sagen läßt,
14533 das haben sie in einem einzelnen Fall gesehen. Daran sind die
14534 sakrischen Engländer schuld. Aber auch die beiden vorlauten
14535 Matrosen vom Luftschiff und ihre Helfershelfer, die die Sache im
14536 Theater aufgebauscht haben. Dagegen müßte die Regierung mehr tun,
14537 als die bloße Berichtigung loslassen, die heute in den Zeitungen
14538 steht.“
14540 „Es wird auch geschehen“, sagte Ell. „Ich will eben deshalb jetzt
14541 zu Ill, der gestern in Erwägung zog, ob sich nicht ermitteln lasse,
14542 wie die Engländer dazu gekommen sind, unsere Leute anzugreifen.
14543 Vielleicht lag nur ein Mißverständnis vor. Und wenn sich das
14544 beweisen ließe, wenn sich außerdem zeigte, daß die Darstellung im
14545 Theater und so weiter übertrieben ist, so wird die Gerechtigkeit
14546 bei den Martiern siegen.“
14548 „Wie wollen Sie das nachweisen, da Sie keine andern Zeugen haben
14549 als die beiden Martier, von denen ich gar nicht behaupten will, daß
14550 sie absichtlich übertreiben, die aber in ihrer Bedrängnis nicht
14551 objektiv urteilen können?“
14553 „Es käme darauf an zu sehen, was an dem Cairn – an dem Steinmann,
14554 den die Engländer errichtet hatten – eigentlich vorging bis zu dem
14555 Augenblick, in welchem die Seeleute dem Offizier zur Hilfe kamen.
14556 Auch wäre es sehr gut, wenn unsere Landsleute sich durch den
14557 Augenschein überzeugen könnten, wie europäische Matrosen und ein
14558 europäisches Kriegsschiff eigentlich aussehen –“
14560 „Das ist wahr“, sagte Saltner. „Am Ende ginge ihnen doch ein Licht
14561 auf, daß die Menschen keine Wilden sind, mit denen zu spaßen ist.
14562 Aber wie sollte so ein Nachweis möglich sein über einen Vorgang,
14563 der in der Öde des Kennedy-Kanals vor Wochen stattgefunden hat?“
14565 „Durch das Retrospektiv.“
14567 Saltner machte ein erstauntes Gesicht.
14569 „Das ist ein glücklicher Gedanke“, rief La.
14571 „Ich habe dabei gar keinen Gedanken“, sagte Saltner
14572 kopfschüttelnd.
14574 La erklärte das Verfahren. Saltner wurde wieder kleinlaut. Bedrückt
14575 setzte er sich nieder und murmelte für sich hin:
14577 „Medizin! Wir sind ja doch arme Rothäute!“
14579 Ell verabschiedete sich.
14581 „Wenn es noch zur Anwendung des Retrospektivs kommt“, sagte La,
14582 „dann müssen Sie mir aber einen guten Platz verschaffen.“
14584 „Ich wäre glücklich, Ihnen gefällig sein zu können.“
14586 Ell sprach es wärmer als gewöhnlich und ließ seinen Blick lange auf
14587 La ruhen, die ihn lächelnd ansah. Dann ging er.
14589 La wendete sich zu Saltner. Sie faßte seine Arme und blickte ihn
14590 an. „Wie bin ich froh, daß ich dich hier habe, du geliebter
14591 Mensch!“ sagte sie.
14593 \section{34 - Das Retrospektiv}
14595 Die Rüstungen der Martier für ihren Zug nach der Erde waren darauf
14596 berechnet gewesen, sobald das Frühjahr für die Nordhalbkugel der
14597 Erde gekommen sei, sich gleichzeitig mit ihren Luftschiffen über
14598 sämtliche Hauptstädte der einflußreicheren Staaten zu legen und die
14599 Regierungen zu zwingen, die vom Mars zu diktierenden Bedingungen
14600 ohne weiteres anzunehmen. Es sollte dann unter einer Art
14601 Protektorat der Marsstaaten den Erdbewohnern die Kultur der Martier
14602 zugänglich gemacht werden, und man wollte abwarten, in welcher
14603 Weise sich die Marsstaaten am besten aus den alten und neuen
14604 Hilfsmitteln der Erde würden schadlos halten können.
14606 Jetzt auf einmal sollte sofort und unter veränderten Umständen eine
14607 Expedition abgesandt werden. Man hatte die Erfahrung gemacht, daß
14608 die Erdbewohner vermutlich Widerstand leisten würden und daß sie
14609 nicht ungefährliche Mittel der Verteidigung besaßen. Man konnte nur
14610 wenige Luftschiffe auf einmal nach der Erde transportieren und
14611 mußte darauf gefaßt sein, statt einfach ein Protektorat zu
14612 erklären, in einen Krieg mit England, vielleicht mit der ganzen
14613 Erde verwickelt zu werden.
14615 Daher hatte Ill alle Ursache, in seinen Entschlüssen und Handlungen
14616 sich nicht zu überstürzen. Je länger sich die Aktion gegen England
14617 hinzog, um so eher konnte er hoffen, eine genügende Macht auf der
14618 Erde zu versammeln, um nach dem ursprünglichen Plan eine Besetzung
14619 aller Kulturstaaten sofort anzuschließen. Da sich die Planeten
14620 jetzt voneinander entfernten, nahm die Reise immer längere Zeit in
14621 Anspruch. Wenn sich die Absendung des Raumschiffs noch um einen
14622 Monat verzögerte, so mußte wenigstens ein zweiter Monat ablaufen,
14623 ehe es nach der Erde gelangte. Aber auch dann wollte er nicht
14624 sogleich vorgehen, sondern zunächst weitere Verstärkungen abwarten.
14625 Etwa im Januar – nach irdischer Rechnung – hoffte er stark genug zu
14626 sein, seinen Forderungen den nötigen Nachdruck zu geben. Ließen
14627 sich nun die Verhandlungen mit England noch einige Zeit
14628 verschleppen, so hatte sich inzwischen die Raumschiffflotte auf der
14629 Außenstation des Nordpols eingefunden, und Mitte März konnte man
14630 dort mit der Indienststellung der Luftschiffe beginnen.
14632 Ill hatte aber auch noch andere Gründe, die Absendung des
14633 Raumschiffs nach dem Südpol zu verzögern. Es hatte sich ja gezeigt,
14634 daß die Luftschiffe vor den Waffen der Erdbewohner keinen
14635 genügenden Schutz besaßen. Einen solchen galt es erst herzustellen.
14636 Wenn es gelang, die Luftschiffe gegen Geschosse jeder Art aus
14637 irdischen Geschützen widerstandsfähig zu machen, so war dadurch der
14638 Erfolg gesichert. Versuche darüber konnten erst jetzt angestellt
14639 werden, nachdem man die Wirkungsart der Repetiergewehre und der
14640 großen Marinegeschütze kennengelernt hatte. Und in dieser Hinsicht
14641 war man einer neuen Entdeckung von ganz erstaunlicher Wirkung auf
14642 der Spur. Dieses Argument schlug durch. Die oppositionellen
14643 Parteien im Parlament wie in der Presse beruhigten sich darüber,
14644 daß die Absendung der Expedition sich verzögerte. Die Wichtigkeit
14645 der technischen Vervollkommnung der Luftschiffe leuchtete ebenso
14646 ein wie die Schuldlosigkeit der Regierung, daß diese Erfahrungen
14647 nicht früher gemacht werden konnten. Sobald es sich überhaupt um
14648 die Lösung einer wichtigen technischen Aufgabe handelte, gab es
14649 keine Parteikämpfe mehr. Dann waren alle einig, und alles Interesse
14650 konzentrierte sich darauf. Da war ein Ehrenpunkt für jeden Martier
14651 berührt, und das technische Problem drängte alle anderen Fragen in
14652 den Hintergrund.
14654 So kam es, daß die Hetze gegen die Erdbewohner und die zahllosen
14655 Pläne über die Ausnutzung der Erde nach wenigen Wochen verstummten
14656 und wieder eine ruhigere Auffassung Platz griff. Doch die Regierung
14657 ließ sich dadurch nicht täuschen. Es war kein Zweifel, daß ähnliche
14658 Gesinnungen wieder hervortreten würden, ja daß sie sich zu einem
14659 chauvinistischen Übermut verdichten würden, sobald es feststand,
14660 daß die martischen Schiffe durch menschliche Waffen unverletzbar
14661 seien. Die Gefahr lag vor, daß der Gegensatz zwischen beiden
14662 Planeten dann zu einer Vergewaltigung der Erde führen, daß die
14663 Regierung zu kriegerischen Maßregeln gegen die ohnmächtigen
14664 Menschen gedrängt werden könnte. Der Zentralrat war jedoch, in
14665 voller Übereinstimmung mit Ill, fest gewillt, dies zu vermeiden und
14666 die Würde der Numenheit in den Verhandlungen mit der Erde zu
14667 wahren, indem er die Übermacht der Martier nur benutzen wollte,
14668 Feindseligkeiten der Menschen ihrerseits unmöglich zu machen und
14669 dadurch das friedliche Zusammenwirken der Planeten zu erzielen. Es
14670 wurde daher versucht, ein Gesetz durchzubringen, das von vornherein
14671 den Menschen die Freiheit der Persönlichkeit garantieren sollte,
14672 indem es sie als Vernunftwesen erklärte. Doch war eine starke
14673 antibatische Opposition dagegen vorhanden, und auch die
14674 gemäßigteren Parteien erklärten, daß zuvor die Angelegenheit mit
14675 England geordnet sein müsse.
14677 Man bestrebte sich jetzt von seiten der Regierung wie der
14678 Philobaten – so übersetzte Ell die Bezeichnung der
14679 menschenfreundlichen Richtung –, nach Möglichkeit bessere Ansichten
14680 über die Erdbewohner zu verbreiten. Dahin gehörte auch die
14681 Aufklärung des Zwischenfalls mit dem englischen Kriegsschiff.
14682 Namentlich war es für die beabsichtigten Unterhandlungen mit
14683 England wichtig und erforderlich, genau aus eigenen Quellen zu
14684 wissen, was am Cairn vorgegangen sei, womöglich auch, was aus dem
14685 Kriegsschiff geworden. Infolgedessen entschloß sich der Zentralrat,
14686 auf Antrag von Ill, einen Versuch mit dem Retrospektiv zu machen.
14688 Die Einstellung des Apparates, um durch ihn ein bestimmtes Ereignis
14689 in der Vergangenheit wieder zu erblicken, bedurfte einer längeren
14690 Vorbereitung. Es war schwierig, genau die Richtung zu ermitteln, in
14691 welcher die Achse des Kegels von Gravitationsstrahlen liegen mußte,
14692 den man aussandte, um das zur Zeit des Ereignisses vom Planeten
14693 zurückgestrahlte Licht auf seinem Weg durch den Weltraum einzuholen
14694 und wieder zurückzubringen. Es kam dabei eine Menge von
14695 Einzelheiten in Betracht, welche mehrtägige theoretische
14696 Untersuchungen und langwierige Rechnungen erforderten. Alsdann
14697 bedurfte es noch praktischer Versuche, um die passendste
14698 Einstellung zu finden und zu korrigieren. Nachdem die
14699 zurückkehrenden Gravitationswellen wieder in Licht verwandelt
14700 worden waren und das optische Relais passiert hatten, erschien
14701 endlich das Bild der aufgesuchten Gegend in einem völlig
14702 verdunkelten Zimmer auf eine Tafel projiziert. Handelte es sich
14703 nicht nur um eine Schaustellung, sondern um Konstatierung von
14704 Tatsachen, so wurde das Bild, das sich natürlich fortwährend
14705 veränderte, indem es den ganzen Verlauf des beobachteten
14706 Ereignisses darstellte, durch eine ununterbrochene Folge von
14707 Momentphotographien fixiert, die später im Kinematograph wieder in
14708 ihrer lebendigen Folge betrachtet werden konnten. Die
14709 Schwierigkeiten des Versuchs waren nun im vorliegenden Fall in noch
14710 viel höherem Grad als sonst vorhanden, da man ein Ereignis
14711 betrachten wollte, das sich auf einem andern Planeten vollzogen
14712 hatte, und da man außerdem beabsichtigte, den Schauplatz, der
14713 Bewegung des Schiffes folgend, zu wechseln. Es war das erste Mal,
14714 daß man das Retrospektiv auf einen so komplizierten Fall anwendete,
14715 und man durfte nicht erwarten, daß alle Teile des Versuchs
14716 gleichmäßig oder überhaupt glücken würden. Das Experiment selbst
14717 sollte daher nicht öffentlich sein. Es konnte nachträglich
14718 wiederholt werden, in jedem Fall gaben die bewegten
14719 Momentphotographien ein unwiderlegbares Protokoll über die
14720 Beobachtungen, das jedermann zugänglich gemacht werden konnte.
14724 Isma verzeichnete in ihrem Tagebuch bereits den 18. Oktober. Sie
14725 mußte erst einige Zeit in ihrem Gedächtnis nachrechnen, ehe sie
14726 sich des Datums vergewisserte, denn in den letzten Tagen hatte sie
14727 keinerlei Aufzeichnungen gemacht. Sie fühlte sich sehr
14728 niedergeschlagen. Zu ihren Besorgnissen kam eine körperliche
14729 Verstimmung infolge der Veränderung ihrer Lebensverhältnisse.
14730 Einige Tage hatte ihre Schwäche sie so überwältigt, daß sie ihr
14731 Zimmer nicht verlassen konnte. Ihre Gastfreunde waren in
14732 liebevollster Weise um sie besorgt und hatten sogar Hil den weiten
14733 Weg von seinem Wohnort nach Kla machen lassen, um diesen besten
14734 Kenner der menschlichen Konstitution auf dem Mars zu Rate zu
14735 ziehen. Er hatte angeordnet, daß für Isma ein besonderer Apparat
14736 gebaut werde, um die normalen Verhältnisse der Erde in Schwere und
14737 Luftdruck für sie herzustellen; und seitdem sie sich die Nacht über
14738 und einige Stunden des Tages in diesem künstlichen Erdklima
14739 aufhielt, hatte sich ihr Zustand gebessert, und ihre Kräfte waren
14740 wieder gestiegen.
14742 Obwohl ihre Gastfreunde und befreundete Familien derselben, vor
14743 allem La, sie in jeder Weise aufzuheitern suchten, obwohl sie
14744 manchmal über Saltners harmlose Spöttereien und die Schilderungen
14745 seiner Abenteuer auf dem Mars herzlich lachen mußte, zählte sie
14746 doch sehnsüchtig die Stunden, in denen Ell bei ihr erschien. Er
14747 hatte sie täglich aufgesucht und während ihrer Erkrankung, so oft
14748 ihr Zustand es gestattete, sich durch den Fernsprecher mit ihr
14749 unterhalten. Sein Verhalten gegen sie war stets unverändert
14750 freundschaftlich und teilnehmend geblieben, sie hatte keine der
14751 kleinen Aufmerksamkeiten vermißt, mit denen er sie seit Jahren
14752 verwöhnt hatte. Ihre Wünsche suchte er zu erraten, fast nie kam er,
14753 ohne ihr irgend etwas mitzubringen, von dem er glaubte, daß es sie
14754 interessieren würde – einen Artikel in den Zeitungen, eine
14755 Abbildung oder eine der tausend unterhaltenden Neuigkeiten der
14756 Marsindustrie, und wenn er sie erblickte, ruhten seine Augen mit
14757 der alten, zärtlichen Anhänglichkeit auf ihr. Sie hätte nicht sagen
14758 können, worüber sie sich beklagen dürfte. Und dennoch – sie konnte
14759 sich eines schmerzlichen Gefühls nicht erwehren, als wäre eine
14760 Entfremdung zwischen ihr und dem Freund eingetreten. In seiner
14761 Anwesenheit verschwand es, aber wenn er fort war, stellte es sich
14762 wieder ein. Sie quälte sich selbst mit Grübeleien darüber, was sie
14763 ihm vorzuwerfen habe.
14765 Warum konnte er so gar nichts darin durchsetzen, daß ihr die
14766 Erlaubnis erteilt werde, mit dem Raumschiff nach dem Südpol der
14767 Erde abzureisen? Ihre Bitte war von Ill mit Bedauern, aber
14768 entschieden abgeschlagen worden; die Verhältnisse gestatteten es
14769 nicht. Ell hatte sich vergeblich für sie verwandt; man hatte
14770 erklärt, so lange man sich in einer Art feindseligen Zustandes zur
14771 Erde befinde, sei es nicht zulässig, daß einer der Erdbewohner
14772 entlassen werde. Aber als Ell einmal in ihrer Gegenwart seinem
14773 Oheim gegenüber aufs lebhafteste für ihre Zurücksendung nach der
14774 Erde eingetreten war, hatte sie sich wieder durch den Eifer
14775 verletzt gefühlt, mit dem er bemüht war, sie fortzuschaffen. Und er
14776 wollte auf dem Mars bleiben. Es war gar keine Rede davon gewesen,
14777 daß er sie begleite. Und jetzt wäre doch sein Platz auf der Erde
14778 gewesen, jetzt hätte er zur Versöhnung tätig sein müssen! Was hielt
14779 ihn auf dem Mars zurück?
14781 Sie glaubte, es wohl zu wissen. Warum sprach er anfänglich so viel
14782 und mit solcher Wärme und Bewunderung von La? Und jetzt suchte er
14783 ihren Namen zu vermeiden. Was war zwischen ihn und Saltner
14784 getreten, daß sie sich so kühl und förmlich begegneten, wo sie doch
14785 mehr als je auf sich angewiesen waren? Und wenn Ell mit La bei ihr
14786 zusammentraf, wie seltsam pflegte er sie anzusehen! Sie kannte
14787 diesen Blick. Und warum sprach er manchmal so schnell und eifrig zu
14788 La in ihrer Sprache, daß sie der Unterhaltung nicht zu folgen
14789 vermochte? Sie mochte die beiden nicht zusammen sehen. Ein Gefühl
14790 der Kälte durchzog ihre Seele und machte sie feindselig und
14791 unwirsch gegen La wie gegen Ell. Es war ja nichts, das sie ihnen
14792 vorwerfen konnte, und doch war ihr dieser Verkehr unbehaglich und
14793 verstimmte sie. Wenn dann La gegangen war und Ell noch zurückblieb,
14794 wenn er dann mit derselben Herzlichkeit zu ihr sprach, die sie eben
14795 auch La gegenüber in seinem Ton gehört zu haben glaubte, so stieg
14796 es wie Zorn in ihr auf, als wäre ihr etwas genommen, das ihr allein
14797 gebührte. Sie war dann unfreundlich gegen Ell, sie machte ihm
14798 Vorwürfe, die sie nicht verantworten konnte, und wenn er fort war,
14799 bereute sie ihre Worte, ihre Blicke und schalt sich undankbar und
14800 schlecht.
14802 Ach, sie kannte auch diesen Zustand, dieses Gefühl der
14803 Unzufriedenheit. Und sie konnte es doch nicht ändern. Es war
14804 jedesmal so gewesen, wenn Ell an einer anderen Gefallen gefunden
14805 hatte. Sie sagte sich selbst, wie töricht sie sei. Sie hatte jedes
14806 Recht auf ihn aufgegeben, sie hatte es zur Bedingung ihrer
14807 Freundschaft erhoben, daß er sich keine Hoffnungen mache, mehr von
14808 ihr zu besitzen als diese Freundschaft. Wie durfte sie ihm
14809 verwehren, eine andere zu lieben, da sie selbst verzichtet hatte?
14810 Und doch, jedesmal, wenn diese Gefahr zu drohen schien, fühlte sie
14811 sich von Eifersucht ergriffen, die sie sich nicht gestehen wollte
14812 und die sie doch ohne ihren Willen ihm durch ihr Benehmen
14813 eingestand. Warum auch mußte er ihr das jetzt antun, wo sie fremd
14814 auf fremdem Planeten, eine Gefangene, krank und einsam weilen
14815 mußte, wo er der einzige war, der sie verstehen konnte? Warum mußte
14816 er jetzt –? Aber was warf sie ihm denn vor? Warum war sie selbst
14817 nicht besser? Warum sagte sie ihm denn nicht, hier, frei von allen
14818 Menschensatzungen, daß sie nicht ohne ihn sein wolle, daß sie ihn
14819 nicht entbehren wolle, nicht könne? Warum? Weil sie ihn ja doch
14820 nicht lieben wollte! Und warum konnte sie sich nicht von ihm
14821 losreißen, da sie doch ihren Mann liebte, da sie ausgezogen war,
14822 ihn zu suchen in den Öden der Polarnacht, und da sie zu ihm
14823 zurückwollte durch die Leere des Weltraums? Und wenn Torm nicht
14824 mehr war? Wenn sie zurückkam nach Friedau und er verschollen war,
14825 ein Opfer der Forschung, wie so viele vor ihm? Wenn sie dann
14826 verlassen war, hier wie dort? Sie ließ die Feder sinken und legte
14827 den Kopf in ihre Hände. Ach, daß es kein Zeichen von ihm gab, keine
14828 Nachricht! Und daß sie hier sitzen mußte, nicht mehr Tausende,
14829 sondern Millionen von Meilen von ihm getrennt, und angewiesen auf
14830 den Freund, der um ihretwillen gegangen war, allein mit ihm –
14831 gerade alles, was sie hatte vermeiden wollen! Gerade in diese
14832 Gefahr hatte sie sich gestürzt, der sie zu entfliehen gedachte. Und
14833 sie sah sie vor sich, leibhaftig, jeden Tag in den großen treuen
14834 Augen, die sie teilnehmend ansahen –. Ach, darum quälte sie ihn ja,
14835 quälte sie sich –
14837 Aber wäre es in Friedau besser gewesen, wenn sie nun doch von ihrem
14838 Mann nichts erfahren konnte? Eines wenigstens war sie los, die
14839 fortwährenden Fragen, die teilnehmend sein sollten und doch so
14840 heuchlerisch waren, die hämischen Blicke, die widerwärtigen,
14841 kleinlichen, schamlosen Klatschereien – –
14843 Aus ihrem Nachsinnen weckte sie der Ton, der den Eintritt eines
14844 Besuches durch das Gartentor meldete. Sie hörte den Wagen vor der
14845 Veranda halten. Das war Ells Stimme, er sprach mit Ma. Isma strich
14846 über ihr Haar, sie warf einen Blick in den Spiegel und ärgerte sich
14847 über ihre Erregung. Gleich darauf trat Ell ein. Sie ging ihm
14848 lächelnd entgegen. Er blickte sie an.
14850 „Es geht Ihnen gut“, sagte er freudig. „Sie sehen wieder frisch und
14851 kräftig aus.“
14853 Er hielt ihre Hände. In ihren Augen las er ihre Freude. Es war
14854 einer der Tage, an dem sie nicht verbergen konnte, wie lieb er ihr
14855 war. „Ich weiß nicht“, sagte sie. „Es geht mir eigentlich gar nicht
14856 gut. Ich kann von meinen Gedanken nicht loskommen.“
14858 „Dann kommen Sie mit mir, Isma. Sie sollen etwas sehen, worauf wir
14859 schon lange warten. Das Retrospektiv ist glücklich eingestellt –
14860 der Cairn ist gefunden –“
14862 „Ach, Ell! Noch einmal die schreckliche Geschichte! Ich bin ja
14863 leider dabei gewesen. Soll ich sie wirklich noch einmal sehen?“
14865 „Ich dachte, der Triumph der Technik würde Sie interessieren. In
14866 die Vergangenheit zu blicken –“
14868 Isma wollte eine abweisende Antwort geben. Aber sie sah, daß es Ell
14869 erfreuen würde, wenn sie ihn begleitete. Sie wollte gut zu ihm
14870 sein, sie wollte ihm nichts abschlagen.
14872 „Nun denn“, sagte sie, „wenn es Ihnen lieb ist – kommen Sie. Es ist
14873 doch etwas Neues in der Form, wenn auch nicht im Stoff. Ich habe
14874 aber schon vor einigen Tagen den Platz abgelehnt, den Ihr Oheim mir
14875 anzubieten die Güte hatte.“
14877 „Ich habe noch einen für Sie reserviert, allerdings etwas mehr im
14878 Hintergrund, wo La und Saltner sitzen, und wer sonst Verbindungen
14879 mit der Erdkommission hat. Sie wissen, es handelt sich nur um einen
14880 Versuch; außer dem Zentralrat, den Kommissionsmitgliedern und dem
14881 Präsidium des Parlaments sind nur einige Vertreter der Presse da.
14882 Aber unsre Plätze sind auch gut, und mit diesem Glas, daß ich Ihnen
14883 mitgebracht habe, können Sie sicherlich die einzelnen Personen
14884 erkennen – wenn wir sie überhaupt zu Gesicht bekommen. Allerdings
14885 wird das Bild etwas aus der Vogelperspektive erscheinen, doch hat
14886 man den Neigungswinkel so günstig genommen, als es die
14887 atmosphärischen Verhältnisse nur immer gestatteten. Ich habe den
14888 ›Steinmann‹ vor mir gesehen wie von einem niedrig schwebenden
14889 Luftschiff aus.“
14891 Isma schwieg ein Weilchen. Also La war natürlich auch da. Sie
14892 verdrängte den aufsteigenden Gedanken und sagte:
14894 „Aber ich begreife nicht – wenn man so deutliche Bilder aus so
14895 riesigen Entfernungen erzielen kann, warum betrachten Sie denn
14896 nicht die Erde direkt, warum können wir nicht einmal nach Friedau,
14897 nach unserm Haus sehen?“
14899 „Mit Hilfe des Retrospektivs ginge das wohl an, aber Sie können
14900 nicht verlangen, daß man dieses äußerst schwierige, zeitraubende
14901 und kostspielige Experiment anstellt, um irgendeine Neugier zu
14902 befriedigen. Was sollte Ihnen das nützen? Was wollte man damit
14903 erfahren? Und selbst wenn eine Zeitung zufällig irgendwo
14904 aufgeschlagen läge, mit neuen Nachrichten über die Verhältnisse auf
14905 der Erde, und sie erschiene im Retrospektiv, so geht die
14906 Deutlichkeit doch nicht so weit, daß wir sie lesen könnten.“
14908 „Und mit Ihren Fernrohren können Sie so genau nicht sehen, daß Sie
14909 Menschen auf der Erde erkennen könnten?“
14911 „Das ist unmöglich. Beim Fernrohr haben wir mit den Lichtwellen zu
14912 tun, da bekommen wir auf so riesige Entfernungen keine erkennbaren
14913 Bilder von so kleinen Gegenständen. Das geht nur mit Hilfe der
14914 Gravitationswellen. Sie müssen bedenken, daß es die
14915 Gravitationsschwingungen sind, durch welche wir die ganze, vom zu
14916 beobachtenden Ereignis ausgegangene Bewegung zurückbringen, und daß
14917 die Umwandlung in Licht erst hier, innerhalb des Apparates,
14918 geschieht. Da bilden sich wieder dieselben Schwingungen, wie sie
14919 bei der Aussendung waren, abgesehen von den Störungen, die
14920 inzwischen durch äußere Verhältnisse eingetreten sind. Wenn zum
14921 Beispiel das Licht auf seinem Weg durch den Weltraum einen
14922 Meteorschwarm passiert hatte, so erhalten wir kein deutliches Bild
14923 mehr. Fernrohr und Retrospektiv verhalten sich etwa wie ein
14924 Sprachrohr und ein Telephon. Direkt können Sie die Schallwellen
14925 nicht weit senden, mit dem Telephon aber können Sie sprechen, so
14926 weit die elektrischen Schwingungen reichen.“
14928 Isma hatte sich inzwischen zu ihrem Weg zurecht gemacht. Ill und
14929 seine Frau befanden sich schon im Retrospektiv-Gebäude. Eine halbe
14930 Stunde später hatten auch Isma und Ell ihre Plätze eingenommen. La
14931 und Saltner waren kurz zuvor gekommen.
14933 Der große Saal war vollständig verdunkelt, trotzdem konnte man sich
14934 in ihm unschwer zurechtfinden und die in der Nähe sitzenden
14935 Anwesenden erkennen. Denn das erleuchtete Bild, von welchem das
14936 Licht im Saal ausging, nahm an der einen Wand einen Kreis von zehn
14937 Metern Durchmesser ein und erhellte dadurch die Umgebung. Es
14938 stellte die Gegend an der Küste von Grinnell-Land dar, welche der
14939 Schauplatz des englisch-martischen Konflikts gewesen war. Deutlich
14940 erkannte man ziemlich in der Mitte des Bildes die Gruppe der beiden
14941 englischen Matrosen, welche unter Leitung des Leutnants Prim mit
14942 der Errichtung des Cairns beschäftigt waren. Es war überraschend zu
14943 sehen, wie die etwa spannenlangen Figuren sich lebhaft
14944 durcheinander bewegten. Die Deutlichkeit des Bildes wechselte,
14945 mitunter erschien diese, dann jene Stelle etwas verschwommen,
14946 mitunter verdunkelte sich ein ganzer Streifen, im allgemeinen waren
14947 jedoch selbst Einzelheiten deutlich zu erkennen. Mit ihrem Glas
14948 konnte sich Isma die Gestalten der Engländer so nahe bringen, daß
14949 sie in dem Offizier denselben Mann wiedererkannte, den sie durch
14950 ihr Fernrohr auf dem Verdeck des Kriegsschiffs gesehen hatte.
14952 Da man den Apparat auf ein und dieselbe Stelle des Weltraums
14953 eingestellt hielt und nur nach der sich verändernden Lage der
14954 beiden Planeten regulierte, so gab das Bild den Verlauf der
14955 Ereignisse in dem gleichen Zeitmaß wieder, wie er sich in
14956 Wirklichkeit vollzogen hatte. Man befand sich offenbar noch am
14957 Morgen, und wenn der ganze Tag in seinem Geschehen verfolgt werden
14958 sollte, so stand eine lange und ermüdende Sitzung in Aussicht. Die
14959 eintönige Arbeit der Engländer begann schon etwas langweilig zu
14960 werden, und Saltner sagte zu La:
14962 „Merkwürdig ist ja die Geschichte, und immerhin können die Herrn
14963 Nume hier schon sehen, daß die Englishmen doch nicht ganz so wild
14964 sind wie auf ihrem Theater. Aber läßt sich denn die Sache nicht ein
14965 bissel beschleunigen?“
14967 „Das geht allerdings“, antwortete Ell, der auf der andern Seite von
14968 La saß, „und man wird es wohl nachher auch tun. Man braucht nur den
14969 Apparat allmählich auf näher gelegene Stellen des Raumes zu
14970 richten, so fängt man die Lichtstrahlen in immer früheren
14971 Zeitmomenten ab und bewirkt dadurch, daß alles viel schneller zu
14972 geschehen scheint. Aber es treten dabei andere Schwierigkeiten auf.
14973 Und jetzt ist es nicht möglich, weil jeden Augenblick der
14974 entscheidende Moment eintreten kann. Wir müssen uns also in Geduld
14975 fassen.“
14977 Es dauerte nicht mehr lange, so verstummte die Unterhaltung, denn
14978 man sah, wie der Leutnant den Cairn verließ und den benachbarten
14979 Hügel bestieg. Man konnte auch erkennen, daß er mit dem Feldstecher
14980 nach einer bestimmten Richtung blickte. Es zeigten sich nun alle
14981 die Ereignisse, wie sie sich abgespielt hatten. Unter lautloser
14982 Spannung sah man die Matrosen sich entfernen, man sah mit Hilfe
14983 einer kleinen Verschiebung des Bildes, wie sie verunglückten und
14984 von den Martiern gerettet wurden, man sah den ganzen Konflikt sich
14985 entwickeln – –
14987 Die Martier waren von dem Versuch sehr befriedigt, da sich nun eine
14988 Erklärung des Mißverständnisses ergab. Die Engländer hatten die
14989 Martier in der Tat für Feinde halten müssen.
14991 Man verfolgte das Schicksal der Gefangenen, bis sie auf dem
14992 Kriegsschiff unter Deck gebracht worden waren. Es war nun nichts
14993 mehr zu beobachten, da man wußte, daß man die Gefangenen nicht
14994 wieder erblicken konnte bis zu dem Moment ihrer Auslieferung. Diese
14995 achtzehn Stunden hindurch den Lauf des Kriegsschiffs und seinen
14996 Kampf mit dem Luftschiff zu verfolgen, hatte kein Interesse für die
14997 vorliegende Frage. Dagegen wollte man gern wissen, was aus der
14998 ›Prevention‹ nach ihrer Niederlage geworden sei. Es war daher
14999 beschlossen worden, durch eine Umstellung des Apparats diese später
15000 liegenden Ereignisse zu beobachten. Während der Vorbereitungen
15001 hierzu, die einige Stunden in Anspruch nahmen, verließen die
15002 Zuschauer den Saal. Isma erfuhr, daß erst in den Abendstunden die
15003 Fortsetzung des Versuchs zu erwarten sei.
15005 Saltner und Isma, ebenso wie Ell, brauchten daher ihre gewöhnliche
15006 Tagesbeschäftigung nicht abzusagen, wie sie ursprünglich
15007 beabsichtigt hatten. Diese bestand darin, daß sie auf Ersuchen der
15008 Regierung es übernommen hatten, täglich einige Stunden mit dazu
15009 ausgewählten höheren Beamten das Studium der wichtigsten
15010 europäischen Sprachen zu treiben. Außer dem Deutschen hatte Ell den
15011 Unterricht im Englischen, Saltner im Italienischen und Isma im
15012 Französischen übernommen, den sie nur während ihrer Erkrankung
15013 einige Zeit hatte aussetzen müssen.
15015 Gegen Abend wurde Isma von Ell mit der Nachricht angesprochen, daß
15016 der Apparat wieder eingestellt und das Kriegsschiff aufgefunden
15017 sei. Man räume eifrig auf demselben auf, um die erlittenen
15018 Beschädigungen zu beseitigen, und es scheinen daß das Schiff seine
15019 Fahrt wieder aufnehmen wolle. Als Isma im Saal des
15020 Retrospektivgebäudes erschien, zeigte indessen das Bild nur einen
15021 Teil des Meeres und des felsigen Ufers; von einem Schiff war nichts
15022 zu sehen. Sie hörte, daß es seinen Kurs nach Süden fortgesetzt
15023 habe, dabei aber dem Gesichtskreis entschwunden sei. Infolge einer
15024 vorübergehenden Trübung war es noch nicht gelungen, das Schiff
15025 wieder aufzufinden. Jetzt war das Bild wieder hell, und in dem
15026 Bemühen, das englische Schiff zu entdecken, ließ man die Fläche der
15027 Bai und die Felsenufer vorüberziehen. Bald blickte man auf
15028 treibende Schollen, bald in Buchten und Fjorde hinein.
15030 Isma kam es vor, als befände sie sich wieder an Bord des
15031 Luftschiffes und durchspähte die Gegend, der sie so schnell
15032 entzogen worden war, nach Spuren von Hugo – –
15034 Vielleicht war er gar nicht so weit von der Stelle entfernt, die
15035 sie jetzt vor Augen hatte, vielleicht verdeckte nur jener
15036 Berggipfel das Lager der Eskimos, bei denen ihr Mann weilte! Und da
15037 – nein – ja doch – das war doch ein Boot, zwei, drei Boote, was
15038 dort in dem Kanal unter dem Ufer sich bewegte –
15040 Isma ergriff krampfhaft Ells Arm. „Sehen Sie doch – sehen Sie nicht
15041 dort –?“
15043 „Wahrhaftig“, rief Ell, „es sind Boote, Umiaks, sogenannte
15044 Weiberboote der Eskimos. Sie scheinen mehrere Familien mit ihren
15045 Habseligkeiten zu tragen. Man wird gewiß das Bild festhalten –“
15047 In der Tat stand die Landschaft jetzt still, man wollte die Boote
15048 betrachten, aber die Verschiebung war doch so weit gegangen, daß
15049 sie schon durch das höhere Ufer verdeckt waren.
15051 Dicht daneben zeigte das Bild das freie Wasser der Bai, in welche
15052 der schmale Kanal mündete. Man erwartete, daß die Boote dort zum
15053 Vorschein kommen müßten. Bis dahin wollten die Beobachter das
15054 freiere Fahrwasser der Umgegend absuchen. Das Bild bewegte sich
15055 wieder, man sah nur Meer – und da – am Rand des Lichtkreises
15056 bewegte sich etwas Dunkles – es war das Kriegsschiff.
15058 Bis jetzt hatte man ein größeres Gesichtsfeld angewendet, um einen
15059 weiteren Umblick zu haben. Nun kam es darauf an, stärkere
15060 Vergrößerung zu gewinnen, dabei mußte sich das Gesichtsfeld
15061 einschränken. Man sah jetzt, allerdings so deutlich, daß man die
15062 Stellung der Matrosen erkennen konnte, nur das Schiff und seine
15063 nächste Umgebung; mit dem Glas konnte man den Kapitän und den
15064 Leutnant Prim erkennen, der seine Hände, wie zur Übung, langsam hin
15065 und her bewegte. Man bemerkte, daß eine Meldung gemacht wurde und
15066 sich die Geschwindigkeit des Schiffes, dem der Apparat mit
15067 wunderbarer Präzision und nur geringen Schwankungen folgte,
15068 verringerte. Ein Boot wurde herniedergelassen. Die Ingenieure des
15069 Retrospektivs waren zweifelhaft, ob sie dem Boot folgen oder das
15070 Schiff im Auge behalten sollten. Das erstere wurde beschlossen, da
15071 das Boot ja jedenfalls zum Schiff zurückkehren mußte. Alsbald war
15072 nur noch das rasch rudernde, mit acht Matrosen bemannte Boot auf
15073 der Wasserfläche zu sehen. Da erschien ein zweites Boot, ihm
15074 entgegenfahrend. Man winkte von diesem aus. Die Fahrzeuge näherten
15075 sich rasch, das fremde war jetzt deutlich als grönländischer Umiak
15076 zu erkennen. An der Spitze desselben richtete sich ein Mann empor
15077 und schwenkte seine Mütze – ein blonder Vollbart umrahmte das weiße
15078 Gesicht – er war kein Eskimo –
15080 „Hugo!“ gellte eine Stimme laut durch den Saal. Die Martier
15081 blickten erstaunt auf, sie wußten nicht, was das bedeute.
15083 „Es ist Torm!“ rief Ell erklärend zu Ill hinüber, indem er die
15084 zusammensinkende Isma in seinem Arm auffing.
15086 \section{35 - Die Rente des Mars}
15088 „Es geht nicht, Saltner, es geht nicht!“
15090 Ell legte den Brief in Saltners Hand zurück. Der kleine,
15091 verschlossene Umschlag trug, von Ismas zierlicher Hand geschrieben,
15092 die Adresse Torms.
15094 „Ich darf es nicht“, sagte Ell noch einmal, als Saltner nicht
15095 antwortete.
15097 „Auch nicht, wenn Frau Torm Ihnen versichert, daß der Brief keine
15098 politischen, keine auf die Operationen und Absichten der Martier
15099 bezüglichen Mitteilungen enthält?“
15101 „Auch dann nicht. Wir dürfen keinerlei Briefe von Erdbewohnern mit
15102 diesem Schiff nach der Erde befördern, die dem Kommando nicht offen
15103 eingereicht werden. Frau Torm verlangt, Sie verlangen von mir, daß
15104 ich die Möglichkeit schaffe, diesen Brief heimlich nach der Erde zu
15105 bringen. Sie verlangen etwas Unmögliches, den Ungehorsam gegen die
15106 Gesetze. Es ist Kriegszustand; Sie verlangen von mir eine Handlung,
15107 die als Hochverrat aufgefaßt werden kann. Und dann wollen Sie mir
15108 zürnen, wenn ich ein für allemal ablehne? Und Frau Torm ist darüber
15109 so entrüstet, daß sie mich nicht sehen, nicht sprechen will? Daß
15110 sie sich Ihrer Person bedient, um mir ihren Wunsch noch einmal
15111 vorzutragen? Sie hat ja doch an ihren Mann offen geschrieben, ein
15112 ganzes Buch. Der Brief liegt bereits hier, mit der Genehmigung des
15113 Kommandos versehen. Es steht alles darin, was sie ihm mitzuteilen
15114 hat, daß sie in der Sorge um ihn mit meiner Hilfe das Luftschiff
15115 benutzt hat, daß sie verhindert war, zurückzukehren, daß sie sich
15116 sehnt, sobald es ihr gestattet wird, zurückzukommen – was will sie
15117 mehr? Was hat sie dem Mann noch zu schreiben?“
15119 „Das ist ihr persönliches Geheimnis. Wenn Frau Torm es Ihnen nicht
15120 mitteilen kann, wie soll ich es wissen? Übrigens weiß sie nichts
15121 von diesem Versuch meinerseits, auf Sie einzuwirken. Sie hatte mich
15122 nur gebeten, La um Hilfe anzugehen.“
15124 „La? Wie käme La dazu?“
15126 „Sie hatte Grunthe einige areographische Angaben und Aufklärung
15127 über verschiedene technische Fragen versprochen – ein kleines
15128 Paket, das den Brief sehr gut aufnehmen kann.“
15130 „Und La hat diesen Betrug natürlich von sich gewiesen?“
15132 „Ich habe sie noch gar nicht gefragt. Zunächst bin ich ja den Tag
15133 über von Pontius zu Pilatus gelaufen, um eine amtliche Erlaubnis
15134 zu erhalten, dann habe ich La nicht angetroffen, als ich mit ihr
15135 sprechen wollte. Ich mußte nun zunächst mit Ihnen als Freund und
15136 Mensch reden. Ich sehe jetzt, daß es vergeblich wäre. Sie würden
15137 diesen Brief an Torm von mir nicht befördern? Auch nicht einen an
15138 meine Mutter?“
15140 Ell schüttelte den Kopf. „Sie haben an beide schon geschrieben.“
15142 „Aber offen. Es gibt Dinge, die man nicht vor andern sagen will. Wo
15143 bleibt die gerühmte Freiheit, die versprochene Freiheit, wenn man
15144 uns jetzt das persönliche Eigenrecht der Aussprache abschneidet?“
15146 „Sie müssen bedenken, daß dies nur bis zu dem Augenblick geschieht,
15147 in welchem unser Verhältnis zur Erde sich geklärt hat. Das ist eine
15148 Ausnahme. Es ist ein Unglück, denn es ist allerdings ein Vergehen
15149 gegen die sittliche Grundlage, gegen die persönliche Freiheit. Aber
15150 sittliche Konflikte sind ein allgemeines Unglück, sie lassen sich
15151 nicht vermeiden. Die höhere Pflicht, die Ordnung zwischen den
15152 Planeten, erfordert diesen Verzicht des einzelnen auf seine
15153 Freiheit. Und im Grunde genommen ist es doch nur der Ausdruck
15154 individueller Gefühle, der eine Beschränkung erleidet.“
15156 „Sie geschieht aber bloß aus einem Mißtrauen der Martier gegen die
15157 Menschen.“
15159 Ell sah Saltner durchdringend an.
15161 „Geben Sie mir Ihr Ehrenwort“, fragte er, „daß in Ihren Briefen
15162 nichts über unsre Maßnahmen steht?“
15164 „Nein“, sagte Saltner.
15166 „Und dann verlangen Sie von mir –“
15168 „Ich verlange, was der Mensch vom Menschen, der Deutsche vom
15169 Deutschen verlangen kann, daß er ihm hilft, eines übermächtigen
15170 Gegners sich zu erwehren –“
15172 „Ich aber stehe auf der Seite dieses sogenannten Gegners, der im
15173 Grunde der beste Freund ist.“
15175 „Dann haben wir uns nichts weiter zu sagen. Ich wollte mich nur
15176 überzeugen, daß ich von Ihrer Seite für uns Menschen nichts zu
15177 erwarten habe.“
15179 „Sie wollen mich nicht verstehen. Nur in Ihrem einseitigen
15180 Interesse kann ich nichts tun, sonst aber werden Sie mich stets
15181 bereitfinden –“
15183 „Leben Sie wohl.“
15185 Saltner hörte nicht mehr auf Ells Worte. Er war schon auf den
15186 Gleitstuhl getreten und löste die Hemmung. Der Stuhl sauste die
15187 schraubenförmige Bahn um den Stamm des Riesenbaumes hinab nach dem
15188 Erdboden. Das Gespräch hatte auf der Plattform stattgefunden,
15189 welche einen der Riesenbäume in der Nähe von Ells Wohnung umgab,
15190 dort, wo in einer Höhe von vierzig Meter über dem Boden die ersten
15191 Äste ansetzten. Ein mechanischer Aufzug führte in einer
15192 Schraubenlinie rings um den Stamm und beförderte ebenso leicht von
15193 unten nach oben als von oben nach unten. Diese geschützten
15194 Plattformen boten einen äußerst angenehmen Arbeitsplatz. Wie vom
15195 Chor eines Domes blickte man zwischen den Säulen der Baumstämme
15196 hindurch, über die niedrigen Häuser weit in die Anlagen. Die Luft
15197 war hier frischer und kühler als unten.
15199 Ell trat an die Brüstung vor und blickte hinab. Es begann zu
15200 dämmern. An den Straßen entlang leuchteten schon die breiten
15201 Streifen des Fluoreszenzlichtes, in den Häusern glühten die Lampen.
15202 In tiefer Finsternis lag das Laubdach.
15204 Ell seufzte. Also auch er hatte sich von ihm geschieden, der
15205 biedere Saltner! Mochte es sein! Was galt ihm das alles noch, da er
15206 sie verloren hatte! Finster zog sich seine Stirn zusammen. Das war
15207 der Dank, ihr Dank für alles – – Ismas Dank!
15209 Als sie auf der Tafel des Retrospektivs ihren Mann erkannt hatte,
15210 wie er aus dem Umiak der Eskimos nach dem Boot des englischen
15211 Schiffes winkte, da hatten sie ihre Kräfte auf einen Augenblick
15212 verlassen. Auf einen Augenblick. Sie hatte sich sogleich wieder
15213 zusammengerafft und mit fieberhafter Erregung die Vorgänge
15214 verfolgt. Man hatte gesehen, wie beide Boote der ›Prevention‹
15215 zusteuerten, wie Torm an Bord des Kriegsschiffes stieg, wie er dem
15216 Kapitän Papiere überreichte, die dieser prüfte; man sah, wie der
15217 Kapitän dann salutierte und Torm die Hand schüttelte, wie sich die
15218 Offiziere um Torm versammelten; man sah, wie die Eskimos beschenkt
15219 wurden und ihr Boot sich entfernte; wie die ›Prevention‹ ihre Fahrt
15220 nach Süden wieder aufnahm. Eine Stunde lang konnte man sie
15221 verfolgen. Maschine und Steuer waren offenbar nicht verletzt oder
15222 wieder repariert; das Schiff dampfte schnell und leicht vorwärts.
15223 Immer undeutlicher wurden die Umrisse desselben. Die Dämmerung
15224 brach herein. Bald konnte man nichts mehr unterscheiden als die
15225 Lichter. Man stellte den Versuch ein. Es war sicher, daß das Schiff
15226 und Torm mit ihm in wenigen Wochen wohlbehalten London erreichen
15227 würden. – –
15229 Torm war gerettet. Er hatte ohne Zweifel jetzt schon die Nachricht
15230 von Ismas Verschwinden. Man würde in Friedau dafür gesorgt haben,
15231 daß ihm dasselbe unter dem Gesichtspunkt der Friedauer erschien.
15232 Und sie, die nicht ohne ihn in Friedau bleiben wollte, nun mußte
15233 sie ihn allein lassen –
15235 Isma verbrachte eine schlaflose Nacht. Dann setzte sie noch einmal
15236 alles in Bewegung, um ihre Mitnahme auf dem Raumschiff nach der
15237 Erde zu erreichen. Es war unmöglich. Wenigstens einen Brief sollte
15238 man mitnehmen. Ja, aber nur einen offenen. Sie schrieb, doch das
15239 konnte ihr nicht genügen. Was sie ihm zu sagen hatte, das ging
15240 niemand andern an; das konnte sie nicht lesen lassen. Sie wußte,
15241 wie sie schreiben müsse und daß er sie nur so verstehen würde. Und
15242 dies wurde versagt. Und hier ließ sie Ell im Stich! Sie bat ihn
15243 flehentlich, ihren Brief zu besorgen. Es ginge nicht! Sie bat ihn,
15244 selbst die Reise zu machen, ihren Mann aufzuklären. Er weigerte
15245 sich, er wolle jetzt nicht auf die Erde zurückkehren. Die Martier
15246 selbst hätten es vielleicht gern gesehen, aber er könne sich nicht
15247 entschließen, jetzt den Mars zu verlassen. Warum nicht? Warum
15248 wollte er nicht? Um sie, Isma, nicht allein zu lassen? Sie glaubte
15249 es nicht, sie vermutete einen anderen Grund, den sie ihm nicht
15250 verzeihen konnte. Sie sagte ihm Bitteres. Sie wollte ihn nicht
15251 wiedersehen. Und er ging. Natürlich! La würde ihn wohl trösten – –
15253 Ell versetzte sich in Ismas Seele, er sah deutlich, was in ihr
15254 vorging – alles dachte er wieder durch, während er in die Nacht
15255 hinausstarrte – das Gefühl der Bitterkeit verließ ihn, er konnte
15256 ihr nicht zürnen. Nur traurig wurde er, tieftraurig.
15258 Aber er mußte es tragen. Er konnte nicht anders handeln, es war
15259 unmöglich. Stand sie auf der Erde, so stand er auf dem Mars. Die
15260 Kluft überbrückte kein Raumschiff. Und selbst wenn die Planeten
15261 sich versöhnten – würde er sie dann wiederfinden?
15263 Er preßte die Hände gegen die Stirn und seufzte tief. Und seltsam,
15264 mitten in den Kummer um Isma drängte sich das Bild Las vor Ells
15265 Augen. Dieser Verkehr war so beglückend, so frei von dem dunkeln
15266 Hintergrund irdischer Fesseln! Das war Numenart, zu geben und zu
15267 nehmen! Die reizenden Stunden kamen ihm in den Sinn, in denen er
15268 sich sagen durfte, daß sie ihn bevorzugte, und es schien ihm, daß
15269 deren immer mehr geworden seien. Und doch! Er mußte sich gestehen,
15270 wäre La ihm so geneigt, wie er hoffte, sie hätte sich ihm noch
15271 anders zeigen müssen. Sie hatte sich in der letzten Zeit sichtlich
15272 von Saltner zurückgezogen, aber gerade darin schien ihm eine
15273 gewisse Absichtlichkeit zu liegen. Er konnte das Gefühl nicht
15274 loswerden, daß La unter der gleichmäßigen Liebenswürdigkeit ihres
15275 Wesens eine heimliche Sorge barg, und er sann nach, was sie wohl
15276 bedrücken könne.
15278 Gestern, als er bei ihr war, hatte er sie überrascht, wie sie in
15279 Gedanken versunken saß, und er glaubte die heimlichen Spuren von
15280 Tränen in ihrem Auge gesehen zu haben. Aber auf seine warmen Worte
15281 erwiderte sie mit Scherzen, es war, als wollte sie nicht verstehen,
15282 was sie doch längst wußte, wie er für sie fühle. Zum erstenmal war
15283 er fortgegangen, ohne sie recht verstanden zu haben.
15285 Und jetzt war Saltner auf dem Weg zu ihr. Es war ja nicht daran zu
15286 denken, daß sie auf seine Bitte eingehen würde – Überhaupt –
15288 Ell fiel es plötzlich ein – vielleicht war sie gar nicht in Kla. La
15289 hatte mehrfach davon gesprochen, daß sie möglicherweise verreisen
15290 würde, und Saltner hatte sie heute vergebens zu sprechen versucht.
15291 – Er wollte sich doch überzeugen, ob La zu Hause sei. Auch die
15292 Plattform war mit dem Haus telephonisch verbunden. Er sprach La an.
15293 Sie war zu Hause, aber in großer Eile, wie sie sagte. Ell teilte
15294 ihr mit, daß Saltner bei ihr vorsprechen werde mit einem Ansinnen,
15295 das unmöglich zu erfüllen sei – darauf keine Antwort, trotz seiner
15296 wiederholten Frage. Endlich die Worte, wie mit gezwungener Stimme:
15298 „Befürchten Sie nichts. Leben Sie wohl.“ –
15300 Nichts, nichts weiter! Ell wußte nicht, was er davon denken
15301 sollte.
15303 Er trat zurück an den Tisch, auf dem seine Papiere lagen, und ließ
15304 die Lampe aufflammen. Er wollte versuchen, in der Arbeit zu
15305 vergessen, und versenkte sich in das Studium des Etats der
15306 Marsstaaten.
15308 Die 154 Staaten, welche den Planetenbund des Mars bildeten, waren
15309 an Einwohnerzahl sehr stark verschieden; es gab darunter Reiche,
15310 die bis gegen hundert Millionen Einwohner zählten, und kleine
15311 Staaten, die nicht einmal die Zahl von einer Million erreichten;
15312 der kleinste von ihnen umfaßte nur zwanzig Bezirke mit zusammen
15313 800.000 Einwohnern. Ebenso mannigfaltig wie die Größen waren die
15314 Verfassungen der Einzelstaaten. Die republikanischen Staatsformen
15315 herrschten vor, aber auch unter ihnen gab es eine bunte Musterkarte
15316 von kommunistischen, sozialistischen, demokratischen und
15317 aristokratischen Verfassungen. Die Monarchien waren besonders unter
15318 den kleineren Staaten vertreten. Ganz wie es die historische
15319 Entwicklung der lokalen Verhältnisse mit sich gebracht hatte, waren
15320 auch in diesen die Verfassungen sehr mannigfaltig; im ganzen
15321 unterschieden sie sich von den republikanischen nur dadurch, daß
15322 das Staatsoberhaupt nicht durch Wahl, sondern durch Erbfolge
15323 bestimmt war und sich eines größeren Einkommens und einer
15324 glänzenderen Hofhaltung als die Präsidenten erfreute. Einen höheren
15325 politischen Einfluß besaßen die Fürsten des Mars nicht, sie hatten
15326 vornehmlich eine ästhetische Bedeutung. Die reiche Entwicklung,
15327 welche die Verfeinerung des Lebens durch die Hofhaltung eines
15328 intelligenten Fürsten erfahren konnte, und der Einfluß, den eine
15329 hochsinnige Persönlichkeit hier zu entfalten vermochte, sollte auch
15330 auf dem Mars nicht verlorengehen. Die individualistischen Neigungen
15331 der Martier konnten daher nach jeder Richtung hin Befriedigung
15332 finden, und dem Ehrgeiz wie dem Unabhängigkeitsgefühl eines jeden
15333 war freier Spielraum gelassen. Zwischen allen Staaten herrschte,
15334 durch das Bundesgesetz garantiert, vollständige Freizügigkeit und
15335 Erwerbsfreiheit. Wem es in dem einen Staat nicht gefiel,
15336 transportierte sein Haus in einen andern, und es genügte, daß er
15337 dies bei der betreffenden Behörde anmeldete. Dadurch war eine
15338 natürliche Regulierung dafür gegeben, daß kein Staat seine
15339 Machtbefugnis mißbrauchte, denn er riskierte sonst, sehr bald seine
15340 Einwohner zu verlieren. Die natürliche Verschiedenheit der
15341 Individuen, ihre Gewohnheiten und ihre Anhänglichkeit für das
15342 Hergebrachte sorgten andererseits dafür, daß den einzelnen Staaten
15343 ihre Eigentümlichkeiten erhalten blieben und der Fluß der
15344 Bevölkerung nicht in Unbeständigkeit ausartete. Jede Gegend hatte
15345 ihre Vorzüge. Waren auch die wirtschaftlichen Lebensbedingungen in
15346 den breiten, die Wüsten durchziehenden, durch künstliche
15347 Bewässerung erhaltenen Kulturstreifen etwas erschwert, so boten
15348 dieselben doch andere Vorteile. Die Gelegenheit zum gewerblichen
15349 Gewinn war hier wegen der Nähe der großen Energiestrahlungsgebiete
15350 günstiger, und ein reicherer Arbeitsertrag entschädigte für die
15351 Störungen des äußeren Komforts, die dadurch entstanden, daß bei
15352 eintretendem Wassermangel die schützenden Bäume binnen wenigen
15353 Tagen ihr Laub verloren und die Vegetation unter ihnen
15354 vertrocknete. Dafür waren aber auch die hier gelegenen Staaten
15355 imstande, größere Zuschüsse den Privaten zu gewähren.
15357 Gemeinschaftlich für den gesamten Staatenbund und unmittelbar dem
15358 Zentralrat unterstellt, der seinerseits dem Bundesparlament
15359 verantwortlich blieb, war die technische Verwaltung. Sie schied
15360 sich in die beiden großen Gebiete des Verkehrswesens und des
15361 Bewässerungswesens, wozu als drittes jetzt noch die Raumschifffahrt
15362 gekommen war. Diese ungeheure Organisation hielt die Bundesstaaten
15363 als ein untrennbares Ganze zusammen und machte es ebenso unmöglich,
15364 daß sich einzelne, selbst mächtige Staaten, vom Zusammenhang des
15365 Planeten ablösen konnten, als sich ein Organ des menschlichen
15366 Körpers der Blutzirkulation zu entziehen vermag.
15368 Unterhalten wurde der Riesenbetrieb durch ein stehendes Arbeitsheer
15369 von sechzig Millionen Personen – ›Mann‹ kann man nicht gut sagen,
15370 denn die allgemeine einjährige Dienstpflicht galt für beide
15371 Geschlechter. Für besondere Fälle stand eine dreifache Reserve zur
15372 Verfügung. Finanziert wurde der Betrieb durch die Sonne selbst. Der
15373 Gesamtetat der Marsstaaten betrug – nach deutschem Geld gerechnet
15374 für das Erdenjahr, also für ein halbes Marsjahr – 300 Billionen,
15375 das sind 300.000 Milliarden Mark, also 100.000 Mark auf den Kopf
15376 der Bevölkerung. Dabei hatte aber niemand eine Steuer, außer der
15377 persönlichen Dienstleistung während eines Lebensjahres,
15378 beizutragen. Das Privateinkommen der Martier belief sich außerdem
15379 im Durchschnitt pro Kopf der Bevölkerung auf 100.000 Mark,
15380 schwankte jedoch für den einzelnen zwischen dem Maximum des
15381 zulässigen Einkommens von zwanzig Millionen und der Null. Die
15382 Besteuerung des Einkommens der Privaten diente nur dazu, um jedem,
15383 der nichts verdiente, wenigstens ein Minimum von Kapital pro Jahr
15384 zu sichern, wodurch er sich wieder heraufarbeiten konnte. Ein
15385 Notleiden aus Mangel an Nahrung, Wohnung und Kleidung konnte nicht
15386 eintreten, da hierfür durch öffentliche Verpflegungsanstalten
15387 gesorgt war. Aber es war natürlich jedem daran gelegen, dieser
15388 Armenpflege nicht anheimzufallen. Der Gesamtbetrag, der vom Staat
15389 und von den Privaten auf dem ganzen Planeten in einem halben
15390 Marsjahr eingenommen wurde, belief sich also auf 600 Billionen
15391 Mark. Dies war jedoch nur die Hälfte dessen, was bei völliger
15392 Ausnutzung aller Kräfte hätte erzielt werden können.
15394 Diese Summen erschienen Ell so ungeheuerlich, daß er sich damit
15395 beschäftigte, sie nachzuprüfen und sich zu vergewissern, wie es
15396 möglich sei, eine so kolossale Rente zu erzielen. Ell hatte bei
15397 seinem ersten Versuch, den Geldwert auf dem Mars mit dem auf der
15398 Erde zu vergleichen, seiner Umrechnung den Wärmewert der Kohle
15399 zugrunde gelegt; er führte nun die Rechnung noch einmal so durch,
15400 daß er als Vergleichseinheit die Pferdestärken nahm, welche durch
15401 die Sonnenstrahlung pro Stunde als Arbeitseffekt erzielt werden
15402 konnten. Wenn er den gegenwärtigen Stand der Technik auf der Erde
15403 in Betracht zog, so glaubte er annehmen zu dürfen, daß selbst unter
15404 den günstigsten Verhältnissen, bei Berücksichtigung der
15405 Anlagekosten, die Pferdekraft in der Stunde nicht unter 0,8 Pfennig
15406 oder 1 Centime geliefert werden könne. Um nun den geringsten Wert
15407 der Sonnenrente für den Mars zu ermitteln, nahm er an, daß auch auf
15408 dem Mars nur die direkte Wärmestrahlung seitens der Sonne – nicht
15409 die anderen Wellengattungen – zur Arbeit verwertet werden. Er fand
15410 dann, daß im Lauf eines Erdenjahres die Sonnenstrahlung dem Mars
15411 soviel Wärme zuführt, daß, wenn sie vollständig in Arbeit
15412 übergeführt wurde, ihr Wert pro Quadratmeter der Oberfläche
15413 durchschnittlich 30 Mark betragen würde. Die zur Bestrahlung
15414 ausgenutzte Oberfläche des Mars beträgt aber rund hundert Billionen
15415 Quadratmeter, somit erhält der Mars eine Rente von 3.000 Billionen
15416 Mark. Von diesem Strahlungsbetrag können jedoch nur etwa 40 Prozent
15417 wirklich in Arbeit verwandelt und ausgenutzt werden – bei dem Stand
15418 der Technik auf dem Mars –, so daß der Gesamtgewinn des Mars an
15419 Arbeit (im Laufe eines Erdenjahrs) 1.200 Billionen Mark beträgt.
15420 Tatsächlich benutzte man hiervon nur die Hälfte. Denn die
15421 Gesamteinnahme der Marsstaaten betrug 300 Billionen, die der
15422 Privaten ebensoviel. Es war also kein Zweifel, daß die Marsstaaten
15423 über diese ungeheuren Mittel verfügten. Und dabei empfängt der Mars
15424 nur etwa ein Neuntel so viel Wärme von der Sonne wie die Erde. Wie
15425 weit also war die Erde zurück in der Ausnutzung der Mittel, die ihr
15426 von der Natur verliehen waren! Wieviel konnte sie noch gewinnen,
15427 wenn ihr die Erfahrung der Martier zugute kam!
15429 Aufs neue fühlte sich Ell in der Ansicht bestärkt, daß gegenüber
15430 dem immensen Fortschritt, der hier für die Menschheit in Frage
15431 stand, die Rücksicht auf die Neigung der gegenwärtigen Menschheit,
15432 dieses Geschenk anzunehmen, zu schweigen hatte. Noch viel weniger
15433 aber durfte er sich seinen Handlungen durch persönliche Neigungen
15434 irre machen lassen. Mochte man ihn als Überläufer, als Verräter an
15435 der Sache der Erde betrachten, mochte man Schmach und Verachtung
15436 auf ihn häufen – gleichviel! Er wußte, daß er zum besten der Kultur
15437 überhaupt und so auch der Menschheit handle, wenn er voll auf der
15438 Seite des Mars stand. Mochte er selbst seine persönlichen Freunde
15439 verlieren, er mußte es tragen. Einst würden sie gerechter über ihn
15440 urteilen. Und Isma! Er sah den traurigen Blick der blauen Augen, er
15441 sah das schmerzliche Zucken ihrer Lippen und das verächtliche
15442 Zurückwerfen des Kopfes –. Und noch einmal sprang er empor und
15443 starrte trüben Blickes in die dunkle Nacht. Dort drüben, wo der
15444 hellgrüne Schimmer des Straßenstreifens sich hinzog, da wohnte sie.
15445 O könnte er hingehen und sie rufen, wie damals, als das Luftschiff
15446 auf sie wartete, könnte er sie wieder zur Erde zurückführen und
15447 dafür ihren dankbaren Blick erhalten! Doch es ging nicht. Sie
15448 durfte nicht fort, sie konnte nicht, selbst wenn er versucht hätte,
15449 sie fortzubringen. Aber er selbst! Ihm stand es frei, er besaß die
15450 Erlaubnis, mit nach der Erde zu gehen, er hatte die Vollmacht hier
15451 vor sich, die er eben mit den übrigen Briefschaften an Ill
15452 zurückschicken wollte. In wenigen Tagen ging das Raumschiff. Ill
15453 fuhr zu diesem Zweck selbst an die Polstation, um der Abreise
15454 beizuwohnen. Er konnte mitreisen. Er konnte ihr den Wunsch
15455 erfüllen, mit Torm selbst zu sprechen. – Nein doch, nein! Es war
15456 unmöglich. Würde ihm Torm glauben können, wenn er ohne Isma kam?
15457 Und in diese Verhältnisse! Unter diesen Umständen! Sich
15458 gewissermaßen entschuldigen? Von allen Seiten beargwöhnt und
15459 angefeindet, würde er überhaupt jetzt etwas zur Versöhnung
15460 beitragen können? Nein, wenn er überhaupt zur Erde zurückging, da
15461 konnte es nur sein, wenn die Menschen begriffen hatten, was die
15462 Nume ihnen bringen und wie sie dieselben aufzunehmen haben. Er
15463 wollte auf dem Mars bleiben, bis er zurückkehren konnte als ein
15464 Herr und Beglücker der Menschen.
15466 Ell schloß die Papiere für Ill in die Mappe und fügte seinen Paß
15467 für das Raumschiff hinzu. Er brauchte ihn nicht.
15469 \section{36 - Saltners Reise}
15471 Saltner lenkte seinen Radschlitten, dessen er sich sehr bald zu
15472 bedienen gelernt hatte, Frus Haus zu. Wie oft hatte er in diesen
15473 zwei Monaten, die er schon auf dem Mars weilte, den Weg
15474 zurückgelegt und die kürzeste Verbindung ausprobiert! Heute hatte
15475 er weite Umwege gemacht und im nächtlichen Park seinen Gedanken
15476 nachgehangen. Sonst konnte es ihm immer nicht schnell genug gehen,
15477 wenn er über die schmalen Parkwege hinglitt, die nach Las Wohnung
15478 führten. Wenn ihm das Verhältnis des Mars zur Erde Sorge machte,
15479 bei La fand er Trost und Ermunterung, von ihr wußte er ja, daß sie
15480 ihn nicht für gering hielt, weil er nur ein Mensch war – –. Sie
15481 liebte ihn, die Nume, die herrliche. Sollte er nicht glücklich
15482 sein? Und doch – das Wort: „Vergiß nicht, daß ich eine Nume bin“,
15483 das sie zu ihm gesprochen, als sie zusammen auf die Erde
15484 hinabblickten, es ging ihm nicht aus dem Sinn, was er damals kaum
15485 beachtet, nicht verstanden hatte. Das Wort hatte er nicht
15486 vergessen, aber vielleicht die Warnung, die es enthielt. Sollte er
15487 jetzt daran erinnert werden? Durfte er es wagen, die Bitte
15488 auszusprechen, die sie ihm versagen mußte? Warum war er seit zwei
15489 Tagen nicht mehr bei La gewesen? Er hatte viel zu tun gehabt,
15490 gewiß; die Erdkommission hatte von ihm verschiedene Gutachten
15491 verlangt, auch Frau Torm hatte lange Unterredungen mit ihm, die
15492 Briefe nach der Erde nahmen seine Zeit in Anspruch. Zweimal hatte
15493 er auch La durch das Telephon angesprochen, doch beide Male war sie
15494 nicht zu Hause gewesen. Er wußte nicht einmal, womit sie so eifrig
15495 beschäftigt war. Seit acht Tagen war sie mit ihrer Mutter allein.
15496 Fru hatte sich bereits nach dem Pol begeben, um die Ausrüstung der
15497 Raumschiffe zu leiten. Es hatten lange Erwägungen in der
15498 Erdkommission stattgefunden, welche Kapitäne und Ingenieure bei der
15499 wichtigen und verantwortlichen Expedition nach dem Südpol der Erde
15500 zu verwenden seien. Schließlich wollte man, obgleich an tüchtigen
15501 Leuten kein Mangel war, doch des Rates Frus, als eines der
15502 bewährtesten Erdkenner, nicht entbehren, und er hatte sich
15503 entschlossen, die technische Leitung der Expedition zu übernehmen.
15504 Es war auch davon die Rede gewesen, daß La ihn begleiten solle. Die
15505 Aussicht, La so bald wieder zu verlieren, hatte Saltner schmerzlich
15506 erregt, und er hatte nun befreit aufgeatmet, als er hörte, daß La
15507 ihren Wunsch, auf dem Mars Liebe zu ihm der Hauptbeweggrund gewesen
15508 sei, der sie hier zurückhielt – er hatte sich dessen geschmeichelt.
15509 Aber warum war er in den letzten Tagen so zweifelhaft geworden?
15510 Warum hatte er nicht die Zeit gefunden, sie aufzusuchen? zu
15511 bleiben, durchgesetzt habe. Er schmeichelte sich, daß ihre
15513 Er konnte es sich nicht verhehlen, er war eifersüchtig. Fast
15514 jedesmal in der letzten Zeit hatte er Ell bei La getroffen, oder
15515 sie war während seiner Anwesenheit von Ell aus der Ferne
15516 angesprochen worden. Und wie begegnete sie Ell! Jedes Wort, jeder
15517 Blick zwischen ihnen war sofort verstanden, ihren Gesprächen
15518 vermochte er nicht zu folgen, es waren zwei Nume, die sich
15519 unterhielten, die sich gefielen, die –. Es konnte ja gar kein
15520 Zweifel sein, wer mußte nicht La lieben, der sie näher
15521 kennenlernte? Und er, wie konnte er sich mit dem Martiersohn
15522 vergleichen, der La ebenbürtig war und doch den eigentümlichen Reiz
15523 des Menschentums besaß! Er hätte diesen Ell hassen mögen, er nannte
15524 ihn einen Verräter an der Menschheit und einen Räuber seines
15525 Glücks. Und doch, konnte man den einen Verräter nennen, der nur zu
15526 seinem eigentlichen Vaterland zurückkehrte, das ihm durch ein
15527 unverschuldetes Geschick geraubt war? Und welches Recht hatte er
15528 selbst an La? Was entbehrte er überhaupt? Sie entzog sich ihm nicht
15529 um Ells willen, sie war ebenso lieb und gut wie früher, ja
15530 vielleicht sorgsamer und zärtlicher wie je, sie zeigte ihm in jedem
15531 Augenblick, wie wert er ihr war. Aber sie zeigte es auch Ell. Das
15532 störte ihn, das empörte ihn, sie aber fand es offenbar ganz in
15533 Ordnung. Sie war eine Martierin. Sie hatte ihn ja gewarnt; wenn er
15534 sie liebte, mußte er mit der Sitte der Martier rechnen. Er aber war
15535 ein Mensch – –
15537 Saltner näherte sich der breiteren Straße, wo La wohnte. In seine
15538 Gedanken versunken hatte er nicht bemerkt, daß ein Transport der
15539 Umzugsgesellschaft ihm entgegenkam. Er hatte nur gerade noch Zeit,
15540 zur Seite auszuweichen und den Zug an sich vorüberzulassen. Ein
15541 Haus, auf breiten Gleitkufen stehend, wurde von einer
15542 Reaktionsmaschine vorwärtsgeschoben. Die Fenster waren geschlossen,
15543 es war alles dunkel im Hause. Die Bewohner schliefen offenbar. Wenn
15544 sie am Morgen aufwachten, stand ihr Haus viele Hunderte von
15545 Kilometern entfernt. Nun war die Bahn wieder frei. Die Straße lag,
15546 von den breiten Streifen des Fluoreszenzlichtes an beiden Seiten
15547 erleuchtet, hell vor ihm. Noch eine Minute, und sein Schlitten war
15548 vor ihrem Haus. Ob er sie heute noch würde sprechen können? Es war
15549 schon ziemlich spät geworden. Ob er nicht seinen Besuch auf morgen
15550 aufschieben sollte? Er hatte eine dringende Bitte an sie, aber wie,
15551 wenn sie sich dadurch beleidigt fühlte? Er mochte gar nicht daran
15552 denken, daß auch La ihn abweisen könnte.
15554 Da war das Nachbarhaus, an seinen tulpenartig aufragenden Erkern
15555 kenntlich, und hier –. Er hielt den Schlitten an. Frus Haus war
15556 verschwunden, die Stelle war leer. Saltner traute seinen Augen
15557 kaum. La war wirklich fortgezogen, ohne ihn zu benachrichtigen?
15559 Auf dem Rasenplatz, wo das Haus gestanden hatte, zeigte sich eine
15560 Tafel. Sie enthielt nur die Worte:
15562 „Verzogen 29,36 nach Mari, Sei 614.“
15564 Saltner stand ratlos. 29,36 – das war die Zeit der Abreise. Er
15565 verglich den Kalender, den er sich zur Umrechnung der martischen
15566 Zeit angelegt hatte, da ihm das duodezimale Zahlensystem und die
15567 Angabe der Stunden und Minuten in Bruchteilen immer noch
15568 Schwierigkeiten machte. Seine Uhr zeigte 29,37 – das war ein
15569 Unterschied von zehn Minuten –, vor zehn Minuten erst hatte der
15570 Transport des Hauses begonnen. So war es gewiß Las Wohnung gewesen,
15571 die er an sich hatte vorüberschieben sehen. Sie konnte noch nicht
15572 weit fort sein. Wenn er seinen leichten Schlitten in volle Eile
15573 versetzte, konnte er den Transport vielleicht noch einholen, ehe er
15574 die Gleitbahn erreichte, die ihn dann mit größter Geschwindigkeit
15575 davontrug. Schon wandte Saltner sein Fahrzeug – doch – was hätte
15576 dies genutzt? Er konnte doch La nicht in der Nacht aus dem Schlaf
15577 stören. Nachreisen konnte er auch morgen noch. Er notierte sich die
15578 Adresse. Mari – er wußte freilich nicht, wo dieser Staat oder
15579 Bezirk lag, ob die Entfernung groß sei – doch das läßt sich
15580 ermitteln. Also nach seiner Wohnung! Er war seit Mittag nicht zu
15581 Hause gewesen. Gewiß, zu Hause würde er auch Aufklärung finden,
15582 warum La so plötzlich verzogen war.
15584 Saltners Wohnung war ganz in der Nähe. Als er die Tür öffnete,
15585 flammten die Lampen im Haus auf, und das erste, was er beim
15586 Eintritt ins Zimmer erblickte, war ein Zettel mit den deutschen
15587 Worten: ›Ich sprach ins Grammophon. La.‹
15589 Saltner eilte an das Instrument und löste den Verschluß. Das
15590 leichte Klopfen ertönte, womit der Beginn der Rede angezeigt wird.
15591 Dann vernahm er Las melodische, tiefe Stimme, er glaubte sie vor
15592 sich zu sehen, wie sie mit zärtlichem Vorwurf sagte:
15594 „Wo stecktest du denn, mein geliebter Sal, dreimal habe ich dich
15595 angerufen, bei Frau Torm habe ich dich gesucht – du warst aber
15596 fortgegangen und sie gleichfalls, da bin ich in deine Wohnung
15597 geeilt, wo du auch nicht bist, und jetzt habe ich nur noch Zeit,
15598 dir schnell ein paar Worte ins Grammophon zu sagen, damit du nicht
15599 denkst, deine La wäre dir ohne Abschied davongegangen. Denn höre
15600 nur! Wir ziehen in einer halben Stunde nach Mari, Sei 614. Mari
15601 liegt ziemlich weit von hier nach Südwesten, am östlichen Rand der
15602 Wüste Gol. Gern tu ich’s nicht, wie gern wäre ich bei dir geblieben
15603 in unserm schönen Kla! In Mari ist es kühler, und das lockt meine
15604 Mutter. Aber der Hauptgrund ist ein anderer. Ihr bösen Menschen
15605 seid an allem schuld! Auf Gol werden die Versuche zum Schutz der
15606 Luftschiffe gegen die Geschütze der Menschen abgehalten, und dort
15607 kommt der Vater noch einmal hin, so daß wir vor seiner Erdreise
15608 noch Abschied nehmen können. Bis hierhin würde es zu weit sein für
15609 ihn. Dort werden wir auch Se noch einmal sehen. Leb also wohl, mein
15610 lieber Freund! Wir können alle Tage miteinander sprechen. Morgen
15611 zwischen drei und vier werde ich dich ansprechen, sei also zu
15612 Hause. Ich erwarte dich vorläufig nicht in Sei, man würde deine
15613 Reise dahin nicht gern sehen. Aber wenn erst die Raumschiffe fort
15614 sind und mehr Ruhe bei uns herrscht, dann wirst du uns hoffentlich
15615 besuchen. Also auf Wiederhören morgen! Deine La.“
15617 Saltner hatte mit angehaltenem Atem gelauscht. Nun stellte er den
15618 Apparat zurück und ließ sich die Abschiedsworte Las noch einmal
15619 sagen. Dann dachte er lange darüber nach. Allerlei Fragen drängten
15620 sich ihm auf.
15622 An die Wüste Gol erinnerte sich Saltner; La hatte sie ihm gezeigt,
15623 als das Raumschiff, das ihn nach dem Mars brachte, sich der
15624 Außenstation näherte. Sie war der große helle Fleck, nicht sehr
15625 weit vom Südpol, den die Astronomen der Erde die Insel Thyle I
15626 nannten. Sein Weg vom Pol nach Kla führte nicht weit davon vorüber,
15627 weil der direkte Weg damals im ersten Sommer noch durch Schnee
15628 unbequem gemacht war. Er erinnerte sich, daß er auf seiner Fahrt
15629 aus dem Fenster des Eilzugs zu seinem Erstaunen im ersten
15630 Morgengrauen wolkenähnliche Gebilde gesehen hatte, fern im Westen
15631 am Horizont, und daß man ihm gesagt hatte, daß dies die Morgennebel
15632 auf dem Hochplateau der Wüste Gol seien. Auch daß die Versuche mit
15633 den weittragenden Geschützen der Erdbewohner dort vorgenommen
15634 wurden, hatte er gehört. Die Martier hatten für derartige
15635 Schießplätze nur auf ihren Wüsten Raum, und Gol lag dem Südpol am
15636 nächsten. Aber warum mußte La ihre Abreise so beschleunigen? Sie
15637 sagte, um ihren Vater noch einmal zu sehen. Also mußte Fru sehr
15638 bald, wohl morgen schon, dort erwartet werden, und daraus war zu
15639 schließen, daß auch das Raumschiff bald abgehen werde. Er hatte
15640 somit keine Zeit zu verlieren, wenn er La noch persönlich vor
15641 Abgang des Schiffes sprechen wollte. Warum aber, wenn es sich bloß
15642 um ein Zusammentreffen mit dem Vater handelte, war sie mit dem
15643 ganzen Haus übergesiedelt? Es war doch noch ziemlich früh, um eine
15644 so südlich gelegene Sommerfrische aufzusuchen. Und warum sollte er
15645 ihr nicht nachkommen? Und was bedeutete diese hingeworfene
15646 Bemerkung über Se?
15648 Doch über diese Fragen nachzudenken, war noch Zeit auf der Reise;
15649 denn La nachzueilen, um sie zu sprechen, dazu war Saltner sofort
15650 entschlossen. Was er mit ihr zu beraten, von ihr zu erbitten hatte,
15651 das konnte er nicht telephonisch erledigen, dazu mußte er ihr Aug’
15652 in Auge sehen; fürchtete er doch mit gutem Grund, daß auch sie sich
15653 weigern würde. Aber diesem Schritt, der ihm schwer genug wurde,
15654 konnte und durfte er sich nicht entziehen, und er mußte sofort
15655 geschehen, solange noch das Raumschiff den Mars nicht verlassen
15656 hatte. Er hatte Isma das Versprechen gegeben, La um Hilfe
15657 anzugehen, das mußte er halten. Wichtigeres jedoch lag ihm selbst
15658 am Herzen. Er hielt es für seine Pflicht, die Staaten der Erde von
15659 den Maßnahmen der Martier zu unterrichten. Er erinnerte sich jenes
15660 Wortes von Grunthe, daß sie Kundschafter seien, an deren getreuen
15661 Diensten vielleicht das Wohl und Wehe der zivilisierten Erde hinge.
15662 Nicht von den Erklärungen allein, welche die Regierung der Martier
15663 abzugeben belieben würde, sollten die Menschen erfahren, sondern
15664 auch von den Ansichten, die hier auf dem Mars in der großen
15665 Antibatenpartei herrschten, und von dem Urteil, das er, als Mensch,
15666 über das Vorgehen der Martier sich gebildet hatte. Er mußte
15667 versuchen, seine von den Martiern nicht kontrollierten Briefe nach
15668 der Erde zu befördern, selbst in der schmerzlichen Aussicht, sich
15669 La zu entfremden.
15671 Sie hatte gesagt: „Ich erwarte dich vorläufig nicht in Sei, man
15672 würde deine Reise hierher nicht gern sehen.“ Er ließ sich die Worte
15673 noch einmal wiederholen. Das war also eine Meinungsäußerung Las,
15674 ein Rat vielleicht, kein direktes Verbot. Warum hatte sie sich so
15675 unbestimmt ausgedrückt, nicht mit der gewohnten Klarheit? Folgte
15676 sie vielleicht einem fremden Wunsch, der mit dem eigenen nicht
15677 übereinstimmte, oder war sie mit sich selbst im Zwiespalt? „Man
15678 würde deine Reise nicht gern sehen.“ Wer ist das ›man‹? Sie hat
15679 also nicht gesagt, daß sie selbst sie nicht gern sehen würde. Das
15680 ›man‹ aber, die andern, also wohl die Regierung, die Martier, Ill,
15681 Ell und wer sonst, was ging ihn das an? Sie sollten nicht eher
15682 davon erfahren, als bis er dort wäre; hatte er erst mit La
15683 gesprochen, so war ihm alles übrige gleichgültig. Also vor allen
15684 Dingen sofort nach Mari!
15686 Saltner war müde, er hätte sich gern niedergelegt. Aber zum
15687 Schlafen hatte er unterwegs Zeit. Er wußte, daß die
15688 Personenbeförderung auf große Entfernungen mit den schnellen
15689 Radbahnen alle Stunden stattfand, er konnte also jede Stunde
15690 abreisen. Seine Vorbereitungen waren schnell erledigt, eine kleine
15691 Handtasche, der Reisepelz, den er noch von der Erde mitgebracht,
15692 und sein ›Energieschwamm‹, das ist sein Kapital, aus welchem er die
15693 im Geldverkehr übliche Münze abzapfen mußte. Es war dies eine
15694 Büchse mit einem äußerst feinen und dichten Metallpulver, das in
15695 seinen Poren den höchst kondensierten Äther enthielt und dadurch
15696 eine bestimmte Arbeitsmenge repräsentierte. Ein Gramm dieses
15697 Pulvers hatte einen Wert von etwa fünftausend Mark, denn eine
15698 gleichwertige Arbeitskraft konnte man in dem geeigneten Apparat
15699 daraus entwickeln. Diese Währungseinheit hieß ein ›Eck‹ und war
15700 zugleich das Zehntausendfache der Strahlungseinheit. Man pflegte
15701 sich ein bis zwei Zentigramm, fünfzig bis hundert Mark, in die im
15702 Kleinverkehr gebräuchliche Münze einzuwechseln, was in jedem
15703 offenen Geschäft geschehen konnte.
15705 Die Personenbeförderung auf den Radbahnen, die aber nur auf
15706 Strecken über dreihundert Kilometer stattfand, war sehr bequem, und
15707 Saltner wußte damit Bescheid. Um Fahrpläne, Anschlüsse und
15708 dergleichen brauchte man sich nicht zu kümmern. Die Beförderung war
15709 ungefähr in derselben Weise geordnet wie diejenige der Briefe auf
15710 der Erde. Die Überführung der Passagiere an den Kreuzungsstrecken
15711 fand ohne Zutun derselben auf dem kürzesten Weg durch die
15712 Bahnverwaltung statt.
15714 Saltner begab sich nach der nächsten Station, die er mit Hilfe der
15715 Stufenbahn in einer Viertelstunde erreichte. Hier standen, in
15716 langen Reihen aufgestellt, die Reisecoupés; Schalter, Billets,
15717 Schaffner, alles dies gab es nicht. Ein einziger Beamter achtete
15718 darauf, daß, sobald eine Anzahl Coupés besetzt war, sofort neue
15719 herbeigeschoben wurden. Jede Person nahm ein solches Coupé für sich
15720 in Anspruch. Sie waren etwa einundeinviertel Meter breit,
15721 zweieinhalb Meter lang und drei Meter hoch. Sie bildeten also eine
15722 Kammer von ausreichender Größe für eine Person und waren mit allen
15723 Reisebequemlichkeiten versehen. Ein Handgriff genügte, um den
15724 vorhandenen Sessel und Tisch in ein bequemes Bett zu verwandeln.
15725 Auch ein Automat, der gegen Einwurf der betreffenden Münzen Speise
15726 und Trank lieferte, fehlte nicht. Der Eingang zum Coupé war von der
15727 schmalen Seite aus. Sie standen auf Gleitkufen und wurden vor
15728 Abgang der Züge geräuschlos auf die Wagen der Radbahn geschoben.
15730 Saltner trat vor ein unbesetztes Coupé, zog einen Thekel, eine
15731 Goldmünze im Wert von etwa zehn Mark, aus der Tasche und steckte
15732 sie in die hierzu angebrachte Öffnung an der Tür. Die bisher
15733 verschlossene Tür sprang auf, und Saltner trat ein. Die Zeit des
15734 Eintritts markierte sich selbsttätig an der Tür, und Saltner hatte
15735 nunmehr das Recht erhalten, sich einen vollen Tag lang in dem Coupé
15736 aufzuhalten und hinfahren zu lassen, wohin er Lust hatte.
15738 Aus einem im Wagen befindlichen Kästchen nahm er ein kleines
15739 Kärtchen, um die Adresse seines Coupés, sein Reiseziel,
15740 daraufzuschreiben. Jetzt stutzte er einen Augenblick. Genügte auch
15741 die Angabe ›Mari Sei‹? Wenn es vielleicht noch ein anderes Mari
15742 gab, und er, statt in der Nähe des Südpols, sich am Äquator oder am
15743 Nordpol wiederfand? Aber das Coupé war selbstverständlich mit der
15744 erforderlichen Bibliothek versehen. Es fand sich da das Meisterwerk
15745 statistischer und tabellarischer Kunst, das Mars-Kursbuch, in
15746 welchem die Beförderungszeiten, Wege und Reisedauer angegeben
15747 waren. Durch eine höchst scharfsinnig konstruierte, verschiebbare
15748 Tabelle konnte man die Wegdauer zwischen je zwei beliebigen
15749 Stationen sofort finden. Als Saltner ›Mari‹ nachschlug, fand er,
15750 daß es allerdings noch einen Bezirk gleichen Namens auf der
15751 nördlichen Halbkugel gab und daß er die Bezeichnung ›Gol‹
15752 beizufügen hatte. Er schrieb also die Adresse auf das kleine
15753 Kärtchen und steckte dies in einen hierzu bestimmten Rahmen im
15754 Innern der Tür. Dadurch erschien die Adresse stark vergrößert und
15755 hell beleuchtet außen an der Tür. Ein leises Summen begann
15756 gleichzeitig. Dies dauerte so lange, bis der Wagen die Station
15757 verlassen hatte, und diente als Merkzeichen für den Reisenden, daß
15758 er nicht etwa bei der Abholungszeit übersehen war. Wenn es wieder
15759 begann, so war es das Signal, daß das Reiseziel nach Angabe der
15760 Adresse erreicht war.
15762 Saltner hatte aus dem Kursbuch ersehen, daß seine Reise acht
15763 Stunden in Anspruch nehmen würde, denn die Entfernung betrug etwa
15764 3.000 Kilometer. Es war jetzt bald Mitternacht, er traf also am
15765 Vormittag ziemlich zeitig auf der Station Mari ein. Übrigens
15766 brauchte er sich nicht darum kümmern, ob er zur rechten Zeit
15767 erwache, da sein Coupé so lange auf der Station halten blieb, bis
15768 er die Adresse entfernt hatte oder der ganze bezahlte Tag
15769 abgelaufen war. Aber er wußte nicht, wie weit er noch von der
15770 Bahnstation nach Las Wohnort habe. Darüber wollte er sich am Morgen
15771 während der Fahrt vergewissern, da die Bibliothek des Coupés genaue
15772 Reisehandbücher über alle Teile des Mars enthielt. Früher als am
15773 Nachmittag konnte er indessen nicht darauf rechnen, La anzutreffen,
15774 weil die Beförderung des Hauses, die auf der Gleitbahn stattfand,
15775 mindestens die doppelte Zeit in Anspruch nehmen mußte als seine
15776 Eilfahrt.
15778 Jetzt zog er den Handgriff, welcher das Coupé in ein Schlafzimmer
15779 umgestaltete, und legte sich zu Bett. Kein Schienenrasseln, kein
15780 Pfiff, kein Ruf und Signal störte ihn. Er merkte noch, daß das
15781 leise Summen aufgehört und er somit seine Fahrt angetreten hatte.
15782 Er dachte, es sei doch eine gute Einrichtung, daß hier jeder für
15783 zehn Mark seinen eigenen Salonwagen haben könne, bequemer, als es
15784 sich auf der Erde ein Fürst leisten kann. Dreitausend Kilometer –.
15785 Und es fiel ihm ein, das war gerade die Entfernung von Ses Wohnort
15786 –. Ob der wohl in der Nähe war? La wollte sie ja wieder sehen. Wie
15787 lange hatte auch er sie nicht gesehen, obwohl gesprochen – aber
15788 sehen –. Saltner entschlummerte, während sein Coupé, auf dem
15789 Radwagen stehend, unter den Häuserreihen zwischen geradlinigen
15790 Kanälen nach Südwesten jagte.
15792 \section{37 - Die Wüste Gol}
15794 Saltner hatte Se nicht wiedergesehen, seitdem er mit Frus die Reise
15795 nach Kla angetreten hatte. Aber er hatte öfter mit ihr telephonisch
15796 gesprochen – wenn sie ihn anrief, und auch dies war in der letzten
15797 Zeit seltener geschehen. Solange er mit La zusammen war, verblaßte
15798 der Eindruck, den sie auf ihn gemacht hatte, und La sprach mit ihm
15799 nach ihrer Gewohnheit fast niemals über Se. Das letzte, was er von
15800 Se gehört hatte, war ihre erneute Einberufung zum Dienst in der
15801 chemisch-technischen Abteilung des Arbeitsheeres.
15803 Nicht nur die Männer, sondern auch die Frauen bildeten sich auf dem
15804 Mars für einen besonderen Beruf aus, doch bestand zwischen der Art
15805 dieser Ausbildung und des Betriebes der Berufsarten zwischen beiden
15806 Geschlechtern ein wesentlicher Unterschied. Nichts lag den Martiern
15807 ferner als der Gedanke einer schablonenhaften Gleichmacherei;
15808 Gleichheit gab es für sie nur im Sinne der gleichen Freiheit der
15809 Bestimmung als Persönlichkeit, aber die tatsächlichen Verhältnisse
15810 gestalteten sich durchaus verschieden nach dieser Selbstbestimmung.
15811 Die Frauen erwählten daher Berufsarten, die ihren
15812 Eigentümlichkeiten entsprachen und ihnen insbesondere eine gewisse
15813 Freiheit in der Wahl der Arbeitsstunden gestatteten. Se hatte einen
15814 wissenschaftlichen und praktischen Kursus in der Chemie
15815 durchgemacht. Da die Herstellung aller Nahrungsmittel auf dem Mars
15816 chemische Studien voraussetzte, war dies unter den Martierinnen
15817 einer der verbreitetsten Berufszweige. In dieser Eigenschaft war Se
15818 auch, als sie ihre einjährige Arbeitspflicht abzuleisten hatte, in
15819 die chemische Arbeitsabteilung eingetreten und auf ihren Antrag der
15820 Erdstation zugeteilt worden. Sie war nicht, wie La, in Begleitung
15821 ihrer Eltern, sondern in ihrer eigenen Dienstleistung nach der Erde
15822 gegangen. Auf Grund dieser besonderen Anstrengung konnte sie nach
15823 der Rückkehr auf zwei Monate beurlaubt werden. Dieser Urlaub war
15824 nun vorüber, und sie hatte noch einige Monate ihrer Dienstzeit zu
15825 absolvieren. Sie war jetzt aber von der Abteilung für Lebensmittel
15826 in die artilleristische Abteilung versetzt worden und bei den neuen
15827 Versuchen beschäftigt, zu denen der Konflikt mit den Engländern die
15828 Martier veranlaßt hatte. Saltner hatte davon nur soviel gehört, daß
15829 man entdeckt hatte, wie das Repulsit in eine neue Verbindung mit
15830 ganz wunderbaren Eigenschaften umgewandelt werden konnte, die man
15831 jedoch, wenigstens ihm gegenüber, bisher als Geheimnis behandelte.
15832 Se hatte damit zu tun, sie wohnte daher jetzt seit einer Woche
15833 ebenfalls am Rand der Wüste Gol, zwar nicht in Mari, aber dicht an
15834 der Grenze, im Bezirk Hed.
15836 Als Saltner durch das Schütteln seines Kopfkissens erwachte, dessen
15837 Rüttel-Wecker er auf eine Stunde vor seiner Ankunft – nach seiner
15838 gewohnten Rechnung sieben Uhr morgens – gestellt hatte, zog er den
15839 Fenstervorhang beiseite und sah zu seiner Verwunderung, daß der Tag
15840 noch nicht angebrochen war. Er hatte nicht berücksichtigt, daß er
15841 nach Westen fuhr und daher an seinem Reiseziel die Ortszeit um etwa
15842 vier Stunden zurück sei. Er würde etwa um Sonnenaufgang in Sei
15843 ankommen. Dennoch machte er Toilette, benutzte den
15844 Frühstücksautomaten und begann, sich aus dem Reisehandbuch über den
15845 Staat Mari zu unterrichten. Er erkannte daraus, daß Sei unmittelbar
15846 am Abhang der Wüste Gol läge und die Station ebenfalls, aber
15847 ungefähr hundert Kilometer südlicher. Die Radbahn zog sich in einer
15848 Strecke von dreihundert Kilometern direkt am Ostabhang der Wüste
15849 Gol hin, so daß er diese zur Rechten hatte. Um nach Sei zu
15850 gelangen, wo die Radbahn nicht anhielt, mußte er von der Station
15851 aus die letzten hundert Kilometer auf der Stufenbahn zurückfahren.
15852 Da ihm die Wege und die Lage der Wohnung Las nicht genau bekannt
15853 waren, mußte er eine Stunde auf den Weg von der Station bis zum
15854 Haus rechnen. Es blieben ihm also noch ungefähr sechs Stunden zur
15855 freien Verfügung, da er nicht eher bei La eintreffen wollte, als zu
15856 der Zeit, die sie zur telephonischen Unterhaltung bestimmt hatte.
15857 Er nahm an, daß sie diese Zeit gewählt habe, weil sie dann sicher
15858 in ihrem neuen Wohnort angekommen sei.
15860 Das Fenster seines Coupés, welches der Tür gegenüberlag, sah nach
15861 Osten. Noch konnte er keinen Schimmer der Dämmerung erkennen, die
15862 freilich auf dem Mars nur kurz und schwach war. Dennoch lag über
15863 der Gegend ein rötliches Licht, das er sich nicht erklären konnte.
15864 Die Monde des Mars gaben keinen derartigen Schein. Wo die Reihe der
15865 Häuser, unter denen der Zug fortraste, unterbrochen war, und das
15866 war in dieser Gegend mehrfach der Fall, sah er, daß das rötliche
15867 Licht von Westen her auf die hier weniger dicht belaubten
15868 Riesenbäume einfiel. Um nach der Seite zu sehen, auf welcher die
15869 Wüste Gol lag, mußte Saltner die Tür seines Coupés öffnen. Sie
15870 führte auf den schmalen Wandelgang, der sich durch den Wagen
15871 hinzog. Hier konnten die Insassen der Coupés sich ergehen. Hier sah
15872 man durch die großen Fenster, als der Zug eine Häuserlücke
15873 passierte, die Felsenmauern der Wüste dunkel aufragen, über ihnen
15874 aber lag eine rosig glänzende Lichtschicht. Die Nebel über der
15875 Wüste, in ihrer Höhe von mehreren tausend Metern, waren bereits von
15876 der Morgensonne beleuchtet.
15878 Der Beamte, welcher den Radwagen begleitete, durchschritt den
15879 Wandelgang und sagte zu jedem der wenigen sich hier aufhaltenden
15880 Passagiere leise: „Bitte einzusteigen.“ Der Zug näherte sich der
15881 Station, und während des Haltens auf dieser mußte sich jeder in
15882 seinem Coupé befinden, er verlor sonst das Recht der
15883 Weiterbeförderung. Denn sobald der Wagen hielt, klappte die ganze
15884 Seitenwand herab und die einzelnen Coupés wurden mit großer
15885 Gewandtheit sortiert, um je nachdem auf der Station zu bleiben oder
15886 auf die kreuzenden Linien übergeführt zu werden. Bald verriet das
15887 erneute leise Summen an seiner Tür Saltner, daß sein
15888 Bestimmungsort, die Station Mari, erreicht war. Er packte seine
15889 Sachen zusammen und trat aus dem Coupé ins Freie. Er fand die Luft
15890 so kalt, daß er seinen Pelz umhing. Es waren nur wenige Coupés auf
15891 der Station zurückgeblieben, und ihre Insassen waren noch nicht zum
15892 Vorschein gekommen; sie schienen es vorzuziehen, ihren Schlaf nicht
15893 vorzeitig zu unterbrechen. Während Saltner noch unschlüssig stand,
15894 was er jetzt beginnen solle, trat jedoch aus einem der Coupés ein
15895 Fahrgast, der, nachdem er einen Blick auf den Himmel geworfen
15896 hatte, dem Ausgang der Station zuschritt wie jemand, der genau mit
15897 der Örtlichkeit vertraut ist. Er trug das dunkle Arbeitskleid eines
15898 Bergmanns und schien keine Zeit zu verlieren zu haben. Saltner
15899 gedachte ihn anzureden und folgte vorläufig seinen Schritten. Der
15900 Bergmann überschritt die hinter der Station vorüberführende
15901 Stufenbahn auf einer Brücke und trat dann in den Eingang eines
15902 Hauses. Da Saltner hier zögerte und der Martier bemerkte, daß ihm
15903 Saltner gefolgt war, wandte er sich nach ihm um und sagte:
15905 „Wenn Sie noch zum Sonnenaufgang hinaufwollen, müssen Sie sich
15906 beeilen, der Wagen geht gleich ab.“
15908 „Ich bin ganz fremd hier“, erwiderte Saltner. „Wenn Sie erlauben,
15909 schließe ich mich Ihnen an.“
15911 Der Bergmann machte eine höfliche Bewegung und ging voran. Sie
15912 gelangten an einen gondelartig gebauten Wagen, welcher die
15913 Aufschrift trug: ›Abarische Bahn nach der Terrasse‹. Saltner stieg
15914 mit dem Martier ein, ein Schaffner nahm ihnen eine kleine
15915 Fahrgebühr ab. Der Wagen, der nur schwach besetzt war, begann sehr
15916 bald sich zu bewegen. Er glitt erst mit schwacher Steigung
15917 aufwärts, dann, als die fast senkrecht abfallende Felswand der
15918 Wüste erreicht war, sehr steil empor, indem er sich durch seine
15919 Schwerelosigkeit erhob. Ein Drahtseil, an dem er hinglitt, schrieb
15920 ihm die Bahn vor. Vorspringende Felswände verhinderten den Umblick.
15921 Die ganze Fahrt dauerte nur wenige Minuten. Die Einrichtung war,
15922 wie Saltner erfuhr, noch nicht lange in Betrieb.
15924 Als Saltner den Wagen verließ, fand er sich auf einer kahlen
15925 Felsstufe, die sich, so weit er sehen konnte, in nördlicher wie
15926 südlicher Richtung einige hundert Schritt breit hinzog. Sie war mit
15927 zahlreichen Baulichkeiten bedeckt, die meist elektrische
15928 Schmelzöfen enthielten. In der ganzen Längserstreckung der Terrasse
15929 lief ein Bahngeleis hin. Sie war eine Stufe am östlichen Abfall der
15930 Wüste Gol. Nach Westen hin erhob sich das Gebirge noch weiter und
15931 trug das Hochplateau der Wüste, die sich in einer Erstreckung von
15932 etwa 600 Kilometer von Norden nach Süden und 1.000 Kilometer nach
15933 Westen hin ausdehnte. Über derselben glänzten, in ihren oberen
15934 Schichten hell beleuchtet, große Wolkenmassen, die sich in der
15935 Nacht gebildet hatten, jetzt aber schon unter den Strahlen der
15936 Sonne zu schwinden begannen.
15938 Als sich Saltner dem Tal zuwendete, bot sich ihm ein herrlicher
15939 Anblick. Sein Auge schweifte weithin über die Landschaft, die vom
15940 Widerschein der erleuchteten Nebel schwach erhellt war. Nur im
15941 Südosten erhob sich ein heller rötlicher Schimmer, das baldige
15942 Nahen der Sonne anzeigend. Zwischen dem grünlichen Grau der
15943 Baumkronen, auf die er hinabblickte, zogen sich, noch künstlich
15944 erleuchtet, die geradlinigen Streifen breiter Straßen hin. Am
15945 dunkeln, klaren Himmel standen die Sterne, einer aber von ihnen,
15946 gerade im Osten, strahlte mit besonders hellem Licht, ein
15947 glänzender Morgenstern. Saltner konnte sich von seinem Anblick
15948 nicht losreißen. Ein tiefes Heimweh ergriff ihn. Zum erstenmal seit
15949 seiner Landung auf dem Mars sah er die Erde wieder.
15951 Die Stimme des Bergmanns, der sich zu ihm gesellte, weckte ihn aus
15952 seiner Träumerei.
15954 „Nicht wahr“, sagte dieser, „das ist schön. Da unten sieht man das
15955 nicht vor lauter Bäumen, oder man muß erst zwischen die Maschinen
15956 auf die Dächer steigen. Jetzt ist die Ba am hellsten, Sie haben sie
15957 wohl noch nie so deutlich gesehen? Die letzten Monate hat sie zu
15958 nahe an der Sonne gestanden.“
15960 „Ich habe sie schon ganz in der Nähe gesehen“, sagte Saltner, „denn
15961 ich bin schon dort gewesen.“
15963 „So, so“, erwiderte der Bergmann lebhaft, „da sind Sie also ein
15964 Raumschiffer. Das freut mich, daß ich einmal einen treffe, ich habe
15965 nämlich noch keinen gesehen. Muß ein seltsames Handwerk sein! Sie
15966 kamen mir gleich so fremdartig vor, einen solchen Mantel sah ich
15967 noch nie.“
15969 „Der ist von dem Fell der Tiere, wie sie auf der Erde leben.“
15971 Der Bergmann befühlte neugierig das Pelzwerk.
15973 „Da sagen Sie mir doch“, begann er wieder, „ist es denn wahr, was
15974 die Zeitungen jetzt so viel schreiben, daß es dort auch Nume gibt?
15975 Ich meine, so wie wir, mit Vernunft?“
15977 „Etwas Vernunft mögen sie schon haben.“
15979 Der Bergmann schüttelte den Kopf. „Viel wird es wohl nicht sein“,
15980 sagte er. „Warum wären sie sonst nicht schon zu uns gekommen? Wir
15981 glauben nämlich hier nicht recht daran, daß dort viel zu holen ist,
15982 wir meinen, die Regierung nimmt nur jetzt den Mund recht voll, weil
15983 nächstes Jahr Wahlen zum Zentralrat sind. Da heißt es, wenn wir auf
15984 die Erde gehen, da können wir die Sonne sozusagen mit Händen
15985 greifen, da bekommen wir soviel Geld, daß jeder den doppelten
15986 Staatszuschuß erhält.“
15988 Saltner zuckte plötzlich zusammen und wandte sich ab. Ohne daß die
15989 Dämmerung sich merklich verstärkt hätte, hatte unvermittelt ein
15990 blendender Sonnenstrahl seine Augen getroffen. Das aufgehende
15991 Gestirn beschien die Terrasse, und bald verbreitete sich sein Licht
15992 auch über die tieferliegenden Lande.
15994 Der Bergmann verabschiedete sich, er müsse nun an die Arbeit.
15995 Saltner begleitete ihn noch ein Stück. So stark wirkte die
15996 Sonnenstrahlung, daß schon jetzt Saltner seinen Pelz nicht ertragen
15997 konnte. Er ließ ihn auf der Station zurück.
15999 Die Nebel von den Höhen hatten sich verzogen. Saltner wandelte die
16000 Lust an, die felsigen Abhänge hinaufzuklimmen. Das Steigen in der
16001 geringen Schwere des Mars schien ihm ein Kinderspiel. Zunächst aber
16002 ging er mit dem Bergmann bis an den Eingang des Stollens, in
16003 welchem dieser zu tun hatte. Überall sah man auf der Terrasse diese
16004 Öffnungen, die zu den Mineralschätzen des Berges führten.
16006 Im Gespräch erfuhr Saltner, daß der Bergmann auf einige Zeit unten
16007 im Lande gewesen war, um seinen Sohn zu besuchen, der auf der
16008 Schule studierte, und daß man sich hier in der Tat wieder ganz
16009 andere Vorstellungen von der Erde machte als im politischen Zentrum
16010 des Planeten. Man glaubte, daß man nur nach der Erde zu gehen
16011 brauche, um alsbald mit unermeßlichen Schätzen zurückzukehren. Die
16012 Jugend hatte sich daher massenhaft gemeldet, um nach der Erde
16013 mitgenommen zu werden. Der Bergmann verhielt sich dagegen durchaus
16014 skeptisch und hatte seine Reise hauptsächlich unternommen, um
16015 seinen Sohn von der beabsichtigten Erdfahrt zurückzuhalten. Er sah
16016 jetzt, daß er sich die Mühe hätte sparen können, denn die Regierung
16017 hatte alle diese Meldungen rundweg abgeschlagen.
16019 Eine andere Maßregel aber hatte die Erdkommission getroffen, von
16020 der Saltner nur durch diese zufällige Unterhaltung erfuhr. Die
16021 Marsstaaten besaßen zwar ein stehendes Arbeitsheer, aber keine
16022 Soldaten, da Kriege und kriegerische Übungen bei ihnen als eine
16023 längst veraltete Barbarei galten. Sie hatten nur eine Art
16024 Polizeitruppe zur Aufrechterhaltung der Ordnung in besonderen
16025 Fällen.
16027 Es entstand nun die Verlegenheit, woher die Leute zu nehmen seien,
16028 welche das technische Personal unterstützen sollten, falls es zu
16029 einem wirklichen Krieg mit den Menschen, zu einer längeren
16030 militärischen Aktion auf der Erde kommen sollte. Dazu gehörte eine
16031 Gewöhnung an große körperliche Strapazen, eine Abhärtung, wie sie
16032 die Martier im allgemeinen nicht besaßen. Man hatte deswegen an die
16033 kühnen und rauhen Bewohner der Wüsten, an die Beds gedacht. Man
16034 wollte dieselben anwerben und für den Dienst auf der Erde
16035 ausbilden. Die Aufforderung an sie war ergangen. Diese Nachricht
16036 erfüllte Saltner mit Besorgnis. Von diesen Leuten war zu
16037 befürchten, daß sie als Sieger ein weniger zartes Gewissen haben
16038 würden als die eigentlichen Träger der Kultur, die hochgebildeten
16039 Nume. Er sah sich dadurch nur in seiner Absicht bestärkt, seine
16040 Landsleute vor der Größe der drohenden Gefahr zu warnen.
16042 Der Bergmann war an seinem Ziel. Er empfahl Saltner, wenn er das
16043 Plateau der Wüste selbst besuchen wolle, bis zur nächsten Station
16044 der Terrassenbahn zu fahren und die von dort nach oben führende
16045 Bergbahn zu benutzen. Auf keinen Fall solle er sich vom Rand der
16046 Wüste entfernen, da auf derselben nichts zu finden sei als die
16047 großen Strahlungsnetze und in einigen schwer zugänglichen
16048 Schluchten die ärmlichen Wohnsitze der Beds.
16050 Saltner befolgte den Rat insofern, als er die Terrassenbahn
16051 benutzte und mit dieser ein weites Stück nach Süden fuhr. Unterwegs
16052 brachte er nämlich in Erfahrung, daß er hier eine Station ›Kast‹
16053 erreichen könne, welche direkt über Sei lag, so daß er von da aus
16054 abwärts nur noch eine Viertelstunde bis zu Las Wohnort hatte. Auf
16055 diese Weise stand ihm genügend Zeit zur Verfügung, um das Plateau
16056 zu ersteigen. Allerdings führte von hier keine Bahn hinauf, aber es
16057 lag ihm viel mehr daran, durch eine Fußwanderung die seltsame
16058 Gebirgsbildung kennenzulernen.
16060 In einer steil herab ziehenden engen Schlucht klomm er rasch
16061 aufwärts. Einige unten beschäftigte Leute riefen ihm etwas nach,
16062 das er nicht verstand, es schien ihm eine Warnung zu sein, nicht
16063 mit so großer Geschwindigkeit aufwärts zu springen; aber diese
16064 Martier konnten ja nicht wissen, daß er auf Erden gewohnt war, ein
16065 dreimal so großes Gewicht auf noch ganz andere Höhen zu schleppen.
16066 Die Wände der Schlucht verdeckten ihm zwar die Aussicht nach der
16067 Seite und, da die Schlucht nicht gerade verlief, auch nach oben und
16068 unten, aber sie schützten ihn dafür vor den Strahlen der Sonne. Und
16069 er sah bald, daß er ohnedies nicht weit gekommen wäre. Denn wo die
16070 Sonne das Gestein traf, glühte es so, daß man es mit der bloßen
16071 Hand kaum berühren konnte. Im Schatten aber war die Luft kühl.
16073 Etwa dreiviertel Stunden mochte er so gestiegen sein, als die Wände
16074 der Schlucht sich verflachten; er näherte sich dem Rand des
16075 Plateaus. Mitunter war es ihm, als höre er in der Ferne ein
16076 Geräusch wie Donner, er schob es auf Sprengungen in den Bergwerken.
16077 Jetzt hörte der Schatten auf. Zwischen Felstrümmern mußte er sich
16078 emporarbeiten. Der Schweiß rann ihm von der Stirn, er empfand
16079 heftigen Durst, und noch immer wollte sich die ebene Hochfläche
16080 nicht zeigen. Da endlich erkannte er einen Gegenstand, der wohl nur
16081 das Dach eines Gebäudes sein konnte. Er eilte darauf zu, und
16082 plötzlich blickte er auf eine weite Ebene, nur hier und da von
16083 einzelnen Felsriegeln unterbrochen. Eben wollte er, aus den
16084 Felstrümmern des Absturzes heraussteigend, den Rand des Plateaus
16085 betreten, als er sich durch einen Draht von weißer Farbe gehemmt
16086 sah, der an diesem Rand sich hinzog. Er achtete nicht darauf,
16087 sondern überstieg ihn. Die Sonne, gegen die kein Schirm ihn
16088 schützte, brannte so furchtbar, daß er jeden Augenblick umzusinken
16089 fürchtete und nur daran dachte, ein schattenspendendes Dach zu
16090 gewinnen. Er sah jetzt das Haus dicht vor sich, und einige eilende
16091 Sprünge brachten ihn in den Schatten eines Pfeilers.
16093 Nachdem er sich hier einen Augenblick erholt, blickte er sich
16094 erstaunt um. Wenn das ein Haus war, so war es ein sehr seltsames.
16095 Wie eine Brücke ruhte es schwebend auf zwei schmalen Pfeilern. Es
16096 hatte die Gestalt eines Bootes, auf das man ein zweites mit dem
16097 Kiel nach oben gesetzt hatte. Dazwischen war ein etwa meterhoher
16098 Zwischenraum, nach welchem eine Leiter hinaufführte. Saltner
16099 überlegte.
16101 „Das Ding sieht beinahe aus“, sagte er bei sich, „wie das
16102 Luftschiff am Nordpol, das ich freilich nur sehr von weitem gesehen
16103 habe. Ob das hier vielleicht so eine Art Trockenplatz für frischen
16104 Anstrich ist? Ich möchte mir das Ding einmal von innen
16105 betrachten.“
16107 Da er ringsum niemand bemerkte und ihm der schmale Schatten des
16108 Pfeilers keinerlei Bequemlichkeit bot, beschloß er die Leiter
16109 hinaufzusteigen und sich in dem seltsamen Bau umzusehen. Er fand
16110 jetzt, daß das, was er für einen leeren Zwischenraum gehalten
16111 hatte, von einer durchsichtigen Substanz verschlossen sei, die
16112 jedoch eine Öffnung am Ende der Leiter freiließ. Er stieg hinein.
16113 Niemand befand sich hier. In der Mitte war ein freier Raum mit
16114 Sitzen und Hängematten. Ringsum, unten, oben und besonders an den
16115 Enden des länglichen Baus, waren Verschläge mit unbekannten
16116 Apparaten. Drähte liefen von dort nach unten und durch die Pfeiler
16117 jedenfalls nach dem Erdboden, wo sie unterirdisch weitergeleitet
16118 werden mochten. Saltner hütete sich wohlweislich, irgend etwas zu
16119 berühren. Es wurde ihm einigermaßen unheimlich. Aber er fühlte sich
16120 so matt, daß er jedenfalls erst frische Kräfte sammeln mußte, ehe
16121 er den Rückweg antreten konnte. Vorsichtig zog er an einer der
16122 Hängematten, und da sich nichts in dem Raum rührte, legte er sich
16123 hinein.
16125 „Ich bin doch neugierig, was das für eine Medizin sein wird“,
16126 dachte er. „Jetzt nur nicht die Zeit verschlafen, bloß einen
16127 Augenblick ruhen.“ Aber erschöpft schloß er die Augen.
16129 \section{38 - Gefährlicher Ruheplatz}
16131 Eine Viertelstunde mochte er so im Halbschlummer gelegen haben, als
16132 ein gewaltiger Krach ihn emporschrecken ließ. Der ganze Bau war in
16133 eine zitternde Bewegung geraten. Eilends sprang Saltner empor und
16134 schaute sich um. Auf dem Felsboden, vielleicht hundert Meter hinter
16135 ihm nach dem Rand des Plateaus zu, lag eine gewaltige Staubwolke.
16136 Jetzt krachte es auf der anderen Seite. Eine neue Wolke von
16137 Trümmern und Staub erhob sich vom Boden.
16139 „Da hat eine Granate eingeschlagen!“ sagte sich Saltner. Im Moment
16140 war ihm die Situation klar. Die Schießversuche der Martier auf der
16141 Wüste Gol! Er hatte gehört, daß die Martier, ihren Erfahrungen und
16142 den von Ell mitgebrachten Büchern folgend, Geschütze konstruiert
16143 hatten, die, in ihren Wirkungen wenigstens, den auf der Erde
16144 üblichen glichen. Nun schossen sie mit menschlicher Artillerie nach
16145 ihren eigenen Luftschiffen. Er saß also gerade in dem Ziel selbst
16146 drin! Die erste Granate war zu weit gegangen, die zweite zu nahe,
16147 die dritte würde sicherlich treffen. Und jetzt sofort mußte der
16148 Schuß erfolgen! Da hatte er sich ja einen recht geeigneten Ort zur
16149 Ruhe ausgesucht! Ob noch Zeit war, hinauszuspringen? Instinktiv
16150 wollte er es tun, aber er faßte sich. Draußen war es offenbar noch
16151 gefährlicher – die Martier erwarteten ja wohl, daß das Ziel
16152 Widerstand leiste. Freilich, diese dünnen Wände! Jetzt sah er, wo
16153 das Geschütz stand. Es blitzte auf. Er empfahl seine Seele Gott und
16154 richtete seinen Blick standhaft gegen die Schußrichtung. Er hörte
16155 das Heransausen des Geschosses. Und wie ein Wunder schien es ihm,
16156 was er sah. Etwa zehn Meter vor seinem Standpunkt, in gleicher Höhe
16157 wie das Schiff, in welchem er sich befand, wurde die Granate
16158 sichtbar, weil sie plötzlich langsam heranschwebte. Noch auf fünf,
16159 auf vier Meter näherte sie sich – Saltners Züge verzerrten sich
16160 krampfhaft, aber er konnte den Blick von dem Verderben drohenden
16161 Geschoß nicht abwenden. Jetzt stand es still, ohne zu explodieren –
16162 und vor seinen Augen verschwand die stählerne Spitze, der
16163 Bleimantel, die Sprengladung löste sich unschädlich auf und der
16164 Rest des Geschosses, zu einer mürben Masse zersetzt, senkte sich
16165 langsam, wie ein Häufchen Asche, zu Boden.
16167 Saltner glaubte zu träumen. Aber schon vernahm er das Heransausen
16168 einer zweiten Granate. Dasselbe Schauspiel – nahe vor der Spitze
16169 des Schiffes, gegen welche sie gerichtet war, verzehrte sie sich in
16170 der freien Luft. Und so ein drittes und viertes Mal.
16172 Für seine Person fühlte er sich jetzt im Augenblick sicher. Aber
16173 wie gebrochen sank er auf eine Bank. Mit tiefem Schmerz gedachte er
16174 der Menschheit, deren gewaltigste Kampfmittel vor der Macht dieser
16175 Nume wirkungslos in nichts zerflossen. Er hatte wohl gesehen, daß
16176 diese letzte Probe mit einem jener Riesengeschosse angestellt
16177 worden war, denen die stärkste Panzerplatte nicht standhält. Aber
16178 auch dieses war in der freien Luft vor seinen Augen verschwunden.
16179 Es mußte sich in der Entfernung von drei bis vier Meter vor dem
16180 Schiff eine unsichtbare Macht befinden, die jede Bewegung und jeden
16181 Stoff vernichtete.
16183 Ein eigentümliches Zittern hatte während der ganzen Beschießung in
16184 dem Schiff geherrscht, und es schien ihm, als wenn auch die
16185 Sonnenstrahlung rings um das Schiff matter wäre. Das hörte nun auf.
16186 Bald sah er, wie sich über die Ebene eine Art von gedecktem Wagen
16187 heranbewegte. Ohne Zweifel wollten die Schützen die Wirkung ihrer
16188 Versuche in Augenschein nehmen.
16190 Hier entdeckt zu werden, war Saltner im höchsten Grade bedenklich.
16191 Er war sicher, daß man ihn als Spion behandeln und nicht glimpflich
16192 mit ihm verfahren würde. Ehe er seine Unschuld dartun konnte, hätte
16193 er mindestens viel Zeit verloren. Auf jeden Fall wäre seine Absicht
16194 vereitelt worden, heute noch La seine Briefe zu überreichen. Und
16195 doch war ihm jetzt mehr als je daran gelegen, seinen Landsleuten
16196 mitzuteilen, daß ein kriegerischer Widerstand gegen die Martier
16197 aussichtslos sei. Wenn er entfloh? Aber den Rand der Schlucht
16198 konnte er nicht mehr erreichen, ohne gesehen zu werden. Und auf der
16199 flachen Ebene war kein Versteck. Doch vielleicht im Schiff selbst?
16200 Es war wenigstens das einzige, was er versuchen konnte. Es gab da
16201 verschiedene Seitenräume – freilich, man würde sie wohl bei der
16202 Untersuchung betreten. Sein Blick fiel auf den Fußboden. Hier war
16203 eine Falltür. Zum Glück kannte er jetzt den üblichen Mechanismus
16204 des Verschlusses. Er kroch in den unteren Raum, der offenbar zur
16205 Aufbewahrung von Vorräten diente. Jetzt war er leer bis auf einige
16206 Haufen eines heuähnlichen Stoffes, den Saltner nicht kannte. Aber
16207 er hatte keine Wahl, er kroch in eine Ecke und versteckte sich.
16208 Wenn man das Heu, oder was es war, nicht durchwühlte, konnte man
16209 ihn nicht finden.
16211 Inzwischen war der Wagen angelangt, und die Martier stiegen aus. Es
16212 waren nur vier Männer und eine Frau. Sie betrachteten zufrieden die
16213 Aschenrestchen der Geschosse, stiegen in das Schiff und überzeugten
16214 sich, daß es vollkommen unversehrt war. Keines der feinen
16215 Instrumente hatte einen Schaden erlitten. Saltner hörte, wie sie
16216 das Schiff wieder verließen. Schon glaubte er sich gerettet. Er
16217 lauschte aufmerksam, konnte aber nur hören, daß eine Unterhaltung
16218 geführt und Anweisungen erteilt wurden, ohne daß er die Worte zu
16219 verstehen vermochte. Dann vernahm er deutlich, wie der Wagen sich
16220 wieder entfernte.
16222 Er verließ sein Versteck. Alles war still. Vorsichtig öffnete er
16223 die Falltür: das Schiff war leer. Er näherte sich der
16224 Aussichtsöffnung und spähte nach dem sich entfernenden Wagen. Jetzt
16225 konnte er versuchen, den Rand des Plateaus zu gewinnen. Er wandte
16226 sich um und schritt nach dem Ausgang zu. In diesem Augenblick
16227 erschien in demselben eine weibliche Gestalt. Saltner prallte
16228 zurück, dann stürzte er wieder vorwärts – diese einzelne Martierin
16229 konnte ihn nicht aufhalten. Er wollte an ihr vorüber, die,
16230 ebenfalls erschrocken, zur Seite trat. Schon stand er an der
16231 Öffnung, da hörte er seinen Namen.
16233 „Sal, Sal! Was haben Sie hier zu tun?“
16235 Er drehte sich um und erkannte Se. Sie faßte seine Hände und zog
16236 ihn zurück.
16238 „Oh“, sagte sie, „mein lieber Freund, warum müssen wir uns hier
16239 treffen? Das durften Sie nicht sehen! Wie konnten Sie sich
16240 hierherwagen?“
16242 „Ich bin unschuldig, teure Se, glauben Sie mir, ich bin durch
16243 Zufall hierhergeraten.“
16245 „Wie sind Sie über den weißen Draht gekommen? Wissen Sie denn
16246 nicht, was das bedeutet?“
16248 „Ich bin einfach darübergestiegen –“
16250 „Und haben die Gesetze verletzt und sich der höchsten Lebensgefahr
16251 ausgesetzt.“
16253 „Ich bedaure meine Unwissenheit. Und ich hoffe, ich darf Sie bald
16254 in sicherer Lage wieder sprechen. Jetzt verzeihen Sie wohl, wenn
16255 ich mich so schnell wie möglich davonmache.“
16257 „Das geht ja nicht, Sal, das darf ich nicht zugeben – so sehr ich
16258 es Ihnen wünschte. Aber ich bin hier nicht privatim, ich habe das
16259 Nihilitdepot zu verwalten, ich darf Sie nicht freilassen, das hängt
16260 nicht mehr von mir ab.“
16262 „Aber von mir! Leben Sie wohl, auf Wiedersehen!“ Er schwang sich
16263 auf die Leiter.
16265 „Um Gottes willen, Sal!“ rief Se. „Keinen Schritt von hier, es ist
16266 Ihr Verderben! Ich muß Sie festhalten!“
16268 „Wie wollen Sie das?“ rief er lachend.
16270 „Ich drehe diesen Zeiger, und der Nihilitpanzer bildet sich um das
16271 Schiff. Es ist ein Spannungszustand des Äthers, der momentan jede
16272 Kraft vernichtet, jedes Geschehen aufhebt. Alles, was in seinen
16273 Bereich gerät, verzehrt sich, jede Energie wird ihm entzogen, es
16274 schwindet in nichts. Da, sehen Sie!“
16276 Das eigentümliche Zittern und die Trübung des Lichtes begann
16277 wieder. Se ergriff einen Hammer, der im Schiff lag, und schleuderte
16278 ihn durch die Öffnung hinaus. In etwa drei Meter Entfernung
16279 verschwand er spurlos.
16281 „Sie können nicht fort“, sagte sie. „Kommen Sie herein.“
16283 Saltner setzte sich. Beide sahen sich traurig an. Er ergriff Ses
16284 Hände. „Wenn ich Sie bitte“, sagte er. „Bei unserer Freundschaft!
16285 Ich muß jetzt fort! Hören Sie mich!“
16287 Er erzählte, was ihn herbeigeführt, daß er La sprechen müsse, was
16288 er von ihr wünsche. Las Briefe nach der Erde würden nicht
16289 kontrolliert, sie konnte die seinigen an Grunthe adressieren – –
16291 Se schüttelte traurig den Kopf.
16293 „Das kann La nicht tun, das wird sie nie tun, sie darf es
16294 ebensowenig wie Ell. Bitten Sie sie nicht erst – Saltner, sie will
16295 nicht darum gebeten sein.“
16297 „Wie kann sie wissen?“
16299 „Haben Sie das nicht herausgehört aus dem, was sie Ihnen sagte?
16300 Wenn nun Ell mit ihr gesprochen hätte, ehe sie in Ihre Wohnung
16301 ging, wenn er Ihre Absicht ihr mitgeteilt hätte – während Sie von
16302 Ell nach Hause fuhren, war Zeit genug dazu. Und etwas Derartiges
16303 hat sie sicher seit Tagen erwartet, das war doch leicht zu ahnen.
16304 Warum ist sie fortgezogen, und warum sollen Sie nicht nach Sei
16305 kommen? Weil La den Konflikt voraussah. Sie war in Widerspruch mit
16306 sich selbst. Sie wollte die Bitte vermeiden, die sie Ihnen
16307 abschlagen mußte. Und vielleicht – doch ich habe kein Recht, in Las
16308 Gefühle zu dringen.“
16310 Saltner klammerte sich an Ells Namen. Er also war ihm
16311 zuvorgekommen! Und es erschien ihm, als gelte es nur Ells Einfluß
16312 zu besiegen.
16314 „Ich muß zu ihr!“ rief er verzweifelt. „Se, ich beschwöre Sie,
16315 lassen Sie mich frei!“
16317 „Ich darf ja nicht. Und Sie werden es mir noch danken, Saltner. La
16318 liebt Sie, vielleicht mehr, als Sie ahnen, sie wird es nicht
16319 ertragen, daß Sie in Trauer, in Zorn, in Verbitterung von ihr
16320 gehen, weil sie Ihrem Wunsch nicht folgen kann. Wenn Sie an der
16321 Ausführung Ihres Willens verhindert werden, so zürnen Sie lieber
16322 mir!“
16324 „Und wenn ich Sie bäte, Se, die Briefe zu befördern, würden Sie es
16325 mir auch abschlagen?“
16327 „Ich müßte es.“
16329 Sie war aufgestanden und blickte auf die Ebene hinaus. Dann wandte
16330 sie sich zurück und trat dicht an ihn heran, mit ihren großen Augen
16331 ihn zärtlich anblickend.
16333 „Mein lieber Freund, seien Sie vernünftig. Der Wagen mit meinen
16334 Begleitern kommt zurück. Ich war hiergeblieben, um den
16335 Nihilitapparat neu zu laden, und jene hatten nur frischen Vorrat zu
16336 holen. Ihre Unwissenheit wird Sie entschuldigen. Man wird Sie
16337 höchstens nach Kla zurückschicken. Aber ich darf nicht eigenmächtig
16338 handeln. Zürnen Sie mir nicht!“
16340 Saltner sah, daß der Wagen in der Ferne auftauchte. Fünf Minuten
16341 mußten sein Schicksal entscheiden. Einen Moment zögerte er unter
16342 Ses mächtigem Einfluß. Aber er raffte sich zusammen; sein Entschluß
16343 war gefaßt.
16345 „Ich zürne Ihnen nicht, geliebte Se“, sagte er. „Nur mögen Sie mir
16346 nicht zürnen, aber ich kann nicht anders. Leben Sie wohl!“
16348 Er umschlang sie fest mit seinem linken Arm, indem er mit der
16349 rechten Hand den Zeiger des Nihilitapparates zurückdrehte. In ihrer
16350 Überraschung und dem Bestreben, sich ihm zu entwinden, hatte Se
16351 dies gar nicht bemerkt. Er drückte einen flüchtigen Kuß auf ihre
16352 Stirn und schwang sich mit einem Satz aus der Öffnung. Da wußte
16353 sie, was geschehen war. Im Augenblick, als Saltner den Boden
16354 erreichte, berührte Ses Hand wieder den Zeiger. Drückte sie ihn
16355 herum, so verzehrte das Nihilit den Freund. Und wenn sie es nicht
16356 tat, so hatte sie einen Verräter entfliehen lassen.
16358 Sie preßte die Hände an ihre Stirn – nur einen Augenblick – dann
16359 schaute sie auf.
16361 In weiten Sätzen entfernte sich Saltner und verschwand hinter den
16362 Felstrümmern am Abhang der Wüste. – Wie er den Berg hinabgelangte,
16363 er wußte es kaum. Am meisten fürchtete er, am Ausgang der Schlucht
16364 von den dort beschäftigten Martiern angehalten zu werden. Er umging
16365 ihn durch eine halsbrecherische Kletterei. Völlig erschöpft
16366 gelangte er in die Restauration neben dem Bahnhof. Hier in dem
16367 kühlen, separaten Speisezimmer, das er sich anweisen ließ, fand er
16368 Zeit, sich zu erholen.
16370 Wenn ihn Se verraten hatte, so war freilich seine Flucht nutzlos.
16371 Man würde ihn in Sei, oder wohin er auch sonst sich wandte,
16372 erreichen. Aber er vertraute darauf, daß Se nicht sprechen würde.
16373 Niemand sonst hatte ihn oben gesehen. So benutzte er den zu Tal
16374 gehenden Wagen nach Sei und fand nach einigem Umherirren die von La
16375 angegebene Platznummer. Eben entfernten sich die Monteure, welche
16376 das neu eingetroffene Haus an die verschiedenen im Boden liegenden
16377 Leitungen angeschlossen hatten.
16379 Es war die Zeit, um welche La mit ihm sprechen wollte, als Saltner
16380 in ihr Zimmer trat.
16382 „Da bin ich selbst!“ rief er. „Ich mußte dich wiedersehen!“
16384 La stand wortlos. Dann atmete sie tief auf, preßte die Hände
16385 zusammen und sagte leise:
16387 „O mein Freund, warum hast du mir dies getan?“
16389 „Warum nicht? Ich sehnte mich nach dir, La, und ich bedarf deiner
16390 Hilfe.“
16392 „Meiner Hilfe?“ sagte sie warm. Sie hoffte einen Augenblick, es
16393 könne sich um etwas anderes handeln, als was sie fürchtete.
16395 „Wenn es mir möglich ist, wie gern bin ich dir zu Diensten.“ Sie
16396 zog ihn neben sich auf einen Sessel. Er hielt ihre Hand fest.
16398 „Ich habe eine große Bitte, für Frau Torm und für mich.“
16400 La wich zurück. „Sprich sie nicht aus! Ich bitte dich, sprich sie
16401 nicht aus, damit dich meine Weigerung nicht kränkt. dots{}
16403 „Du weißt –?“
16405 „Ich weiß, um was es sich handelt.“
16407 „Von Ell!“
16409 „Durch ihn. Sieh, das ist unmöglich! So wenig du damals am Nordpol
16410 der Erde zögertest, die Pflicht für dein Vaterland zu erfüllen, so
16411 wenig kann ich jetzt um deinetwillen das Gesetz durchbrechen. Das
16412 Gesetz verbietet den Menschen, unkontrollierte Botschaft nach der
16413 Erde zu senden. Hätte ich die freie Überzeugung, daß es ungerecht
16414 und töricht sei, so dürfte ich mein Gewissen fragen, ob ich es
16415 übertreten will. Es wäre ein Konflikt, aber ich könnte ihn auf mich
16416 nehmen. Doch ich kann mich davon nicht überzeugen. Was ihr auch
16417 berichtet, es kann nur Verwirrung anstiften, und Ismas private
16418 Wünsche können nicht in Frage kommen.“
16420 Saltner hatte ihre Gründe kaum gehört. Er blickte finster vor sich
16421 hin.
16423 „Durch Ell!“ sagte er dann bitter. „Natürlich, wann spräche er
16424 nicht mit dir, wann träfe ich ihn nicht bei dir, wann hörtest du
16425 nicht auf ihn mehr als auf mich?“
16427 La seufzte. „Ich wußte es ja, daß es so kommen würde. Oh, hättest
16428 du auf meinen Rat gehört und wärest nicht hergereist.“
16430 „Ich werde dich nicht stören; sobald Ell kommt, gehe ich.“
16432 „Warum? Er wird wohl kommen. Aber warum entrüstest du dich? Hast du
16433 je bemerkt, daß ich dich weniger liebe?“
16435 „Aber du liebst ihn?“
16437 La sah ihn mit flammenden Augen an.
16439 „Wie darfst du fragen“, sagte sie stolz, „was kaum das eigene Ich
16440 sich fragt?“
16442 Aber ihr Ausdruck wurde plötzlich unendlich traurig und zärtlich.
16443 Sie faßte seine Hände und neigte sich zu ihm.
16445 „Aber wie kann ich dir zürnen?“ sagte sie. „Mich nur müßte ich
16446 schelten. Doch habe ich dir nicht gesagt: Vergiß nicht, daß ich
16447 eine Nume bin? Ach, ich vergaß wohl, daß du ein Mensch bist, und du
16448 weißt nicht mehr, was ich dir sagte: Liebe darf niemals unfrei
16449 machen! Und du willst mich unfrei machen? Willst dem Gefühl
16450 gebieten? Ist ein Nume so klein und einfach, daß ein einzelner
16451 seinen Kreis erfüllen könnte? Ist nicht jedes Individuum nur ein
16452 kleiner Ausschnitt, nur eine Seite von dem, was das Wesen des
16453 Mannes, das Wesen der Frau ist? Wer kann sagen, ich repräsentiere
16454 alles, was du lieben kannst?“
16456 „Das also war es! Was vermag ich dagegen? Daß du eine Nume bist,
16457 wußte ich, und ich wußte, daß du mir nicht angehören könntest fürs
16458 Leben. Aber so dachte ich mir deine Liebe nicht. O La, ich weiß
16459 nicht, wie ich ohne dich leben werde, aber deine Liebe teilen – mit
16460 jenem –, das vermag ich nicht. Ich bin ein Mensch, und wenn du ihn
16461 liebst, so muß ich scheiden.“
16463 Saltner saß stumm. Er konnte sich nicht aufraffen zu gehen, es war
16464 ihm, als müßte La ihn noch halten, er hoffte auf ein Wort von ihr.
16465 Auch sie schwieg, sie atmete lebhaft, mit einem Entschluß kämpfend.
16466 Dann sagte sie zögernd:
16468 „Das glaube nicht, Sal, daß Ell dabei im Spiel ist, wenn ich dir
16469 deine Bitte wegen der Briefe abschlage. Daß er mich
16470 benachrichtigte, war nur zu unserm Besten, wenn du mir gefolgt
16471 hättest. Ich wollte einer Auseinandersetzung ausweichen, weil ich
16472 wußte, daß sie dich kränken müßte, daß du mich mißverstehen und an
16473 meiner Liebe zweifeln würdest – nach Menschenart – und weil – weil
16474 ich selbst nicht wußte, wie ich dies ertragen könnte. Ja, Sal, um
16475 meinetwillen wollt’ ich dich nicht sehen –“
16477 Saltner kniete zu ihren Füßen und schlang die Arme um sie.
16479 „O La!“ rief er, „so habe ich noch die Hoffnung, daß du mich
16480 erhörst, daß du meine Bitte erfüllst?“
16482 „Du weißt nicht, was du verlangst, weißt nicht, welch namenlose
16483 Qual diese Stunde mir bereitet. Du verlangst mehr als mein Leben,
16484 du verlangst meine Freiheit, meine Numenheit. – Wenn ich dir
16485 nachgebe, wenn ich diesem Rausch der Gegenwart unterliege – o mein
16486 Freund –, dann bin ich keine Nume mehr, dann bin ich ein Mensch!
16487 Aus dem reinen Spiel des Gefühls verfalle ich in den Zwang der
16488 Leidenschaft, die Freiheit verlöre ich und müßte niedersteigen mit
16489 dir zur Erde. Und kann deine Liebe das wollen?“
16491 Saltner barg sein Haupt zwischen den Händen, seine Brust hob sich
16492 krampfhaft.
16494 „Verzeihe mir, La, verzeihe mir“, kam es endlich von seinen
16495 Lippen.
16497 La nahm seinen Kopf zwischen ihre Hände und blickte ihn an, ihre
16498 Augen strahlten in einem verklärten Glanze.
16500 „Du sollst es wissen, mein Freund“, sagte sie langsam, „ich liebe
16501 Ell nicht, ich liebe nur dich.“
16503 „La!“ hauchte er selig.
16505 Tränen traten in ihre Augen, und mit gebrochener Stimme sagte sie:
16506 „Und dies ist das Schicksal, das uns trennt.“
16508 Er sah sie sprachlos an.
16510 „Ich bin eine Nume, und weil ich ihn nicht liebe, weil ich fühle,
16511 daß ich ihn nicht lieben kann, darum müssen wir scheiden. – Darum
16512 müssen wir scheiden“, wiederholte sie leise, „denn in dieser Liebe
16513 zu dir verlöre ich meine Freiheit. Was ich heute sprach, darfst du
16514 nie wieder hören. Steh auf, mein Freund, steh auf und glaube mir!“
16516 Saltner wußte nicht, wie ihm geschah. Er stand vor ihr, er begriff
16517 sie nicht und wußte doch, daß es nicht anders sein konnte.
16519 „Ob wir uns wiedersehen, weiß ich nicht. Jetzt nicht, jetzt lange
16520 nicht.“ – Sie schluchzte auf und schlang die Arme um seinen Hals.
16521 Lange standen sie so.
16523 „Noch diesen einen Kuß! Leb wohl, leb wohl!“
16525 La riß sich von ihm los.
16527 „Leb wohl“, sagte er wie geistesabwesend. Dann schloß sich die Tür
16528 hinter ihm. Mechanisch suchte er seinen Hut und schritt aus dem
16529 Haus.
16531 \section{39 - Die Martier sind auf der Erde!}
16533 Auf der Erde hatte die Nachricht von der Besetzung des Nordpols
16534 durch die Martier und der Existenz eines Luftschiffes, mit welchem
16535 sie siebenhundert Kilometer in der Stunde in der Erdatmosphäre
16536 zurückzulegen vermochten, ein Aufsehen erregt wie kaum ein anderes
16537 Ereignis je zuvor. Der Bericht Grunthes und die von ihm vorgelegten
16538 Beweise ließen keinen Zweifel zu, überdies war das Luftschiff in
16539 Italien, der Schweiz, Frankreich und England gesehen worden, ja,
16540 die Ankunft Grunthes und das Verschwinden Ells und Frau Torms waren
16541 auf keine andere Weise zu erklären. Die Schriften Ells, welche
16542 jetzt herauskamen, gaben eine hinreichende Auskunft über die
16543 Möglichkeit technischer Leistungen, wie sie von den Martiern
16544 vollzogen wurden.
16546 Als daher Kapitän Keswick, sobald er mit der ›Prevention‹ die erste
16547 Telegraphenstation berührte, seinen Bericht an die englische
16548 Regierung abgab und Torm nach Friedau telegraphierte, daß er
16549 glücklich gerettet sei, erregten diese Nachrichten schon nicht mehr
16550 die Verwunderung, die man auf der ›Prevention‹ erwartet hatte. Wohl
16551 aber wurde in England die anfänglich für die Martier vorhandene
16552 Begeisterung stark abgekühlt und machte einer in der Presse sich
16553 äußernden, etwas bramarbasierenden Entrüstung Platz, daß man diesen
16554 Herrn vom Mars doch etwas mehr Respekt vor der britischen Flagge
16555 beibringen müsse. Indessen fehlte es nicht an Stimmen, die zur
16556 äußersten Vorsicht rieten und die Gefahren ausmalten, welche den
16557 Nationen des Erdballs von einer außerirdischen Macht drohten, der
16558 so ungewöhnliche und unbegreifliche Mittel zur Durchsetzung ihres
16559 Willens zu Gebote ständen wie den Martiern.
16561 Diese Sorge, die Bedrohung durch eine unbestimmte Gefahr,
16562 beherrschte das Verhalten der Regierungen aller zivilisierter
16563 Staaten. Man wußte weder, was man zu erwarten habe, noch wie man
16564 einem etwaigen weiteren Vorgehen der Martier begegnen solle. Ein
16565 äußerst lebhafter Depeschenwechsel fand statt, man erwog den Plan,
16566 einen allgemeinen Staatenkongreß zu berufen, und konnte sich
16567 vorläufig nur noch nicht über das vorzulegende Programm und den Ort
16568 des Zusammentritts einigen. Während man sich auf der einen Seite
16569 einer gewissen Solidarität der politischen Interessen aller Staaten
16570 gegenüber den Martiern bewußt war, zeigten sich doch auf der andern
16571 Seite sehr verschiedene Auffassungen über den zu erwartenden
16572 kulturellen Einfluß der Martier. Die Presse aller Nationen
16573 beschäftigte sich aufs eifrigste mit der Mars-Frage, und eine
16574 unübersehbare Menge von Meinungen und abenteuerlichen Hypothesen
16575 erfüllte die Blätter und erhitzte die Gemüter.
16577 Die Quelle aller dieser Erwägungen war das Buch von Ell über die
16578 Einrichtungen der Martier und die Erklärungen, welche Grunthe aus
16579 seinen Erfahrungen am Nordpol dazu geben konnte. Ein Verständnis
16580 derselben, wenigstens im größeren Publikum, war jedoch nicht zu
16581 erreichen. Der Sprung von der technischen und sozialen Kultur der
16582 Menschen zu der Entwicklung, welche diese bei den Martiern erreicht
16583 hatte, war zu groß, als daß man sich in letztere hätte finden
16584 können. Gerade die ersten Mahnungen Grunthes, man möge sich unter
16585 keinen Umständen in einen Konflikt mit den Martiern einlassen, weil
16586 ihre Macht alle menschlichen Begriffe überstiege, fanden am
16587 wenigsten Gehör; dazu waren sie schon viel zu wissenschaftlich in
16588 der Form.
16590 Man stellte sich wohl vor, daß sich die Martier durch wunderbare
16591 Erfindungen eine ungeheure Macht über die Natur angeeignet hätten,
16592 aber man hatte keinerlei Verständnis dafür, wie ihre ethische und
16593 soziale Kultur sie den Gebrauch dieser Macht benutzen, mäßigen und
16594 einschränken ließ. Vor allem blieb das eigentliche Wesen ihrer
16595 staatlichen Ordnung trotz der Erläuterungen in Ells Buch ein
16596 Rätsel. Die individuelle Freiheit war so überwiegend, die
16597 Entscheidung des einzelnen in allen Lebensfragen so ausschlaggebend
16598 und so wenig von staatlichen Gesetzen überwacht, daß vielfach die
16599 Ansicht ausgesprochen wurde, das Gemeinschaftsleben der Martier sei
16600 durchaus anarchistisch. In der Tat, die Form des Staates war auf
16601 dem Mars an kein anderes Gesetz gebunden als an den Willen der
16602 Staatsbürger, und so gut ein jeder seine Staatsangehörigkeit
16603 wechseln konnte, so konnte auch die Majorität, ohne in den Verdacht
16604 der Staatsumwälzung oder der Staatsfeindschaft zu kommen, von
16605 monarchischen zu republikanischen Formen und umgekehrt übergehen.
16606 Keine Partei nahm das Recht in Anspruch, die alleinige Vertreterin
16607 des Gemeinschaftswohls zu sein, sondern in der gegenseitigen, aber
16608 nur auf sittlichen Mitteln beruhenden Messung der Kräfte sah man
16609 die dauernde Form des staatlichen Lebens. Es gab keinen regierenden
16610 Stand, so wenig es einen allein wirtschaftlich oder allein bildend
16611 tätigen Stand gab. Vielmehr war zwischen diesen Berufsformen ein
16612 stetiger Übergang, so daß ein jeder, ganz nach seinen Fähigkeiten
16613 und Kräften, diejenige Betätigungsform erreichen konnte, wozu er am
16614 besten tauglich war. Dies war freilich nur möglich infolge des
16615 hohen ethischen und wissenschaftlichen Standpunktes der
16616 Gesamtbevölkerung, wonach die Bildungsmittel jedem zugänglich
16617 waren, aber von jedem nur nach seiner Begabung in Anspruch genommen
16618 wurden. Natürlich bedeutete das nicht die Herrschaft des
16619 Dilettantismus, sondern jede Tätigkeit setzte berufsmäßige Schulung
16620 voraus, der Eintritt in höhere politische Stellen vor allem eine
16621 tiefe philosophische Bildung. Aber der Fähige konnte sie erwerben.
16622 Und dies beruhte wieder darauf, daß die Beherrschung der Natur
16623 durch Erkenntnis die unmittelbare Quelle des Reichtums in der
16624 Sonnenstrahlung erschlossen hatte.
16626 Andere wieder behaupteten, die Staatsform der Martier sei durchaus
16627 kommunistisch. Auch hierfür schien manches zu sprechen. Denn wenn
16628 auch, was Ell nicht genügend hervorgehoben hatte, die Verwaltung
16629 der großen Betriebe der Strahlungssammlung, des Verkehrs und so
16630 weiter tatsächlich in der Hand von Privatgesellschaften lag, so war
16631 doch das Anlagekapital Staatseigentum. Es existierte auch eine
16632 staatliche Konzentration der wirtschaftlichen Tätigkeit, obwohl
16633 diese der Arbeit des einzelnen völlig freie Hand ließ und
16634 keineswegs die Güterproduktion durch Vorschriften regelte. Aber die
16635 Zentralregierung, deren Mitglieder auf eine zwanzigjährige
16636 Amtsdauer erwählt wurden, setzte unter Einwilligung des Parlaments
16637 einen ›Strahlungsetat‹ fest, das heißt, es war dadurch für ein Jahr
16638 im voraus bestimmt, welches Maximum von Energie der Sonne
16639 entnommen, also auch welches Maximum mechanischer Arbeit auf dem
16640 Planeten geleistet werden konnte. Sie setzte auch ein bestimmtes
16641 Kapital fest, das jeder als ein zinsloses Darlehen in Anspruch
16642 nehmen konnte, falls seine eignen Arbeitsmittel durch ungünstige
16643 Verhältnisse in Verlust geraten waren. Im übrigen aber war ein
16644 jeder auf seinen eigenen Fleiß angewiesen.
16646 Auf dem Kulturstandpunkt der Menschheit erschienen die
16647 Einrichtungen des Mars als Utopien, und mit Recht; denn sie setzten
16648 eben Staatsbürger voraus, die in einer hunderttausendjährigen
16649 Entwicklung sich sittlich geschult hatten und theoretisch an der
16650 rechten Stelle alle die Mittel gleichzeitig zu benutzen wußten,
16651 deren Gebrauch im Lauf der sozialen Lebensformen nach irgendeiner
16652 Seite erprobt worden war. Ein Teil der Regierungen der Erdstaaten
16653 befürchtete nun, daß das Beispiel der Martier die Veranlassung zu
16654 übereilten Reformen, vielleicht zu gewaltsamen Umwälzungen geben
16655 würde. Die agrarische Bevölkerung geriet in Bestürzung über die
16656 drohende Konkurrenz der Lebensmittelfabrikation ohne Vermittlung
16657 der Landwirtschaft. Auf der anderen Seite begrüßten die
16658 Arbeiterschaft und alle für schnellen Kulturfortschritt
16659 enthusiasmierten Gemüter die Martier als die Erlöser aus der Not,
16660 deren Erscheinen nun bald bevorstünde. Durchweg aber war man im
16661 unklaren, was geschehen würde und was geschehen solle.
16663 Als im Oktober die Parlamente der meisten Staaten zusammentrafen,
16664 gab es überall Interpellationen an die Regierungen über die
16665 Marsfrage. Und überall lautete die Antwort ausweichend dahin, es
16666 fänden Erwägungen statt über einen allgemeinen Staatenkongreß,
16667 worüber man indessen Näheres noch nicht mitteilen könne. Überall
16668 sprachen dann die Führer der verschiedenen Parteien die Ansichten
16669 über den Mars aus, die sie vorher in ihren Blättern hatten drucken
16670 lassen. Einige wollten die Martier enthusiastisch aufnehmen, andere
16671 sie dilatorisch behandeln, andere sie überhaupt von der Erde
16672 zurückweisen. Wie man das machen solle, wußte freilich niemand zu
16673 sagen. Der Erfolg war jedoch in allen Staaten der gleiche: neue
16674 Bewilligungen zur Vermehrung des Heeres und der Flotte.
16676 Zum Glück für die Regierungen, die dadurch Zeit zur Beratung
16677 gewannen, hörte man nun nichts mehr von den Martiern. Das
16678 Luftschiff ließ sich nicht wieder sehen, die Martier schienen
16679 verschwunden.
16681 Da plötzlich kam im Januar die Nachricht vom Wiedererscheinen eines
16682 Luftschiffs in Sydney. Am 2. Januar telegraphierte der Gouverneur
16683 von Neusüdwales nach London, daß in Sydney mehrere Luftschiffe
16684 eingetroffen seien, bestimmt, eine außerordentliche Gesandtschaft
16685 der Marsstaaten nach London zu bringen, falls die englische
16686 Regierung sich bereit erkläre, mit derselben wie mit der
16687 bevollmächtigten Gesandtschaft einer anerkannten Großmacht zu
16688 unterhandeln. Die Martier hatten sofort in Sydney einen berühmten
16689 Rechtsanwalt als Agenten engagiert, der die Verhandlungen mit den
16690 Behörden führte. Daß sie vom Mars mehr als 2.000 Kilogramm Gold in
16691 Barren mitgebracht und bei der Bank of New South Wales deponiert
16692 hatten, war eine so vorzügliche Empfehlung, daß ganz Neusüdwales
16693 für sie eingenommen war.
16695 Die diplomatischen Verhandlungen waren inzwischen nicht
16696 weitergekommen. Auf Englands erneute Anregung einigte man sich
16697 jetzt endlich dahin, daß man die Marsstaaten als politische Macht
16698 anerkennen wolle, wenn sie gewisse Garantien gäben, daß sie sich
16699 dem auf der Erde geltenden Völkerrecht unterwärfen. Daraufhin
16700 beantwortete die englische Regierung die Depesche der Marsstaaten
16701 im Prinzip bejahend, knüpfte aber verschiedene Bedingungen an die
16702 Bewilligung weiterer diplomatischer Verhandlungen. Sie verlangte
16703 von den Martiern außer der Anerkennung der völkerrechtlichen
16704 Gewohnheiten der zivilisierten Erdstaaten, daß genau festgesetzt
16705 werde, worüber mit der Gesandtschaft verhandelt werden solle, und
16706 daß kein anderer Punkt zur Verhandlung käme, nachdem man die
16707 Martier in London zugelassen habe. Ihrerseits versprach natürlich
16708 die Regierung der Gesandtschaft den völkerrechtlichen Schutz auf
16709 der Erde.
16711 Der Bevollmächtigte der Marsstaaten, Kal, ging hierauf ohne
16712 weiteres ein und stellte folgende Forderungen zur Verhandlung in
16713 einer Depesche vom 22. Januar:
16715 1) Formelle Entschuldigung der englischen Regierung wegen des
16716 Angriffs, den die Mannschaft des Kanonenboots auf die beiden
16717 Martier und der Kapitän auf das Luftschiff unternommen hatten.
16719 2) Bestrafung des Kapitäns Keswick und des Leutnants Prim.
16721 3) Entschädigung für die beiden Martier von je hunderttausend
16722 Pfund.
16724 4) Anerkennung der Hoheitsrechte der Marsstaaten auf die
16725 Polargebiete der Erde jenseits des 87. Grades nördlicher und
16726 südlicher Breite.
16728 5) Anerkennung der Gleichberechtigung der Martier mit allen andern
16729 Nationen in bezug auf Niederlassung, Verkehr, Handel und Erwerb.
16731 Gleichzeitig depeschierte Kal an die Regierungen aller größeren
16732 Staaten den Wunsch der Marsstaaten, über die beiden letzten Punkte
16733 in Verhandlung zu treten.
16735 Die Antworten ließen auf sich warten. Die Regierungen der Erde
16736 verhandelten zunächst untereinander, da sie in ihren
16737 vorangegangenen Verabredungen übereingekommen waren, gemeinsam
16738 vorzugehen, falls die Martier mit allgemeinen Fragen des
16739 internationalen Verkehrs an sie herantreten sollten. Die
16740 Vereinigten Staaten, Frankreich, Italien und Japan traten dafür
16741 ein, den Martiern entgegenzukommen, Deutschland, Österreich-Ungarn
16742 und andere zögerten noch, Rußland verhielt sich ablehnend. Die
16743 englische Regierung war zuerst geneigt, Verhandlungen einzuleiten.
16744 Aber sobald die Forderungen der Martier in der Bevölkerung bekannt
16745 geworden waren, erhob sich ein allgemeiner Entrüstungssturm. Das
16746 Nationalgefühl forderte ungestüm die Ablehnung des Ansinnens der
16747 Martier, das britische Selbstbewußtsein lasse nicht zu, daß man mit
16748 einem Haufen Abenteurer in Verhandlungen über Entschuldigungen und
16749 Entschädigungen trete. Es kam zu einer bewegten Parlamentssitzung,
16750 in welcher das friedlich gestimmte Ministerium gestürzt wurde. Ein
16751 Toryministerium, zu entschiedenem Vorgehen geneigt, trat an die
16752 Stelle und erklärte sofort, daß es jede weitere Unterhandlung mit
16753 den Marsstaaten zurückweise. Die ablehnende Note, welche nach
16754 Sydney zur Mitteilung an den Gesandten der Marsstaaten geschickt
16755 wurde, war in sehr kühlem und herablassendem Ton gehalten.
16757 Die übrigen Staaten hatten jetzt, nachdem England eigenmächtig
16758 vorgegangen war, keine Veranlassung, sich gegenseitig zu binden,
16759 und erklärten nunmehr sämtlich im Prinzip sich zu Unterhandlungen
16760 bereit, indem sie sich jedoch völlige Freiheit ihrer weiteren
16761 Entschließungen vorbehielten.
16763 Sobald die Martier in Sydney aus den Zeitungen, die sie aufs
16764 sorgfältigste verfolgten, entnommen hatten, daß sie in England
16765 vermutlich auf kein Entgegenkommen rechnen durften, sandte Kal nach
16766 dem Mars die Lichtdepesche, derzufolge die verabredeten
16767 Verstärkungen abzusenden seien. Ein Luftschiff vermittelte täglich
16768 den Verkehr zwischen Sydney und dem Südpol, von dessen Außenstation
16769 die Lichtdepeschen abgingen. Aber auch schon vorher hatte sich eine
16770 ansehnliche Macht am Südpol angesammelt. Es waren drei neue
16771 Raumschiffe angelangt, nachdem die früheren, um ihnen Platz zu
16772 machen, zurückgegangen waren, und hatten neue Luftschiffe und
16773 Mannschaften gelandet. Gegenwärtig befanden sich bereits
16774 vierundzwanzig Luftschiffe am Südpol, sämtlich mit Nihilitpanzern,
16775 Repulsitgeschützen und Telelyten ausgerüstet, eine furchtbare
16776 Macht, deren militärischen Oberbefehl ein energischer Martier aus
16777 dem Norden namens Dolf führte. Es ließ sich berechnen, daß binnen
16778 vier Wochen die Streitmacht der Martier auf 48 Fahrzeuge
16779 angewachsen sein würde. Mit dem letzten der Raumschiffe, dessen
16780 Ankunft im März zu erwarten war, wollte Ill selbst eintreffen, um
16781 die Leitung der Erdangelegenheiten zu übernehmen. Inzwischen hatte
16782 man Kal eine Anzahl anderer bedeutender Männer zur Seite gestellt,
16783 die als Gesandte an die Regierungen der Großmächte gehen sollten.
16785 Als die Note der großbritannischen Regierung Kal übermittelt war,
16786 telegraphierte sie dieser sofort nach dem Mars. Die Antwort traf
16787 noch denselben Tag ein. Sie besagte nur, daß Kal genau nach den
16788 Instruktionen verfahren solle, welche für den Fall einer
16789 ablehnenden Haltung Englands festgesetzt seien. Am 15. März sei das
16790 Hauptquartier nach dem Nordpol zu verlegen, woselbst im Laufe des
16791 März nach und nach noch vierundzwanzig Raumschiffe mit
16792 durchschnittlich je sechs Luftschiffen eintreffen würden. Damit
16793 würde die Macht der Martier auf der Erde auf 144 große und eine
16794 Anzahl kleinerer Luftschiffe mit 3.456 Mann gebracht sein, eine
16795 Flotte, die den Martiern genügend schien, den Kampf im Notfall mit
16796 der gesamten Erde aufzunehmen.
16798 Die Note der englischen Regierung war vom 18. Februar datiert. Am
16799 zwanzigsten erfolgte die Antwort Kals. Sie besagte, daß die
16800 Regierung der Marsstaaten hiermit an die großbritannische Regierung
16801 das Ultimatum richte, bis zum 1. März sämtliche gestellte
16802 Forderungen zuzugestehen, widrigenfalls sich die Marsstaaten als im
16803 Kriegszustand mit England betrachten würden. Diese Erklärung wurde
16804 gleichzeitig allen andern Regierungen mitgeteilt.
16806 Am 23. Februar drängte sich in Berlin auf der Wilhelmstraße, Unter
16807 den Linden und vor dem königlichen Schloß eine ungeheure
16808 Menschenmenge. Es hatte sich das Gerücht verbreitet, eine
16809 Gesandtschaft der Martier sei eingetroffen, sie befinde sich im
16810 Palais des Reichskanzlers und werde vom Kaiser empfangen werden.
16811 Die Schaulust der Menge sollte jedoch nicht befriedigt werden,
16812 dagegen wurde der gesamten Bevölkerung eine andere Überraschung
16813 zuteil durch eine Nachricht, welche der Reichsanzeiger in einer
16814 Extraausgabe brachte. Es wurde darin mitgeteilt, daß sich
16815 allerdings in der Nacht eine Gesandtschaft der Martier in Berlin
16816 befunden, die Stadt aber bereits am Morgen verlassen habe. Die
16817 Beziehungen zur Regierung der Marsstaaten seien äußerst
16818 freundliche, und man hoffe, daß auch ein Einvernehmen mit England
16819 hergestellt werden würde. Bald darauf teilte der Telegraph aus
16820 allen Hauptstädten ähnliche Nachrichten mit.
16822 In aller Stille nämlich hatten die Martier mit den Mächten einzeln
16823 verhandelt, und in der Nacht vom 22. zum 23. Februar waren
16824 gleichzeitig in Washington, Paris, Berlin, Wien, Rom und Petersburg
16825 Gesandtschaften der Martier heimlich eingetroffen, um durch
16826 mündlichen Verkehr mit den leitenden Staatsmännern die Lage zur
16827 Klärung zu bringen. In Berlin hatte ein Luftschiff mehrere Stunden
16828 im Garten des Reichskanzlerpalais gelegen, und der martische
16829 Gesandte hatte sich mit dem Reichskanzler besprochen. Aber weder
16830 aus Deutschland noch aus irgendeinem andern Staat konnte man
16831 erfahren, was der Gegenstand und das Resultat dieser Unterredungen
16832 gewesen sei. Man vermutete, daß es sich um Erklärungen der Martier
16833 über ihre Absichten und um die Vermittlung der Mächte zwischen den
16834 Marsstaaten und Großbritannien handle. Man bezweifelte nicht, daß
16835 die Martier friedliche Versicherungen gemacht hätten, aber man
16836 setzte kein Vertrauen darauf, daß die Vermittlungsvorschläge der
16837 Mächte bei England günstige Aufnahme finden würden.
16839 Sie waren wohl auch hauptsächlich in der Absicht zugesagt, die
16840 Geschäftswelt einigermaßen zu beruhigen; denn auf die erste
16841 Nachricht vom Ultimatum der Martier hatten die Börsen aller Länder
16842 mit einem gewaltigen Sturz aller englischen Werte geantwortet, und
16843 die dadurch eingerissene Panik dauerte fort. Die Nachrichten aus
16844 England aber wurden nicht günstiger. Die Stimmung war kriegerisch.
16845 Nur wenige Blätter wagten einem Nachgeben gegen die Martier das
16846 Wort zu reden, und sie wurden tumultuarisch überschrien. Krieg
16847 gegen den Mars war die Losung geworden. Krampfhaft rüstete man in
16848 Heer und Flotte, obwohl man nicht wußte, in welcher Form man einen
16849 Angriff zu gewärtigen habe. Fieberhafte Tätigkeit herrschte in den
16850 Arsenalen und Werkstätten, wo man hauptsächlich damit beschäftigt
16851 war, die Konstruktion der Geschütze so umzuändern, daß sie eine
16852 größere Elevation gestatteten. Denn man erwartete, den Kampf mit
16853 einem Gegner führen zu müssen, der sich in der Luft befand. Man
16854 tröstete sich mit der Sicherheit, daß die Martier jedenfalls nicht
16855 imstande seien, außerhalb ihrer Luftschiffe irgend etwas
16856 auszurichten, weil ihre Körper unter dem Einfluß der Erdschwere zu
16857 Kraftleistungen, ja zur einfachen Bewegung untauglich seien. Man
16858 hoffte daher, wenn man sich nur die Luftschiffe vom Halse halten
16859 konnte, nichts Ernstliches zu befürchten zu haben und den auf der
16860 Erde fremden Gegner bald zu ermüden.
16862 \section{40 - Ismas Leiden}
16864 Inzwischen war man auf dem Mars recht ungeduldig. Nachdem die
16865 Abreise des ersten Raumschiffs sich bereits verzögert hatte,
16866 vergingen weitere fünfundzwanzig Tage, bis die erste kurze
16867 Lichtdepesche die glückliche Ankunft desselben auf der Außenstation
16868 am Südpol der Erde meldete. Dann dauerte es wieder einige Tage, bis
16869 man erfuhr, daß die übrigen Raumschiffe ebenfalls angelangt und die
16870 Luftschiffe in Betrieb gesetzt seien. Die Verzögerung der Antwort
16871 seitens der britischen Regierung wirkte verstimmend. Man war daher
16872 angenehm überrascht, als man vernahm, daß die Regierung zu einem
16873 tatkräftigen Vorgehen entschlossen war, und als das Ultimatum an
16874 England bekannt wurde, wurden dem Zentralrat und insbesondere Ill
16875 lebhafte Ovationen dargebracht. Die nach der Erde mit Verstärkung
16876 abgehenden Schiffe wurden mit begeisterten Abschiedshuldigungen
16877 gefeiert. Man bedauerte nur, daß die Nachrichten von der Erde so
16878 kurz und spärlich waren, weil man auf den schwierigen Verkehr durch
16879 Lichtdepeschen angewiesen war.
16881 Mit Spannung sah man der Rückkehr des ersten Raumschiffes entgegen,
16882 welches ausführlichere Nachrichten bringen mußte. Aber da die
16883 Planeten jetzt von Tag zu Tag sich weiter voneinander entfernten,
16884 dauerte die Überfahrt länger. Jetzt war seine Ankunft indessen
16885 jeden Tag zu erhoffen. Ill wollte nur dieses Ereignis abwarten, um
16886 sich selbst nach der Erde zu begeben.
16888 Niemand aber ersehnte die Ankunft des Schiffes ungeduldiger als
16889 Isma. Sollte es ihr doch Nachrichten von der Erde bringen. Sie
16890 wußte zwar, daß sie mit diesem Schiff noch keinen Brief von ihrem
16891 Mann erhalten konnte, denn es hatte die Erde verlassen, ehe eine
16892 Antwort auf ihr Schreiben in Sydney eintreffen konnte. Aber sie
16893 hoffte auf Zeitungen, die ja über die Rückkehr Torms Auskunft geben
16894 mußten.
16896 Isma lebte einsam und traurig in Ills Haus, und alle Bemühungen der
16897 guten Frau Ma, sie zu erheitern, waren vergeblich. Ell begleitete
16898 Ill auf seinen häufigen Reisen nach dem Südpol und der
16899 Schiffsbaustätte. Bei Isma ließ er sich nicht mehr sehen, und
16900 heimlich bereute sie ihre leidenschaftliche Trennung von dem alten
16901 Freund. La war in der Ferne. Zu andern Martiern vermochte sie in
16902 kein vertrauteres Verhältnis zu kommen. Ihr einziger näherer Umgang
16903 war Saltner, der seinen Sprachunterricht in Kla wieder aufgenommen
16904 hatte. Aber auch er war nicht mehr der übermütige, lustige Mann wie
16905 früher, und Isma bemerkte wohl, daß ihn noch eine andere Sorge
16906 drückte als das Heimweh und der Kummer um das Schicksal der
16907 Menschen. Und doch war es schon schwer genug, hier in der
16908 Verbannung zu leben, während das Vaterland in drohendster Gefahr
16909 schwebte.
16911 Und endlich, heute war die Depesche gekommen, daß das Raumschiff in
16912 der Nacht gelandet sei. Kaum vermochte Isma ihre Aufregung zu
16913 beherrschen. Doch die Aufgaben des Tages mußten erledigt werden,
16914 sie zwang sich zur Ruhe, obwohl sie bei jedem Geräusch hoffte, man
16915 bringe die ersehnten Nachrichten.
16917 \tb{}
16918 Die französische Konversationsstunde war beendet. Isma schloß die
16919 Klappe des Fernsprechers und setzte sich an ihren Schreibtisch. Er
16920 war ein Geschenk Ells, der ihn nach dem Muster ihres Schreibtisches
16921 in Friedau aus der Erinnerung so gut wie möglich hatte herstellen
16922 lassen, weil er wußte, daß Isma die Schreibmaschine und die Möbel
16923 der Martier nicht sehr liebte. Sie zog wieder ihr Tagebuch hervor.
16924 Die Zeitrechnung machte ihr Schwierigkeiten, denn der Marstag war
16925 um 37 Minuten länger als der Erdentag, da sie aber stets einen
16926 Marstag gleich einem Erdentag in ihrem Buch gerechnet hatte, so
16927 mußte sie alle neununddreißig Tage einen Erdentag überspringen, um
16928 nicht gegen den Kalender der Erde zu weit zurückzubleiben. Das war
16929 nun jetzt zum viertenmal der Fall – so lange weilte sie auf dem
16930 Mars! Sie fand, daß heute auf der Erde der 27. Februar sei, ein
16931 Sonntag! Und der Geburtstag ihres Mannes! Wie glücklich hatte sie
16932 diesen Tag sonst verlebt, und mit welchen Hoffnungen im vorigen
16933 Jahr! Und wo mochte Hugo jetzt weilen? Der Trost, den seine Rettung
16934 ihr gewährte, hatte nur auf kurze Zeit angehalten. Die
16935 Unmöglichkeit, sich mit ihm so zu verständigen, wie es ihr Herz
16936 verlangte, erhöhte nur ihre Sehnsucht und ihre Sorge. Was hatte er
16937 von ihr gehört, in welchem Licht mußte sie ihm erscheinen, wie
16938 würde er ihre Handlungsweise beurteilen? Konnte er ihr Glauben
16939 schenken? Wie enttäuscht und einsam mußte er sich fühlen wenn er
16940 das Haus leer fand, wo er sein Glück wiederzufinden hoffte!
16942 Das Herabfallen der Fernsprechklappe schreckte sie aus ihren
16943 Gedanken.
16945 „Liebe Isma, sind Sie da? Ja? Ich bringe Ihnen etwas!“ Es war die
16946 Stimme von Frau Ma. Im Augenblick war Isma aufgesprungen. Schon
16947 erschien Ma an der Tür.
16949 „Da, Frauchen“, rief sie, „da haben Sie die ganze Post für Sie. Ein
16950 großes Paket, nicht wahr? Ill hat alle deutschen Zeitungen
16951 aufkaufen lassen, die in Sydney zu haben waren. Und nun ängstigen
16952 Sie sich nicht, es wird alles gut werden. Ich will Sie jetzt nicht
16953 stören.“ Sie küßte Isma auf die Stirn und ging.
16955 Das Paket, von einem leichten Korbgeflecht umhüllt, lag auf dem
16956 Tisch. Ismas Hände zitterten, als sie den Verschluß auseinanderbog.
16957 Ein Haufen Zeitungen lag vor ihr. Sie setzte sich und zwang sich
16958 zur Ruhe. Systematisch nahm sie ein Blatt nach dem andern zur Hand,
16959 sah nach dem Datum und entfaltete es. Die Blätter waren offenbar
16960 schon von einer kundigen Hand geordnet. Das erste war vom 24.
16961 September vorigen Jahres. Gleich nach dem Leitartikel enthielt es
16962 in fettem Druck die Nachricht, daß das englische Kanonenboot
16963 ›Prevention‹ auf der Rückkehr begriffen sei. Es habe in der Nähe
16964 von Grinnell-Land einen siegreichen Kampf mit einem Luftschiff,
16965 angeblich den Bewohnern des Planeten Mars gehörig, bestanden. An
16966 Bord befinde sich der Leiter der deutschen Nordpolexpedition, Torm,
16967 der von wandernden Eskimos dahin gebracht sei – – –
16969 Isma las nicht weiter. Sie ergriff ein neues Blatt. „Torm in
16970 London.“ Sie überflog nur die Zeilen. „Tiefergreifend wirkten auf
16971 den kühnen Forscher die Nachrichten über das Schicksal der übrigen
16972 Expeditionsmitglieder, insbesondere die glückliche Heimkehr
16973 Grunthes und die Rettung der wissenschaftlichen Resultate. Aber
16974 alles tritt im Augenblick in den Hintergrund gegenüber der
16975 Tatsache, daß die Martier –“ – Weiter – „Der Festabend der
16976 geographischen Gesellschaft litt unter der getrübten Stimmung des
16977 Gefeierten, den traurige Familiennachrichten niederdrückten –“
16979 Isma seufzte tief. Sie vermochte kaum zu lesen. Jeden Augenblick
16980 fürchtete sie auf ihren Namen zu stoßen und die Verleumdung
16981 öffentlich ausgesprochen zu sehen. Aber es war nichts weiter
16982 gesagt. Ein anderes Blatt! „Torm in Hamburg. Begeisterter Empfang.“
16983 – Weiter! „Torm in Berlin. – Rührendes Wiedersehen von Torm und
16984 Grunthe. – Allgemein bedauerte man die Abwesenheit Friedrich Ells,
16985 des geistigen und pekuniären Vaters der Expedition, der sich
16986 bekanntlich nach dem Mars begeben hat. – Wie wir hören,
16987 beabsichtigt Torm, seinen Wohnsitz vorläufig in Berlin zu nehmen
16988 –“
16990 Isma atmete auf. Diese Zeitung wenigstens schien diskret zu sein –
16991 man wollte offenbar den verdienten Forscher schonen.
16993 Und sie, sie sollte schuld sein, daß man ihn schonen mußte? Was
16994 mochten andere von ihr sagen? Und warum sagte man nicht offen,
16995 weshalb sie fortgegangen war – Grunthe wußte es doch, er konnte sie
16996 rechtfertigen.
16998 „Es glaubt ihm niemand!“ Wie ein Schrei entrang es sich Isma.
16999 Mechanisch blätterte sie weiter. Da haftete ihr Auge auf einer
17000 Stelle.
17002 „Infolge der gehässigen Angriffe, die von gewissen Blättern gegen
17003 den Martier-Sohn Friedrich Ell gerichtet werden und die sich
17004 bemühen, die Gattin unseres großen Landsmanns Torm zu verleumden,
17005 sehen wir uns gezwungen, von unserm Grundsatz abzugehen, wonach wir
17006 um persönlichen Klatsch uns nicht kümmern. Wir sind jedoch in der
17007 Lage, aus bester Quelle jene schamlosen Hetzereien zurückzuweisen,
17008 die, soviel wir wissen, ihren Ursprung aus einem Artikel des
17009 Friedauer Intelligenzblattes genommen haben. Es war dort gesagt,
17010 jedermann in Friedau wisse, daß zwischen Ell und Frau Torm intime
17011 Beziehungen seit Jahren bestanden hätten. Die Polarexpedition, so
17012 deutete man an, sei von Ell angeregt, um Torm zu entfernen. Auf die
17013 Nachricht von seiner zu erwartenden Rückkehr habe Frau Torm ihr
17014 Haus verlassen und sei aus Friedau verschwunden. Man vermute, daß
17015 sie mit ihrem Freund nach dem Mars gegangen sei, und so weiter. –
17016 Dies alles ist erbärmliche Lüge. Herr Dr. Karl Grunthe, der
17017 Begleiter Torms, an dessen Wahrhaftigkeit wohl selbst das Friedauer
17018 Intelligenzblatt nicht zu zweifeln wagen wird, schreibt uns, daß
17019 Frau Torm in seiner Gegenwart in einer mit Ell geführten
17020 Unterredung sich entschlossen habe, das Luftschiff der Martier zu
17021 benutzen, um auf demselben Nachforschungen nach dem Verbleib ihres
17022 verschollenen Gemahls anzustellen und die Rettung desselben zu
17023 betreiben. Ohne Zweifel ist es dasselbe Luftschiff, welches in
17024 Konflikt mit dem englischen Kanonenboot ›Prevention‹ geraten ist,
17025 zu einer Zeit, als sich Torm noch bei den Eskimos befand. Nicht
17026 aufgeklärt bleibt nur, warum das Luftschiff Friedau eher als
17027 geplant, mitten in der Nacht, verlassen hat und warum es dann,
17028 entgegen der Zusage des Befehlshabers, nicht nach Friedau
17029 zurückgekehrt ist. Man kann hieraus die Befürchtung ziehen, daß ihm
17030 irgendein Unglücksfall zugestoßen ist, und dies um so mehr, als der
17031 Kapitän Keswick versichert, durch seine Beschießung das Luftschiff
17032 beschädigt zu haben. Alle andern Schlüsse aber sind als
17033 Verleumdungen zurückzuweisen. Der heldenmütige Entdecker des wahren
17034 Nordpols, den der unerklärliche Verlust seiner geliebten Gattin
17035 tief niederdrückt, verdiente wohl, daß man ihn im eigenen Vaterland
17036 nicht noch in seinem Teuersten beschimpft.“
17038 Die Nummer der Zeitung war bereits vom November des vorigen Jahres.
17039 Die folgenden Nummern, die bis zum Anfang Januar dieses Jahres
17040 reichten, schienen nichts weiter über diese Angelegenheit zu
17041 enthalten. Wenigstens fand Isma beim eiligen Durchblättern keine
17042 dahinzielende Notiz, und sie hoffte schon, die Erklärung habe ihre
17043 Wirkung getan.
17045 Isma saß lange unfähig ihre Gedanken zu ordnen, den Kopf in die
17046 Hände gestützt. Dann begann sie weiterzusuchen. Es folgten jetzt
17047 Exemplare anderer Zeitungen, sogar einige Witzblätter. Da sah sie
17048 mit Abscheu und Entsetzen, daß man offenbar im großen Publikum sich
17049 nicht an die gegebene Aufklärung kehrte. Wo von Ell die Rede war –
17050 und sein Buch über die Martier wurde überall erwähnt – da fand sich
17051 auch irgendeine hämische oder witzelnde Bemerkung. Was mußte Torm
17052 dabei fühlen! Isma wollte nichts mehr sehen, sie ballte die Hände
17053 zusammen. Da erblickte sie auf der halbgebrochenen Seite eines
17054 Witzblattes unverkennbar das Gesicht Torms – sie schlug das Blatt
17055 auf. Es war eine Karikatur – Torm in einem Luftballon auf dem
17056 Nordpol, über ihm ein Luftschiff der Martier, worin Ell und Isma
17057 ihm lange Nasen drehen – – Sie las nicht, was darunter stand, sie
17058 sprang auf und ergriff den Rest der noch nicht durchblätterten
17059 Papiere, um sie fortzuschleudern.
17061 Da, was fällt da herab? Ein zusammengelegtes, geschlossenes Papier
17062 – eine telegraphische Depesche – ein Formular des Telegraphenamts
17063 in Sydney – die Adresse ist in englischer Sprache geschrieben – ›An
17064 die Gesandtschaft der Marsstaaten für Frau Torm‹.
17066 Isma reißt das Papier auf. Der Inhalt ist deutsch, mit lateinischen
17067 Buchstaben von einer englischen Hand geschrieben. Die Buchstaben
17068 tanzen vor ihren Augen, sie kann sie kaum entziffern.
17070 „Berlin, den 6. Januar. Herzlichen Dank für die Aufklärung durch
17071 dein langes, liebes Telegramm! Das Mißgeschick, das dich fernhält,
17072 schmerzlich betrauernd, sende ich innige Grüße in treuer Liebe und
17073 erhoffe baldiges, ungetrübtes Wiedersehen. Dein Torm!“
17075 Das Telegramm entsank ihrer Hand, und ihre nervöse Spannung löste
17076 sich in einem schluchzenden Weinen. Eine direkte Nachricht hatte
17077 sie nicht erwartet. Sie wußte, daß die Martier am 2. Januar nach
17078 Sydney gekommen waren und das Raumschiff bereits Mitte Januar die
17079 Erde wieder verlassen hatte. In dieser Zeit konnte kein Brief nach
17080 Berlin gelangen. Dein langes, liebes Telegramm! Also man war so
17081 aufmerksam gewesen, ihren ganzen Brief an Torm zu telegraphieren.
17082 Ein leichter Schreck durchzog ihr sparsames Hausfrauenherz, wenn
17083 sie an die ungeheuren Kosten dieses Riesentelegrammes dachte. Aber
17084 es versöhnte sie einigermaßen mit der Hartnäckigkeit der Martier,
17085 nur offene Briefe zuzulassen. Sie war glücklich über das Telegramm,
17086 das kein Wort des Vorwurfs enthielt, und doch wie wenig sagte es!
17087 Aber was kann man auch in einem Telegramm sagen! Sie las die
17088 wenigen Zeilen immer wieder.
17090 Ma trat in das Zimmer.
17092 „Sitzen Sie nun schon zwei Stunden über den Blättern, Frauchen? Und
17093 geweint haben Sie auch? Ärgern Sie sich nur nicht. Was gibt es
17094 denn?“
17096 Isma versuchte zu lächeln. „Hätte ich nur das Telegramm eher
17097 gefunden“, sagte sie, „so hätten mich die dummen Menschen weniger
17098 gekränkt.“
17100 „Aber Sie haben ja den Korb auf der falschen Seite geöffnet – es
17101 hat doch wahrscheinlich obenauf gelegen. Und nun kommen Sie gleich
17102 einmal mit mir! Saltner ist da, er hat auch Nachrichten, von seiner
17103 Mutter und von Grunthe. Und Ell hat die Depesche hergeschickt, die
17104 er von Ihrem Mann bekommen hat. Es ist doch nett von Ell, daß er
17105 alle euere Briefe an ihre Adresse hat telegraphieren lassen und
17106 sofortige telegraphische Antwort bestellt hat.“
17108 Isma erhob sich. „Ich komme sogleich“, sagte sie.
17110 Also Ell hatte sie es zu verdanken, daß sie schon eine Antwort
17111 bekommen hatte! Während sie ihre Augen kühlte und ihr Haar ordnete,
17112 bedrückte sie der Gedanke, daß ihr Brief zwanzig Seiten, eng
17113 beschrieben – das waren gewiß an die viertausend Worte – enthalten
17114 hatte. Wenn Ell das alles telegraphieren ließ, das war ja eine
17115 Depesche für zwanzigtausend Mark! Früher hätte sie bei Ell
17116 überhaupt nicht daran gedacht, daß zwischen ihnen ein Abwägen des
17117 Gebens oder Nehmens bestehen könne, aber jetzt war es ihr peinlich,
17118 sich so verpflichtet zu fühlen.
17120 Bei ihrem Eintritt in das Empfangszimmer hielt ihr Saltner zuerst
17121 freudestrahlend ein Telegramm entgegen, das sie gar nicht zu
17122 entziffern vermochte. Es war von seiner Mutter. Aus den
17123 abgebrochenen, nicht ganz dialektfreien Sätzen, welche die gute
17124 Frau in der Absicht, recht kurz zu sein, gebaut hatte, war durch
17125 den englischen Telegraphisten ein unmögliches Kauderwelsch
17126 geworden. Saltner aber genügte es vollständig, daraus die Freude
17127 der Mutter über sein Wohlbefinden zu ersehen, und jedes
17128 verstümmelte Wort machte er mit rührender Sorgfalt zu einem
17129 besonderen Studium.
17131 Grunthe hatte nur kurz an Saltner telegraphiert, daß die plötzliche
17132 Abreise Ells sehr störend für die Stimmung der Bevölkerung in bezug
17133 auf die Martier sei, da er selbst die gegen Ells Schriften
17134 erhobenen Bedenken nicht genügend widerlegen könne. Die politischen
17135 Verhältnisse bezeichnete er als ziemlich trostlos; seine Ansicht,
17136 daß man alle von den Martiern gestellten Forderungen bewilligen
17137 müsse, um ihnen jede Veranlassung zu nehmen, sich in die
17138 menschlichen Angelegenheiten einzumischen, finde wenig Anhänger.
17139 Man unterschätze die Macht der Martier und baue auf ihre
17140 Unfähigkeit, sich außerhalb ihrer Schiffe auf der Erde zu bewegen,
17141 während doch rückhaltloses Vertrauen und reiner Wille die einzigen
17142 Mittel sein würden, den Einfluß der Nume zum Besten zu lenken.
17144 Isma hatte die Zeilen nur durchflogen, um nun in Ruhe Torms langes
17145 Telegramm an Ell zu lesen. Es trug das Datum vom 8. Januar.
17146 Zunächst war es rein geschäftlich gehalten, ein Bericht des Leiters
17147 der Nordpolexpedition an deren Veranstalter. Was Isma am meisten
17148 interessierte, die persönlichen Schicksale Torms, war nur kurz
17149 geschildert. Dann aber hieß es:
17151 „Ich bedauere tief, daß Sie den heldenmütigen, aber übereilten
17152 Entschluß meiner Frau unterstützten und Friedau unter so
17153 ungewöhnlichen Umständen verließen. Mir persönlich, wie dem
17154 allgemeinen Interesse entstehen dadurch Schwierigkeiten, die sich
17155 noch gar nicht absehen lassen. Bieten Sie allen Einfluß auf, um
17156 Ismas Rückkehr zu ermöglichen, und kommen Sie selbst, um Ihre Sache
17157 zu führen. Wirken Sie darauf hin, daß die Marsstaaten keine anderen
17158 Bestrebungen verfolgen, als ganz allmählich einige ihrer
17159 technischen Fortschritte uns zugänglich zu machen. Von jeder
17160 direkten Einwirkung befürchte ich Unheil für die Menschen. Ich
17161 bleibe vorläufig in Berlin. Leider scheint in den maßgebenden
17162 Kreisen Entschlußlosigkeit zu herrschen. Ich bestätige dankend den
17163 Empfang der von Ihnen für die nachträglichen Kosten der Expedition
17164 angewiesenen Summe von 100.000 Mark. Torm.“
17166 Isma ließ das Blatt sinken. Sie fühlte sich unsäglich elend. Um
17167 ihren Mann zu retten, hatte sie sich zur Reise entschlossen, und
17168 was hatte sie erreicht! Welche Qualen hatte sie ihm bereitet! Und
17169 den Freund abgezogen von seiner höchsten Pflicht, für den Frieden
17170 der Planeten zu wirken! Und sie selbst, einsam, machtlos, verbannt
17171 – –
17173 Sie sprang auf und faßte Mas Hände.
17175 „Lassen Sie mich fort“, rief sie leidenschaftlich. „Ich muß nach
17176 der Erde, ich muß zu meinem Mann! Ich muß Ell sprechen. Wo ist
17177 er?“
17179 „Aber Frauchen, was ist Ihnen? Zu Ell können Sie jetzt nicht, er
17180 ist nach dem Pol gereist, um mit Ill zu konferieren. Aber beruhigen
17181 Sie sich. Die nächsten Tage werden alles entscheiden. Ich darf
17182 ihnen sagen, wir verhandeln mit den Mächten, auch mit ihrem
17183 Vaterland. Sobald der Frieden gesichert ist, sollen Sie nach
17184 Hause.“
17186 „Ich gehe natürlich mit“, rief Saltner. „Auf Ell rechnen Sie nicht,
17187 für ihn ist es jetzt zu spät, oder noch zu zeitig. Was er versäumt
17188 hat, kann er jetzt nicht einholen. Er hätte mit dem ersten
17189 Raumschiff nach dem Südpol gehen und sich sofort nach Deutschland
17190 begeben müssen. Das wollte er nicht. Es war ein großes Unrecht.“
17192 „Und wann“, seufzte Isma, „wann kommt endlich die Befreiung.“
17194 Ma sprach einige tröstende Worte, als sie plötzlich abberufen
17195 wurde. Schon nach wenigen Minuten kehrte sie zurück.
17197 „Weinen Sie nicht mehr“, sagte sie zu Isma, „ich bringe Wichtiges
17198 für sie, hoffentlich Gutes: Nachricht von Ill. Er hat
17199 telegraphiert, weil es vertraulich ist, und beim Sprechen weiß man
17200 nie, wer zuhört. Nun, ich lese ja schon, hören Sie nur: Soeben
17201 meldet Lichtdepesche, daß sämtliche Großmächte, falls England unser
17202 Ultimatum nicht annimmt, Neutralität erklärt haben. Wir
17203 verpflichten uns gegen Verkehrsfreiheit, jeder Einmischung in
17204 politische Angelegenheiten uns zu enthalten. Leider Annahme des
17205 Ultimatums durch England aussichtslos.“
17207 Saltner sprang auf. „Das ist doch etwas! So wird der Krieg
17208 wenigstens lokalisiert, wenn man so sagen darf. England geht es
17209 freilich an den Kragen, es ist ja traurig. Aber wir haben Frieden,
17210 Gott sei Dank! Nun dürfen wir zurück, nicht wahr?“
17212 „Ich zweifle nicht“, sagte Ma. „Gibt England nicht nach, so geht
17213 übermorgen, sobald Ihr zweiter März anfängt, Raumschiff auf
17214 Raumschiff nach dem Nordpol, und Sie dürfen sicher mitreisen. In
17215 vier bis fünf Wochen können Sie daheim sein. Aber Frauchen, was
17216 machen Sie, wie sehen Sie aus? Gleich kommen Sie mit mir, Sie
17217 müssen in Ihr irdisches Schwerekämmerchen!“
17219 Die Aufregung, die Sorge und nun die plötzliche Aussicht auf
17220 Heimkehr hatten Ismas Widerstandskraft gelähmt. Alles Blut war aus
17221 ihrem Gesicht entwichen, mit bleichen Wangen, einer Ohnmacht nahe,
17222 lag sie auf ihrem Sessel. Ma umfaßte sie und führte sie schonend
17223 auf ihr Zimmer.
17225 \section{41 - Die Schlacht bei Portsmouth}
17227 England hatte das Ultimatum abgelehnt. Hierauf ging an den
17228 Befehlshaber der martischen Streitkräfte auf dem Südpol der Erde
17229 die Weisung, mit Gewaltmaßregeln unnachsichtlich, doch ohne
17230 Blutvergießen vorzugehen.
17232 Am zweiten März erfolgte die Kriegserklärung.
17234 Eine Mitteilung an die Regierungen und eine Proklamation an alle
17235 Völker der Erde besagte, daß vom sechsten März mittags zwölf Uhr an
17236 England und Schottland von jedem Verkehr abgeschnitten sein würden.
17237 Von diesem Zeitmoment an werde die Blockade über die Küste dieser
17238 Länder effektiv sein, und zwar in der Art, daß es keinem Schiff
17239 gestattet sein solle, die Zone von fünf bis zu zehn Kilometer
17240 Abstand von der Küste weder landwärts noch seewärts zu
17241 überschreiten. Alle fremden Schiffe müßten bis dahin die englischen
17242 Häfen verlassen haben.
17244 Man lachte in England darüber als über eine Aufschneiderei der
17245 Martier. Doch als es sich in der Nacht vom zweiten zum dritten März
17246 herausstellte, daß sämtliche Kabel, welche England mit dem
17247 Kontinent und mit Irland verbanden, unterbrochen waren und die
17248 telegraphische Verbindung somit aufgehoben war, ohne daß eines der
17249 vor der Küste kreuzenden Kriegsschiffe bemerkt hatte, wie die
17250 hierzu erforderlichen Arbeiten ausgeführt worden seien, beeilten
17251 sich die in den Häfen befindlichen fremden Schiffe, sich zu
17252 entfernen. Die in England weilenden Ausländer ergriffen
17253 scharenweise die Flucht.
17255 Am Morgen des sechsten März hatten alle fremden Schiffe, die es
17256 irgend ermöglichen konnten, England verlassen. Auch die Postdampfer
17257 legten nicht mehr in den englischen Häfen an. Die Flotte war,
17258 soweit sie nicht in den Kolonien gebraucht wurde, vor Portsmouth
17259 versammelt. Von allen Schiffen, von allen Befestigungen am Land,
17260 von den Anhöhen und den Landhäusern auf Wight spähte man nach dem
17261 Gegner aus, der sich anheischig gemacht hatte, ein Land von 230.000
17262 Quadratkilometern Fläche mit einer Bevölkerung von 35 Millionen,
17263 geschützt von der stärksten Flotte der Erde, vom Weltverkehr
17264 abzusperren. Nichts war zu sehen. Die zwölfte Stunde rückte heran.
17265 Einige Schiffe, die von der Blockade noch nichts gehört hatten,
17266 passierten ungehindert die zu sperrende Zone. Besonders lebhaft war
17267 der Verkehr nach der Insel Wight. Zahlreiche Personendampfer waren
17268 hier unterwegs, Boote aller Art belebten das Wasser. Noch fehlten
17269 wenige Minuten zu zwölf Uhr. Die Kriegsflotte im Hafen ging unter
17270 Dampf. Majestätisch verließ, allen voran, das neue
17271 Riesenpanzerschiff ›Viktor‹ von 15.000 Tonnen mit seinen 30.000
17272 indizierten Pferdekräften die Hafeneinfahrt. Die Kanonen donnerten
17273 ihren Salut.
17275 Nichts Verdächtiges zeigte sich nach der Seeseite zu. Aber eine
17276 Minute vor zwölf Uhr erschienen plötzlich über dem Land sechs
17277 dunkle Punkte, die sich schnell vergrößerten. Im Fernrohr erkannte
17278 man sie als Luftboote. In eine Reihe aufgelöst hatten sie im
17279 Augenblick alle Schiffe überholt und senkten sich dem Wasser zu. Es
17280 schlug zwölf Uhr. In demselben Augenblicke wurde die bis dahin
17281 ruhige See lebhaft bewegt. Am östlichen Ausgang der Spithead-Bucht,
17282 dort wo der Abstand zwischen Wight und der englischen Küste die
17283 Breite von zehn Kilometern erreicht, erschien eine gewaltige
17284 Brandung, wie durch ein Seebeben aufgewühlt. Die Schiffe, welche
17285 sich in der Nähe befanden, beeilten sich, den Wogen zu entgehen,
17286 indem sie nach dem Land zurückkehrten.
17288 Nahe über der Oberfläche des Meeres schwebend, markierte ein
17289 Luftschiff der Martier den Punkt, bis zu welchem der
17290 Absperrungsgürtel sich in die Bucht von Spithead hinein zog. Die
17291 übrigen verteilten sich in der Nähe auf der Südseite von Wight und
17292 östlich von Portsmouth. Die Martier hatten, indem sie das Wasser
17293 durch eine Reihe von Repulsitschüssen aufregten, nur die weiter als
17294 fünf Kilometer von der Küste befindlichen Schiffe vertreiben
17295 wollen. Weiter durfte sich von jetzt ab kein Schiff vom Land
17296 entfernen und keines näher als zehn Kilometer sich der Küste
17297 nähern. Indessen blieb der Verkehr westlich von dem markierten
17298 Punkt zwischen Wight und der Küste ungehindert, die Insel gehörte
17299 mit in den blockierten Bezirk.
17301 Ein großer englischer Dampfer, von Le Havre nach Southampton
17302 zurückkehrend, wurde sichtbar. Schneller als ein Pfeil durch die
17303 Luft schießend, erreichte ihn eines der Marsschiffe und rief ihm,
17304 dicht an Bord hinschwebend, den Befehl zu, umzukehren. Wohl wußte
17305 der englische Kapitän, daß er sein Schiff aufs Spiel setze, wenn er
17306 dem Gebot nicht folge. Aber von dem Ausguck haltenden Matrosen war
17307 ihm bereits gemeldet, daß die Kriegsflotte in der Bucht unter Dampf
17308 sei und auf ihn zuhalte. Schon näherte sich der ›Viktor‹ dem
17309 Luftschiff, welches die Sperrgrenze markierte; eine Granate sauste
17310 unter dem schnell aufsteigenden Luftschiff fort. Unter diesen
17311 Umständen glaubte der Kapitän, dem Befehl des Marsschiffes Trotz
17312 bieten zu können, und setzte seinen Kurs fort. Aber sofort richtete
17313 ein Schlag, der das Schiff an seinem Vorderteil traf, eine starke
17314 Verwüstung auf dem Deck an, und von dem Marsschiff wurde ihm
17315 zugerufen, daß, wenn er nicht sofort wende, sein Schiff auf der
17316 Stelle in Grund gebohrt werden würde. Nun zögerte der Kapitän nicht
17317 länger und entfernte sich wieder vom Land, in der Hoffnung, die
17318 Flotte werde den Weg bald freimachen.
17320 Inzwischen begann sich die Kriegsflotte in einer Stärke von gegen
17321 dreihundert Schiffen, darunter zwanzig Panzerschiffe erster Klasse,
17322 in der Bucht von Spithead zu entwickeln und schickte sich an, die
17323 blockierte Linie zu forcieren, auf der man nichts bemerkte als drei
17324 langsam hin- und hergleitende Luftschiffe der Martier. Auf diese
17325 konzentrierte sich jetzt das Feuer von vielleicht fünfzig
17326 Geschützen stärksten Kalibers. Geschoß auf Geschoß flog gegen die
17327 in mäßiger Höhe schwebenden Ziele. Aber seltsam! Nicht ein einziges
17328 Geschoß schien zu treffen. Völlig ruhig, als existierte für sie der
17329 Angriff gar nicht, ließen die Martier die Flotte herankommen. Allen
17330 voran dampfte die Riesenmasse des ›Viktor‹. Sein gepanzertes
17331 Verdeck war, in Rücksicht auf die Erfahrungen der ›Prevention‹ mit
17332 dem martischen Luftschiff, mit einer besonderen Konstruktion von
17333 Schießscharten versehen, um einen in der Höhe befindlichen Gegner
17334 mit Gewehrkugeln begrüßen zu können. Aber das Marsschiff, gegen
17335 welches sich jetzt die Handfeuerwaffen richteten, schien gegen
17336 dieselben gefeit zu sein. Unheimlich erschien diese Ruhe des
17337 Feindes, den man bald direkt über sich erblicken mußte.
17339 Jetzt konnte man an einem der aus dem Hafen dampfenden Schiffe die
17340 Admiralsflagge unterscheiden. Sofort hißte auch eines der
17341 Marsschiffe, um sich den Engländern, dem menschlichen Gebrauch
17342 folgend, kenntlich zu machen, die Flagge, welche die Anwesenheit
17343 des obersten Befehlshabers an Bord bezeichnete. Es war dasselbe
17344 Schiff, das den von Le Havre kommenden Dampfer eben zurückgewiesen
17345 hatte. In noch nicht einer Minute hatte es die zehn Kilometer
17346 zurückgelegt, die es vom englischen Admiralsschiff trennten, und
17347 hier legte es sich direkt zur Seite des Kommandoturmes, in welchem
17348 sich der Admiral, ein königlicher Prinz, neben dem Kapitän des
17349 Schiffes befand. Vergeblich richtete sich ein Hagel von Geschossen
17350 gegen das kühne Luftschiff. Es schien in einem leichten Nebel zu
17351 schwimmen, in welchem Granaten wie Langblei wirkungslos zerrannen.
17352 Und nun geschah etwas ganz Unerwartetes. Immer näher rückte das
17353 Luftschiff dem Kommandoturm, und lautlos, ein unerhörtes Wunder,
17354 lösten sich die stählernen Platten des Panzerturms auf der Seite
17355 des Luftschiffs und verdampften oder verschwanden in der Luft.
17356 Schutzlos sahen sich die Befehlshaber dem schwebenden Feind
17357 gegenüber. Aber kein Angriff auf sie erfolgte. Durch den Donner der
17358 Geschütze der in der Front befindlichen Schiffe geschwächt, aber
17359 deutlich verständlich vernahmen sie die englischen Worte: „Der
17360 Oberbefehlshaber der martischen Luftflotte, Dolf, beehrt sich an
17361 Ew. kgl. Hoheit die Bitte zu richten, sämtlichen unter Ihren
17362 Befehlen stehenden Schiffen die Weisung zu erteilen, die Flagge zu
17363 streichen und sich binnen einer Stunde in den Hafen von Portsmouth
17364 zurückzuziehen. Ich würde mich sonst gezwungen sehen, jedes Schiff,
17365 das nach zehn Minuten noch seine Flagge zeigt oder einen Schuß
17366 abgibt und das nach einer Stunde sich nicht im Hafen befindet, zu
17367 versenken, und müßte Ew. kgl. Hoheit für die entstehenden Verluste
17368 verantwortlich machen.“
17370 Ohne eine Antwort abzuwarten, war das Luftschiff verschwunden. Aber
17371 ehe es noch in die Linie der Marsschiffe zurückgekehrt war, hatte
17372 der ›Viktor‹ den Punkt erreicht, den nach der Instruktion der
17373 Martier kein Schiff überschreiten durfte. Da ging das dort
17374 befindliche Luftschiff aus seiner Wartestellung. Es senkte sich
17375 direkt hinter dem Panzerschiff bis dicht über die Oberfläche des
17376 Wassers und drängte sich an seine Rückseite. Die Nihilithülle des
17377 Luftschiffes, die es gegen jeden Angriff schützte, zersetzte die
17378 fünfzig Zentimeter dicken Panzerplatten binnen ebensoviel Sekunden.
17379 Ein Repulsitschuß zerstörte das Steuer, ein zweiter schlug schräg
17380 von oben nach unten durch das Schiff und zerbrach eine
17381 Schraubenwelle. Das Riesenschiff war unfähig, sich zu bewegen.
17382 Jetzt erhob sich das Luftschiff wieder und schmolz das Dach des
17383 Kommandoturms ab. Mit Entsetzen sah der Kapitän das Schiff über
17384 sich schweben, während die von seiner Mannschaft auf dasselbe
17385 gerichteten Schüsse nicht die geringste Wirkung zeigten. Ratlos
17386 starrte er in die Höhe. Diese Art des Kampfes mit einem
17387 unverletzbaren Gegner mußte auch den Tapfersten entmutigen.
17389 Aus dem Marsschiff kam eine Stimme: „Die gesamte Besatzung in die
17390 Boote. Das Schiff wird versenkt. Wir müssen ein Exempel statuieren,
17391 damit unsre Befehle künftig besser befolgt werden.“
17393 Der Kapitän sah, daß er verloren war. Er ließ die Boote bemannen
17394 und abstoßen. Er selbst blieb im Kommandoturm, entschlossen, mit
17395 dem Schiffe, dessen Flagge im Winde flatterte, unterzugehen. Die
17396 Boote entfernten sich. Das Marsschiff drängte seinen Nihilitpanzer
17397 an die Seite des Panzerschiffes, dicht über der Wasserlinie. Die
17398 eisernen Wände öffneten sich, während sich das Marsschiff in die
17399 Luft erhob. Es wandte sich nach dem Kommandoturm, um den Kapitän an
17400 seiner Selbstaufopferung zu verhindern. Aber schon neigte sich der
17401 Koloß ›Viktor‹ zur Seite. Mit wehender Flagge sank er in die Flut,
17402 die sich weitaufbrausend über ihm und seinem Führer schloß.
17404 Der Kommandant des Marsschiffes trieb sein Boot dicht über den
17405 schäumenden Wirbel hin, um nach dem Kapitän des ›Viktor‹ zu suchen.
17406 Die Woge brachte ihn nicht zurück. Die Augen der Martier
17407 verdüsterten sich, und finsterer Ernst lagerte über ihren Zügen.
17408 Noch einmal umkreiste das Boot langsam die Stelle.
17410 „Wir sollen den Willen der Menschen brechen“, sagte der Anführer,
17411 den Gedanken der Seinigen Worte leihend, „aber kein Menschenleben
17412 soll mit unserem Willen zugrunde gehen. Doch der Wille dieses
17413 Tapfern war stärker als der unsere. Er konnte nicht leben, der das
17414 stärkste Schiff der Erde nicht weiter als drei Seemeilen über den
17415 Hafen hinausgebracht hatte. Gott verzeihe uns, wir wollten nicht
17416 töten.“
17418 Ein Signal weckte die Mannschaft aus ihrer Stimmung, die mehr der
17419 eines Besiegten als eines Siegers glich. Das Luftboot des
17420 Oberbefehlshaber Dolf war zurückgekehrt. „Vorwärts!“ rief er dem
17421 ersten Marsschiff zu, „drei andere Panzerschiffe durchbrechen die
17422 Linie. In den Grund mit ihnen!“
17424 Der Offizier gehorchte schweigend. „Wir sind keine Mörder“,
17425 murmelte es in der Mannschaft. Aber das Luftboot stürzte sich auf
17426 ein zweites Panzerschiff und zerschmetterte ihm das Steuer und die
17427 Maschine. Ein Gleiches taten die übrigen Boote mit den englischen
17428 Schiffen, welche die Grenze der Blockade überschritten. Als ein
17429 steuerloses, hilfloses Wrack trieben bereits sieben Panzerschiffe
17430 erster Klasse auf den Wellen. Aber die Martier versenkten sie
17431 nicht, weil sie jeden Augenblick erwarteten, daß der englische
17432 Admiral das Signal zur Ergebung und zum Rückzug der Flotte geben
17433 würde.
17435 Doch nichts dergleichen geschah. Die zehn Minuten waren längst
17436 abgelaufen. Die Flotte rückte weiter vor. Der Admiral konnte sich
17437 nicht entschließen, so ruhmlos die Waffen zu strecken, obwohl ihn
17438 ein Grauen vor dem unerreichbaren Gegner umfing.
17440 Das Verderben nahm seinen Fortgang. Die Martier begnügten sich
17441 überall damit, die Maschinen und Steuervorrichtungen zu zerstören.
17442 Obwohl sie ihre sicheren Repulsitströme nur auf das Material wirken
17443 ließen, traten trotzdem hier und da Explosionen und
17444 Zerschmetterungen ein, denen auch Menschenleben zum Opfer fielen.
17445 Doch waren die Verluste der Engländer an Mannschaft gering, ihre
17446 Schiffe aber kampfunfähig. Bleiches Entsetzen bemächtigte sich
17447 allmählich der Offiziere und Matrosen, als sie sahen, daß sie dem
17448 Feind schutzlos preisgegeben waren. Ihre herrlichen Fahrzeuge waren
17449 ein Spiel der Wellen. Von den Luftschiffen der Martier, die
17450 unverletzlich blieben, verließ nur von Zeit zu Zeit eines den
17451 Kampfplatz, um von einem in großer Höhe schwebenden Munitionsschiff
17452 seinen Vorrat an Nihilit und Repulsit zu ergänzen. Eine halbe
17453 Stunde mochte dies nutzlose Ringen gedauert haben, als auch das
17454 Admiralsschiff manövrierunfähig wurde. Ein Luftschiff übersegelte
17455 seine Masten, und die Flagge verschwand. Was sich von Schiffen noch
17456 bewegen konnte, suchte in den Hafen zu fliehen. Aber dies nützte
17457 nun nichts mehr. Ein großer Teil der Schlacht war direkt unter den
17458 Kanonen der Festungswerke geschlagen worden. Sie konnten die
17459 Vernichtungsarbeit der Martier nicht beeinträchtigen. Die
17460 Luftschiffe gingen in den Hafen und zerstörten systematisch die
17461 Bewegungsmechanismen sämtlicher Schiffe.
17463 Nun wurde von den Engländern die Parlamentärflagge aufgezogen. Die
17464 Martier verlangten als erste Bedingung, daß die Mannschaft der
17465 kampfunfähigen Schiffe geborgen werde. Alles, was an
17466 Handelsschiffen und Booten aufzutreiben war, wurde darauf nach der
17467 Reede entsandt und brachte die Mannschaft der außer Bewegung
17468 gesetzten Schiffe ans Land.
17470 Die Engländer hatten jetzt eingesehen, daß es ganz nutzlos sei, ihr
17471 Pulver zu verschießen. Sie konnten nur noch darauf bedacht sein,
17472 das Leben der Seeleute zu schonen und weiteren Materialschaden zu
17473 vermeiden. Als alle Menschen und die Hilfsflottille wieder im Hafen
17474 angelangt waren, legten sich zwei der Marsschiffe vor die Mündung
17475 und erklärten den Hafen für gesperrt. Die herrenlosen Schiffe
17476 trieben unter einem leichten Westwind allmählich in den Kanal
17477 hinaus und wurden nach und nach von französischen, holländischen
17478 und deutschen Dampfern geborgen, die sich in großer Anzahl in
17479 sicherer Entfernung von der Blockadelinie angesammelt hatten und
17480 Zeugen des rätselhaften Vernichtungskampfes geworden waren.
17482 Ähnliche Vorgänge wie bei Portsmouth, nur in kleinerem Maßstab,
17483 spielten sich überall ab, wo sich Kriegsschiffe an der englischen
17484 Küste vorfanden. Die Martier hatten Punkt 12 Uhr am 6. März die
17485 gesamte Küste von England und Schottland in ihrer Ausdehnung von
17486 fast 4.800 Kilometer mit ihren Luftschiffen besetzt, deren sie
17487 vorläufig 48 zur Verfügung hatten. So kam im Durchschnitt eine
17488 Küstenlänge von 100 Kilometer auf jedes Schiff. Doch dehnte sich
17489 diese Strecke, je nach der Beschaffenheit der Küste, für manche
17490 Schiffe auf 500600 Kilometer aus, während sich die Marsschiffe
17491 vor den besuchten Häfen dichter gruppierten. Wo ein Schiff sich
17492 zeigte, stürzte sofort ein Luftschiff der Martier herbei und zwang
17493 es zur Umkehr oder vernichtete es im Fall des Ungehorsams auf eine
17494 solche Weise, daß sich die Mannschaft gerade noch nach der Küste
17495 retten konnte. Von außen kommende fremde Schiffe wurden einfach
17496 durch einen ins Wasser abgegebenen Repulsitschuß zurückgetrieben.
17497 Tatsächlich gelangte außer den einheimischen, kleineren
17498 Fischerbooten, die man passieren ließ, kein Schiff mehr vom 6. März
17499 an nach der englischen Küste, keines gelangte ins Ausland.
17501 An diesem Tage ward die Macht Englands gebrochen. Die Flotte war
17502 vernichtet. Wut und Bestürzung herrschten im ganzen Land. In London
17503 war man ratlos. Niemand wußte, wie man sich gegen einen solchen
17504 Feind verhalten solle. Das Ministerium trat zurück, aber es fanden
17505 sich keine Nachfolger. Man wollte um Frieden bitten, aber die
17506 aufgeregte Volksstimme rief nach Rache. Endlich entschloß man sich,
17507 den Widerstand fortzusetzen, in der Hoffnung, daß sich Hilfe von
17508 auswärts finden werde oder daß man irgendein Mittel entdecke, die
17509 Blockade zu brechen. So vergingen Wochen, in denen man nichts
17510 hörte, als daß die Martier in diesem oder jenem Hafen noch ein
17511 armiertes Schiff entdeckt oder versenkt, daß sie hier eine Werft,
17512 dort ein Dock vernichtet hätten. Alle Versuche, den gesperrten
17513 Gürtel heimlich im Schutz der Nacht zu passieren, blieben
17514 vergeblich. Die Marsschiffe, einen Weg von hundert Kilometern in
17515 sieben bis acht Minuten durchsausend, beleuchteten mit ihren
17516 Scheinwerfern den gesperrten Streifen taghell, und ehe ein Schiff
17517 sich weit genug entfernen konnte, war es aufgefunden. Selbst der
17518 Nebel schützte nicht vor Entdeckung. Denn nach einigen Tagen hatten
17519 die Martier einen großen Teil der Küste mit einem dünnen,
17520 schwimmenden Kabel umzogen, dessen Berührung durch ein Schiff ihnen
17521 sofort die getroffene Stelle anzeigte. Und keine Nachricht von
17522 außen! Der Handel unterbrochen, alle Arbeiter, deren Beschäftigung
17523 von der Schiffahrt abhing, ohne Tätigkeit. Und schon begann die
17524 mangelnde Einfuhr der Lebensmittel in einer drückenden Erhöhung der
17525 Preise sich zu zeigen.
17527 England war aus der Welt gestrichen. Aber die Welt ging weiter.
17528 Neue Raumschiffe kamen an mit neuen Luftbooten. Diese gingen nicht
17529 zur Verstärkung der Blockade ab, sondern sie suchten die englischen
17530 Kriegsschiffe in den Kolonien auf und bedrohten sie mit
17531 Vernichtung, soweit nicht die Befehlshaber sich in den Dienst der
17532 Kolonien stellten. Letztere sahen sich plötzlich auf sich selbst
17533 angewiesen. Indien, Kanada, die australischen Kolonien und das
17534 Kapland erklärten sich für unabhängig und setzten selbständige
17535 Regierungen ein. Dasselbe tat Irland. Die Marsstaaten erkannten sie
17536 als souveräne und neutrale Staaten an, und so gewaltig war der
17537 Eindruck, den die Vernichtung der englischen Flotte auf der ganzen
17538 Erde gemacht hatte, daß kein Staat Einspruch gegen diese
17539 Veränderungen erhob. Keine Hand rührte sich für England. Die
17540 anderen Nationen beeilten sich vielmehr, die bisherigen
17541 Handelsgebiete Großbritanniens für sich zu sichern. Von den
17542 kleineren Kolonien zog jede Macht an sich, was sie zur Abrundung
17543 oder zur besseren Verbindung ihres Besitzes für nötig hielt. Die
17544 Beute war vorläufig so reich, daß man sich an diejenigen Gebiete
17545 noch nicht machte, die zu Streit unter den Erbteilern hätten Anlaß
17546 geben können. Im stillen verhandelten die europäischen Großmächte
17547 über eine Teilung des englischen Besitzes am Mittelmeer und eine
17548 Auflösung der Türkei.
17550 Jetzt erst ließen die Martier Zeitungen der auswärtigen Staaten
17551 nach England gelangen. Was man dort längst befürchtet hatte, war
17552 eingetroffen. Die Völker teilten sich in die englische Erbschaft,
17553 ohne sich viel darum zu bekümmern, ob der Erblasser wirklich tot
17554 sei. Das gab den Ausschlag. Die Furcht, auch das Letzte zu
17555 verlieren, bändigte den englischen Nationalstolz. Man bat um
17556 Frieden.
17558 Alles, was die Martier verlangt hatten, wurde zugestanden, nur den
17559 Kapitän Keswick und den Leutnant Prim konnte man nicht mehr
17560 bestrafen. Sie waren bei einem Versuch, die Blockade zu brechen,
17561 mit ihrem Schiff untergegangen, von den Martiern aber gerettet
17562 worden. Sie befanden sich als Gefangene bereits am Nordpol. Aber
17563 auch den gegenwärtigen Zustand in den Kolonien und die Abmachungen
17564 der Mächte über die Türkei mußte England anerkennen. Dafür
17565 erklärten die Marsstaaten, das nun wehrlose England gegen alle
17566 etwaigen weiteren Angriffe auf seinen nunmehrigen Bestand schützen
17567 zu wollen. England hatte einen Protektor. – –
17569 Nach einer durch ungeheuren Repulsitverbrauch beschleunigten Fahrt
17570 von nur siebzehn Tagen war Ill auf dem Nordpol der Erde
17571 eingetroffen. Am fünften April war der Präliminarfriede geschlossen
17572 und die Blockade aufgehoben worden.
17574 Aber nicht nur das gedemütigte England beugte sich dem Sieger, der
17575 unter den Kanonen von Portsmouth dreihundert Kriegsschiffe binnen
17576 drei Stunden durch ein halbes Dutzend Luftschiffe mit nur 144 Mann
17577 Besatzung vernichtet hatte. Was die Nachrichten über die hohe
17578 Kulturaufgabe der Martier nicht vermocht hatten, das Entgegenkommen
17579 der zivilisierten Erdstaaten zu gewinnen, das brachte die
17580 Bezwingung Englands durch Nihilit und Repulsit alsbald zustande. Es
17581 begann ein förmlicher Wetteifer der Regierungen, die Gunst des
17582 martischen Machthabers zu gewinnen, der aus dem reichen englischen
17583 Besitz Länder und Meere verschenkte. Die Marsstaaten waren unter
17584 dem Namen ›Polreich der Nume‹ nicht nur als ein Faktor im Rat der
17585 Großmächte anerkannt, sie nahmen bereits tatsächlich die führende
17586 Stellung ein. Unter dem Titel eines Präsidenten des Polreichs und
17587 Residenten von England und Schottland übte Ill die Regierungsgewalt
17588 im Auftrag der Marsstaaten aus. Alles dies war geschehen, ohne daß
17589 ein Martier sein Luftschiff verlassen hatte. in dem großen, in
17590 einem Park Londons auf weiter Wiesenfläche ruhenden Luftschiff
17591 empfing Ill die Minister Englands und die Gesandten der fremden
17592 Staaten. Es erregte daher trotz allem Ungewöhnlichen, das man im
17593 letzten Jahr erlebt hatte, nicht geringe Spannung und Befriedigung,
17594 daß der Präsident des Polreichs bei den Höfen und Regierungen in
17595 Berlin, Wien, Petersburg, Rom, Paris und Washington um einen
17596 persönlichen Empfang nachsuchen ließ. Es verlautete, daß sich daran
17597 die Einsetzung ständiger Botschafter in diesen Hauptstädten und ein
17598 von den Martiern einzurichtender regelmäßiger Luftschiffverkehr mit
17599 dem Pol anschließen werde. Im stillen hoffte man, daß das
17600 geheimnisvolle Grauen, welches die Personen der Martier für die
17601 Menschen umhüllte, verschwinden werde, sobald man Gelegenheit haben
17602 würde, sie außerhalb des Schutzes ihrer Luftschiffe unter der
17603 natürlichen Schwerkraft der Erde sich beugen zu sehen.
17605 Der einzige Mensch auf der Erde, der diese Hoffnung nicht teilte,
17606 war vielleicht Grunthe. Er war überzeugt, daß Ill diesen Schritt
17607 nicht getan hätte, wenn nicht die Martier zuvor ein Mittel entdeckt
17608 hätten, sich auch außerhalb ihrer Schiffe vom Druck ihres
17609 Körpergewichts zu befreien.
17611 \section{42 - Das Protektorat über die Erde}
17613 Torm bewohnte in Berlin zwei bequem eingerichtete Zimmer in einem
17614 Hotel garni der Königgrätzer Straße. Nach seiner Rückkehr war er
17615 überall der Held des Tages gewesen, den man nicht genug feiern
17616 konnte und um so mehr feierte, als Grunthe sich sehr geschickt von
17617 der Öffentlichkeit zurückzuziehen wußte. Seit der Ankunft der
17618 Martier in Australien und dem Ausbruch ihres Krieges mit England
17619 waren aber die beiden Polarforscher, deren Reise die eigentliche
17620 Veranlassung war, daß die Martier mit den Staaten der Erde in
17621 Verbindung traten, ziemlich in Vergessenheit geraten. Das
17622 öffentliche Interesse hatte sich jetzt wichtigeren Gegenständen
17623 zugewendet.
17625 Am 20. März, dem Tag nach der Ankunft Ills am Pol, hatte Torm zwei
17626 in Calais aufgegebene Depeschen erhalten, datiert aus Kla auf dem
17627 Mars, vom 2. März. Die erste enthielt nur die Worte: „Ich komme mit
17628 dem nächsten Raumschiff. Deine Isma.“
17630 Die zweite war von Saltner und besagte, daß Frau Torm und er selbst
17631 die Erlaubnis zur Heimreise erhalten hätten, da sie aber zum Abgang
17632 des Regierungsschiffes nicht mehr zurechtkommen könnten, erst mit
17633 dem nächsten Schiff reisen und daher vor Mitte April nicht bei ihm
17634 eintreffen würden. Auch Ell habe sich entschlossen, sie zu
17635 begleiten. Seitdem hatte Torm keine Nachricht mehr erhalten und
17636 konnte auch keine erwarten. Denn kein anderes Raumschiff als der
17637 ›Glo‹ legte, wie Grunthe erklärte, bei der jetzigen
17638 Planetenentfernung den Weg unter fünf Wochen zurück.
17640 Heute schrieb man den 12. April. Es war ein Festtag in Berlin, das
17641 in verschwenderischem Schmuck prangte. Die Gesandtschaft des Mars
17642 sollte vom Kaiser empfangen werden. Unter Glockengeläut und
17643 Kanonendonner drängte sich eine jubelnde Menge in den Straßen. In
17644 goldigem Eigenlicht wie die Morgenröte strahlend, mit nie gesehenen
17645 Verzierungen geschmückt, bewegte sich ein glänzender Zug kleiner
17646 Luftgondeln, in Mannshöhe über dem Boden schwebend, durch die
17647 Straßen; von den Fenstern aus überschütteten die Damen den Zug,
17648 trotz der frühen Jahreszeit, mit kostbaren Blumen. Brausende
17649 Hurrarufe betäubten das empfindliche Ohr der Martier.
17651 Torm hatte seinen Platz auf der Tribüne im Lustgarten nicht
17652 benutzt. Ihm waren diese Martier verhaßt. Hatten sie ihm doch den
17653 Haupterfolg seiner Expedition und nun auch die Freude der Heimkehr
17654 ins eigene Haus geraubt. Unruhig ging er in seinem Zimmer auf und
17655 ab. Es klopfte, und Grunthe trat ein.
17657 „Sie sind auch nicht draußen bei den Narren, ich dachte es mir“,
17658 empfing ihn Torm.
17660 Grunthe runzelte die Stirn und blickte finster vor sich hin.
17662 „Es ist eine Schmach“, sagte er, „die Menge bejubelt ihre
17663 Unterdrücker. Aber das tut sie immer. Morgen wird sie ebenso in
17664 Paris, übermorgen in Rom jubeln, und noch viel ärger. Wenn man das
17665 sieht, so kann man nur sagen, diese Menschen verdienen es nicht
17666 besser, als von den Martiern vernichtet zu werden. Sie werfen sich
17667 ihnen zu Füßen, und so werden sie als Mittel ihrer Zwecke zertreten
17668 werden.“
17670 Torm zuckte die Achseln. „Was sollen sie tun? Nihilit ist kein
17671 Spaß.“
17673 „Und ich sage Ihnen“, entgegnete Grunthe fast heftig, „kein Martier
17674 vermag den Griff des Nihilitapparates zu drehen, keiner einem
17675 Menschen seinen Willen aufzuzwingen, wenn ihm der Mensch mit
17676 festem, sittlichem Willen gegenübertritt, mit einem Willen, in dem
17677 nichts ist als die reine Richtung auf das Gute. Aber jene Engländer
17678 – und wir sind nicht besser – hatten nur das eigene Interesse,
17679 ihren spezifisch nationalen Vorteil, nicht aber die Würde der
17680 Menschheit im Auge, und so sind sie Wachs in den Händen der
17681 Martier. Sie können mir glauben, denn ich habe jenem Ill getrotzt,
17682 vor dem jetzt Kaiser und Könige sich neigen. Ich weiß es freilich,
17683 daß wir verloren sind. Ich habe Ill gesehen, wie er mit seinen
17684 Martiern nur einige Schritte durch den Garten der Sternwarte von
17685 Friedau schlich, auf Krücken gestützt und zusammenbrechend unter
17686 der Erdschwere. Und ich habe ihn heute gesehen, durch den Garten
17687 des Kanzlerpalais schreitend, aufgerichtet wie ein Fürst, im
17688 schimmernden Panzerkleid; unter den Knien schützten ihn weit nach
17689 den Seiten ausgebogene Schäfte und über dem Haupt, auf kaum
17690 sichtbaren Stäben, von der Schulter gestützt, der glänzende
17691 diabarische Glockenschirm gegen die Schwere. So haben sie es
17692 verstanden, sich von dem Druck der Erde unabhängig zu machen. Aber
17693 dies alles würde ihnen nichts nützen, wenn wir selbst wüßten, was
17694 wir wollen.“
17696 Auf der Treppe entstand Lärm. Man vernahm eine helle Stimme.
17698 „Sakri, lassens mich los! Ich kenn’ mich schon aus.“
17700 „Das ist Saltner“, rief Torm. Er stürzte zur Tür. Sie flog auf.
17702 „Da bin ich halt wieder! Grüß Gott viel tausendmal!“
17704 Er schüttelte beiden die Hände.
17706 „Und meine Frau?“ war Torms erste Frage.
17708 „Machens sich keine Sorge!“ sagte Saltner. „Die Frau Gemahlin wird
17709 bald nachkommen, es geht ja jetzt alle paar Tage ein Schiff nach
17710 der Erde.“
17712 „So ist sie nicht mitgekommen?“ rief Torm erbleichend.
17714 „Sie hat halt nicht gekonnt. Sie ist ein bisserl bettlägrig, aber
17715 ’s hat weiter nichts auf sich, nur daß sie der Doktor nicht gerad
17716 wollt’ reisen lassen.“
17718 „So hat sie geschrieben?“
17720 „Schreiben konnte sie nicht. Aber grüßen tut sie gewiß vielmals.“
17722 „So haben Sie sie gar nicht gesprochen?“
17724 „Das war mir gerad in den Tagen nicht möglich, weil sie noch zu
17725 schwach war. Aber der Doktor sagt, sie wird bald soweit sein, daß
17726 sie reisen kann. Sie brauchen sich wirklich nicht zu ängstigen.“
17728 Torm setzte sich.
17730 „Und Ell?“ fragte er finster. „Wo ist Ell?“
17732 „Er ist zurückgeblieben, bis die Frau Gemahlin reisen kann. Er
17733 wollte sie nicht allein lassen. Es ist vielleicht unrecht, daß ich
17734 allein gereist bin und nicht gewartet hab. Aber schauen Sie, die
17735 Sehnsucht, und dann dacht’ ich, es wär doch besser, ich brächte
17736 Ihnen selbst die Auskunft, als daß wir bloß schreiben sollten.“
17738 „Es ist recht, daß Sie kamen“, sagte Torm, sich erhebend,
17739 „verzeihen Sie, daß ich zuerst an mich dachte, ich habe Ihnen ja
17740 soviel und herzlich zu danken. Und jetzt komme ich sogleich wieder
17741 mit einer Bitte. Sie sollen mir einen Platz auf dem nächsten
17742 Raumschiff erwirken, ich will nach dem Mars!“
17744 Saltner und Grunthe blickten ihn erstaunt an.
17746 „Das werden Sie doch nicht tun!“ rief Saltner. „Sie würden sich mit
17747 der Frau Gemahlin verfehlen.“
17749 „Das werde ich nicht. Ill ist hier. Grunthe wird mir die Bitte
17750 nicht verweigern, er wird mit ihm sprechen, uns eine Lichtdepesche
17751 zu gewähren. Wir werden erfahren, ob Isma noch dort ist, wir werden
17752 uns verständigen. Und wenn ihre Krankheit noch anhält, so werde ich
17753 reisen. Ich werde.“
17755 „Das Reisen läßt sich schon machen. Ich bin jetzt mit der
17756 Gesandtschaft, das heißt heute im Nachtrab, angekommen, daher weiß
17757 ich’s. Von jetzt ab geht alle Wochen ein Luftschiff von hier nach
17758 dem Pol, und von dort an jedem 15. des Monats ein Raumschiff nach
17759 dem Mars, das Menschen als Passagiere mitnimmt. Man will den
17760 Planetenverkehr eröffnen. Es kostet hin inklusive Verpflegung bloß
17761 500 Thekel – 5.000 Mark wollte ich sagen.“
17763 Torm sah ihn verwundert an. „Bloß?“ fragte er.
17765 „Ja, wir haben Geld. Fünftausend Mark sind die Währungseinheit.“
17767 Torm ergriff seine Hand. „Setzen Sie sich erst und erzählen Sie
17768 dann.“
17770 Saltner nahm Platz und begann zu sprechen. Grunthe fragte mitunter
17771 dazwischen. Torm aber hörte nur halb, seine Gedanken waren auf dem
17772 Mars. Sie war krank! Und immer wieder kam ihm die Frage, wie konnte
17773 Saltner dessen sicher sein? War sie auch wirklich krank? Und wenn
17774 sie nicht krank war?
17776 „Ich muß reisen!“ rief er plötzlich.
17778 „Nun, nun“, sagte Saltner beruhigend. „Im Moment können Sie nichts
17779 tun. Ill ist jetzt gerade im Schloß.“
17781 Torm sank auf seinen Platz zurück.
17783 Erneuter Kanonendonner verkündete, daß sich der Kaiser neben dem
17784 Präsidenten des Polreichs vor dem jubelnden Volk zeigte.
17786 Grunthe stand auf und schloß das Fenster.
17790 Isma lag bleich und angegriffen auf ihrem Sofa. Langsam genas sie
17791 von der schweren nervösen Krankheit, die sie unter dem
17792 Zusammenwirken der ungewohnten Lebensverhältnisse und der
17793 seelischen Aufregungen ergriffen hatte.
17795 Hil trat bei ihr ein.
17797 „Wann kann ich reisen?“ war, wie immer, ihre erste Frage.
17799 „Nun, nun“, sagte er, „sobald wir kräftig genug sind.“
17801 „Ach, Hil, das sagen Sie nun schon seit vierzehn Tagen. Lassen Sie
17802 es mich doch versuchen!“
17804 „Erst müssen wir einmal einen Versuch machen, wie es Ihnen bekommt,
17805 wenn Sie hier in Ihrem Zimmer anfangen, wieder ein wenig mit der
17806 Welt zu verkehren. Es wartet da schon lange einer, der Sie gern
17807 einmal sprechen und sehen möchte, aber ich habe bis jetzt nicht
17808 erlaubt –“
17810 „Und heute darf er kommen, ja?“ unterbrach ihn Isma lebhaft.
17812 Hil lächelte. „Es ist ein gutes Zeichen, daß Sie selbst danach
17813 verlangen. Aber hübsch ruhig, Frau Isma, und höchstens ein
17814 Viertelstündchen! So will ich es ihm sagen lassen.“
17816 Er verabschiedete sich.
17818 Es dauerte nur wenige Minuten, bis Ell eintrat.
17820 Eine leichte Blutwelle drängte sich in Ismas Wangen, als sie ihm
17821 langsam die schlanke Hand entgegenstreckte, die er leidenschaftlich
17822 küßte. Lange hielt er die Hand fest, bis sie sie ihm sanft entzog.
17824 „Sie sind schon lange zurück?“ sagte sie endlich verlegen.
17826 „Auf die Nachricht, daß Sie reisen dürften, kam ich hierher. Ich
17827 hätte Sie nicht allein reisen lassen, obwohl – doch sprechen wir
17828 von Ihnen. Ich fand Sie erkrankt. Es war unmöglich, Sie
17829 wiederzusehen.“
17831 „Und Sie sind mir nicht mehr böse?“
17833 „Isma!“
17835 „Ich habe es eingesehen, ich war ungerecht gegen Sie. Und ich war
17836 doch schuld, daß Sie Ihren Posten auf der Erde verließen –“
17838 „Sie wollten das Beste. Ich aber habe eine Schuld auf mich geladen
17839 – und ich werde sie büßen müssen. Jetzt ist für mich auf der Erde
17840 nichts mehr zu tun, aber die Zeit wird wieder kommen. Dann soll es
17841 nicht an mir fehlen.“
17843 „Und Sie wollen mich begleiten?“
17845 „Wenn Sie reisen dürfen. Aber –“
17847 „Was haben Sie, Ell? Seien Sie aufrichtig, ich beschwöre Sie –
17848 sagen Sie mir die Wahrheit! Sie glauben, ich werde nie wieder –“
17850 „Um Gottes willen, Isma, wenn Sie so sprechen, darf ich nicht
17851 hierbleiben. Sie dürfen sich nicht erregen. Sicherlich ist Ihr
17852 Gesundheitszustand in kurzer Zeit so vorgeschritten, daß Sie die
17853 Reise antreten dürfen. Nein, ich dachte nur an Verzögerungen, die
17854 möglicherweise aus anderen Gründen eintreten könnten, falls sich
17855 der Antritt der Reise nicht bald ermöglichen läßt –“
17857 „Verbergen Sie mir nichts. Man sagt mir sehr wenig von der Erde.
17858 Ich denke, Ill ist mit so großartigem Jubel in Berlin aufgenommen
17859 worden. Und mein Mann ist gesund –“
17861 „Darüber können Sie beruhigt sein. Ich darf Ihnen noch mehr sagen,
17862 Hil hat es jetzt erlaubt. Sollten Sie aus irgendeinem Grund an der
17863 Reise verhindert sein, so werden Sie Ihren Mann doch bald
17864 wiedersehen. Er ist an der Nordpolstation und erwartet dort die
17865 Nachricht, ob Sie kommen oder ob er nach dem Mars reisen soll.“
17867 „Nach dem Mars will er kommen! Und das wissen Sie? Und ich –?“
17869 „Briefe können noch nicht hier sein. Es kam nur eine Lichtdepesche
17870 von Ill. Aber Hil wollte Sie mit der Nachricht nicht aufregen – nun
17871 seien Sie auch vernünftig und zeigen Sie, daß Sie die Probe
17872 bestehen und uns nicht wieder kränker werden.“
17874 „Er will kommen! Aber wozu? Ich möchte doch lieber nach der Erde!“
17876 „Das sollen Sie ja auch. Nur für den Fall –“
17878 „Was für einen Fall?“
17880 „Wenn zum Beispiel die Verhältnisse auf der Erde in der nächsten
17881 Zeit sehr unruhig werden sollten –“
17883 „Ich denke, alles ist jetzt friedlich.“
17885 „Die letzten Nachrichten sind weniger erfreulich.“
17887 „Erzählen Sie, schnell! Unsre Viertelstunde ist bald um.“
17889 „Die Mächte sind in Streit geraten. Was soll ich Sie mit den
17890 politischen Einzelheiten ermüden, die ich selbst nur mangelhaft
17891 hier kenne, weil bisher erst Lichtdepeschen hergelangt sind. Es ist
17892 der Streit um die englische Erbschaft. Frankreich und Italien,
17893 Deutschland und Frankreich, Österreich und Rußland rechten um ihre
17894 Grenzen im Kolonialbesitz in Afrika, Asien und der Türkei. Am
17895 Mittelmeer gibt es kaum einen Punkt, über den man sich einigen
17896 kann. England ist ohnmächtig, die Marsstaaten schützen es in
17897 einigen Punkten, und gerade diese möchten die andern haben. Die
17898 Staaten rüsten gegeneinander, schon sind an den Kolonialgrenzen
17899 Schüsse gefallen, man muß darauf gefaßt sein, daß ein Weltkrieg
17900 ausbricht. Dies werden die Martier auf keinen Fall zugeben, und so
17901 steht zu befürchten, daß wir zu neuen Gewaltmaßregeln gegen die
17902 Menschen, diesmal auch gegen Deutschland, getrieben werden. Deshalb
17903 wäre es gut, wenn Sie bald reisen könnten, ehe vielleicht wieder
17904 eine Sperrung eintritt. Auf jeden Fall aber würde Torm
17905 hierherkommen dürfen. Das hat Ill ihm zugesichert.“
17907 Isma schüttelte den Kopf. „Was Sie da alles sagen, verwirrt mich,
17908 ängstigt mich –“ Und nach kurzem Schweigen fuhr sie fort: „Aber ich
17909 will gesund sein! Ich will gar nicht darüber nachdenken. ich fühle,
17910 daß ich Ruhe brauche. Ich danke Ihnen herzlich, Ell, daß Sie
17911 gekommen sind. Nun weiß ich doch wieder, daß ich nicht verlassen
17912 bin.“
17914 Sie reichte ihm die Hand.
17916 „Leben Sie wohl, Isma. Sie können ganz ruhig sein. Sie werden bald
17917 gesund sein.“
17919 Er sah sie an mit den alten, treuen Augen und ging. Sie lächelte
17920 müde und lehnte sich zurück. Die Lider fielen ihr zu.
17922 „Ich will gesund sein“, dachte sie. Aber sie hörte schon nicht
17923 mehr, daß Hil bei ihr eintrat und sie teilnahmsvoll betrachtete.
17927 Eine Woche später, es war ein herrlicher Maitag, tobte eine
17928 aufgeregte Volksmenge in den Straßen der europäischen Städte.
17929 Überall hörte man Beschimpfungen der Martier. Wo man vor vier
17930 Wochen gejubelt hatte und Hurra geschrien, ertönte jetzt: „Nieder
17931 mit dem Mars!“ Die Geschäfte mit Marsartikeln, die wie Pilze in die
17932 Höhe geschossen waren, sahen sich genötigt, ihre Läden zu
17933 schließen. „Nieder mit den Glockenjungens“, hieß es in Berlin, wo
17934 man die Martier ihrer diabarischen Helme wegen mit diesem
17935 geschmackvollen Titel beehrte. Die Menge demonstrierte vor dem
17936 Gebäude, das die Marsstaaten für ihre Botschaft gemietet hatten.
17937 Auf dem flachen Dach ruhten die Luftschiffe, bereit, in der
17938 nächsten Stunde die Hauptstadt zu verlassen.
17940 Aber nicht weniger erregt, vielmehr erfüllt von einem heiligen
17941 Zorn, war die Stimmung auf dem Mars. Die Nachricht von einem
17942 ungeheuren Blutvergießen der Menschen untereinander war angelangt.
17943 In der Türkei und in Kleinasien, wo man hauptsächlich nur aus
17944 Furcht vor England sich soweit im Zaume gehalten hatte, daß die
17945 europäischen Fremden sich sicher fühlen durften, war jetzt diese
17946 Schranke gefallen. Der mohammedanische Fanatismus flutete über. Auf
17947 einen heimlichen Wink der türkischen Regierung erhoben sich die
17948 Massen. Ein entsetzliches Gemetzel begann gegen die Christen. Die
17949 Gebäude der Botschaften wurden erstürmt, Männer, Kinder und Frauen
17950 binnen einer Nacht in gräßlicher Weise gemordet. Und furchtbar war
17951 die Rache. So weit die Kanonen der fremden Kriegsschiffe reichten,
17952 wurden am andern Tag die blühenden Küsten, Paläste und Moscheen
17953 Konstantinopels in Trümmerhaufen verwandelt. Und nicht genug damit.
17954 Zwischen den europäischen Staaten selbst entbrannte die Eifersucht,
17955 wer die Trümmer mit seinen Truppen besetzen sollte. Der Krieg war
17956 so gut wie ausgebrochen, ehe er formell erklärt war.
17958 Tiefe Empörung ergriff die Bevölkerung der Marsstaaten. Der
17959 Antibatismus gewann die Oberhand. Das Parlament forderte von der
17960 Regierung die sofortige Unterdrückung der Greuel und die
17961 Herstellung des Friedenszustandes auf der Erde. Am 12. Mai beschloß
17962 das Parlament unter Zustimmung des Zentralrats folgendes:
17964 „Da die Menschen nicht fähig sind, aus eigener Macht unter sich
17965 einen friedlichen Kulturzustand zu erhalten, sieht sich die
17966 Regierung der Marsstaaten gezwungen, hiermit das Protektorat über
17967 die gesamte Erde zu erklären und jede politische Aktion der
17968 Erdstaaten untereinander, ohne vorherige Zustimmung der
17969 Marsstaaten, zu verbieten. Der Präsident des Polreichs der Nume auf
17970 der Erde wird beauftragt und bevollmächtigt, alle Maßregeln sofort
17971 anzuordnen, die er für notwendig erachtet, um dem ausgesprochenen
17972 Willen der Marsstaaten auf der Erde, und zwar zunächst in Europa,
17973 Geltung zu verschaffen.“
17975 Es war dieser Beschluß der Marsstaaten und die von Ill hinzugefügte
17976 Erklärung, wodurch die Bevölkerung aller zivilisierten Staaten in
17977 so außerordentliche Aufregung geraten war. Die Mitteilung an die
17978 Regierungen war gleichzeitig in Form einer Bekanntmachung in den
17979 europäischen Staaten von den Martiern verbreitet worden. Man zerriß
17980 jetzt die Blätter, die sie enthielten, man entfernte die Plakate
17981 von den Häusern. Die Bekanntmachung lautete folgendermaßen:
17983 „Indem ich den vorstehenden Beschluß der Marsstaaten zur
17984 allgemeinen Kenntnis bringe, übernehme ich mit dem heutigen Tage in
17985 ihrem Namen die Schutzherrschaft über alle Staaten der Erde und
17986 bestimme wie folgt:
17988 Alle Regierungen und Nationen werden bis auf weiteres in ihren
17989 verfassungsmäßigen Rechten bestätigt und sind in ihren inneren
17990 Angelegenheiten frei, mit Ausnahme der unten angegebenen Bestimmung
17991 über das Heerwesen.
17993 Alle internationalen Verträge und Kundgebungen bedürfen zu ihrer
17994 Gültigkeit der durch mich zu vollziehenden Bestätigung der
17995 Marsstaaten.
17997 Alle Kriegsrüstungen sind verboten. Die von den europäischen
17998 Regierungen ausgegebenen Mobilisierungsbefehle sind aufzuheben. Die
17999 Friedenspräsenzstärke ihrer Heere wird auf die Hälfte der
18000 bisherigen herabgesetzt. Die Hauptwaffenplätze werden unter
18001 Oberaufsicht eines von mir zu ernennenden Beamten gestellt.
18003 Alle Regierungen werden eingeladen, bevollmächtigte Vertreter zu
18004 der Weltfriedenskonferenz zu entsenden, die am 30. Mai unter meinem
18005 Vorsitz am Nordpol der Erde wird eröffnet werden.
18007 Von der Bevölkerung der Erde erwarte ich, daß sie die Bemühungen
18008 der Marsstaaten, ihr die vollen Segnungen des Friedens und der
18009 Kultur zu bringen, mit allen Kräften unterstützen wird.
18011 Gegeben am Nordpol der Erde, den 15. Mai
18013 Ill,
18015 Präsident des Polreichs der Nume.
18017 Bevollmächtigter Protektor der Erde.“
18019 Mit klingendem Spiel und von der Menge mit Hochrufen begrüßt
18020 rückten zwei Kompagnien der Garde vor das Gebäude der Botschaft der
18021 Marsstaaten, um dasselbe gegen etwaige Übergriffe der aufgeregten
18022 Bevölkerung zu schützen. Ein Adjutant begab sich in das Haus, um
18023 dem Botschafter zu melden, daß die Regierung Seiner Majestät dem
18024 Präsidenten des Polreichs nach dem bereits telegraphisch
18025 übermittelten Protest nichts weiter mitzuteilen habe.
18027 Eine Viertelstunde später erhoben sich die Luftschiffe der Martier
18028 und richteten unter dem tobenden Gejohle der Menge ihren Flug nach
18029 Norden.
18031 \section{43 - Die Besiegten}
18033 Es war an einem regnerischen Augustabend des Jahres, das auf die
18034 tumultuarische Abreise der Gesandtschaft der Marsstaaten aus Berlin
18035 gefolgt war, als ein Mann, in einen Reisemantel gehüllt, hastig die
18036 menschenleere Straße hinaufstieg, die nach der Sternwarte in
18037 Friedau führte. Ein dichter Bart und der tief ins Gesicht gerückte
18038 Hut ließen wenig von seinen Zügen erkennen. Hin und wieder warf er
18039 aus scharfen Augen einen scheuen Blick nach der Seite, als
18040 fürchtete er, beobachtet zu werden. Aber niemand bemerkte ihn. Die
18041 Laternen waren noch nicht angezündet, und der leise niederrieselnde
18042 Regen verschluckte das letzte Licht der Dämmerung.
18044 Je näher der Fremde dem eisernen Gittertor der Sternwarte kam, um
18045 so mehr verzögerte sich sein Schritt, als suche er einen Augenblick
18046 hinauszuschieben, den er noch eben so eilig erstrebte. Vor dem Tor
18047 stand er eine Weile still. Er spähte nach den dunkeln Fenstern des
18048 Gebäudes. Er nahm den Hut ab und trocknete die Stirn. Sein Gesicht
18049 war tief gebräunt und trug die Spuren harter Entbehrungen und
18050 schwerer Sorgen, die ihm das Haar gebleicht hatten. Mit einem
18051 plötzlichen Entschluß zog er die Klingel.
18053 Es dauerte lange, ehe sich ein Schritt hören ließ. Ein junger
18054 Hausbursche öffnete die Tür.
18056 „Ist der Herr Direktor zu sprechen?“ fragte der Fremde mit tiefer
18057 Stimme.
18059 „Der Herr Doktor Grunthe ist ausgegangen“, antwortete der Diener.
18060 „Aber um halb neun kommt er wieder.“
18062 „Ist denn Herr Dr. Ell nicht mehr hier?“
18064 „Den kenne ich nicht. Oder – Sie meinen doch nicht etwa – aber das
18065 wissen Sie ja –“
18067 „Ich meine den Herrn Dr. Ell, der die Sternwarte gebaut hat.“
18069 „Ja – der Herr Kultor residieren doch in Berlin –“
18071 Der Fremde schüttelte den Kopf. „Ich werde in einer Stunde
18072 wiederkommen“, sagte er dann kurz.
18074 Er wandte sich um und ging. Der Herr Kultor? Was sollte das heißen?
18075 Er wußte es nicht. Gleichviel, er würde ihn finden. Also Grunthe
18076 war hier. Das war ihm lieb, bei ihm konnte er Auskunft erhalten.
18077 Aber wohin inzwischen?
18079 Einige Häuser weiter, in einem Nebengäßchen, leuchtete eine rote
18080 Laterne. Er fühlte das Bedürfnis nach Speise und Trank. Er wußte,
18081 die Laterne bezeichnete ein untergeordnetes Vorstadtlokal; von den
18082 Gästen, die dort verkehrten, kannte ihn gewiß niemand, würde ihn
18083 niemand wiedererkennen. Dorthin durfte er sich wagen.
18085 Er trat ein und nahm in einer Ecke Platz. Das Zimmer war fast leer.
18086 Er bestellte sich etwas zu essen.
18088 „Wünschen Sie gewachsen oder chemisch?“ fragte der Wirt.
18090 „Was ist das für ein Unterschied?“
18092 Der Wirt sah den Fremden erstaunt an. Dieser bedauerte seine Frage,
18093 da er sah, daß er dadurch auffiel, und sagte schnell: „Geben Sie
18094 mir nur, was das Beste ist.“
18096 „Das ist Geschmackssache“, sagte der Wirt. „Das Gewachsene ist
18097 teurer, aber wer nicht für das Neue ist, zieht es doch vor.“
18099 „Was essen Sie denn?“ fragte der Fremde.
18101 „Immer chemisch, ich habe eine große Familie. Und – es schmeckt
18102 auch besser. Aber, wissen Sie, man will es mit keinem verderben –
18103 und das Gewachsene gilt für patriotischer. Ich habe sehr
18104 patriotische Gäste.“
18106 „Vor allen Dingen bringen Sie mir etwas, ich habe nicht viel Zeit.
18107 Also chemisch.“
18109 „Kohlenwurst, Retortenbraten, Mineralbutter, Kunstbrot, alles
18110 modern, aus der besten Fabrik, à la Nume.“
18112 „Was Sie wollen, nur schnell.“
18114 Der Wirt verschwand, und der Fremde griff eifrig nach einer
18115 Zeitung, die auf dem Nebentisch lag. Es war das ›Friedauer
18116 Intelligenzblatt‹. Mit einer plötzlichen Regung des Ekels wollte er
18117 das Blatt wieder beiseite schieben, aber er überwand sich und
18118 begann zu lesen. Zufällig haftete sein Blick auf ›Gerichtliches‹.
18120 „Wegen mangelhaften Besuchs der Fortbildungsschule für Erwachsene
18121 wurden achtundzwanzig Personen mit Geldstrafen belegt; eine Person
18122 wurde wegen dauernder Versäumnis dem psychologischen Laboratorium
18123 auf sechs Tage überwiesen. Dem psychophysischen Laboratorium wurden
18124 auf je einen Tag überwiesen: drei Personen wegen Bettelns, eine
18125 Person wegen Tierquälerei, fünf Personen wegen Klavierspielens auf
18126 ungedämpften Instrumenten. Die Klaviere wurden eingezogen. Der
18127 ehemalige Leutnant v. Keltiz, welcher seinen Gegner im Duell
18128 verwundete, wurde zu zehnjähriger Dienstleistung in Kamerun, die
18129 beiden Kartellträger zu einjähriger Deportation nach Neu-Guinea
18130 verurteilt. Allen wurden die bürgerlichen Ehrenrechte aberkannt.
18131 Der vom Schwurgericht zum Tode verurteilte Raubmörder Schlack wurde
18132 zu zehnjähriger Zwangsarbeit in den Strahlenfeldern von Tibet
18133 begnadigt.“
18135 Kopfschüttelnd sah der Fremde nach einer andern Stelle und las:
18136 „Die Petition, welche mit mehreren tausend Unterschriften aus
18137 Friedau an den Verkehrsminister gerichtet war und die Bitte
18138 aussprach, unserer Stadt eine Haltestelle für das Luftschiff
18139 Nordpol-Rom zu gewähren, hat wieder keine Beachtung gefunden.
18140 Unsere Leser wissen wohl, warum unsere Stadt bei gewissen
18141 einflußreichen Numen schlecht angeschrieben steht. Wir werden uns
18142 trotzdem nicht abhalten lassen, immer wieder darauf hinzuweisen,
18143 daß das rätselhafte Verschwinden unseres großen Mitbürgers und
18144 Ehrenbürgers Torm im Mai vorigen Jahres noch immer nicht aufgeklärt
18145 worden ist, wie unangenehm die Erinnerung daran auch für manche
18146 sein mag.“
18148 Das Blatt zitterte in der Hand des Fremden. Seine Augen überflogen
18149 noch einmal die Stelle. Da trat der Wirt mit den Speisen herein.
18150 Der Gast legte die Zeitung möglichst unbefangen beiseite.
18152 „Der Retortenbraten ist leider ausgegangen“, sagte der Wirt. „Aber
18153 die Kohlenwurst ist zu empfehlen, von richtiger Friedauer
18154 Schweinewurst gar nicht zu unterscheiden. Bestes Mineralfett darin,
18155 nicht etwa Petroleum, die Kohle ist aus atmosphärischer Kohlensäure
18156 gezogen, der Wasserstoff aus Quellwasser, der Stickstoff ist
18157 vollständig argonfrei, die Zellbildung nach neuester martischer
18158 Methode im organischen Wachstumsapparat hergestellt mit absoluter
18159 Verdaulichkeit –“
18161 „Es ist wirklich sehr gut“, sagte der Gast, mit großem Appetit
18162 essend. „Aber wo haben Sie denn Ihre Chemie her?“
18164 „Ich? Was meinen Sie denn? Muß ich nicht jeden Tag zwei Stunden in
18165 der Fortbildungsschule sitzen? Denken Sie, ich gehe nur hin, um
18166 meine zwei Mark Lern-Entschädigung einzustreichen? Da war neulich
18167 einmal so ein König oder Herzog vom Mars hier durchgereist, der
18168 sich die Erde beschauen wollte, der wollte mich durchaus als
18169 chemischen Küchenchef mitnehmen, habe es aber abgeschlagen, weil es
18170 auf dem Mars keine Hühner gibt. Und ein richtiges Rührei, das ist
18171 das einzige Erdengut, wovon ich mich nicht trennen kann. Soll ich
18172 Ihnen vielleicht eins machen lassen?“
18174 „Ich danke, geben Sie mir noch ein Glas Bier.“
18176 „Sofort. Nicht wahr, das ist fein? Das exportieren wir sogar nach
18177 dem Mars. So was haben sie dort noch gar nicht gekannt, wie das
18178 Friedauer Batenbräu.“
18180 „Verkehren denn auch Martier bei Ihnen?“
18182 „Nume meinen Sie? Oh, ich könnte sie schon aufnehmen, habe ein paar
18183 Extrazimmer. Gewiß verkehren sie hier, ich meine, sie werden noch
18184 verkehren, ich werde auf dem Mars annoncieren lassen. Fritz, noch
18185 ein Bier für den Herrn! Das ist mein Oberkellner. Ist so vornehm
18186 daß er erst abends um acht Uhr antritt. Sie werden gleich sehen,
18187 wie voll mein Lokal wird, jetzt ist nämlich die Fortbildungsschule
18188 aus, dann kommen die Herren hierher.“
18190 „Wo ist denn die Fortbildungsschule?“
18192 „Die Kaserne ist gleich nebenan, in der nächsten Straße.“
18194 „Das weiß ich, aber die Schule?“
18196 Der Wirt machte wieder ein erstauntes Gesicht. „Entschuldigen Sie“,
18197 sagte er, „sind Sie denn nicht aus Europa? Dann müßten Sie doch
18198 wissen, daß die Kasernen so ziemlich alle in Schulen umgewandelt
18199 sind?“
18201 „Ich war allerdings zwei Jahre verreist, in China und Indien –“
18203 „Zwei Jahre! Ei, da wissen Sie wohl gar nicht –. Militär haben wir
18204 ja nicht mehr, bis auf fünf Prozent der früheren Präsenzstärke.
18205 Dafür bekommt jeder eine Mark pro Stunde, die er in der
18206 Fortbildungsschule sitzt. Ich sage Ihnen, gelehrt sind wir schon,
18207 das ist kolossal. Nächstens gebe ich ein philosophisches Buch
18208 heraus, auf das will ich Stadtrat werden, oder vielleicht
18209 Regierungsrat. Nämlich wegen der Schwerkraft. Auf dem Mars ist doch
18210 alles leichter. Nun schlage ich vor, wenn man schwer von Begriffen
18211 ist, so geht man auf den Mars, und dort – ah, guten Abend, Herr von
18212 Schnabel, guten Abend, Herr Doktor, guten Abend, Herr Direktor –,
18213 entschuldigen Sie, ich will nur die Herren bedienen –“
18215 Der Wirt wandte sich zu den eingetretenen Gästen, die sich an ihren
18216 Stammtisch setzten.
18218 Der Fremde hatte seine Mahlzeit beendet. Er sah nach der Uhr, es
18219 war noch zu früh, um Grunthe zu treffen. Er rückte sich tiefer in
18220 die Ecke, blickte in die Zeitung und wandte den Gästen den Rücken
18221 zu. Sie waren ihm bekannt. Seltsam, dachte er im stillen, während
18222 er, scheinbar in seine Lektüre vertieft, auf ihre Stimmen hörte,
18223 wie kommen die Leute in diese Vorstadtkneipe? Früher hatten sie
18224 ihren Stammtisch im ›Fürst Karl Sigmund‹, dieser Schnabel führte da
18225 das große Wort. Er scheint auch jetzt wieder zu schimpfen.
18227 Die halblauten Stimmen der Stammgäste waren deutlich vernehmbar,
18228 insbesondere das hohe, quetschige Organ Schnabels.
18230 „Haben Sie wieder den Knicks von der Warsolska gesehen“, sagte
18231 Schnabel, „wie der Kerl, der Dor, rausging? Und wie die Anton die
18232 Augen verdrehte? Und die haben am allermeisten geschimpft, als die
18233 ersten Instruktoren herkamen. Und jetzt fletschen sie vor Vergnügen
18234 die Mäuler.“
18236 „Und bei Ihnen war’s umgekehrt, lieber Schnabel“, sagte Doktor
18237 Wagner, mit einem Auge blinzelnd. „Jetzt schimpfen Sie, aber ich
18238 kenne einen, der an den ersten Instruktor Wol einen großen
18239 Rosenkorb geschickt hat mit den schönen Versen:
18241 Sei mir gegrüßt, erhabner Nume,
18243 Dich kränzet zu der Erde Ruhme
18245 Ein Bat mit seiner schönsten Blume –“
18247 „Ach, hören Sie auf“, rief Schnabel ärgerlich. „ich hatte mir die
18248 Geschichte anders gedacht. Ich bin von den Numen enttäuscht worden
18249 –“
18251 „Und die Warsolska ist wahrscheinlich nicht enttäuscht worden.“
18253 „Die verdammten Kerle. Aber die Anton ist doch eigentlich über die
18254 Jahre hinaus –“
18256 „Pst! meine Herren, Vorsicht!“ sagte der Fabrikbesitzer Pellinger,
18257 den der Wirt mit Herr Direktor angeredet hatte. „Das Klatschgesetz
18258 ist bereits in erster Lesung angenommen. § 1: Wer unberufenerweise
18259 das Privatleben abwesender Personen beurteilt, wird mit
18260 psychologischem Laboratorium nicht unter zwölf Tagen bestraft.“ Und
18261 sein kahles Haupt über den Tisch beugend, richtete er seine
18262 schwarzen Augen auf Schnabel und fuhr fort: „Wie sagt doch der
18263 Dichter?
18265 Denn herrlicher als Kant und Hume
18267 Hebt uns die Weisheit hoher Nume
18269 Empor zu freiem Menschentume.“
18271 Darauf brach er in ein kräftiges Lachen aus.
18273 „Seien Sie endlich still mit Ihren Versen, es ist gar nicht zum
18274 Lachen“, brummte Schnabel.
18276 „Es sind ja auch gar nicht meine Verse.“
18278 „Na, meine auch nicht.“
18280 „Ei, ei“, sagte Wagner, „von wem haben Sie sie denn machen
18281 lassen?“
18283 „Ich glaube, Sie wollen mich beleidigen!“ rief Schnabel.
18285 „§ 2 des Klatschgesetzes!“ sagte Pellinger: „Der Begriff der
18286 Beleidigung ist aufgehoben. Eine Minderung der Ehre kann nur durch
18287 eigene unwürdige Handlungen, niemals durch die Handlungen anderer
18288 erfolgen.“
18290 „Das ist die richtige dumme Martiermoral. Wie kann der Reichstag
18291 sich auf solche Gesetze einlassen? Die Demokraten haben ja freilich
18292 die Majorität. Aber die Regierung! Sie dürfte sich nicht von den
18293 Martiern einschüchtern lassen.“
18295 „Die Regierung heißt Ell, Kultor der Numenheit für das deutsche
18296 Sprachgebiet in Europa“, sagte Wagner.
18298 „Dieser Schuft“, rief Schnabel. „Der Kerl hat elend vor meiner
18299 Pistole gekniffen und ist auf den Mars ausgerissen. Und jetzt
18300 spielt er hier den Diktator. Ich werde den Burschen –“
18302 „Pst, meine Herren, Vorsicht!“ flüsterte Pellinger. „Schimpfen
18303 können Sie, soviel Sie wollen, Herr von Schnabel. Sehen Sie, das
18304 ist eben das Gute an der Numenherrschaft, das müßten Sie doch
18305 dankbar anerkennen, es kann Sie niemand wegen Beleidigungen
18306 verantwortlich machen. Aber um Himmels willen nicht vom Fordern
18307 reden. Seien Sie froh, wenn Ell Gründe hat, nicht auf Ihre Affäre
18308 vor zwei Jahren zurückzukommen. mit dem Laboratorium ist es dann
18309 nicht abgetan, Sie kommen nach Neu-Guinea oder auf die neuen
18310 Strahlungsfelder in der Libyschen Wüste.“
18312 „Sie beschönigen natürlich alles, Herr Pellinger.“
18314 „Wieso?“
18316 „Wie war denn das, als wir neulich von Leipzig zurückkamen und
18317 gemütlich in unserm Wagenabteil schliefen. In – Dingsda – auf
18318 einmal wird die Tür aufgerissen – steht so ein Nume da in
18319 abarischen Stiefeln mit seiner Käseglocke über dem Kopf und winkt
18320 bloß mit der Hand. Im Augenblick ist alles hinaus, und der Kerl
18321 setzt sich allein in unsern schönen Wagen. Wir mußten in die
18322 vollgepfropfte dritte Klasse kriechen. Da haben Sie auch gesagt:
18323 Das ist ganz in der Ordnung, als Nume kann der Mann ein Coupé für
18324 sich allein beanspruchen.“
18326 „Wo soll er denn sonst mit seinem Helm hin? Und wenn kein anderes
18327 frei ist? Wir sind doch einmal die Besiegten!“
18329 „Deswegen brauchen wir nicht so feig zu sein. Aber Sie haben ja
18330 auch damals den Kerl, den Ell, verteidigt –“
18332 „Das möchte ich wirklich wissen“, fiel Wagner ein, „ob er an dem
18333 Verschwinden von Torm unschuldig ist. Man sagt doch, Torm habe ihn
18334 gefordert und sei deshalb von den Martiern beseitigt worden.“
18336 „Das ist nicht möglich“, rief Pellinger. „Damals existierte das
18337 Duellgesetz noch nicht.“
18339 „Aber es war Krieg, und die Martier brauchten unsere Gesetze nicht
18340 anzuerkennen.“
18342 „Da sehen Sie wieder einmal, wie ungerecht Sie urteilen“, sagte
18343 Pellinger. „Torm ist verschwunden, ehe Ell überhaupt auf die Erde
18344 zurückkam. Ich weiß es ganz genau. Ell ist erst nach dem
18345 Friedensschluß am 21. Juni vorigen Jahres zurückgekehrt, Torm ist
18346 aber schon beim Ausbruch des Krieges im Mai verschwunden. Die Sache
18347 muß also anders liegen. Und Grunthe ist auch der Ansicht, daß Ell
18348 unschuldig ist.“
18350 „Ach, Grunthe!“ rief Schnabel. „Das ist ein Mathematikus, der sich
18351 den Teufel um Weiberangelegenheiten kümmert. Davon versteht er
18352 nichts. Und daß die Frau hier dahintersteckt, da will ich meinen
18353 Kopf verwetten. Warum säße sie denn sonst jetzt in Berlin?“
18355 Der Fremde hatte sich plötzlich auf seinem Stuhl bewegt, sich aber
18356 sogleich wieder hinter seine Zeitung zurückgezogen. Doch war
18357 Pellinger dadurch auf ihn aufmerksam geworden, er bedeutete
18358 Schnabel, seine Stimme zu mäßigen.
18360 „Erhitzen Sie sich nicht“, sagte er, „die Sache geht uns eigentlich
18361 gar nichts an. Ich möchte auch nicht gern nach dem neuen
18362 Klatschgesetz ins Laboratorium wandern.“
18364 „Sie würden sich aber ausgezeichnet zu Durchleuchtungsversuchen des
18365 Gehirns eignen“, sagte Wagner. „Das Opfer wären Sie eigentlich der
18366 Wissenschaft schuldig. Sie brauchen sich den Schädel nicht erst
18367 rasieren zu lassen.“
18369 „Mein Gehirn ist zu normal“, antwortete Pellinger. „Aber Sie müssen
18370 ja wissen, Herr Doktor, wie’s dort zugeht, Sie sind ja wohl schon
18371 einen Tag drin gewesen. Haben Sie nicht Übungen machen müssen über
18372 die Ermüdung beim Kopfrechnen? Was hatten Sie denn eigentlich
18373 verbrochen?“
18375 „Was Sie alles wissen wollen!“ sagte Wagner etwas verlegen. „Ich
18376 wollte mir die Apparate einmal ansehen. Ich sage Ihnen, da habe ich
18377 ein Instrument gesehen, mit dem kann man die Träume
18378 photographieren.“
18380 „Ach was“, rief Schnabel, „flunkern Sie doch nicht so, ich war ja
18381 auch –“
18383 „Ei, Sie waren auch schon einmal drin? Prosit, da gratuliere ich.“
18385 Beide gerieten in ein Wortgefecht, während Pellinger aufmerksam den
18386 Fremden am Nebentisch beobachtete. Dieser beglich jetzt seine
18387 Rechnung mit dem Wirt, stand dann auf, setzte den Hut auf den Kopf
18388 und verließ das Zimmer, ohne sich umzublicken.
18390 „Den Mann sollte ich kennen“, sagte Pellinger vor sich hin.
18392 „Wie meinen Sie?“
18394 „Oh, nichts. Es kam mir nur so vor, als wäre der Herr, der eben
18395 fortging, ein alter Bekannter. Aber ich habe mich wohl geirrt. Sie
18396 wollten ja erzählen, wie Sie sich im Laboratorium amüsiert haben.
18397 Hahaha!“
18399 \section{44 - Torms Flucht}
18401 Der Fremde war inzwischen auf die Straße getreten, wo jetzt der
18402 Schein der spärlichen Laternen auf dem feuchten Pflaster glitzerte.
18403 Bald war er wieder vor der Sternwarte angelangt und wurde in das
18404 Haus geführt. Im Vorflur trat ihm Grunthe entgegen.
18406 „Was wünschen Sie?“ fragte dieser, den späten Gast mißtrauisch
18407 musternd.
18409 „Ich möchte Sie in einer Privatangelegenheit sprechen“, sagte der
18410 Fremde mit einem Blick auf den Hausburschen.
18412 Beim Klang der Stimme zuckte Grunthe zusammen.
18414 „Bitte, treten Sie in mein Zimmer.“
18416 Der Fremde schritt voran. Grunthe schloß die Tür. Beide blickten
18417 sich eine Weile wortlos an.
18419 „Erkennen Sie mich wieder?“ fragte der Fremde langsam.
18421 „Torm?“ rief Grunthe fragend.
18423 „Ich bin es. Zum zweiten Male von den Toten erstanden. Ja, ich habe
18424 noch zu leben, bis –“
18426 Er schwankte und ließ sich auf einen Stuhl nieder.
18428 „Wo ist meine Frau?“ fragte er dann.
18430 „In Berlin.“
18432 „Und Ell?“
18434 „In Berlin.“
18436 Torm erhob sich wieder. Seine Augen funkelten unheimlich.
18438 „Und wie – wovon lebt sie dort?“ sagte er stockend. „Was wissen Sie
18439 von ihr?“
18441 „Ich – ich bitte Sie, legen Sie zunächst ab, machen Sie es sich
18442 bequem. Was ich weiß, ist nicht viel. Ihre Frau Gemahlin ist
18443 vollständig selbständig und lebt in gesicherten Verhältnissen. Sie
18444 hat alle Anerbietungen von der Familie Ills und von Ell
18445 zurückgewiesen und nur die Stelle als Leiterin einer der martischen
18446 Bildungsschulen angenommen. Sie müssen wissen, daß sich vieles bei
18447 uns geändert hat –“
18449 „Ich meine, was wissen Sie sonst? Was sagt man –“
18451 Er brach ab. Nein, er konnte nicht von dem sprechen, was ihm am
18452 meisten am Herzen lag, am wenigsten mit Grunthe.
18454 „Was sagt man von mir?“ fragte er. „Meinen Sie, daß ich mich zeigen
18455 darf, daß ich wagen darf, nach Berlin zu reisen?“
18457 „Ich wüßte nicht, was Sie abhalten sollte. Allerdings weiß ich ja
18458 auch nicht, was mit Ihnen geschehen ist, wie es kam, daß Sie
18459 plötzlich verschwunden waren –“
18461 „Werde ich denn nicht verfolgt? Bin ich nicht von den Martiern, die
18462 ja jetzt die Gewalt in Händen zu haben scheinen, verurteilt? Hat
18463 man keine Bekanntmachung erlassen?“
18465 „Ich weiß von nichts – ich würde es doch aus den Zeitungen erfahren
18466 haben, oder sicherlich von Saltner, von Ell selbst – ich weiß wohl,
18467 daß Ell sich bemüht hat, Ihren Aufenthalt ausfindig machen zu
18468 lassen, aber ich habe das als persönliches Interesse aufgefaßt, es
18469 ist niemals eine Äußerung gefallen, daß man Sie – sozusagen –
18470 kriminell sucht. dots{}
18472 „Das verstehe ich nicht. Dann müssen besondere Gründe vorliegen,
18473 weshalb die Martier schweigen – ich vermute, man will mich sicher
18474 machen, um mich alsdann dauernd zu beseitigen. dots{}
18476 „Aber ich bitte Sie, ich habe nie gehört, daß Sie Feinde bei den
18477 Numen haben.“
18479 Torm lachte bitter. „Es könnte doch jemand ein Interesse haben –“
18481 Grunthe runzelte die Stirn und zog die Lippen zusammen. Torm sah,
18482 daß es vergeblich wäre, mit Grunthe von diesen
18483 Privatangelegenheiten zu sprechen.
18485 „Ich bin in der Tat“ sagte er leise, „in den Augen der Martier ein
18486 Verbrecher, obwohl ich von meinem Standpunkt aus in einer
18487 berechtigten Notlage gehandelt habe. Und in diesem Gefühl bin ich
18488 hierhergekommen und schleiche umher wie ein Bösewicht, in der
18489 Furcht, erkannt zu werden. Ich weiß nichts von den Verhältnissen in
18490 Europa. Ich bin hierhergekommen, weil ich glaubte, Ell sei hier,
18491 und mit ihm wollte ich ab–, wollte ich sprechen, gleichviel, was
18492 dann aus mir würde. Mein einziger Gedanke war, nicht eher von den
18493 Martiern gefaßt zu werden, bis ich Ell persönlich gegenübergetreten
18494 war. Und das werde ich auch jetzt ausführen. Ich gehe morgen nach
18495 Berlin. Ich habe noch Gelder auf der hiesigen Bank, aber ich habe
18496 nicht gewagt, sie zu erheben, weil ich überzeugt war, man warte nur
18497 darauf, mich bei dieser Gelegenheit festzunehmen.“
18499 „Ich stehe natürlich zu Ihrer Verfügung, aber ich glaube, daß Ihre
18500 Befürchtungen völlig grundlos sind. Und, wenn ich das sagen darf,
18501 daß Sie auch Ell irrtümlich für Ihren Feind halten. Er hat sich
18502 stets gegen Ihre Frau Gemahlin so rücksichtsvoll, freundschaftlich
18503 und fürsorgend verhalten, daß ich wirklich nicht weiß, worauf sich
18504 Ihr Argwohn stützt –“
18506 „Lassen wir das, Grunthe, lassen wir das. Sagen Sie mir vor allem,
18507 wie ist das alles gekommen, wie sind diese Martier hier Herren
18508 geworden, wie sind die politischen Verhältnisse?“
18510 „Sie sollen alles erfahren. Aber ich bitte Sie, erklären Sie mir
18511 zunächst, worauf Ihre Besorgnis gegen die Martier sich gründet –
18512 ich bin ja völlig unwissend über Ihre Erlebnisse. Wir hatten die
18513 Hoffnung aufgegeben, Sie wiederzusehen. Wo kommen Sie her, wo waren
18514 Sie, daß Sie so ohne jeden Zusammenhang blieben mit den
18515 Ereignissen, welche die ganze Welt umgestürzt haben?“
18517 „Nun gut, hören Sie zuerst, was mir geschehen ist. Ich kann mich
18518 kurz fassen. Sie wissen, daß ich die Absicht hatte, selbst nach dem
18519 Mars zu reisen, falls meine Frau nicht kräftig genug war, die Reise
18520 nach der Erde anzutreten.“
18522 „Gewiß. Ill bewilligte Ihnen eine Lichtdepesche, und Sie erfuhren
18523 daraus, daß Sie nicht abreisen sollten, da Ihre Frau Gemahlin mit
18524 einem der nächsten Raumschiffe nach der Erde käme. Sie gingen
18525 darauf Anfang Mai nach dem Nordpol, um Ihre Frau dort zu erwarten.
18526 Ich erhielt noch am 10. Mai einen Brief von Ihnen, in welchem Sie
18527 die Hoffnung aussprachen, bald mit Ihrer Frau, die in den nächsten
18528 Tagen zu erwarten sei, nach Deutschland zurückzukehren. Am 12. war
18529 dann jener unselige Tag der Protektoratserklärung – und seitdem war
18530 jede Spur von ihnen verschwunden.“
18532 „So ist es“, sagte Torm. „An dem Tag, dem 12. Mai kam das
18533 Raumschiff, aber es brachte weder meine Frau noch Ell, sondern die
18534 Nachricht, daß der Arzt die Reise für die nächste Zeit noch
18535 untersagt hätte. Ich geriet dadurch in eine gereizte Stimmung, die
18536 sich noch steigerte, als ich erfuhr, daß die politischen
18537 Verhältnisse sich bis zum Abbruch der friedlichen Beziehungen
18538 zugespitzt hatten. Meine Pflicht rief mich nun unbedingt nach
18539 Deutschland zurück; denn obwohl seit diesem Tag der Verkehr mit
18540 Deutschland aufgehoben war, mußte ich doch annehmen und erfuhr es
18541 auch bald aus ausländischen Blättern, daß das gesamte Heer
18542 mobilisiert werde. Wie aber sollte ich in die Heimat gelangen? Die
18543 Luftboote nach Deutschland verkehrten nicht mehr, und auf meine
18544 direkte Bitte um Beförderung nach einem englischen Platz wurde mir
18545 erwidert, daß ich in meiner Eigenschaft als Offizier der Landwehr
18546 während der Dauer des Kriegszustandes zurückgehalten werden müßte,
18547 es sei denn, daß ich mich ehrenwörtlich verpflichtete, mich nicht
18548 zu den Waffen zu stellen. Das konnte ich selbstverständlich nicht
18549 tun. Nach dem Mars zu gehen, war mir gestattet, aber damit war mir
18550 nun nicht mehr gedient. Ich mußte nach Deutschland. Wiederholte
18551 unangenehme Dispute mit den Offizieren der Martier, von denen die
18552 Insel jetzt wimmelte, machten mir den Aufenthalt unerträglich. Ich
18553 erwog hundert Pläne zur Flucht, selbst an unsern alten Ballon, der
18554 noch immer dort lagert, dachte ich. Endlich beschloß ich auf eigene
18555 Faust die Wanderung über das Eis zu versuchen, die mir ja schon
18556 einmal gelungen war. Im Fall der vorzeitigen Entdeckung konnte
18557 doch, wie ich meinte, meine Lage nicht verschlimmert werden.
18558 Natürlich wurde ich entdeckt und zurückgebracht. Man kündete mir
18559 an, daß ich wegen Verdachts der Spionage die Insel Ara nicht mehr
18560 verlassen dürfe – vorher hatte man meinen Besuchen auf den
18561 benachbarten Inseln nichts in den Weg gelegt – und daß ein
18562 Kriegsgericht oder dergleichen über mein weiteres Schicksal
18563 beschließen würde. Schon glaubte ich, daß man mich nach dem Mars
18564 bringen würde; dann konnte ich wenigstens hoffen, meine Frau zu
18565 treffen. Aber ich erfuhr bald, daß ich jedenfalls auf der
18566 Außenstation interniert werden würde, von wo jede Flucht für mich
18567 unmöglich war. In dieser Zeit dort untätig als Gefangener zu
18568 sitzen, war mir ein entsetzlicher Gedanke. Ich faßte einen
18569 Entschluß der Verzweiflung. Jetzt sehe ich ein, daß es eine Torheit
18570 war. Doch Sie müssen sich in meine damalige Stimmung versetzen –
18571 wenn Sie es können. Ich bildete mir außerdem ein, man werde mich
18572 daheim für einen fahnenflüchtigen Feigling halten, wenn ich nicht
18573 vom Pol zurückkehrte. Ich hatte auch keine Zeit zur Überlegung,
18574 denn am nächsten Tag sollte das Kriegsgericht sein, worauf ich
18575 sofort in den Flugwagen gebracht worden wäre. – Kurzum, ich
18576 beschloß, die Zeit zu benutzen, während der ich mich noch auf der
18577 Insel frei bewegen durfte. Die Luftschiffe zu betreten und zu
18578 studieren, war mir immer erlaubt gewesen, ich kannte jetzt ihre
18579 Einrichtung genau und erinnerte mich an das Abenteuer, das Saltner
18580 auf dem Mars erlebt hatte, als er sich in dem Luftschiff des
18581 Schießstandes versteckte. Ich wußte, welches Schiff im Lauf der
18582 nächsten Stunden abgehen würde, denn sowohl nach dem Schutzstaat
18583 England als auch nach andern Teilen der Erde fand lebhafter Verkehr
18584 statt. So glaubte ich, wenn es mir gelänge, mich in dem nach
18585 England gehenden Schiffe zu bergen, von den Martiern selbst
18586 fortbefördert zu werden. Ich wollte es wagen. Ich versah mich mit
18587 etwas Proviant, denn ich war entschlossen, im Notfall zwei Tage in
18588 meinem Versteck zu verbleiben. Da fiel mir ein, daß ich ohne
18589 Sauerstoff apparat unmöglich in der Höhe aushalten könnte, in der
18590 die Schiffe zu fahren pflegen. Hier blieb mir nichts anderes übrig,
18591 als zu stehlen. Ich eignete mir zwei von den Absorptionsbüchsen der
18592 Martier an, mehr konnte ich nicht fortschaffen. Trübes Wetter – wir
18593 hatten ja freilich keine Nacht – begünstigte mein Vorhaben durch
18594 ein starkes Schneegestöber, so daß kein Martier, der nicht durch
18595 sein Amt gezwungen war, sich auf dem Dach der Insel sehen ließ. So
18596 gelang es mir leichter, als ich glaubte, mich in das noch gänzlich
18597 unbesetzte Schiff einzuschleichen, dessen Wächter in einer der
18598 Kajüten beschäftigt war. Es war ein ausnehmend geräumiges Boot, und
18599 ich fand meine Zuflucht, wie damals Saltner, zwischen und hinter
18600 dem Stoff, den Saltner für Heu hielt, der aber, wie Sie jetzt
18601 wissen werden, den besondern Zwecken der Diabarieverteilung dient.
18602 Bei gutem Glück rechnete ich, da noch drei Stunden bis zur Abfahrt
18603 des Schiffes waren, in acht oder neun Stunden in England zu sein
18604 und dann das Schiff ebenso unbemerkt verlassen zu können. Und
18605 wirklich hatte man mich noch nicht vermißt oder nicht im Schiff
18606 gesucht – das Schiff erhob sich. Stunde auf Stunde verging, und ich
18607 schlummerte von Zeit zu Zeit in meinem dunklen Gefängnis ein. Nun
18608 sagte mir meine Uhr, daß wir in England sein müßten. Aber aufs neue
18609 verging Stunde auf Stunde, ohne daß das Schiff zur Ruhe kam. Ich
18610 bemerkte die Bewegung natürlich nur an dem leichten Geräusch des
18611 Reaktionsapparats und dem Zischen der Luft. So oft ich aus
18612 Sparsamkeit mit dem Sauerstoffatmen aufhörte, fühlte ich alsbald,
18613 daß wir noch immer in sehr hohen Schichten sein müßten, und ich
18614 geriet in große Sorge, ob mein Vorrat ausreichen würde. Endlich,
18615 nach mehr als zehnstündiger Fahrt, als ich schon überlegte, ob ich
18616 mich nicht, um dem Erstickungstod zu entgehen, den Martiern ergeben
18617 sollte, erkannte ich zu meiner unbeschreiblichen Freude an der
18618 Veränderung der Luft, daß das Schiff sich senke. Bald hörte ich
18619 auch aus dem veränderten Geräusch, daß es mit Segelflug arbeite.
18620 Ich schloß daraus, daß man eine Landungsstelle suche und sich also
18621 nicht einem der gewohnten Anlegeplätze nähere.
18623 Können Sie sich meinen Zustand, meine nervöse Erregung vorstellen?
18624 Seit zehn Stunden im Finstern eingeschlossen, zuletzt unter
18625 Atemnot, in fortwährender Gefahr, entdeckt zu werden, ohne zu
18626 wissen, wohin die Reise geht, wo ich das Licht des Tages wieder
18627 erblicken werde und wie es mir möglich werden wird, unbemerkt dem
18628 Schiff zu entfliehen! Ich suchte mir einen Plan zu machen – aber wo
18629 würde ich mich dann befinden? Der Zeit nach zu schließen, mußten
18630 wir sechs- bis siebentausend Kilometer zurückgelegt haben. Ich
18631 konnte in Alexandria sein oder in New-Orleans, ebensogut auch in
18632 der Sahara oder in China. Wie sollte ich dann weiterkommen, falls
18633 ich den Martiern entfliehen konnte? Ich mußte alles vom Augenblick
18634 abhängig machen.
18636 Endlich verstummte das Geräusch der Fahrt, ich fühlte den
18637 Landungsstoß, das Schiff ruhte. Es kam nun darauf an, ob es die
18638 Martier verlassen würden. Wenn ich wenigstens gewußt hätte, ob es
18639 Tag oder Nacht war. Aber das hing ja ganz davon ab, nach welcher
18640 Himmelsrichtung wir gefahren waren. Aus der Landung selbst konnte
18641 ich nichts schließen, da ich nichts von der Bestimmung des Schiffes
18642 wußte, für welche ebensogut die Nacht als der Tag die passende
18643 Ankunftszeit sein konnte, je nach den Absichten der Martier. Noch
18644 eine Stunde vielleicht hörte ich über mir Tritte und Stimmen, dann
18645 wurde es still. Ich schlich aus meinem Versteck nach der Drehtür.
18646 Geräuschlos öffnete sich eine Spalte. Es war Nacht! Denn nur ein
18647 ganz schwaches Fluoreszenzlicht schimmerte durch das Innere des
18648 Schiffes. Man hatte also Grund, nach außen hin kein Licht zu
18649 zeigen, man wollte nicht bemerkt sein. Nun öffnete ich die Drehtür
18650 vollends und spähte in den Raum. Die Martier lagen in ihren
18651 Hängematten und schliefen. Wachen befanden sich jedenfalls
18652 außerhalb des Schiffes, aber nach innen konnten sie nicht gut
18653 blicken und hatten auch dort nichts zu suchen. Ich konnte also ohne
18654 Bedenken aus dem untern Raum heraussteigen und zwischen den
18655 Hängematten nach dem Ausgang schreiten; selbst wenn mich jemand
18656 hier bemerkte, hätte er mich doch für einen von der Besatzung
18657 gehalten. So gelangte ich ungefährdet bis an die Treppe, die aufs
18658 Verdeck und von dort ins Freie führte. Die Luke stand offen, aber
18659 auf der obersten Stufe der Treppe saß ein Martier, der, von seinem
18660 Helm gegen die Schwere geschützt, nach außen hin Wache hielt. An
18661 ihm mußte ich vorüber. Ich stieg möglichst unbefangen und ohne mein
18662 Nahen verbergen zu wollen die Stufen hinauf und drängte mich an ihm
18663 vorüber, indem ich die gebückte Haltung der Martier ohne
18664 Schwereschirm annahm. Ich hatte keine andre Wahl, durch List hätte
18665 ich nichts erreicht. So stand ich schon auf dem Verdeck, als der
18666 Martier mich anrief, wo ich hinwollte. Ich antwortete nicht,
18667 sondern suchte nur nach der abwärts führenden Treppe. Sie war aber
18668 eingezogen. Da faßte der Wächter mich an und rief: ›Das ist ja ein
18669 Bat. Was willst du?‹
18671 Zugleich drückte er die Alarmglocke. Was im nächsten Augenblick
18672 geschah, weiß ich nicht mehr deutlich. Ich höre nur einen
18673 Schmerzensschrei, den der Martier ausstieß, als er, von meinem
18674 Faustschlag gegen die Stirn getroffen, die Treppe hinabstürzte. Ich
18675 selbst fühle mich das gewölbte Dach des Schiffes hinabgleiten, doch
18676 ich komme auf die Füße und laufe auf gut Glück vom Schiff fort, so
18677 schnell meine Beine mich tragen wollen. Die Nacht war klar, aber
18678 nur vom Sternenlicht erhellt. Der Boden senkte sich, denn das
18679 Luftschiff war, wie nicht anders zu erwarten, auf einem Hügel
18680 gelandet. Eine endlose Ebene schien sich vor mir auszudehnen; ich
18681 fühlte kurzes Gras unter mir. Als ich es wagte, mich einen
18682 Augenblick rückwärts zu wenden, bemerkte ich, daß hinter mir sich
18683 eine Hügellandschaft befand, die zu einem schneebedeckten Gebirge
18684 aufstieg. Ich hoffte, irgendwo ein Versteck zu finden, das mich vor
18685 den ersten Nachforschungen der Martier verbarg, um mich dann im
18686 Lauf der Nacht noch möglichst weit zu entfernen und bei den
18687 unbekannten Bewohnern des Landes Schutz zu suchen. Da plötzlich
18688 tauchte, wie aus der Erde gestiegen, eine Reihe dunkler Gestalten
18689 vor mir auf, die sich sofort auf mich stürzten und mich
18690 niederwarfen. Ich sah Messer vor meinen Augen blitzen und glaubte
18691 mich verloren.
18693 In diesem furchtbaren Augenblick wurde die Nacht mit einem Schlag
18694 zum Tag. Das Marsschiff hatte seine Scheinwerfer erglühen lassen.
18695 Wie eine Sonne in blendendem Licht strahlend erhob es sich langsam
18696 in die Luft, jedenfalls um mich zu suchen. Dieser Anblick versetzte
18697 die Eingeborenen, die mich überfallen hatten, in einen
18698 unbeschreiblichen Schrecken. Zunächst warfen sie sich auf den
18699 Boden, dann krochen sie, ohne sich um mich zu kümmern, auf diesem
18700 fort und waren in wenigen Augenblicken ebenso plötzlich
18701 verschwunden, wie sie gekommen waren. Ich war frei. Aber was sollte
18702 ich tun? Wenn ich hier blieb, so mußte ich in wenigen Minuten von
18703 den Martiern entdeckt werden. Ich sagte mir, daß sich dort, wo die
18704 Eingeborenen verschwunden waren, auch ein Versteck für mich finden
18705 würde. In der Tat, wenige Schritte vor mir zog eine trockene
18706 Erdspalte quer durch die Steppe. Ich stieg hinab und schmiegte mich
18707 in den tiefen Schatten eines Risses. Von oben konnte ich hier nicht
18708 gesehen werden. Die Martier hatten natürlich bald die Spalte
18709 bemerkt und schwebten langsam über derselben hin, aber ich wurde
18710 nicht entdeckt. Noch mehrfach sah ich das Licht aufleuchten,
18711 endlich verschwand es. Auch von den Eingeborenen sah ich nichts
18712 mehr.
18714 Etwa eine Stunde mochte ich so gelegen haben – es war unangenehm
18715 kalt –, als der erste Schimmer der Dämmerung den Anbruch des Tages
18716 verkündete. Ich verzehrte den Rest meines Proviants, und als es
18717 hell genug geworden war, lugte ich vorsichtig über die Ebene. Das
18718 Schiff mußte sich entfernt haben, es war keine Spur mehr zu sehen.
18719 Ich wanderte nun am Rande des Spaltes weiter. Nicht lange, so
18720 bemerkte ich, daß mir eine große Schar von Bewohnern des Landes
18721 entgegenkam. Ich blieb stehen und suchte durch Bewegungen der Arme
18722 meine friedlichen Absichten verständlich zu machen. Erst glaubte
18723 ich, das Schlimmste befürchten zu müssen, denn die Leute liefen
18724 unter lautem Geschrei auf mich zu und schossen ihre langen Flinten
18725 ab, aber sie zielten nicht auf mich. Bald erkannte ich, daß dies
18726 eine Freudenbezeugung sein sollte. Einige ältere Männer, offenbar
18727 die Anführer, traten an mich heran und verbeugten sich mit allen
18728 Zeichen der Ehrfurcht. Dann kauerten sie sich im Halbkreis um mich
18729 nieder, und ich setzte mich ebenfalls auf den Boden. Allmählich
18730 verständigten wir uns durch Pantomimen, und ich folgte ihrer
18731 Einladung, sie zu begleiten. Nach einer langen Wanderung erweiterte
18732 sich die Spalte zu einem kleinen Tal, und hier fand sich eine
18733 Niederlassung, wo ich mit allen Ehren eines angesehenen Gastes
18734 aufgenommen wurde. Ich blieb einige Tage dort und wurde dann von
18735 meinen Gastfreunden nach Süden geleitet. Nach mehreren Tagereisen
18736 erreichten wir eine ausgedehnte Stadt. Jetzt erst wurde mir nach
18737 und nach klar, wo ich hingeraten war. Die Stadt war Lhasa, die
18738 Hauptstadt von Tibet, der Sitz des Dalai-Lama. Die Tibetaner waren
18739 durch die überirdische Erscheinung des lichtstrahlenden
18740 Luftschiffes in ihrer Gesinnung völlig umgewandelt. Sie hielten
18741 mich für ein wunderbares Wesen, das in einem leuchtenden Wagen
18742 direkt vom Himmel gekommen war. Ich wurde auch in Lhasa sehr
18743 ehrenvoll aufgenommen, aber alle Bemühungen, von hier
18744 weiterzureisen, waren vergebens. Man gestattete nicht, daß ich mich
18745 aus der Stadt entferne. Und so war ich fast ein Jahr in dieser
18746 allen Fremden verschlossenen Stadt. Aber auch dies hatte
18747 schließlich ein Ende.
18749 Sie werden wahrscheinlich wissen, daß die Martier jetzt auf dem
18750 Hochplateau von Tibet große Strahlungsfelder angelegt haben, um
18751 während des Sommers die Sonnenenergie zu sammeln. Die Trockenheit
18752 des Klimas bei der hohen Lage von 5.000 Meter überm Meer sagt ihrer
18753 Konstitution am meisten zu von allen Ländern der Erde. Das Schiff,
18754 mit welchem ich hingekommen war, stellte die ersten Nachforschungen
18755 an, und bald hatten mehr und mehr Schiffe eine große Anzahl der
18756 Martier, vornehmlich die Bewohner ihrer Wüsten, die Beds, dahin
18757 gebracht. Die Tibetaner fühlten sich dadurch beunruhigt und wandten
18758 sich an die chinesische Regierung. Zugleich aber glaubten sie, daß
18759 meine Anwesenheit, die sie übrigens sorgfältig geheimhielten,
18760 Ursache sei, weshalb die wunderbaren Fremden durch die Luft in ihr
18761 Land kämen. So erhielt ich die Erlaubnis, mich einer Karawane
18762 anzuschließen, die über den Himalaja nach Indien ging. Nach
18763 mannigfachen Abenteuern, mit denen ich Sie nicht aufhalten will,
18764 gelang es mir schließlich, mich bis nach Kalkutta durchzuschlagen.
18765 Ich besaß noch eine nicht unbedeutende Summe deutschen Geldes,
18766 durch das ich mich hier wieder in einen europäischen Zustand
18767 versetzen konnte. Indessen wagte ich nicht, mich bei den Behörden
18768 zu melden oder mich zu erkennen zu geben, da ich fürchtete, von den
18769 Martiern verfolgt zu werden. Aus den Zeitungen ersah ich, daß das
18770 Luftschiff, welches von Kalkutta allwöchentlich nach London geht,
18771 in Teheran, Stambul, Wien und Leipzig anlegt. Von Leipzig benutzte
18772 ich den nächsten Zug nach Friedau. Und mein erster Gang war
18773 hierher. Ich habe es vermieden, mit jemand zu sprechen. Ich bin
18774 entsetzt über die Veränderung der Verhältnisse. Nun sagen Sie mir
18775 vor allem, was war unser Schicksal im Krieg mit dem Mars?“
18777 Grunthe hatte ohne eine Miene zu verziehen zugehört. Jetzt sagte er
18778 bedächtig, ohne auf Torms letzte Frage zu achten:
18780 „Hatten Sie Ihren Chronometer und unsern Taschenkalender mit?“
18782 „Ja, aber –“
18784 „So haben Sie doch wohl einige Ortsbestimmungen machen können? Ich
18785 meine nach dem Harzerschen Fadenverfahren, mit bloßem Auge?“
18787 Torm lächelte trüb. „Ich hatte freilich Zeit dazu“, sagte er, „und
18788 habe es auch getan. Sie können sie berechnen. Aber zuerst –“
18790 „Oh, entschuldigen Sie“, unterbrach ihn Grunthe. „Sie wissen, ich
18791 bin ein sehr unaufmerksamer Wirt. Ich hätte ihnen doch zuerst ein
18792 Abendessen anbieten sollen. Allerdings habe ich nichts zu Hause,
18793 doch – wir könnten vielleicht –“
18795 Seine Lippen zogen sich zusammen. Das Problem schien ihm sehr
18796 schwer. „Ich danke herzlich“, sagte Torm. „Ich habe gegessen und
18797 getrunken.“
18799 „Um so besser“, rief Grunthe erleichtert. „Aber logieren werden Sie
18800 bei mir. Das läßt sich machen.“
18802 „Das nehme ich an, weil ich mich nicht gern hier in den Hotels
18803 sehen lassen möchte. Morgen fahre ich ja nach Berlin.“
18805 „Wollen Sie denn nicht an Ihre Frau Gemahlin telegraphieren, daß
18806 Sie kommen? Ich habe die Adresse, da ich wegen der Abrechnungen –
18807 warten Sie, es muß hier stehen – ich kann unsern Burschen nach der
18808 Post schicken
18810 „Das ist nicht nötig“, sagte Torm. „Ich werde – doch die Adresse
18811 können Sie mir immerhin geben.“
18813 Grunthe suchte unter seinen Büchern.
18815 „Ach, sehen Sie“, sagte er, „da finde ich doch noch etwas – im
18816 Frühjahr hat mich Saltner einmal besucht – da ließ ich Wein holen,
18817 und hier ist noch eine Flasche. Gläser habe ich von Ell. Sie müssen
18818 da irgendwo stehen. Das trifft sich gut – wissen Sie denn, was
18819 heute für ein Tag ist? Der neunzehnte August. Heute vor zwei Jahren
18820 kamen wir am Nordpol an. Wie schade, daß Saltner nicht hier ist, er
18821 könnte wieder ein Hoch ausbringen –“
18823 Torm fuhr aus seinem Nachsinnen empor.
18825 „Erinnern Sie mich nicht daran“, sagte er finster. „Mit jener
18826 Stunde begann mein Unglück. Wie kam denn jener Flaschenkorb –“ Er
18827 schlug mit der Hand auf den Tisch und sprang auf. Er unterbrach
18828 sich und murmelte nur noch für sich: „Ich stoße nicht mehr an.“
18830 „Geben Sie nur die Gläser her“, sagte er darauf ruhiger. „Ja, wir
18831 wollen uns setzen. Und nun sind Sie daran zu berichten.“
18833 Grunthe blickte starr vor sich hin.
18835 „Wir sind in der Gewalt der Nume“, begann er nach einer Pause.
18836 „Ganz Europa, außer Rußland. Wir beugen uns vor unserm Herrn. Wir
18837 sind Kinder geworden, die in die Schule geschickt werden. Man hat
18838 sogenannte Kultoren eingesetzt über die verschiedenen
18839 Sprachgebiete. Der größte Teil des Deutschen Reichs, die deutschen
18840 Teile von Österreich und der Schweiz stehen unter Ell. Man will uns
18841 erziehen, intellektuell und ethisch. Die Absicht ist gut, aber
18842 undurchführbar. Das Ende wird entsetzlich sein – wenn es nicht
18843 gelingt –, doch davon später.“
18845 Grunthe schwieg.
18847 „Ich begreife noch nicht“, sagte Torm, „wie war es möglich, daß wir
18848 in diese Abhängigkeit gerieten? Warum unterwarfen wir uns?“
18850 „Entschuldigen Sie mich“, antwortete Grunthe. „Ich bin nicht
18851 imstande, von diesen schmerzlichen Ereignissen zu sprechen. Ich
18852 bringe es nicht über die Lippen. Lassen wir es lieber. Ich werde
18853 Ihnen eine Zusammenstellung der Ereignisse in einer Broschüre geben
18854 – hier sind mehrere. Lesen Sie selbst, für sich allein. Sie werden
18855 auch müde sein. Lesen Sie morgen früh. Reden wir von etwas
18856 anderm.“
18858 Aber sie redeten nicht. Der Wein blieb unberührt. Das Herz war
18859 beiden zu schwer. Einmal sagte Grunthe vor sich hin: „Es ist nicht
18860 der Verlust der politischen Macht für unser Vaterland, der mich am
18861 meisten schmerzt, so weh er mir tut. Schließlich müßte es
18862 zurückstehen, wenn es bessere Mittel gäbe, die Würde der Menschheit
18863 zu verwirklichen. Was mir unmöglich macht, ohne die tiefste
18864 Erregung von diesen Dingen zu reden, ist die demütigende
18865 Überzeugung, daß wir es eigentlich nicht besser verdienen. Haben
18866 wir es verstanden, die Würde des Menschen zu wahren? Haben nicht
18867 seit mehr als einem Menschenalter alle Berufsklassen ihre
18868 politische Macht nur gebraucht, um sich wirtschaftliche Vorteile
18869 auf Kosten der andern zu verschaffen? Haben wir gelernt, auf den
18870 eigenen Vorteil zu verzichten, wenn es die Gerechtigkeit verlangte?
18871 Haben die führenden Kreise sittlichen Ernst gezeigt, wenn es galt,
18872 das Gesetz auch ihrer Tradition entgegen durchzuführen? Haben sie
18873 ihre Ehre gesucht in der absoluten Achtung des Gesetzes, statt in
18874 äußerlichen Formen? Haben wir unsern Gott im Herzen verehrt, statt
18875 in Dogmen und konventionellen Kulten? Haben wir das Grundgesetz
18876 aller Sittlichkeit gewahrt, daß der Mensch Selbstzweck ist und
18877 nicht bloß als Mittel gebraucht werden darf? Oh, das ist es ja
18878 eben, daß die Nume in allem vollständig recht haben, was sie lehren
18879 und an uns verachten, und daß wir doch als Menschen es nicht von
18880 ihnen annehmen dürfen, weil wir nur frei werden können aus eigener
18881 Arbeit. Und so ist es unser tragisches Schicksal, daß wir uns
18882 auflehnen müssen gegen das Gute! Und es ist das tragische Geschick
18883 der Nume, daß sie um des Guten willen schlecht werden müssen!“
18885 Er stand auf und trat an das Fenster.
18887 „Es scheint sich aufzuklären. Vielleicht kann ich noch eine
18888 Beobachtung machen. Wollen Sie mitkommen? Ich zeige Ihnen dabei Ihr
18889 Zimmer.“
18891 Torm ergriff die Broschüren und folgte ihm.
18893 \section{45 - Des Unglück des Vaterlands}
18895 Torm ging unruhig in seinem Zimmer auf und ab. Seine Liebe zu Isma,
18896 das alte, feste Vertrauen, das sich wieder hervordrängte, die
18897 Mitteilungen Grunthes über Ells freundschaftliches Verhalten, das
18898 alles kämpfte in seinem Innern mit dem feindlichen Argwohn, in den
18899 er sich in der Einsamkeit seiner Verbannung immer fester
18900 hineingelebt hatte. Die stets erneute Verzögerung der Heimkehr
18901 Ismas und das gleichzeitige Zurückbleiben Ells, wofür er keinen
18902 Grund einzusehen vermochte, hatten allmählich in ihm den Verdacht
18903 erweckt, daß es Ell doch nicht ehrlich mit ihm meine. Von nun ab
18904 glaubte er überall die Hand Ells im Spiele zu sehen. Die
18905 Verhinderung seiner Heimreise vom Pol schob er ebenfalls auf einen
18906 Einfluß Ells. Wer konnte wissen, welche Lichtdepeschen zwischen den
18907 Planeten, zwischen Neffe und Oheim, gewechselt wurden? Zu seiner
18908 verzweifelten Flucht hatte er sich in einem Moment der Erregung
18909 entschlossen, der noch einen andern Grund hatte, als er Grunthe
18910 gegenüber aussprechen wollte. Bei seinen Disputen mit den Martiern
18911 am Pol hatte er aus der hingeworfenen Bemerkung eines der
18912 martischen Offiziere entnommen, daß man nach den Gesetzen der Nume
18913 ihm überhaupt keinerlei Recht zuerkannte, die Rückkehr seiner Frau
18914 zu verlangen. Die formale Gültigkeit seiner Ehe war auf dem Mars
18915 nicht anerkannt. Niemand hätte es unter den vorliegenden Umständen
18916 Isma verdacht, wenn sie sich als frei erklärt hätte. Dies hatte
18917 Torm in die höchste Aufregung versetzt, und ein nagendes Gefühl der
18918 Eifersucht hatte ihm einen Teil seiner ruhigen Besinnung geraubt.
18920 Jetzt freilich mußte ihm Isma in anderm Licht erscheinen. Hatte er
18921 denn irgendeinen bestimmten Vorwurf gegen sie zu erheben? Sie war
18922 ja zurückgekehrt, und sie hatte sich damit offenbar zu ihm bekannt.
18923 Sollte er nun zu Ell rücksichtslos vordringen und sich vielleicht
18924 rettungslos der Gewalt der Martier ausliefern? War Ell unschuldig,
18925 so war dieses Opfer ganz unnötig gebracht. War Ell aber schlecht,
18926 so gab er sich in seine Hand. Als er seinen Entschluß gefaßt hatte,
18927 zuerst zu Ell zu gehen, wußte er ja noch nicht, daß sich dieser in
18928 einer so unerreichbaren Machtstellung befand. So schien es ihm
18929 jetzt doch als das richtige, sich mit Isma in Verbindung zu
18930 setzen.
18932 Aber wie konnte das ohne Gefahr geschehen? Und vor seinem Geist
18933 stieg die furchtbare Anklage auf, einen Nume bei der Ausübung
18934 seiner Pflicht verletzt, vielleicht getötet zu haben – –. Was ihm
18935 das Mittel werden sollte, Isma wiederzugewinnen, die rücksichtslose
18936 Flucht, nun erschien es ihm als ein verhängnisvolles Schicksal, das
18937 ihn für immer von ihr trennen sollte. Unter dem Druck der schweren
18938 Anklage, die auf ihm lastete, durfte er vor ihre Augen treten? Was
18939 sollte er tun? Mechanisch griff er nach einer der Broschüren, an
18940 die er nicht mehr gedacht hatte. Sein Auge fiel auf die
18941 Überschrift: „Das Unglück vom 30. Mai.“ Er begann zu lesen. Und der
18942 Schmerz um das Vaterland drängte die eigene Sorge zurück.
18944 „Ihr sollt es einst wissen, Kinder und Enkel“, so hieß es, „was uns
18945 geschehen ist, damit ihr weinen könnt und zürnen wie wir. Darum
18946 schreiben wir das Traurige auf, obwohl die Hand unwillig sich
18947 sträubt.
18949 Es war der Tag der großen Parade, an dem der oberste Kriegsherr
18950 sein herrliches Heer musterte, das um die Hauptstadt
18951 zusammengezogen war. Von der zahllosen, begeisterten Menge der
18952 Zuschauer umgeben, waren die glänzenden Regimenter
18953 vorübermarschiert an der ›einsamen Pappel‹. So hieß die Stelle nach
18954 einem Baum, der sich einstmals hier befunden hatte, wo der Monarch,
18955 umringt von der Mehrzahl der deutschen Fürsten und seinen
18956 Generälen, die Heerschau hielt. Nun hatten sich die Truppen weiter
18957 auseinandergezogen und die Gewehre zusammengestellt, während der
18958 Kriegsherr den Führern seine Anerkennung aussprach.
18960 Und da geschah es.
18962 Vor der Hauptstadt des Reiches, an dessen Grenzen man nirgends die
18963 Spur eines Feindes hatte beobachten können.
18965 Im Augenblick der größten Machtentfaltung des stärksten
18966 Landheeres.
18968 Wie ein Schwarm von Raubvögeln schoß es vom Himmel hernieder,
18969 geräuschlos, glänzende, glatte Ungetüme. Und im Moment, da man sie
18970 bemerkte, waren sie auch schon da und hatten die Schar der Anführer
18971 umringt.
18973 ›Zu den Truppen!‹ hieß es.
18975 Die Kommandierenden stoben auseinander.
18977 ›Zurück! Ergebt euch! Der Weg ist gesperrt!‹ tönte es ihnen aus den
18978 feindlichen Luftschiffen entgegen.
18980 Die Offiziere kümmerten sich nicht darum, sie sprengten weiter.
18981 Aber nicht lange. Keiner passierte den Kreis, den die Schiffe
18982 absperrten. Von einer unsichtbaren Macht zurückgeworfen, stürzten
18983 Roß und Reiter zusammen. Enger schloß sich der Ring der Schiffe,
18984 die nur wenige Meter über dem Boden schwebten, um die Fürsten und
18985 ihre Begleitung, so daß die gestürzten Offiziere jetzt außerhalb
18986 des gesperrten Kreises lagen.
18988 \tb{}
18989 Die Truppen, soweit sie nahe genug waren, um den Vorgang zu
18990 beobachten, waren sofort unter das Gewehr getreten. Als die
18991 Bataillonsführer bemerkten, daß ihre Kommandierenden nicht zu ihnen
18992 gelangen konnten, als sie sahen, daß die plötzlich erschienenen
18993 Schiffe einen feindlichen Angriff bedeuteten, dem der oberste
18994 Kriegsherr selbst mit allen Fürsten und Generälen ausgeliefert war,
18995 da bebte ihnen wohl das Herz in der Brust unter der Verantwortung,
18996 die sie auf sich gelegt fühlten. Aber nun bewährte sich der Geist
18997 unseres Heeres in erhebender Weise. Nicht ein Augenblick der
18998 Verwirrung, nicht ein Moment des Schreckens trat ein. Die Truppen
18999 einer andern Nation, falls sie sich nicht in zuchtlose Flucht
19000 aufgelöst hätten, wären vielleicht in wahnsinnigem Todesmut zur
19001 Befreiung ihres Feldherrn vorgestürzt, um in den Repulsitstrahlen
19002 und Nihilitsphären der Marsschiffe ihren Untergang zu finden, ohne
19003 daß sie auch das Geringste hätten ausrichten können. Die deutschen
19004 Offiziere indessen verloren ihre Instruktion auch in diesem
19005 schrecklichen Moment nicht aus den Augen. Nach den Erfahrungen, die
19006 man in England gemacht hatte, war es von der deutschen
19007 Heeresleitung als erster Grundsatz ausgesprochen worden, unter
19008 keinen Umständen Munition und Menschenleben gegen ein mit
19009 Nihilitsphäre versehenes Marsschiff zu verschwenden, da man wußte,
19010 daß dies ein völlig fruchtloses Beginnen sei. Die Truppen waren
19011 überhaupt nicht zusammengezogen worden, um sich irgendwo in offenem
19012 Kampf mit den Martiern zu versuchen. Man hatte vielmehr ein ganz
19013 anderes System der Verteidigung aufgestellt, und von diesem auch im
19014 Moment der äußersten Überraschung nicht abzuweichen, das war die
19015 höchste Aufgabe, welche die Disziplin zu leisten hatte.
19017 Man sagte sich, daß den Machtmitteln der Martier gegenüber eine
19018 Armee im freien Feld wie in den Forts der Festungen ohnmächtig und
19019 dem Untergang geweiht war, daß aber ihrerseits die Martier machtlos
19020 sein würden, wenn sie verhindert würden, sich der Organe der
19021 Regierung zu bemächtigen. Man hatte deswegen die Truppen lediglich
19022 zum Schutz der Hauptstädte als der Zentralpunkte der
19023 Staatsverwaltung zusammengezogen. Hier sollten sie verhindern, daß
19024 die öffentlichen Gebäude von den Martiern besetzt und in Beschlag
19025 genommen würden. Man nahm mit Recht an, daß in den Städten, mitten
19026 zwischen den Häusern der friedlichen Bürger, die Martier von
19027 gewaltsamen Zerstörungen absehen würden; daß sie, wenn sie einen
19028 Einfluß auf die Regierung gewinnen wollten, gezwungen sein würden,
19029 ihre schützenden Schiffe zu verlassen und den festen Boden zu
19030 betreten. Und hier sollte dann die starke militärische Besatzung es
19031 unmöglich machen, daß die Kassen, die Büros, die Archive und die
19032 leitenden Amtspersonen selbst in feindliche Gewalt gerieten.
19033 Deswegen hatte jedes einzelne Bataillon bereits seine bestimmte
19034 Instruktion, wohin es sich beim ersten Erscheinen der Feinde sofort
19035 zu begeben habe. Dies allein war auszuführen.
19037 Die große Parade war zum Verderben ausgeschlagen. Aber in
19038 Erinnerung an hergebrachte und liebgewordene Gewohnheiten hatte der
19039 oberste Kriegsherr geglaubt, dieselbe ohne Gefahr anordnen zu
19040 können, weil trotz des sorgfältigsten Nachrichtendienstes noch
19041 keinerlei Spur einer feindlichen Annäherung gefunden worden war.
19043 Nun war der Feind dennoch da. Jeder sah ein, daß man nichts tun
19044 konnte, als der ursprünglichen Anordnung zu folgen. Auf die
19045 feindlichen Luftschiffe schießen oder gegen sie anstürmen wäre
19046 Unsinn gewesen. Das ganze große Feld war noch von Zuschauern
19047 überflutet, die sich jetzt in eiliger Flucht nach der Stadt
19048 zurückwälzten. Auf den Chausseen drängten sich die Wagen, darunter
19049 die Equipagen, welche die fürstlichen Gemahlinnen und Prinzessinnen
19050 vom Paradefeld fortführten. So taten die Truppen ihre einfache
19051 Pflicht. Sie marschierten, so schnell sie konnten, auf den im
19052 voraus festgesetzten Wegen nach ihren Bestimmungsorten. Nur das
19053 erste Gardegrenadierregiment und das Gardekürassierregiment blieben
19054 zur persönlichen Bedeckung des Kriegsherrn zurück.
19056 Der Monarch blickte mit finsterem Ernst auf seine Umgebung, auf die
19057 feindlichen Schiffe und die betäubt oder tot am Boden liegenden
19058 Offiziere, um welche jetzt Ärzte und Krankenträger bemüht waren.
19059 Dann riß er den Degen aus der Scheide und rief:
19061 ›Meine Herren! Hier gibt es nur einen Weg hindurch!‹
19063 Er spornte sein Pferd an. Seine Begleitung warf sich ihm entgegen
19064 und beschwor ihn, sich dem sichern Verderben nicht auszusetzen. Er
19065 wollte nicht hören.
19067 ›Nun denn‹, rief da der greise General von Dollig, ›zuerst wir!‹
19069 Und einen Teil der Offiziere mit sich fortreißend, jagte er im
19070 Galopp gegen die unsichtbare Schranke, die sich nur durch eine
19071 Staubschicht über dem Boden verriet.
19073 Sobald man bei den außerhalb des Ringes der Marsschiffe haltenden
19074 Schwadronen der Gardekürassiere die Bewegung in der Begleitung des
19075 Feldherrn wahrgenommen hatte, ließen sie sich nicht länger
19076 zurückhalten. Unter brausendem Hurraruf sprengten die glänzenden
19077 Reitermassen heran, um ihren Feldherrn aufzunehmen oder mit ihm
19078 unterzugehen. Es war ein furchtbarer Moment. Starres Entsetzen
19079 faßte alle, die den Vorgang zu bemerken vermochten. Und als ob die
19080 Kühnheit des Entschlusses den übermächtigen Feind bezwänge, so kam
19081 jetzt neue Bewegung in seine Schiffe. Sie erhoben sich, als wollten
19082 sie den Weg freigeben. Gleichzeitig aber senkte es sich von oben
19083 herab wie eine dunkle, langgestreckte Masse, die eben erst auf dem
19084 Feld erschien. Wie ein breites, schwebendes Band, von den
19085 Luftschiffen begleitet, dehnte sich diese Masse jetzt in den kurzen
19086 Sekunden aus, welche die heranstürmende Kavallerie zur Annäherung
19087 brauchte. Und nun kam die erste Reihe der Reiter in den Bereich
19088 ihrer Wirkung, und gleich darauf zog die seltsame Maschine über das
19089 ganze Regiment hinweg.
19091 Die Wirkung war so ungeheuerlich, daß die Schar der ansprengenden
19092 Fürsten und Generale stockte und ein Schrei des Entsetzens vom
19093 weiten Feld her herüberhallte. Kein einziges Pferd mehr stand
19094 aufrecht. Roß und Reiter wälzten sich in einem weiten, wirren
19095 Knäuel, eine Wolke von Lanzen, Säbeln, Karabinern erfüllte die
19096 Luft, flog donnernd gegen die Maschine in der Höhe und blieb dort
19097 haften. Die Maschine glitt eine Strecke weiter und ließ dann ihre
19098 eiserne Ernte herabstürzen, wo die Waffen von den Nihilitströmen
19099 der Luftschiffe vernichtet wurden. Noch zweimal kehrte die Maschine
19100 zurück und mähte gleichsam das Waffenfeld ab. Keine Hand vermochte
19101 Säbel oder Lanze festzuhalten, und wo die Befestigung an Roß und
19102 Reiter nicht nachgab, wurden beide eine Strecke fortgeschleift. Die
19103 Hufeisen wurden in die Höhe gerissen, und dadurch waren sämtliche
19104 Pferde zum Sturz gebracht worden. Jene Maschine war die neue,
19105 gewaltige Erfindung der Martier, eine Entwaffnungsmaschine von
19106 unwiderstehlicher Kraft für jedes eiserne Gerät – ein magnetisches
19107 Feld von kolossaler Stärke und weiter Ausdehnung. Mit Hilfe dieses
19108 in der Luft schwebenden Magneten entrissen die Martier ihren
19109 Gegnern die Waffen, ohne sie in anderer Weise zu beschädigen, als
19110 es durch das Umreißen unvermeidlich war.
19112 Während die Kavallerie aus ihrer Verwirrung sich aufzuraffen
19113 versuchte, war der Luftmagnet schon weitergezogen und hatte sich
19114 der Infanterie genähert. Vergeblich umklammerten die Soldaten mit
19115 beiden Händen ihre Gewehre, eine unwiderstehliche Gewalt zerrte sie
19116 in die Höhe, und mancher, der nicht nachgeben wollte, wurde ein
19117 Stück in die Luft geschleudert, um dann schwer zu Boden zu stürzen.
19118 In wenigen Minuten war das 1. Garderegiment entwaffnet. Die
19119 Maschine flog weiter, um die auf dem Marsch befindlichen Regimenter
19120 einzuholen und dasselbe Manöver an ihnen vorzunehmen. Binnen kurzem
19121 mußte so selbst die stärkste Armee kampfunfähig gemacht sein. Auch
19122 die Geschütze der Artillerie wurden fortgerissen.
19124 Während der Monarch und seine Begleitung in tiefer Erschütterung
19125 auf das Unfaßliche starrten, senkte sich aus der Höhe dicht vor
19126 ihnen ein schlankes Schiff hernieder, das ein leuchtender Stern als
19127 das Admiralsschiff bezeichnete. Demselben entstieg, während die
19128 übrigen die Absperrung aufrecht erhielten, der Befehlshaber der
19129 Martier. Zwei Adjutanten begleiteten ihn. Über ihren Köpfen
19130 glänzten die diabarischen Helme. So traten sie langsam einige
19131 Schritte vor, die großen Augen scharf auf die Offiziere gerichtet.
19132 Unwillkürlich wichen alle zur Seite, eine Gasse öffnete sich, und
19133 der Nume stand dem Monarchen gegenüber.
19135 Der Martier grüßte mit einer ehrfurchtsvollen Handbewegung und
19136 sagte:
19138 ›Mein Auftraggeber, der Protektor der Erde, lädt Ew. Majestät und
19139 Ihre hohen Verbündeten zu einer Besprechung ein und bittet, zu
19140 diesem Zwecke dieses Schiff allergnädigst besteigen zu wollen. Ich
19141 bemerke, daß es unmöglich ist, diesen von unserer Repulsitzone
19142 umgebenen Platz auf andere Weise zu verlassen.‹
19144 Niemand wagte sich zu bewegen. Lange blickte der Fürst mit strenger
19145 Miene in das Auge des Numen, der den Blick ruhig erwiderte; keiner
19146 zuckte mit einer Wimper. Dann steckte der Monarch mit einer
19147 entschlossenen Bewegung den Degen in die Scheide und sprach
19148 nachdrücklich:
19150 ›Sie haben einen General gefangengenommen, nichts weiter. Seine
19151 Majestät, mein Herr Sohn, befindet sich nicht unter uns.‹
19153 ›Ew. Majestät werden ihn im Schiffe finden‹, sagte der Nume mit
19154 einer Verbeugung.
19156 Der Feldherr schwang sich vom Pferd. Hoch aufgerichtet, die Hand
19157 auf dem Griff des Degens, stieg er die herabgelassene Schiffstreppe
19158 hinan.
19160 Das Luftschiff, das bereits vor einer Stunde die Kommandierenden
19161 der Armeekorps in Königsberg, Breslau und Posen aufgehoben hatte,
19162 entfernte sich nach Westen – –“
19164 Torm ließ die Blätter aus seiner Hand sinken.
19166 Das also war das Unglück vom dreißigsten Mai!
19168 Er nahm die Broschüre wieder auf, er blätterte weiter, er blickte
19169 auch in die übrigen Hefte.
19171 An demselben Tag waren die Festungswerke von Spandau durch die
19172 Martier zerstört, die Kriegsvorräte unbrauchbar gemacht worden. Man
19173 hatte die Fürsten nach Berlin geführt, die ganze Stadt wurde jetzt
19174 zerniert. Wo sich Truppen im Freien zeigten, erschienen alsbald die
19175 Elektromagnete der Martier und entrissen ihnen die Waffen. Nach
19176 drei Tagen waren alle größeren Waffenplätze außer Funktion
19177 gesetzt.
19179 Jetzt liefen die Nachrichten aus Wien, Paris, Rom ein. Die Martier
19180 waren überall in ähnlicher Weise vorgegangen. Zuerst hatten sie
19181 sich der Personen der Fürsten, Präsidenten und Minister bemächtigt.
19182 Man hatte den Kaiser von Österreich auf der Jagd, den König von
19183 Indien während eines großen Empfanges aufgehoben, der Präsident der
19184 französischen Republik spielte gerade mit dem Kriegsminister eine
19185 Partie Billard, als er in das Luftschiff der Martier eingeladen
19186 wurde. Die Kammer wurde im Palais Bourbon eingeschlossen, bis der
19187 Friedensvertrag unterzeichnet war. Die gefangenen Fürsten dankten
19188 zugunsten ihrer Thronerben ab, und die jungen Nachfolger konnten
19189 zuletzt nichts anderes tun, als in die Friedensbedingungen der
19190 Martier willigen, da ihre Armeen machtlos waren und ein längerer
19191 Widerstand nur zu einer Auflösung der staatlichen Ordnung geführt
19192 hätte.
19194 Rußland allein war vorläufig von einem Angriff der Martier
19195 verschont geblieben. Die Gründe dafür wußte man nicht, doch nahm
19196 man allgemein an, daß die Martier nur eine günstige Gelegenheit
19197 abwarteten, bis ihnen die Zustände in den westlichen Staaten mehr
19198 freie Hand ließen. Das Protektorat über die Erde blieb erklärt, war
19199 aber zunächst nur für die westlichen Staaten Europas durchgeführt.
19200 Hier wartete in jeder Hauptstadt ein Resident der Marsstaaten und
19201 ein Kultor seines Amtes. Zwar war die Freiheit der Verwaltung im
19202 Innern garantiert, doch tatsächlich war auch in bezug auf
19203 Gesetzgebung und Regierungsmaßregeln der Wille der Marsstaaten im
19204 letzten Grunde ausschlaggebend. Die allgemeine Entwaffnung bis auf
19205 eine Präsenzstärke von ein halb Promille der Bevölkerung war eine
19206 der Friedensbedingungen gewesen. Trotz allen Sträubens mußten die
19207 Fürsten sie annehmen, da es tatsächlich unmöglich gewesen wäre, den
19208 technischen Machtmitteln der Martier gegenüber ohne ihren Willen
19209 eine Truppe auszubilden.
19211 Eine Reihe von Vorteilen in volkswirtschaftlicher Beziehung wurde
19212 nun angebahnt. Produkte des Mars wurden eingeführt, neue
19213 Betriebsformen von Fabriken, vor allem die Herstellung künstlicher
19214 Nahrungsmittel. Die Landwirte wurden vorläufig damit beruhigt, daß
19215 ihnen aus den Fonds der Marsstaaten große unverzinsliche Darlehen
19216 gegeben wurden, um die Kosten der Umwandlung des Fruchtbetriebs in
19217 Maschinenbetrieb durch Sonnenstrahlung zu bestreiten. Ingenieure
19218 der Martier leiteten die Einrichtung der Strahlungsfelder, zu denen
19219 vorläufig nur unfruchtbarer Boden benutzt wurde. Alles dies aber
19220 waren bloß vorbereitende Schritte, die eigentlich mehr erziehen als
19221 wirtschaftlich nützen sollten. Die Ausbeutung der Sonnenenergie
19222 suchten die Martier auf den großen Wüsten und Steppen Asiens,
19223 Afrikas und Nordamerikas. Sie hatten deshalb mit Rußland und den
19224 Vereinigten Staaten neue Verhandlungen angeknüpft.
19226 Inzwischen erstrebten sie in Europa rein ideale Ziele.
19227 Kriegskostenentschädigung verlangte man nicht, die großen Summen,
19228 die für das Militär erspart wurden, kamen den Fortbildungsschulen
19229 zugute. Die Martier wollten die Menschheit für ihre höhere
19230 Auffassung der Kultur und Sittlichkeit erziehen, und dem sollte die
19231 Einsetzung der Kultoren, die Einrichtung obligatorischer
19232 Fortbildungsschulen dienen.
19234 Torm war zu abgespannt, um weiterzulesen. Er legte die Papiere
19235 beiseite. Ein einzelnes Blatt schob sich vor. Er sah alsbald, daß
19236 es ein Flugblatt sei, zu irgendeinem bestimmten Zweck verbreitet,
19237 und sein Blick richtete sich nur noch einmal darauf, weil er mit
19238 fetten Lettern die Worte gedruckt sah: „Glaubt nicht an ihren
19239 Edelmut“, „Die Mörder von Podgoritza“, „Aber auch sie sind
19240 sterblich“. Er las das Blatt jetzt durch, einmal, zweimal. Es
19241 handelte von der sogenannten ›Bestrafung‹ von Podgoritza in
19242 Montenegro. Diese Stadt war tatsächlich von den Martiern dem
19243 Erdboden gleichgemacht worden. Allerdings hatte man den Einwohnern
19244 Zeit gelassen, sie zu räumen, aber nicht alle hatten gehorcht; da
19245 waren die Nume zum erstenmal auf der Erde schonungslos vorgegangen
19246 und hatten ohne Rücksicht auf Menschenleben ihre Drohung
19247 ausgeführt. Es waren wohl einige hundert Personen dabei umgekommen,
19248 wütende Männer, die sich den Luftschiffen entgegengeworfen hatten.
19249 Aber warum war dieses ungewöhnliche Strafgericht ergangen? Es war
19250 kurz nach der Unterwerfung der westeuropäischen Staaten gewesen,
19251 als ein großes Luftschiff der Martier, das von einer
19252 wissenschaftlichen Expedition zurückkam und zum Zweck einer kleinen
19253 Ausbesserung in der Nähe von Podgoritza anlegte, in der Nacht
19254 unvermutet von bewaffneten Bewohnern der Stadt und Umgegend
19255 überfallen worden war. Die Martier waren überrascht und bis auf den
19256 letzten Mann, zum großen Teil im Schlaf, niedergemacht worden. Es
19257 war der einzige Verlust, den die Nume bisher auf der Erde erlitten
19258 hatten und die Empörung in den Marsstaaten war ungeheuer. Man war
19259 nahe daran, die ganze Menschheit für die Bluttat unzivilisierter
19260 Albaner verantwortlich zu machen. Etwas Derartiges war den Martiern
19261 bisher undenkbar gewesen; und so wurde bestimmt, daß die Strafe
19262 ausnahmsweise nach menschlicher Art, das heißt durch Vernichtung
19263 des Gegners, vollzogen werde, weil man glaubte, sonst bei der
19264 barbarischen Bevölkerung keinen Eindruck zu erzielen. Diese
19265 Handlungsweise der Martier wurde nun in Europa ausgebeutet, um sie
19266 in üblem Licht darzustellen.
19268 Aber warum machte die Tat auf Torm einen so tiefen Eindruck? Immer
19269 und immer wieder beschäftigte ihn die Frage, welches Schiff es wohl
19270 gewesen sei, von dem kein Lebender zu den Martiern zurückkehrte.
19271 Und eine Vermutung stieg in ihm auf, an die er kaum zu glauben
19272 wagte.
19274 \section{46 - Der Kultor der Deutschen}
19276 „Unmöglich, Herr Kultor, unmöglich“, sagte der Justizminister
19277 Kreuther, indem er seine hohe Stirn mit dem Taschentuch tupfte. „In
19278 dieser Form, welche der Reichstag dem Gesetzentwurf zum Schutz der
19279 individuellen Freiheit gegeben hat, ist er für uns unannehmbar. Sie
19280 müssen das selbst zugeben. Es würden die Paragraphen 95 bis 101 des
19281 Strafgesetzbuches hinfällig werden.“
19283 „Und was schadet dies?“ fragte der Kultor kühl. Er lehnte sich
19284 bequem in seinen Stuhl zurück und ließ seine großen Augen ruhig von
19285 einem der beiden ihm gegenübersitzenden Herrn zum andern wandern.
19287 Der Justizminister blickte ihn fassungslos an. Sein Begleiter, der
19288 Minister des Innern, von Huhnschlott, richtete sich gerade auf und
19289 zerrte an seinem grauen Backenbart.
19291 „Was das schadet?“ sagte er mit mühsam zurückgehaltener Empörung.
19292 „Das heißt, die Majestät schutzlos machen, das heißt, jeder
19293 pöbelhaften Gemeinheit einen Freibrief ausstellen, das heißt, unsre
19294 heiligsten, angestammten Gefühle angreifen und die Autorität
19295 untergraben.“
19297 „Sie irren, Exzellenz“, antwortete der Kultor mit einem überlegenen
19298 Lächeln. „Es heißt nur, die Wahrheit festlegen, daß die Majestät
19299 ebensowenig durch Äußerungen anderer beleidigt werden kann, wie die
19300 Vernunft überhaupt, daß die sittliche Persönlichkeit dadurch nicht
19301 berührt wird. Die Verleumdung bleibt strafbar wie jede Schädigung,
19302 und die Autorität ist genügend geschätzt durch die
19303 Unverletzlichkeit der Person der Fürsten. Wir können es aber als
19304 keine Schädigung der Person erachten, wenn jemand ohne seine Schuld
19305 lediglich beschimpft wird. Das ist eben die Grundanschauung, die
19306 wir durchführen wollen, daß es keine solche Beleidigung gibt, daß
19307 die Injurie nicht denjenigen verächtlich macht und in der
19308 öffentlichen Meinung herabsetzt, den sie treffen soll, sondern
19309 denjenigen, der sie ausspricht. Wir erstreben mit diesem Gesetz,
19310 einen Teil unsres allgemeinen Erziehungsplanes durchzuführen. Die
19311 Menschen sollen lernen, ihre Ehre allein zu finden in dem
19312 Bewußtsein ihres reinen sittlichen Willens, und sie sollen
19313 verachten lernen den äußern Schein, der dem Schlechten ebenso
19314 zugute kommt wie dem Ehrenmann. Wir wollen die Erziehung zur innern
19315 Wahrheit, indem wir den Schutz des Gesetzes dem entziehen, was dazu
19316 verleitet, die Ehre im Urteil oder Vorurteil der Menge zu sehen.
19317 Alle unsre Maßregeln, die volkswirtschaftlichen wie die ethischen,
19318 haben nur das eine Ziel, den Menschen das höchste aller Güter zu
19319 verschaffen, die innere Freiheit.“
19321 Der Justizminister schüttelte den Kopf. „Das ist ein kindlicher
19322 Idealismus“, dachte er, aber er wußte nicht gleich, wie er dies,
19323 was er für beleidigend hielt, höflich ausdrücken solle.
19325 „Herr Kultor“, sagte von Huhnschlott, „das bedeutet eine gänzlich
19326 von der unsrigen abweichende Weltanschauung, das kann nur die
19327 Umsturzideen fördern. Wir bitten Sie inständig –“
19329 „Das ist keine neue Weltanschauung“, unterbrach ihn der Kultor
19330 streng, „es ist nur der Kern der Religion, zu deren äußeren Formen
19331 Sie sich so eifrig bekennen. Es ist die innere Freiheit im Sinne
19332 des Christentums, nur daß sein Begründer, im Zusammensturz der
19333 antiken Welt, machtlos im römischen Weltreich, sie allein finden
19334 konnte in der Verachtung und Flucht der Welt und daß seine
19335 angeblichen Nachfolger sie bloß verstanden als den Verzicht des
19336 Armseligen zugunsten des Mächtigen. Wir aber sind die Herren der
19337 Natur und der Welt und wollen nun der Pflicht nicht vergessen, für
19338 jeden diese innere Freiheit zu ermöglichen, ohne daß er auf die
19339 Güter dieses Lebens zu verzichten braucht. Und darum, meine Herren,
19340 ist es ganz vergeblich, daß Sie sich weiter bemühen. Sie werden dem
19341 Gesetz die Zustimmung der Regierung geben.“
19343 Der Kultor erhob sich.
19345 Die Minister standen sogleich auf und sahen sich verlegen an.
19347 „Verzeihen Sie, Herr Kultor“, begann der Justizminister nach einer
19348 Pause, „wir haben diese Unterredung als eine private nachgesucht;
19349 ich sehe, daß sie leider erfolglos war. Was werden Sie tun, wenn
19350 das Gesamtministerium Ihnen eine offizielle Vorstellung macht?“
19352 „Ich werde auf der Sanktionierung des Gesetzes bestehen.“
19354 „Und wenn der Bundesrat dennoch ablehnt?“
19356 „Er wird es nicht.“
19358 „Ich würde eher meine Demission einreichen, als die Annahme
19359 empfehlen“, sagte Kreuther mit Haltung.
19361 „Das Ministerium ist darin einig“, fügte Huhnschlott hinzu.
19363 „Das täte mir leid, meine Herren, aber es würden sich andere
19364 Minister finden.“
19366 „Und wenn nicht?“ rief Huhnschlott auffahrend.
19368 „Dann wird Ihnen der Herr Resident die Antwort erteilen. Bemühen
19369 Sie sich nur zu ihm, ich weiß, was er Ihnen antworten wird. Hätten
19370 Sie sich der Protektoratserklärung vom 12. Mai vorigen Jahres
19371 unterworfen, so wäre eine Einmischung in innere Angelegenheiten
19372 ausgeschlossen. So aber wird er sie auf Artikel 7 des nordpolaren
19373 Friedensvertrages vom 21. Juni verweisen. Die Garantien für den
19374 Rechtsbestand der Verfassung sind aufgehoben, wenn sich die
19375 Regierung weigert, diejenigen Maßregeln zu unterstützen, welche die
19376 Marsstaaten für notwendig zur wirtschaftlichen, intellektuellen
19377 oder ethischen Erziehung der Menschheit hält.“
19379 „Die Entscheidung des Kultors und des Residenten ist noch nicht
19380 maßgebend“, erwiderte Huhnschlott finster. „Es steht uns der Appell
19381 an den Protektor der Erde offen.“
19383 „Appellieren Sie“, sagte der Kultor.
19385 Die Minister verbeugten sich förmlich und verließen das Zimmer.
19386 Langsam stiegen sie die breite Treppe hinab. In der Vorhalle
19387 standen zwei riesenhafte Beds unter ihren diabarischen
19388 Glockenhelmen Posten und senkten salutierend ihre Telelytrevolver.
19389 Die Minister grüßten mechanisch und stiegen in den vor der Tür
19390 haltenden elektrischen Wagen. Er rollte aus der bedeckten Auffahrt
19391 auf den regennassen Asphalt der breiten Straße. Huhnschlott warf
19392 einen Blick rückwärts auf das flache Dach des Gebäudes, wo die
19393 glatten Rücken dreier Marsschiffe durch den grauen Schleier des
19394 herabrieselnden Regens glänzten und ihre Repulsitrohre nach drei
19395 Richtungen drohend der Hauptstadt entgegenstreckten. Kreuther war
19396 dem Blick gefolgt und seufzte tief.
19398 „Zum Kanzlerpalais“, rief Huhnschlott dem Wagenführer zu und
19399 murmelte einen Fluch zwischen den Zähnen.
19401 Der Kultor war an eines der hohen Fenster des Gemaches getreten und
19402 blickte hinüber auf den Verkehr der Straße. Seine Stirn zog sich
19403 finster zusammen. Das tut’s freilich nicht, so gingen seine
19404 Gedanken, aber die Gängelbänder müssen fort, wenn die Kinder allein
19405 und aufrecht zu gehen lernen sollen. Und diese Huhnschlotts sind
19406 die gefährlichsten Feinde der Selbstzucht; doch ihre Macht ist
19407 gebrochen. Sie werden nicht wagen, sich zu widersetzen.
19409 In seinen Augen leuchtete es triumphierend auf. Es muß gelingen! Er
19410 wandte sich nach seinem Arbeitszimmer.
19412 „Die Berichte der Herren Instruktoren!“ sprach er ins Telephon.
19414 Der Aufzug beförderte ein dickes Aktenbündel herauf. Er begann
19415 darin zu blättern und sich Notizen zu machen. Sein Auge
19416 verfinsterte sich wieder. Die Bestrafungen wegen Versäumnis der
19417 Fortbildungsschulen vermehrten sich von Monat zu Monat. Auf dem
19418 Land hatte man jetzt während der Erntezeit die Einrichtung
19419 überhaupt pausieren lassen müssen. Und wie oft waren die Lehrpläne
19420 falsch aufgestellt! Nicht wenige Instruktoren ließen Dinge lehren,
19421 zu denen die Vorkenntnisse fehlten. Aber es fanden sich doch auch
19422 erfreuliche Erfolge. In manchen Landesteilen, besonders bei der
19423 industriellen Bevölkerung, drängte man sich nach den
19424 Bildungsstätten. Merkwürdigerweise zeigte sich auch in
19425 Süddeutschland, sogar in Tirol, ein Fortschritt in der Popularität
19426 der Schulen. Hier stand den Bestrebungen der Nume die feste
19427 Organisation der kirchlichen Macht feindlich gegenüber; es schien
19428 zuerst, als würde es unmöglich sein, gegen den Fanatismus der von
19429 der Geistlichkeit gelenkten Bevölkerung aufzukommen. Aber gerade in
19430 diesen Gegenden wurde der Besuch, trotz der lokalen Schwierigkeiten
19431 in den Gebirgen, immer lebhafter, es gründeten sich selbständige
19432 Vereine, zahlreich wurden Lehrer verlangt.
19434 Der Kultor sann lange über die Ursache dieser Erscheinung nach. War
19435 es die natürliche Opposition gegen die Macht, die bisher das
19436 Nachdenken geflissentlich vom Volk ferngehalten hatte? Brauchte man
19437 dem menschlichen Geist nur die Freiheit und die Gelegenheit des
19438 Denkens zu geben, um sicher zu sein, daß er seinen Aufflug gewinnen
19439 werde? Oder waren die Instruktoren hier geschickter? Der Kultor las
19440 einige der Einzelberichte, und er sah mit Vergnügen, wie gut es die
19441 Sendboten der Numenheit verstanden hatten, sich vollständig nach
19442 den kirchlichen Gewohnheiten der Bevölkerung zu richten. Nirgends
19443 suchten sie Zweifel zu erwecken, nirgends gegen die traditionelle
19444 Form zu verstoßen. Sie beschränkten sich zunächst auf rein
19445 praktische Kenntnisse, deren Wirkung sich sofort in der Hebung des
19446 wirtschaftlichen Lebens zeigte. So gewannen sie Vertrauen. Der Weg
19447 ist lang, dachte der Kultor, aber er ist der einzig mögliche.
19449 Der Kultor blickte auf seine Notizen und sprach eifrig in den vom
19450 Mars eingeführten Phonographen, der ihm zum Festhalten seiner
19451 Gedanken diente. Er entwarf eine Erläuterung zur Instruktion der
19452 einzelnen Bezirkskultoren. Die süddeutschen Erfolge sollten zum
19453 Vorbild genommen werden. Als er einiges aus der Statistik anführen
19454 wollte, stutzte er bei einer Zahl, die von den übrigen auffallend
19455 abwich. Wie kam es, daß in dem Bezirk von Bozen die Resultate so
19456 ungünstig waren? Er suchte in den Akten den Bericht des
19457 Instruktors. Es war die erste Arbeit eines neu hingekommenen
19458 Beamten. Die Instruktoren mußten sehr häufig wechseln, das war ein
19459 großer Übelstand; sie vertrugen das Erdklima nicht.
19461 Eben begann der Kultor den Bericht zu lesen, als ihm gemeldet
19462 wurde, daß der Vorsteher des Gesundheitsamtes von seiner
19463 Inspektionsreise zurückgekehrt sei und anfrage, ob er ihn sprechen
19464 könne.
19466 „Ich bitte, sogleich“, war die Antwort.
19468 Die Tür öffnete sich, und ein älterer Herr trat ein. Trotz der
19469 diabarischen Glocke, die über seinem Haupt schwebte, ging er
19470 gebückt und mühsam.
19472 Der Kultor sprang auf und eilte ihm entgegen.
19474 „Mein lieber, teurer Freund“, sagte er, seine Hände fassend, „was
19475 ist Ihnen? Sie sehen angegriffen aus, sind Sie nicht wohl? Machen
19476 Sie es sich bequem. Legen Sie den Helm ab, und setzen Sie sich hier
19477 auf das Sofa unter dem Baldachin, dieses Eckchen ist auf
19478 Marsschwere eingerichtet. Ihre Reise hat Sie gewiß sehr
19479 angestrengt?“
19481 „Es muß meine letzte sein. Sobald ich meinen offiziellen Bericht
19482 abgegeben habe, spätestens in zwei bis drei Wochen, komme ich um
19483 Urlaub ein. Ich hoffe, Sie werden mir keine Schwierigkeiten
19484 machen.“
19486 „Sie erschrecken mich, Hil! Selbstverständlich können Sie reisen,
19487 sobald Sie wollen, sollen Sie reisen, wenn es Ihre Gesundheit
19488 erfordert. Aber mir tut es von Herzen leid. Und wie sollen Sie
19489 ersetzt werden? In diesem unausgesetzten Wechsel der Beamten – wir
19490 haben nun schon den vierten Residenten – waren Sie mir die festeste
19491 Stütze. Indessen, ich hoffe, es handelt sich nur um eine
19492 vorübergehende Indisposition. Das feuchte Wetter –“
19494 „Ja das Wetter! Sehen Sie, Ell – ich spreche im Vertrauen –, an dem
19495 Wetter wird unsre Kunst zuschanden. Der Winter läßt sich allenfalls
19496 ertragen, aber gegen diese feuchte Wärme kommen wir nicht auf. Oft
19497 habe ich geglaubt, wenn unsre Beamten schon nach wenigen Wochen um
19498 Urlaub einkamen, es liege an ihrer Willensschwäche. Ich habe jetzt
19499 auf meiner Reise durch die Tiefebene und durch die feuchten
19500 Waldtäler der Gebirge gesehen, daß dieses Klima für den Numen, der
19501 sich wenigstens einen Teil des Tages im Freien aufhalten muß, wie
19502 es doch auf Reisen unvermeidlich ist, in gefährlichster Weise
19503 wirkt. Der Regen, der Regen! Wer diese Himmelsplage erfunden hat!
19504 Bald prickelt es von allen Seiten in mikroskopischen
19505 Wassertröpfchen, bald braust es in Sturzgüssen hernieder, bald
19506 fällt es mit jener eintönigen, hypnotisierenden, tödlichen
19507 Langeweile herab wie heute. Die Luft, mit Dampf gesättigt, lähmt
19508 die Tätigkeit der Haut und läßt uns ersticken. Ich war manchmal wie
19509 verzweifelt. Wir dürfen niemand länger als ein halbes Jahr im
19510 Winter oder ein Vierteljahr im Sommer hier lassen, oder wir bringen
19511 Lungen und Herz nicht wieder gesund nach dem Nu. Was nutzen uns die
19512 trefflichen antibarischen Apparate, wenn das infame Wasser uns im
19513 wahren Sinne des Wortes ersäuft? Da oben am Pol war das nicht so
19514 merklich, wir lebten ja auch mehr nach unsrer eignen Weise. Aber
19515 hier in Deutschland –. Warum mußten Sie sich auch gerade dieses
19516 Volk zu Ihrem Experiment ausersehen? Es gibt doch Gegenden, in
19517 denen wir einigermaßen besser fortkommen würden, zum Beispiel die
19518 großen Steppen im Osten, und überall, wo es trocken ist –“
19520 „Aber mein verehrter Hil! Unsre Kulturbestrebungen können wir doch
19521 nur dort betreiben, wo wir die Bevölkerung am besten vorbereitet
19522 finden, also wo die Volksbildung die vorgeschrittenste ist.
19523 Deswegen mußte ich Deutschland wählen, und vornehmlich darum, weil
19524 ich es am besten kenne. Höchstens an England hätte ich, aus andern
19525 Gründen, denken können, aber dort ist es noch viel feuchter. Und
19526 aus allen andern Staaten klagen die Kultoren und Residenten ebenso.
19527 Hier liegt ein ganzer Stoß von Urlaubs- und Entlassungsgesuchen von
19528 Leuten, die noch keine drei Monate im Lande sind. Doch Sie setzten
19529 ja so viele Hoffnung auf das Anthygrin. Hat sich denn dieses
19530 Heilmittel nicht bewährt?“
19532 „Das Anthygrin ist in der Tat ein ausgezeichnetes Spezifikum gegen
19533 das Erdfieber, und mit dem Chinin zusammen hält es uns einige Zeit
19534 aufrecht. Aber es wird nicht lange vertragen, andere Organe werden
19535 ruiniert. Ich habe es jetzt sehr stark anwenden müssen, und nun bin
19536 ich hauptsächlich deswegen so schwach, weil ich nichts mehr essen
19537 kann.“
19539 „Sie sollten sich an Menschenkost gewöhnen. Man muß sich eben nach
19540 dem Land richten. Im übrigen müssen wir uns damit abfinden, daß
19541 unsre Beamten schnell wechseln. Wir wollen versuchen, ihnen öfter
19542 einen kürzeren Urlaub in günstigere klimatische Verhältnisse, etwa
19543 nach Tibet, zu geben. Dort hat sich ja jetzt eine vollständige
19544 Marskolonie entwickelt. Und wissen Sie, Sie brauchen Ihren Bericht
19545 nicht hier abzufassen, Sie können das tun, wo Sie sich wohler
19546 fühlen, vielleicht in den Alpen, oder auch weiter fort. Ich stelle
19547 Ihnen ein Regierungsschiff zur Verfügung.“
19549 „Ja, wenn wir in der Lage wären, jedem ein Luftschiff mitzugeben –
19550 das wäre freilich das beste Mittel. Zehntausend Meter in die Höhe,
19551 das kuriert besser als Anthygrin und alle Mittel.“
19553 „Das können wir freilich uns vorläufig nicht leisten, aber in
19554 einigen Jahren, wenn wir die Energiestrahlung auf der Erde besser
19555 ausnutzen können, wird es hoffentlich möglich sein. Etwas ließe
19556 sich inzwischen schon tun. Man könnte einige Schiffe zu einer
19557 Höhen-Luftstation einrichten und so doch abwechselnd den einzelnen
19558 Erleichterung schaffen.“
19560 „Tun Sie darin bald, was Sie tun können.“
19562 „Ich kann jetzt nicht größere Geldmittel verlangen. Der Etat für
19563 dieses Jahr ist erschöpft. Wir haben kolossale Anlagekosten
19564 gehabt.“
19566 „Ganz gleich, mögen es die Menschen bezahlen.“
19568 Ell sah den Arzt erstaunt an.
19570 „Nun ja“, lenkte Hil ein, „es klingt etwas roh. Schließlich wird es
19571 doch darauf hinauskommen. Doch entschuldigen Sie meine – meine
19572 Ausdrucksweise. Ich fühle selbst, daß ich jetzt so leicht heftig,
19573 nervös gereizt bin. Man lernt ja die Menschen nicht gerade sehr
19574 hoch schätzen – übrigens ist das die allgemeine Ansicht bei unsern
19575 Beamten, daß es ganz gut wäre, lieber Steuern zu erheben als
19576 Entschädigungsgelder zu zahlen.“
19578 „Ich verstehe Sie gar nicht mehr, lieber Freund. Das wäre die
19579 Ansicht bei unsern Beamten? Dagegen würde ich mich doch recht
19580 ernstlich erklären.“
19582 „Da es mir einmal so – wie man hier redet – herausgefahren ist, so
19583 mag es denn auch gesagt sein“, erwiderte Hil, „obwohl ich erst in
19584 meinem Bericht davon sprechen wollte, weil ich ihnen erst darin die
19585 formellen Belege für meine Beobachtungen geben kann. Es ist
19586 allerdings eine Gefahr da, eine moralische, die Ihnen in der
19587 Auswahl der Beamten ganz besondere Vorsicht auferlegen wird. Es ist
19588 mir im allgemeinen aufgefallen, daß die Instruktoren nach einigen
19589 Monaten nicht mehr die Ruhe und das heitere Gleichmaß der Gesinnung
19590 haben, die wir an den Numen gewohnt sind. Der Umgang mit den
19591 Menschen, wenigstens in der autokratischen Stellung, die sie
19592 einnehmen, wirkt – verzeihen Sie den Ausdruck – gewissermaßen
19593 verrohend, und das äußert sich zunächst in der Sprechweise, in
19594 einer Geringschätzung der ästhetischen Form, weiterhin in einer
19595 Überschätzung der eigenen Bedeutung, schließlich in einer schon das
19596 ethisch Statthafte überschreitenden Selbstherrlichkeit. Ja, ich
19597 habe leider einzelne Fälle beobachtet, wo man direkt von einer
19598 Psychose sprechen kann, ich möchte sie geradezu den ›Erdkoller‹
19599 nennen.“
19601 „Aber ich bitte Sie, da muß sofort eingeschritten werden. Darüber
19602 werden Sie mir eingehend berichten.“
19604 „Als Arzt, gewiß. Das andere wird Sache der revidierenden
19605 Unterkultoren sein, wenn nicht gar des Residenten. Denn es können
19606 politische Verwicklungen entstehen. Bis jetzt ist die Sache noch
19607 verhältnismäßig harmlos, und ich werde die betreffenden Herren
19608 schon morgen zur Beurlaubung vorschlagen. Da komme ich zum Beispiel
19609 – ich weiß den Namen nicht auswendig – auf eine Kreuzungsstation,
19610 wo ich umsteigen muß. Aber der neue Zug kommt nicht und kommt nicht
19611 – er hat über eine halbe Stunde Verspätung. Ich erkundige mich dann
19612 bei dem Zugführer und höre: Ja, der Herr Bezirksinstruktor ist ein
19613 Stück mitgefahren. Ich frage, warum das so lange aufgehalten habe.
19614 Der Herr Bezirksinstruktor habe einen eigenen Wagen verlangt, der
19615 mußte erst geholt werden. Dann könne er aber den Lärm und Dampf der
19616 Maschine nicht vertragen, und so mußte man den Wagen erst an das
19617 Ende des Zuges bringen und noch einige leere Wagen
19618 dazwischenschalten. Und endlich mußte man mitten auf der Strecke an
19619 einem Dorf halten, weil es ihm beliebte, dort auszusteigen.“
19621 „Und sagten Sie nicht, daß die Bahnbeamten solchem unberechtigten
19622 Verlangen nicht nachgeben durften?“
19624 „Die zuckten die Achseln und meinten, was will man tun? Man darf
19625 sich den nicht zum Feind machen.“
19627 „Die feigen Toren! Aber der Instruktor muß sofort von seinem Amt
19628 suspendiert und vor das Disziplinargericht gestellt werden. Das ist
19629 ja unerhört, wenn sich diese Angaben bestätigen, ich werde aufs
19630 genaueste untersuchen lassen. Wie kann ein Nume seine
19631 Berechtigungen so überschreiten!“
19633 „Es würde ihm auf dem Nu nie einfallen. Hier achtet er niemand als
19634 seinesgleichen. Die Theorie, daß Bate keine Numenheit besäßen, ist
19635 ja sehr verbreitet.“
19637 „Ich werde dafür sorgen, daß sich meine Beamten ihrer Pflicht
19638 erinnern, die Gesetze dieses Staates als die ihrigen zu betrachten,
19639 so lange sie hier sind, und sich keine privaten Vorrechte
19640 anzumaßen. Wie sollen die Menschen lernen, sich dem Gesetz zu
19641 fügen, wenn Nume solche Beispiele geben? Ich hätte das nicht
19642 geglaubt. Warum aber beschwert sich niemand? Sobald die Presse über
19643 einen derartigen Fall berichtete, würde ich sofort untersuchen
19644 lassen.“
19646 Hil zuckte mit den Achseln. „Die Untersuchung ist nicht immer sehr
19647 angenehm. Es ist schwer, alle Einzelheiten zu beweisen. Übrigens
19648 sind solche Fälle glücklicherweise noch vereinzelt. Sollten sie
19649 sich wiederholen, so würde die Presse nicht schweigen. Das sehen
19650 Sie ja an dem Fall Stuh.“
19652 „Was meinen Sie da?“
19654 „Haben Sie denn die heutigen Mittagsblätter nicht gelesen?“
19656 „Es war mir bis jetzt unmöglich. Aber ich würde natürlich nachher
19657 –. Doch was ist denn geschehen? Sie meinen doch nicht Stuh in
19658 Frankfurt?“
19660 „Die Sache spielt in der Nähe von Frankfurt. Der Bezirksinstruktor
19661 ist vier Stunden im Regen gefahren – beachten Sie das –, kommt in
19662 einen kleinen Ort und ist sehr hungrig. Er läßt vor dem Wirtshaus
19663 halten. Es ist Sonntag, alle Zimmer sind überfüllt, der Wirt hat
19664 selbst Taufe im Hause. Stuh geht in das Gastzimmer und bestellt
19665 sich Essen. Die Bauern rücken auch zusammen und machen ihm eine
19666 Ecke frei. Nun kommt das Essen. Stuh sagt dem Wirt, die Leute
19667 möchten jetzt das Zimmer verlassen, er wolle essen. Der Wirt stellt
19668 ihm vor, das könne er nicht verlangen, es sei kein Raum im ganzen
19669 Hause frei; selbst der Hausflur war besetzt, und draußen regnete es
19670 in Strömen. Da wird Stuh von Hunger und Regen wütend und herrscht
19671 die Leute an, sie möchten sich hinausscheren, wenn ein Nume esse,
19672 habe kein Bat zuzusehen. Die Bauern haben keine Ahnung, daß es uns
19673 nicht möglich ist, so öffentlich den Hunger zu stillen. Sie halten
19674 die Anforderung für eine Unverschämtheit und lachen Stuh einfach
19675 aus. Ganz nüchtern waren sie auch nicht mehr. Kurzum, es kommt zum
19676 Streit. Stuh will nun hinaus, jetzt aber verhöhnen ihn die Bauern
19677 und klopfen ihm mit ihren Stöcken auf den Glockenhelm.
19678 Unglücklicherweise hat Stuh an seiner Uhr ein kleines
19679 Telelytstiftchen. Er nimmt die Uhr heraus, hält sie den Umstehenden
19680 entgegen und sagt: ›Wenn ihr jetzt nicht macht, daß ihr
19681 hinauskommt, so lasse ich hier einen Feuerregen heraus, daß ihr
19682 alle verbrennen müßt.‹ Das war ja natürlich eine Aufschneiderei,
19683 mit dem Stiftchen konnte er höchstens einem die Kleider versengen.
19684 Und da nun nicht gleich Platz wird, so läßt er die Funkengarbe aus
19685 dem Stiftchen sprühen. Nun denken die Leute wirklich, das Haus muß
19686 anbrennen, und drängen sich zur Tür. Es entsteht ein Gewühl, und
19687 eine Menge Verwundungen kommen vor. Das ganze Haus gerät in
19688 Aufruhr. Stuh verriegelt die Tür und setzt sich ruhig zum Essen.
19689 Als nun die Bauern sahen, daß weiter nichts geschehen war und sie
19690 sich nur selbst gestoßen und getreten hatten, wurden sie wütend und
19691 wollten die Tür einschlagen, um Stuh zu verhauen. Zum Glück war
19692 inzwischen Polizei herbeigekommen und brachte Stuh unversehrt zum
19693 Ort hinaus. Aber Sie können sich denken, welche Empörung jetzt in
19694 dem Städtchen herrscht.“
19696 „Das ist unangenehm, sehr unangenehm“, sagte Ell. „Und ich kenne
19697 doch Stuh als einen ruhigen, menschenfreundlichen Mann.“
19699 „Der Regen, Ell! Fahren Sie einmal vier Stunden im Regen – mit
19700 Pferden, entsetzlicher Gedanke! Schon der Geruch kann einen
19701 wahnsinnig machen. Aber freilich, das können Sie nicht so
19702 nachfühlen –“
19704 Ell war aufgestanden und auf und ab gegangen. Er blieb nun stehen
19705 und sprach: „Aber das sind Zwischenfälle, die sich nicht vermeiden
19706 lassen. Man muß sie korrigieren, ihnen jedoch kein großes Gewicht
19707 beilegen. Unsere Aufgabe werden wir trotzdem erfüllen.“
19709 „Ich zweifle nicht. Aber es sind Symptome. Möchten sie sich nicht
19710 häufen! Indessen, sie sind nicht das Schlimmste. Es gibt eine viel
19711 größere Gefahr. Deswegen kam ich her. Eine Gefahr für die
19712 Menschen.“
19714 „Sprechen Sie, Hil.“
19716 „Wissen Sie, was bei uns Gragra ist?“
19718 „Das ist, wenn ich mich recht erinnere, eine Kinderkrankheit auf
19719 dem Mars, die ohne jede Bedeutung ist.“
19721 „Ganz richtig, das ist sie jetzt, seit einigen tausend Jahren. Die
19722 Kinder sind ein paar Tage müde, bekommen einen leichten Ausschlag,
19723 und dann ist die Sache vorüber. Aber es war nicht immer so. Im
19724 agrarischen Zeitalter war die Gragra eine furchtbare Plage, eine
19725 entsetzliche Pest, welche ganze Landstriche bei uns entvölkerte,
19726 nicht durch einen akuten Verlauf, sondern durch eine langsame,
19727 chronische Vergiftung. Wir sind ihrer Herr geworden, teils durch
19728 unsre Impfungen, teils durch die allmähliche Veränderung der
19729 Ernährung. Und nun – die ersten Spuren dieser chronischen Form –,
19730 doch setzen Sie sich her zu mir, ich muß leise sprechen.“
19732 Ell ließ sich neben Hil nieder. Dieser sprach lange mit ihm. Ells
19733 Gesicht war tiefernst geworden.
19735 „Das ist ja furchtbar“, sagte er. „Und was können wir tun?“
19737 „Noch weiß kein Mensch von der drohenden Gefahr. Die menschlichen
19738 Ärzte sind noch nicht einmal auf diese leichten, ihnen unbekannten
19739 ersten Symptome aufmerksam geworden. Und wenn die Krankheit
19740 allmählich stärker unter den Menschen auftreten sollte, werden
19741 Jahre vergehen, ehe sie erkennen werden, daß es sich um eine für
19742 sie ganz neue Form von Bakterien handelt. Denn diese sind so klein,
19743 daß sie nur durch unsere besonderen Strahlungsmethoden nachweisbar
19744 sind. Ich habe die Überzeugung, daß die Krankheit in ihrer milden
19745 Form vom Mars eingeschleppt worden ist und daß die Bazillen unter
19746 den auf der Erde, respektive im menschlichen Körper herrschenden
19747 Verhältnissen so günstige Bedingungen für ihre Vermehrung gefunden
19748 haben, daß die alte perniziöse Form, die bei uns ausgestorben war,
19749 wieder auftritt. In einigen Jahren werden wir die Verheerungen
19750 sehen.“
19752 „So müssen wir sofort die Ärzte auf diese Krankheit aufmerksam
19753 machen –“
19755 „Überlegen Sie das sehr sorgfältig, Ell. Wie gesagt, von selbst
19756 würde kein Mensch auf Jahre hinaus auf die Ursachen der
19757 Erscheinungen kommen, die sich zweifellos mit der Zeit zeigen
19758 werden. Und bisher sind die Symptome selbst erst für uns
19759 wahrnehmbar. Wollen Sie jetzt den Menschen sagen, wir haben Euch
19760 ein furchtbares Übel auf die Erde gebracht, schlimmer vielleicht
19761 als die Tuberkulose? Wäre das nicht der sichere Weg, unsern Einfluß
19762 aufzuheben? Würde das nicht zu einem allgemeinen Aufstand führen,
19763 den wir nur mit neuen Greueln unterdrücken könnten? Nein, es darf
19764 kein Mensch ahnen, daß wir ihm nicht bloß Heilsames auf der Erde
19765 verbreiten.“
19767 „Aber wir müssen die Menschen vor dem drohenden Unheil schützen.“
19769 „Es ist, wie ich überzeugt bin, möglich, aber es ist sehr
19770 schwierig. Zunächst müssen die Nume sich jeder unmittelbaren
19771 Berührung mit dem Körper der Menschen enthalten, es sei denn unter
19772 den besonderen Vorsichtsmaßregeln, wie sie der Arzt bei einer
19773 Untersuchung anwenden kann. Und es fragt sich, ob alle der Unseren
19774 in dieser Hinsicht zuverlässig sein werden. Für die Menschen aber
19775 ist zweierlei notwendig: Ernährung durch chemische Nahrungsmittel
19776 und allgemein durchgeführte Impfung. Unter diesen Umständen würde
19777 auch die Berührung mit den Numen nichts schaden können. Aber diese
19778 Mittel werden nicht anwendbar sein.“
19780 „Die allgemeine Verbannung der agrarischen Nahrungsmittel ist jetzt
19781 noch nicht möglich, sie wird sich nur nach und nach einführen
19782 lassen. Und bis dahin könnte schon viel Schaden geschehen sein. Die
19783 Impfung ließe sich ja zwangsweise durchsetzen, aber man müßte doch
19784 den Grund mindestens andeuten, und wir würden jedenfalls auf
19785 Widerstand stoßen und Unwillen erregen. Indessen, geschehen muß
19786 etwas. Ich erwarte baldigst die eingehenden Belege für die
19787 Richtigkeit Ihrer Ansicht und werde dann mit dem Residenten und dem
19788 Protektor konferieren. Es müßte wohl sicher international
19789 vorgegangen werden. Ach Hil, was für eine neue große Sorge haben
19790 Sie mir da gemacht!“
19792 „Es war meine Pflicht.“
19794 „Gewiß, mein verehrter Freund. Und vergessen Sie nicht bei Ihren
19795 Besprechungen mit den Kollegen, daß es sich um ein Numengeheimnis
19796 handelt. Es ist zu abscheulich! Nichts ist mir unangenehmer als der
19797 Zwang, mit der vollen Wahrheit zurückzuhalten. Und doch muß hier
19798 aufs sorgfältigste überlegt werden, ob wir reden dürfen. Darin
19799 haben Sie leider recht.“
19801 Ell trat an das Fenster und blickte, in Nachsinnen verloren,
19802 hinaus.
19804 Hil erhob sich, um sich zu verabschieden.
19806 Plötzlich zuckte Ell, wie von einem innern Schreck ergriffen,
19807 zusammen. Er drehte sich schnell nach Hil um und sagte:
19809 „Noch eins, Hil, noch eine Frage. Schenken Sie mir noch einen
19810 Augenblick. Ich möchte wissen –: Was halten Sie von der Gefahr, die
19811 der Aufenthalt auf dem Mars für die Menschen bietet? Glauben Sie,
19812 daß diejenigen, die dort waren, zum Beispiel unsre Freunde, den
19813 Keim der Krankheit in sich aufgenommen haben könnten?“
19815 Ein leichtes Lächeln spielte um Hils Züge, als er antwortete:
19817 „Für Ihre Person können Sie ganz unbesorgt sein. Bei Ihrem
19818 Numenblut und Ihrer Bevorzugung der chemischen Nahrungsmittel –“
19820 Ell winkte mit der Hand. „Nicht doch, ich dachte wirklich nicht an
19821 mich, ich dachte – zum Beispiel Saltner – und die Forschungs- und
19822 Vergnügungsreisenden. Wir können ja jetzt kaum Raumschiffe genug
19823 stellen. Glauben Sie, daß wir den Verkehr beschränken müßten?“
19825 „In dieser Frage haben wir noch keine Erfahrung. Indessen könnte es
19826 kein Bedenken erregen, wenn man die Impfung zum Beispiel für das
19827 Betreten der Raumschiffe unter irgendeinem Vorwand zur Bedingung
19828 machte.“
19830 „Aber diejenigen, die nun schon zurück sind?“
19832 „Saltner ist auf der Reise nach dem Mars geimpft worden, weil ihm
19833 sonst das Ehrenrecht als Nume nicht hätte erteilt werden können.
19834 Und was – was Frau Torm betrifft, so kann ich Sie ebenfalls
19835 beruhigen. Ich habe es für gut gehalten, während ihrer Krankheit
19836 nach und nach die bei uns vorgeschriebenen Impfungen zu vollziehen,
19837 und ich halte sie jetzt überhaupt für vollständig
19838 wiederhergestellt.“
19840 Ell, der Hil gespannt angeblickt hatte, atmete auf. Er sagte jetzt
19841 lächelnd: „Und halten Sie mich selbst für einen Ansteckungsherd?“
19843 „Nein, ich halte Sie in dieser Hinsicht für ganz ungefährlich.“
19845 „Ich danke Ihnen. Und wir wollen den Mut nicht verlieren. Ich will
19846 nachdenken, was wir tun können. Leben Sie wohl, und schonen Sie
19847 sich. Bestimmen Sie, wann Sie Höhenluft schöpfen wollen, das
19848 Luftschiff soll zu Ihrer Verfügung stehen.“
19850 Er begleitete Hil bis an die Tür und schüttelte ihm die Hand. Dann
19851 kehrte er zurück. Ein Seufzer entrang sich seiner Brust. Lange
19852 schritt er im Zimmer auf und ab. „Nur den Mut nicht verlieren!“
19853 sagte er zu sich selbst. Dann glitt ein stilles Lächeln über seine
19854 Züge. „Ja, das wird mir gut tun“, dachte er.
19856 „Den Wagen!“ rief er ins Telephon.
19858 \section{47 - Isma}
19860 Die Martier besaßen ein Verfahren zur Herstellung von
19861 Akkumulatoren, die nur ein sehr geringes Gewicht hatten. Diese
19862 waren sehr bald auf der Erde eingeführt worden und hatten das
19863 Fuhrwesen umgestaltet. In Berlin waren die Pferde vollständig aus
19864 dem Verkehr geschwunden. Die Nähe größerer Tiere war den Martiern
19865 wegen der damit verbundenen Unreinlichkeit und des Geruches ein
19866 Abscheu, und der Umgang der Menschen mit ihren Haustieren erschien
19867 ihnen als einer der barbarischsten Züge im Leben der Erde. In der
19868 Hauptstadt waren jetzt nur noch elektrische Wagen und Droschken im
19869 Gebrauch.
19871 Der elegante Wagen des Kultoramts führte Ell durch einen großen
19872 Teil der Stadt, vom fernen Südwest bis zum Südost. Als Ziel hatte
19873 er die Bildungsanstalt 27 angegeben, die sich in der ehemaligen
19874 Kaserne des dritten Garde-Infanterieregiments befand. Vor einer
19875 Nebenpforte des großen Gebäudes verließ Ell den Wagen, der dort
19876 warten sollte. Er trat in das Haus, aber er durchschritt nur einige
19877 Korridore und Höfe und verließ es wieder durch einen Ausgang nach
19878 der Zeughofstraße. Von hier kehrte er in die Wrangelstraße zurück
19879 und trat nach wenigen Minuten in eines der dortigen Mietshäuser, wo
19880 er in dem nach dem Garten zu liegenden Flügel drei Treppen
19881 hinaufstieg.
19883 Hier wohnte Isma. Sie saß an dem weitgeöffneten Fenster, aus
19884 welchem ihr Blick über die regenfeuchten Bäume des Gartens nach den
19885 dahinter anfragenden Häusermassen und Schornsteinen schweifte. Das
19886 Buch, in dem sie gelesen hatte, lag neben ihr. Von Zeit zu Zeit,
19887 wenn sie ein Geräusch von Tritten zu vernehmen glaubte, blickte sie
19888 nach der Tür, als erwartete sie, daß sie sich öffnen werde.
19890 Und nun klingelte es draußen. Sie stand auf und strich sich das
19891 Haar aus den Schläfen. Dann ging sie auf die Tür zu, aus welcher
19892 ihr Ell entgegentrat.
19894 „Endlich“, sagte er, ihre Hand ergreifend, „endlich wieder einmal
19895 bei Ihnen. Es tat mir zu leid, daß ich unsern letzten Abend nicht
19896 einhalten konnte, aber ich durfte die Einladung da oben nicht
19897 ablehnen. Fühlen Sie sich auch ganz wohl?“
19899 Sein Blick ruhte mit zärtlicher Besorgnis auf ihren Zügen.
19901 „Es geht mir besser wie je“, sagte Isma lächelnd.
19903 „Fühlen Sie gar keine Beschwerden?“ fragte er weiter. „Kein
19904 Kopfweh, keine Müdigkeit?“
19906 „Gar nichts. Sie fragen ja gerade, als wenn Sie Hil wären. Was
19907 haben Sie denn? Ich kann Ihnen wirklich nicht die Freude machen,
19908 mich pflegen zu lassen. Aber wissen Sie, Ell, daß Sie mir
19909 eigentlich gar nicht gefallen? Sie strengen sich offenbar zu sehr
19910 an, Sie sehen angegriffen aus und sollten sich mehr schonen.“
19912 „Ach, Isma, davon kann keine Rede sein“, erwiderte Ell, indem er
19913 sich neben ihr niederließ. „Mir ist manchmal zumute, als wüchse mir
19914 die Arbeit über den Kopf. Und dann die Sorge! Doch nichts davon!
19915 Dann gibt es kein andres Heilmittel für mich, als hier die drei
19916 Treppen hinaufzusteigen –“
19918 „Das freut mich, daß Ihnen das Treppensteigen so gut bekommt. Ich
19919 könnte ja auch noch eine Stiege höher ziehen.“
19921 „Oh, es genügt. Wenn ich nur die schmale Hand fassen und Ihnen in
19922 die lieben Augen sehen kann! Dann möchte ich wieder an die Menschen
19923 glauben und wieder hoffen!“
19925 „Sie dürfen so nicht sprechen, Ell, Sie ängstigen mich. Auf dem Weg
19926 zu Ihrem hohen Ziel darf es kein Schwanken geben. Dazu waren unsre
19927 Opfer zu groß, zu schmerzlich.“
19929 Sie hob die Augen, die mit Tränen kämpften, wie bittend zu ihm
19930 empor.
19932 „Verzeihen Sie mir, Isma. Ich weiß es längst, daß ich für mich kein
19933 Glück beanspruchen darf, der ich mir anmaßte, es der Menschheit zu
19934 bringen. Aber wenn ich hier bei Ihnen sitze – und Sie wissen, daß
19935 ich die neue Kraft hier schöpfe –, ach, dann ist es auch so
19936 unendlich schwer, auf das einzige zu verzichten, was ich je vom
19937 Leben für mich ersehnte. Und immer fester wird mir die Überzeugung,
19938 daß beides zusammengehört, wenn ich meinen Lauf erfüllen soll.“
19940 „Noch ist die Zeit nicht da, von uns zu sprechen. O Ell, sagen Sie,
19941 was quält Sie, was ist geschehen? Ich kenne Sie kaum wieder, noch
19942 vor kurzem waren Sie so siegesgewiß.“
19944 „Es geht wohl vorüber. Gerade heute haben sich allerlei Nachrichten
19945 gehäuft, die mir Schwierigkeiten machen. Die neuen Verhältnisse
19946 wirken ungünstig auf die Nume, das ruhige Gleichgewicht, das sie in
19947 den festen Kulturzuständen des Mars haben, wird zerstört, es
19948 entstehen Konflikte, und das Ende vom Liede wird sein, daß ich von
19949 beiden Seiten für alles verantwortlich gemacht werde.“
19951 „Das müssen Sie tragen. Und Sie wußten es im voraus, Ell, als Sie
19952 das verantwortliche Amt annahmen, daß Sie angefeindet werden
19953 würden. Erinnern Sie sich noch? Es war kurz nach meiner Krankheit,
19954 als ich wieder den ersten größeren Ausflug mit ihnen unternahm, zur
19955 Probe, wie Hil sagte, ob ich das Reisen vertrüge. Wir waren nach
19956 den großen Schleusen der Emm-Kanäle gefahren, dort zeigten Sie
19957 mir, wie das Wasser auf das zweihundert Meter hohe Wüstenplateau
19958 gehoben wird. Und da sagten Sie mir, daß der Zentralrat Ihren
19959 Vorschlag über die Einsetzung von Kultoren angenommen habe und daß
19960 Ihnen das Kultoramt für den deutschen Sprachbezirk angetragen sei.
19961 Sie waren im Zweifel, ob Sie es annehmen durften, und Sie sprachen
19962 ja ganz klar ihre Befürchtung aus. Ihre Landsleute, sagten Sie,
19963 werden auf jeden Fall unzufrieden sein, weil sie die
19964 Bildungsanstalten als einen Zwang empfinden werden, den die
19965 Resultate doch erst nach Jahren rechtfertigen würden. Die Nume aber
19966 würden es Ihnen nicht vergeben, daß ein Heer von Beamten unter
19967 Ihnen stehen solle, der Sie auf der Erde geboren sind.“
19969 „Ich weiß es, Isma, ich sehe Sie noch dort an dem Geländer lehnen
19970 und in Nachsinnen verloren hinabblicken auf die Baumwipfel, und ich
19971 höre Ihr Wort: Wenn ich glaube, daß die Nume solchen Vorurteilen
19972 zugänglich sind, so sei es nicht notwendig, daß die Menschen von
19973 ihnen lernen. Dann hätte ich meinen großen Kulturplan überhaupt
19974 nicht fassen dürfen. Wenn ich aber an den Beruf der Nume glaube,
19975 die Menschheit vom Druck ihrer Geschichte zu erlösen, so dürfe ich
19976 auch keinen Zweifel hegen, daß die Nume um der Sache willen sich
19977 gern und frei unterordnen würden. Wenn mich der Zentralrat zu einem
19978 Amt beriefe, wie es noch niemals auf Erden ausgeübt worden, so
19979 geschehe es, weil jeder weiß, daß ich der geeignetste,
19980 gewissermaßen der geborene Vermittler sei zwischen den Planeten und
19981 daß ich mein ganzes Leben lang auf eine solche Aufgabe mich
19982 vorbereitet habe. Und darauf –“
19984 „Oh, ich habe es nicht vergessen, Ell“, fiel Isma ein. „Ich
19985 erinnere mich an jedes Wort. Denn in all meinem eignen Leid steht
19986 mir jener Moment vor Augen als der größte meines Lebens. Unter mir
19987 schwand mein eignes Dasein vor dem erhabenen Gefühl, daß wir der
19988 Menschheit dienen müssen, und ich war stolz und glücklich, in dem
19989 Augenblick bei Ihnen sein zu dürfen, da von Ihrem Entschluß der
19990 Beginn eines neuen Zeitalters abhing. Sie wiesen hinab, wo zwischen
19991 dem Laub die weiten Wasserflächen schimmerten, und sagten: Da
19992 unten, wo die Schmelzwasser des Pols in ihrem natürlichen Bett sich
19993 sammeln, sind sie klar und ruhig und versiegen nimmer. Aber wir
19994 heben sie mit unsern Maschinen in den Sonnenbrand der Wüste, und
19995 trübe verrinnen sie allmählich in dem Bett, das Tausende von
19996 Kilometern sich hinzieht. Wer sagt uns, wie der heitere
19997 Seelenspiegel des Numen sich trübt, wenn wir ihn künstlich auf die
19998 Erde versetzen und auf unübersehbare Jahre seine Reinheit im
19999 Schlamm der Menschheit vergraben? Und da erwiderte ich Ihnen: So
20000 weit die Kanäle sich füllen, sproßt das Leben in der Wüste, und die
20001 Kultur des Mars beruht auf diesen sich selbst verzehrenden Adern. –
20002 Würden die Nume diese Riesenlasten von Wasser heben und verrinnen
20003 lassen, wenn sie nicht glaubten, daß es seine begebende Kraft auch
20004 behält in dem künstlichen Bett? Und wer schafft es herauf? Es ist
20005 doch die Vernunft, die die Natur leitet. Glauben Sie nicht an die
20006 Vernunft? Und als ich dies sagte, da blitzte es drunten auf über
20007 den Bäumen, und helle Strahlen stiegen in die Höhe und mehrten
20008 sich, und so weit der Blick reichte, zitterten die Lichtfontänen in
20009 der Luft, und die Leute liefen durcheinander und riefen sich zu:
20010 ›Der Friede ist geschlossen! Die Erde gehört uns – –‹ Und Sie
20011 faßten meine Hand und sagten: ›Ja, ich glaube an die Vernunft!‹ Und
20012 sehen Sie, Ell, ich glaube! An die Vernunft und an Sie! Und wenn
20013 ich das nicht mehr könnte –“
20015 Sie brach ab. Ell aber ergriff ihre Hand und rief:
20017 „Sie können es, Isma, Sie können es! Mein Glaube an die Vernunft
20018 ist nicht erschüttert, und mich sollen Sie nicht weichen sehen aus
20019 feiger Schwäche. Aber die Vernunft ist ewig, ich bin ein
20020 vergänglicher Zeuge ihres zeitlichen Gesetzes, und ich muß gefaßt
20021 sein, daß sie über mich hinwegschreitet. Denn ich habe mir angemaßt
20022 zu beginnen, was zu vollenden Geschlechter gehören. Wenn ich mich
20023 nun täuschte in den Mitteln, die ich für die richtigen hielt?“
20025 „Es wird nicht sein. Es werden Fehler gemacht werden, das ist
20026 natürlich. Aber die Grundlagen werden sich bewähren. Sie müssen
20027 Geduld haben.“
20029 „Wie danke ich Ihnen, Isma, für Ihr Vertrauen, das mich vor mir
20030 selbst rechtfertigt. Einen Fehler habe ich begangen von Anfang an,
20031 der mehr ist als ein Fehler, daß ich eine Zeitlang die Erde vergaß
20032 –“
20034 „O mein Freund, den büße ich für Sie –, davon nichts mehr –“
20036 „Und das andere, wenn es ein Fehler ist, so weiß ich nicht, wie ich
20037 ihn hätte vermeiden sollen. Wenn ich auf die Menschen wirken
20038 wollte, konnte ich es anders als durch die Mittel, an die sie
20039 gewöhnt sind, durch die Autorität der Macht? Und doch weiß ich, daß
20040 hier ein Widerspruch liegt mit dem Zweck, den ich erstrebe, der
20041 inneren Freiheit. Den Zustand will ich aufheben, daß irgendeine
20042 Klasse der Bevölkerung ihre Macht dazu mißbraucht, durch
20043 Einschüchterung und Beherrschung der übrigen die freie Entwicklung
20044 aller Kräfte und Meinungen zu verhindern, und was tue ich? Ich übe
20045 einen neuen Zwang aus, ohne zu wissen, ob ich die eingewurzelten
20046 Vorurteile zu brechen vermag. Ich hoffe es, doch ob ich es erlebe?
20047 Und was dann? Droht nicht eine neue Bürokratie über der alten?“
20049 „Ell, vergessen Sie nicht den Glauben an die Nume! Es sind nicht
20050 Menschen, es sind Nume, welche die Menschheit erziehen. Sie werden
20051 ihre Zöglinge als freie Männer aus der Schule entlassen, sobald sie
20052 sehen, daß ihre Lehrarbeit getan ist.“
20054 „Das ist meine Hoffnung. Das ist ja das absolut Neue an der
20055 Umwälzung der Verhältnisse. Die zur Macht gekommen sind, sind es
20056 nicht, wie die Geschlechter der Menschen, in der Absicht, die Macht
20057 um ihrer selbst, ihrer Klasse und Nachkommen willen zu erhalten,
20058 sondern um sie als freies Gut der Menschheit, der geläuterten
20059 Menschheit zurückzugeben.“
20061 „Sie werden es.“
20063 „Sie werden es, wenn sie Nume bleiben. Wenn aber die Berührung mit
20064 der Erde sie ihrer Numenheit entkleidet und die Menschen sie
20065 anstecken mit ihrem Eigennutz? Wenn die alte Kultur zurückschlägt
20066 in die Barbarei der Erde und aus den Kultoren gewöhnliche Despoten
20067 werden, wie Päpste aus Aposteln?“
20069 Isma schüttelte den Kopf.
20071 „Ich weiß nicht, Ell, was Sie im Sinn haben“, sagte sie. „Es mögen
20072 auch solche Fälle vorkommen. Aber drüben, jenseits der Erde, kreist
20073 der Mars mit seinen drei Milliarden Bewohnern. Diese sind der feste
20074 Kern der Kultur, der jede Entartung wieder aufheben wird.“
20076 Ell blickte schweigend vor sich hin. Er dachte daran, ob nicht in
20077 den Menschen der Widerstand der Natur zu groß sein würde. Aber er
20078 sprach es nicht aus. Seine Augen wandten sich auf Isma. Sie hatte
20079 sich in ihrem Sessel zurückgelehnt und die Hände auf dem Schoß
20080 gefaltet. Ein einfaches schwarzes Kleid umschloß ihre Gestalt, und
20081 das feine Profil hob sich wie eine Silhouette gegen das Fenster ab,
20082 vor welchem der Tag bereits in Dämmerung überging. Er wollte ihr
20083 nicht neue Sorgen erwecken. Und doch, sie jetzt schon verlassen? Es
20084 schien ihm unmöglich. Oh, wenn er sie immer so neben sich hätte,
20085 wie ganz anders müßte sich der schwere Kampf des Lebens aufnehmen
20086 lassen! Sie erschien ihm begehrenswerter wie je, so lieb in ihrer
20087 treuen Freundschaft, so groß in ihrem einfachen Vertrauen.
20089 „Isma“, kam es fast unbewußt über seine Lippen.
20091 Sie reichte ihm ihre Hand hinüber mit dem milden, ernsten Lächeln,
20092 das ihre Züge mitunter in seiner Nähe verklärte.
20094 „Mein Freund“, sagte sie.
20096 „Isma“, sprach er leise, „wollen Sie nicht bei mir bleiben?“
20098 Sie drückte seine Hand, ohne sie ihm zu entziehen.
20100 „Sie wissen, Ell“, antwortete sie ebenso leise, „daß ich es nicht
20101 darf, ja auch nicht will, so lange noch eine Möglichkeit ist –“
20103 „Aber wenn einmal die Zeit kommt, daß keine Möglichkeit mehr ist?“
20105 „Dann sprechen wir wieder davon. Bis dahin –. Sie kennen meine
20106 Bitte. – Wo ist die Grenze zwischen Gedanke und Wunsch? Und das ist
20107 Frevel.“
20109 „Aber ich darf annehmen, Isma –“
20111 „Nehmen Sie an, was Sie wollen. Wenn mein Leben keinem andern
20112 gehört, wem könnte es gehören als der Idee, der wir dienen? Und
20113 dann mögen Sie nachdenken, wie das am besten geschehen kann.“
20115 Sie entzog ihm sanft ihre Hand und trat an das Fenster. Er stellte
20116 sich neben sie. Schweigend blickten sie hinaus, dann begann Ell:
20118 „Die Nachforschungen ruhen niemals, und alles, was sich hat
20119 ermitteln lassen, weist jetzt auf eine Vermutung hin, die jede
20120 Hoffnung fast mit Sicherheit ausschließt.“
20122 Isma zuckte zusammen. Ell schwieg.
20124 „Sprechen Sie weiter“, sagte sie dann gefaßt. „Ich habe mir ja
20125 soviel hundertmal gesagt, daß ich nicht mehr hoffen darf. Und doch
20126 ist das Wort der Gewißheit wie ein Stahl, der ins Herz trifft. Aber
20127 – sprechen Sie weiter.“
20129 „Er konnte die Insel Ara nur verlassen durch Schwimmen nach einer
20130 der Nachbarinseln, das war unsere Annahme. Dann mußte er in der
20131 Umgebung des Pols aufgefunden werden; es ist jetzt dort kein
20132 Fleckchen mehr ununtersucht, wo Menschen existieren können. Demnach
20133 nahmen wir an, daß er unter das Eis geraten sei –“
20135 Isma bedeckte die Augen mit der Hand.
20137 „Eine Möglichkeit aber war noch da, so unwahrscheinlich, daß man
20138 erst spät daran gedacht hat. Wenige Stunden, bevor man ihn
20139 vermißte, ging ein Luftschiff ab, das nach Tibet bestimmt war, um
20140 dort Vermessungen zur Anlegung von Strahlungsfeldern zu machen.
20141 Wenn er sich unbemerkt in diesem versteckt hätte obwohl ich nicht
20142 begreife, wie das geschehen konnte –“
20144 „Ell“, rief Isma, „warum haben Sie mir das nicht gesagt!“
20146 „Weil ich Ihnen keine Hoffnungen erwecken wollte, die nur zu neuen
20147 Befürchtungen führen konnten. Jetzt haben Sie sich damit vertraut
20148 gemacht, daß wir ihn verloren haben, und Gewißheit wird besser sein
20149 als die Angst. Denn dieses Luftschiff – der Zusammenhang ist mir
20150 selbst erst vor kurzem durch neue Untersuchungen klar geworden –
20151 als das Unglück geschah, war ich selbst noch nicht auf der Erde,
20152 die Akten über Torm waren abgeschlossen, und die Vermutung, daß er
20153 sich auf dem Schiff befand, ist erst durch meine erneute Aufnahme
20154 des Falles aufgetaucht –, jenes Luftschiff war dasselbe, das im
20155 Juni vorigen Jahres bei Podgoritza von den Albanern zerstört und
20156 dessen Besatzung bis auf den letzten Mann ermordet wurde. Also auch
20157 diese Spur, wenn sie überhaupt eine war, blieb hoffnungslos. Sind
20158 Sie mir böse, daß ich jetzt davon gesprochen habe?“
20160 Isma seufzte tief. „Nein, Ell, Sie müssen mir alles sagen, und ich
20161 muß es zu ertragen wissen.“
20163 Sie blickte wieder stumm in den Abend hinaus. Plötzlich ergriff sie
20164 mit einer krampfhaften Bewegung Ells Arm.
20166 „Aber wenn er auf dem Schiff war, Ell, wenn er darauf war –“
20168 „Es ist ja nicht sicher, Isma, ich bitte Sie, beruhigen Sie sich.
20169 Niemand weiß es, es ist nur die einzige noch denkbare Vermutung –“
20171 „Wenn er darauf war, wer sagt Ihnen, daß er auch noch in Podgoritza
20172 darauf war? Konnte er nicht in Tibet das Schiff verlassen haben?“
20174 „Wie sollte er es unbemerkt im fremden Land, in der Wüste
20175 verlassen? Und wenn man ihn bemerkte, hätte man ihn gefangen
20176 genommen, und das ist auch, falls die erste Vermutung überhaupt
20177 zutrifft, das Wahrscheinliche. Er wird bei einem Fluchtversuch vom
20178 Schiff entdeckt und als Gefangener unter der Besatzung –“
20180 „Dann aber kann er bei dem Überfall entkommen sein“, unterbrach
20181 Isma hastig. „Das ist sehr leicht möglich. O Ell, ich habe noch
20182 Hoffnung. Er wird sich unter jene Halbwilden geflüchtet haben, dort
20183 muß er gesucht werden. Das müssen Sie tun, Ell! Und wenn wir ihn
20184 finden – o Gott!“
20186 Sie warf sich auf einen Sessel und schluchzte. Endlich wurde sie
20187 ruhiger.
20189 „Er hat ja nichts mehr zu befürchten“, sagte sie, „nicht wahr? Mit
20190 dem Frieden ist die Amnestie für alles ausgesprochen, was während
20191 des Krieges geschehen ist.“
20193 „Nicht gerade für alles.“
20195 „Aber für seine Flucht kann er nicht mehr bestraft werden?“
20197 „Nein, Isma. Aber ich bitte Sie, klammern Sie sich nicht wieder an
20198 diese Unmöglichkeit. Oh, hätte ich doch nicht davon gesprochen!
20199 Fassen Sie sich! Ich kann Sie so nicht verlassen.“
20201 „Sie haben recht“, sagte sie endlich. „Ich bin so töricht.“ Sie
20202 stand auf, schloß das Fenster und schaltete das Licht ein.
20204 „Setzen wir uns noch ein wenig“, sagte sie dann. „Es ist ja alles
20205 so unwahrscheinlich, bei ruhiger Überlegung. Aber wer klammert sich
20206 nicht an einen Strohhalm?“
20208 „Sehen Sie, Isma, Sie müssen sich mit dem Geschehenen abfinden, wie
20209 Sie es bisher getan. Wäre er in Podgoritza entflohen, so wäre er
20210 längst hier, oder wir hätten Nachricht. Er hatte ja nun nichts mehr
20211 von den Martiern zu befürchten. Es ist seitdem über ein Jahr
20212 vergangen, deshalb glaubte ich darüber sprechen zu dürfen.“
20214 Sie reichte ihm wieder die Hand. „Ich weiß ja“, sagte sie, „daß Sie
20215 es gut meinten. Aber eins müssen Sie mir doch noch sagen. Bei
20216 wichtigen Ereignissen wenden Sie sonst das Retrospektiv an, um den
20217 Vorgang zu beobachten. Warum ging es denn nicht – der Überfall von
20218 Podgoritza zum Beispiel ist doch wichtig genug –, warum wurde er
20219 nicht vorn Mars aus –?“
20221 „Glauben Sie mir, Isma, ich hätte es durchgesetzt, um Ihretwillen,
20222 das Retrospektiv anzuwenden, wenn ich mir den geringsten Erfolg
20223 hätte versprechen können. Aber an dem Tag der Flucht lagen dichte
20224 Wolken über dem Pol, die Landung des Schiffes in Tibet ist,
20225 vermutlich wenigstens, in der Nacht erfolgt, jedenfalls aber wird
20226 Torm, wenn er entfliehen wollte, die Nacht dazu benutzt haben. Auch
20227 wissen wir gar nicht, in welcher Gegend des weiten Hochasien das
20228 Schiff angelegt hat, und es ist doch unmöglich, diese großen
20229 Landgebiete mit dem Retrospektiv abzusuchen. Der Überfall von
20230 Podgoritza endlich fand ebenfalls in der Nacht statt, und ehe wir
20231 etwas davon erfuhren, hatten die Räuber alle Spuren vernichtet. Die
20232 Tat kam erst später durch den Verrat eines feindlichen Stammes an
20233 den Tag. Da war also nicht die geringste Aussicht, etwas in den
20234 Lichtspuren des Weltraums zu lesen.“
20236 „Ich sehe es ein, Ell. Und es war recht, daß Sie sprachen. Was
20237 haben wir auch Besseres in unsrer Freundschaft, als das volle
20238 Vertrauen? Und nun –“
20240 „Ich soll gehen?“
20242 „Nein, nein, im Gegenteil. Sie sollen noch bleiben, und wir wollen
20243 von gleichgültigeren Dingen reden, von gegenwärtigen, mein’ ich.
20244 Sie haben mir noch nichts von der Politik erzählt. Wie steht es mit
20245 dem Klatschgesetz? Was sagt denn Herr von Huhnschlott dazu?“
20247 Jetzt lächelte Ell. „Er speit Feuer und Flammen“, sagte er.
20248 „Natürlich, diese Herren haben nie gelernt, daß sich die Welt auch
20249 anders regieren lasse als mit Polizeivorschriften. Ich wünschte,
20250 Sie hätten das Gesicht unsres geschmeidigen Kreuther sehen können,
20251 als ich ihm meine Auffassung der Lage auseinandersetzte. Ich bin
20252 überzeugt, morgen bekommen wir die Sanktion. Sie werden nicht an
20253 Ill appellieren, wenn sie klug sind, denn er ist viel
20254 rücksichtsloser gegen die Vorurteile unsrer Regierungen als ich,
20255 der ich ihren historischen Zusammenhang besser kenne. Ich gelte ja
20256 natürlich bei den Konservativen als ein roter Revolutionär, auf dem
20257 Mars sehen sie mich als einen schwachmütigen Leisetreter an.“
20259 „Ich weiß wohl“, sagte Isma. „Ich lese ja die Marsblätter,
20260 namentlich die ›Ba‹. Solche Dinge wie Zweikampf, Beleidigungsklagen
20261 und dergleichen kommen den Numen gerade so vor, wie uns etwa die
20262 Menschenfresserei oder die Blutrache bei den Wilden, und sie
20263 meinen, das müsse man einfach mit Gewalt ausrotten.“
20265 Ell erzählte, daß Hil von seiner Reise zurück sei, und schilderte
20266 sein Entsetzen über den Regen. Mit stiller Freude sah er, daß Isma
20267 ihre Ruhe wiedergewonnen hatte.
20269 Es waren wohl zwei Stunden vergangen, als Ell sich endlich herzlich
20270 von Isma verabschiedete. Als er auf die Straße trat, war es bereits
20271 vollständig Nacht, und die Laternen brannten. Er schritt eilig die
20272 Straße entlang und bestieg wieder seinen vor der Tür der
20273 Bildungsanstalt haltenden Wagen. Er hatte den in einen Mantel
20274 gehüllten Mann nicht bemerkt, der wie zögernd vor der Tür des
20275 Hauses gestanden hatte, wo Isma wohnte. Bei Ells Erscheinen hatte
20276 er plötzlich kehrtgemacht, dann aber schien es, als wolle er ihm
20277 eilig nachgehen, um ihn anzureden. Doch bald blieb er wieder
20278 zögernd zurück und blickte nur dem Wagen nach, der Ell schnell von
20279 dannen führte.
20281 \section{48 - Der Instruktor von Bozen}
20283 Durch die engen Felsschluchten des Eisacktales brauste der von Wien
20284 kommende Schnellzug nach Süden und überholte die schäumenden Fluten
20285 des wild dahinstürmenden Baches. Der größere Teil der Fahrgäste
20286 drängte sich an den Fenstern, um das von der klaren Septembersonne
20287 vergoldete Naturschauspiel zu genießen. Einer jedoch, offenbar kein
20288 Fremder in dieser Gegend, kümmerte sich wenig darum. Er saß in eine
20289 Ecke gelehnt, mit geschlossenen Augen in seine Gedanken versunken,
20290 unter denen seine Stirn sich von Zeit zu Zeit zu sorgenvollen
20291 Falten zusammenzog. Dann blickte er nach seiner Uhr, als ob der Zug
20292 ihn nicht schnell genug seinem Ziel zuführe.
20294 „Noch zehn Minuten“, murmelte er.
20296 Aus der Brusttasche seiner Joppe zog er einige Papiere, ein
20297 Telegramm und eine Zeitung. Er hatte sie schon oft gelesen, dennoch
20298 blickte er wieder hinein, als könnten sie ihm noch etwas Neues
20299 sagen.
20301 Das Telegramm war von einem seiner Freunde und enthielt nur die
20302 Worte: „Komme sofort zu Deiner Mutter, sie bedarf Deiner.“
20304 Die Zeitung war, wie das Telegramm, schon einige Tage alt. Aber er
20305 hatte sie erst zu Gesicht bekommen, als er gestern von einer
20306 vierzehntägigen Studienreise in einsamen Gebirgsgegenden nach Lienz
20307 zurückgekehrt war. Sie enthielt die neuen Verordnungen, welche das
20308 Kultoramt in Berlin mit Ermächtigung der Residenten in Berlin, Wien
20309 und Bern und unter Bestätigung der Regierungen in der vorigen Woche
20310 erlassen hatte.
20312 Die Schwierigkeiten, auf welche die Martier bei der deutschen
20313 Regierung in bezug auf das Gesetz zum Schutz der individuellen
20314 Freiheit gestoßen waren, hatten den Protektor der Erde darauf
20315 geführt, sie in künftigen Fällen auf eine sehr einfache Weise zu
20316 umgehen. Er hatte gefunden, daß Bestimmungen über Beziehungen der
20317 Menschen zu den Numen und Einrichtungen der Nume gar keiner
20318 Gesetzgebung durch die Erdstaaten bedürfen, sondern auf dem
20319 Verordnungsweg durch die Residenten erlassen werden können. Die
20320 Regierungen aber mußten, wie gern sie es auch abgelehnt hätten,
20321 sich der Macht beugen und ihr Ja dazu geben. Sie taten es immerhin
20322 lieber, als sich einem Beschluß der Opposition in den Parlamenten
20323 zu fügen.
20325 Die Verordnung hatte im allgemeinen Mißstimmung hervorgerufen. Sie
20326 bestimmte nämlich, daß jeder Mensch, ohne Unterschied des Alters,
20327 sich einer von den Bezirksinstruktoren zu beaufsichtigenden Impfung
20328 unter Leitung martischer Ärzte zu unterziehen habe. Bis diese
20329 vollzogen sei, dürfe kein Ungeimpfter sich einem Numen bis zu einer
20330 gewissen Distanz nähern, keine von Numen bewohnte Räume betreten
20331 und die Luftschiffe und Fahrzeuge der Martier nicht benutzen.
20332 Zuwiderhandlungen waren mit strengen Strafen bedroht.
20334 Die Bestimmungen waren lediglich in Rücksicht auf die Menschen
20335 getroffen, um sie vor den drohenden Verwüstungen der Gragra zu
20336 schützen. Aber man hatte sich gescheut, diesen Grund anzugeben,
20337 weil man fürchtete, dadurch eine größere Beunruhigung und
20338 Unzufriedenheit zu erregen als durch die Maßregel selbst; man hatte
20339 die Impfung nur durch einen allgemeinen Hinweis auf Besserung des
20340 Gesundheitszustandes begründet. Der Beschluß war von den
20341 europäischen Residenten gegen Ells Stimme gefaßt worden, der
20342 eindringlich vor einem derartigen despotischen Eingriff gewarnt
20343 hatte. Doch hatte sich bei den maßgebenden Numen auf der Erde mehr
20344 und mehr die Ansicht herausgebildet, daß man die Menschen nur durch
20345 Anwendung von Zwang zu ihrem Besten leiten könne. Ell fühlte sich
20346 durch den Beschluß sehr bedrückt, hatte sich aber der Majorität
20347 fügen müssen.
20349 Saltner steckte das Blatt kopfschüttelnd wieder ein.
20351 „Es muß da noch etwas im Hintergrund liegen, worüber sie nicht mit
20352 der Sprache herauswollen“, dachte er bei sich. „Aber eine sakrische
20353 Dummheit bleibt’s doch, die ich dem Ell nicht zugetraut hätte. Oder
20354 vielleicht doch. Wie er sich damals aussprach –“
20356 Er dachte an jene Stunde bei La, in der er sich gegen Ells Pläne
20357 zur gewaltsamen Erziehung der Menschen aufgelehnt hatte. Und er sah
20358 die Geliebte wieder vor sich mit der feinen Stirn unter dem
20359 schimmernden Haar, er sah den tiefen Blick der dunklen Augen in
20360 zärtlicher Achtung auf sich gerichtet und fühlte die unvergeßlichen
20361 Küsse auf seinen Lippen. Wo mochte sie weilen? Ob sie seiner
20362 gedachte? Ob sie wußte von dem Leid, das über die Menschen gekommen
20363 war, ob sie es mit ihm fühlte? Verloren! Verloren!
20365 Aus seinen Träumen weckte ihn der Pfiff der Maschine. Die Berge
20366 waren zurückgewichen, grüne Hügel, auf denen Trauben und Kastanien
20367 reiften, zogen sich zur Seite. Die Passagiere suchten ihr
20368 Handgepäck zusammen, und der Zug hielt auf dem Bahnhof in Bozen.
20370 Saltner stieg aus und drängte sich eilig durch die Menge. Am
20371 Ausgang fiel ihm ein Plakat auf, das durch seine gelbrote Farbe
20372 schon weithin als eine amtliche Bekanntmachung des martischen
20373 Bezirksinstruktors kenntlich war. Er blieb stehen und las. Zuerst
20374 war die allgemeine Verordnung über die Impfung mitgeteilt, die er
20375 schon kannte. Daran aber schlossen sich spezielle Bestimmungen über
20376 den hiesigen Bezirk, Er traute seinen Augen nicht. Nach Angabe von
20377 Einzelheiten über die Ausführung der Impfung, die in den und den
20378 näher bezeichneten Lokalen stattfinde, stand da: Die als
20379 Bescheinigung der vollzogenen Impfung erteilte Marke ist sichtbar
20380 an der Kopfbedeckung zu tragen. Wer sich ohne dieselbe einem Numen
20381 auf mehr als sechs Schritt annähert, wird mit fünfhundert Gulden
20382 Geldbuße oder entsprechendem Aufenthalt im psychologischen
20383 Laboratorium bestraft. Unterredungen mit dem Instruktor finden nur
20384 noch telephonisch statt. Jeder Anordnung eines Numen gleichviel,
20385 worauf sie sich beziehe, ist ohne Widerspruch Folge zu leisten. Den
20386 Numen steht das Recht zu, Menschen, welche sich ihnen ohne
20387 Erlaubnis nähern, mit der Telelytwaffe zurückzuweisen. Das Halten
20388 von Haustieren in menschlichen Wohnungen wird nochmals aufs
20389 strengste untersagt.
20391 Saltner ballte die Faust. Er wandte sich an einen neben ihm
20392 stehenden Herrn und sagte: „Der hiesige Instruktor ist wohl
20393 verrückt geworden?“
20395 „Das ist schon recht“, antwortete der ernsthaft.
20397 „Und das lassen Sie sich gefallen? Wie heißt denn der Kerl?“
20399 „Der heißt Oß.“
20401 „Der Name kommt mir bekannt vor. Haben Sie sich denn noch nicht in
20402 Berlin beim deutschen Kultor beschwert?“
20404 „Das wird geschehn. Aber es dauert halt eine Weile, und die
20405 Verordnung ist erst von gestern.“
20407 „Aber wenn Sie telegraphieren oder telephonieren?“
20409 „Das wird nicht zugelassen. Es ist schon einer nach Innsbruck
20410 gereist, aber sie haben’s auch dort nicht zugelassen. Sie meinen,
20411 die Nume stecken halt alle unter einer Decke, und wenn es auch der
20412 Kultor erfährt, so wird es doch nichts nutzen.“
20414 „Es wird nutzen, das können Sie mir glauben. So etwas hat sich
20415 keiner herauszunehmen und nimmt sich auch keiner woanders heraus.
20416 Das ist nur eine Verrücktheit von diesem Oß, und der wird sehr bald
20417 abgesetzt sein.“
20419 „Das mag schon sein, so lange halten wir’s wohl aus. Aber die
20420 Hauptverordnung bleibt doch bestehen, und dagegen ist nichts zu
20421 machen. Ich mein’ so, den Oß werden sie schon wegjagen, vielleicht
20422 gar bald, denn der Herr Bezirkshauptmann reist heute nach Wien und
20423 wenn nötig nach Berlin. Aber inzwischen müssen wir folgen. Denn
20424 wenn sich einer was gegen den Oß herausnähme und es ginge auch
20425 nachher dem Oß schlecht, so ginge es uns doch noch schlechter. Wir
20426 würden wegen Aufruhr nach Afrika oder sonstwohin geschickt. Also
20427 lassen wir’s lieber. Habe die Ehre!“
20429 Damit lüftete er den Hut und wollte sich entfernen. Gleich darauf
20430 wandte er sich jedoch zurück und sagte mit einem fragenden Blick:
20431 „Verzeihen Sie, ich irre mich doch wohl nicht, sind Sie nicht der
20432 Herr von Saltner?“
20434 „Mein Name ist Saltner.“
20436 „Dann nehmen Sie’s nicht übel, wenn ich mir einen Rat erlaube – Sie
20437 sind ja doch auf dem Mars gewesen, und da muß wohl irgend etwas
20438 passiert sein –, nehmen Sie sich nur vor dem Oß in acht, ich weiß,
20439 daß der sich schon mehrfach erkundigt hat, ob Sie nicht hier sind –
20440 der muß irgend etwas gegen Sie haben. Lassen Sie sich lieber nicht
20441 hier sehen, es kann ja nur ein paar Tage dauern, bis der Mann
20442 abgesetzt ist.“ Und vertraulicher fuhr er fort: „Sie haben ja
20443 vollständig recht, ich weiß, daß diese Bekanntmachung zu Unrecht
20444 besteht und der Oß den Erdkoller hat – ich bin nämlich der Doktor
20445 Schauthaler.“
20447 „Ach, jawohl“, sagte Saltner, „ich erinnere mich jetzt sehr wohl,
20448 entschuldigen Sie, daß ich Sie nicht gleich erkannte.“
20450 „Bitte sehr. Nun also, solche Ausschreitung wird ja rektifiziert
20451 werden. Aber lassen wir uns dadurch zu irgendeiner eigenmächtigen
20452 Handlung hinreißen, so würde uns das trotzdem sehr schlecht
20453 bekommen. Deswegen versuch ich mein Möglichstes, unsre Mitbürger zu
20454 beruhigen. Wenn Sie indessen etwas tun wollen, so bringen Sie sich
20455 selbst in Sicherheit, bis der Mann hier keine Gewalt mehr hat;
20456 vorläufig hat er sie nun einmal, und Sie sind dagegen ohnmächtig.
20457 Sie sind ja doch mit dem Herrn Kultor befreundet, reisen Sie sofort
20458 zu ihm – in zehn Minuten kommt der Blitzzug von Venedig –, das
20459 Luftschiff dürfen Sie jetzt nicht benutzen – aber auch so sind Sie
20460 morgen in Berlin –“
20462 „Ich danke Ihnen sehr für den Rat, Herr Doktor, nur kann ich ihn
20463 leider nicht sogleich befolgen. Ich habe hier zunächst
20464 unaufschiebbare Geschäfte –. Aber ich werde dann –“
20466 „Dann, Herr von Saltner, dann? Sie wissen nicht, ob Sie dann noch
20467 ein freier Mann sind –“
20469 „Das wollen wir doch sehen! Da können Sie ganz unbesorgt sein!“
20471 „Was nützt es Ihnen, wenn der Oß in ein paar Tagen vor das
20472 Disziplinargericht gestellt wird, und Sie sind inzwischen irgendwie
20473 verunglückt?“
20475 „Ich verunglücke nicht so leicht. Aber was will denn der Mann von
20476 mir?“
20478 „Ich weiß es nicht. Ich weiß nur privatim durch den
20479 Bezirkshauptmann, daß Sie gesucht werden, aber amtlich ist es
20480 nicht. Es muß irgend etwas sein, worüber der Oß vorläufig nicht
20481 reden will.“
20483 Saltner runzelte die Stirn.
20485 „Nun, wie gesagt, ich danke Ihnen und will mich vorsehen. Jetzt
20486 entschuldigen Sie mich, ich darf nicht länger zögern.“
20488 Er schritt eilend durch die Straßen der Stadt, ohne auf die
20489 Umgebung zu achten. Was konnte dieser Oß von ihm wollen? Wo hatte
20490 er ihn gesehen? Oß war ja der Name des Kapitäns gewesen, auf dessen
20491 Raumschiff ›Meteor‹ Saltner die Reise nach dem Mars gemacht hatte,
20492 und dann war er ihm manchmal in Frus Haus begegnet. Sollte es
20493 derselbe sein? Er hatte sich mit ihm ganz gut unterhalten, und der
20494 tüchtige, wenngleich etwas selbstbewußte Mann war mit La und Se
20495 immer sehr vertraut gewesen. Mit Se? Sein Gewissen schlug ihm. Das
20496 war das einzige, was er sich hatte zuschulden kommen lassen, die
20497 Belauschung der Schießversuche und die Flucht aus dem als Ziel
20498 dienenden Schiff. Aber dann hätte ihn Se verraten müssen, das war
20499 unmöglich, ganz unmöglich.
20501 Saltner hatte die Stadt durchschritten und betrat die Brücke,
20502 welche über die Talfer führt. Drüben, jenseits des Flusses, wohnte
20503 seine Mutter. Sie war diesmal schon früher als sonst von dem
20504 kleinen Häuschen, das sie oben in den Bergen besaß, in die Stadt
20505 herabgezogen, er selbst hatte noch den Umzug mit ihr besorgt und
20506 war dann auf eine Studienreise gegangen. Was war nun geschehen?
20508 Es fiel ihm auf, wie leer die Brücke war, auf der sonst um diese
20509 Zeit, gegen Abend, ein reger Verkehr herrschte. Als er die Mitte
20510 überschritten hatte, blieb er stehen und wandte sich nach alter
20511 Gewohnheit rückwärts, um einen Blick auf das entzückende Panorama
20512 zu werfen. Freudig hing sein Auge, über die altertümlichen Giebel
20513 der Stadt wegschweifend, an den rötlich schimmernden Zacken und
20514 Zinnen der Dolomiten, die der Rosengarten kühn in die Luft
20515 streckte, und seine Seele schwebte über den freien Höhen. Aber er
20516 durfte nicht lange weilen. Die Sorge um die Mutter trieb ihn
20517 vorwärts.
20519 Wenige Schritte hatte er zurückgelegt, als ihm einige Leute
20520 entgegenkamen, die eilend an ihm vorüber der Stadt zuschritten und
20521 ihn durch Winke zur Umkehr aufforderten. Er achtete nicht darauf,
20522 sondern richtete seine Aufmerksamkeit auf einen seltsamen Aufzug,
20523 der jetzt aus den Talfer-Anlagen herauskommend die Brücke betrat.
20524 Eine Anzahl Neugierige, halbwüchsige Jungen, liefen voran, hielten
20525 sich aber immer in respektvoller Entfernung. Dann folgte auf einem
20526 Akkumulator-Dreirad ein Martier mit seinem diabarischen
20527 Glockenhelm, ein riesiger Bed oder Wüstenbewohner, der hier
20528 ähnliche Dienste verrichtete wie die Kawassen der Konsuln in der
20529 Türkei. Er schwang ein langes Rohr mit einem Fähnchen in der Hand,
20530 womit er die Begegnenden bedeutete, schleunigst zur Seite zu
20531 weichen. Darauf folgte ein vierrädriger elektrischer Wagen, auf
20532 dessen Polster in bequemer Stellung der Instruktor und zur Zeit
20533 Tyrann von Bozen, der Nume Oß, ruhte, ebenfalls von dem Glockenhelm
20534 gegen die Erdschwere geschützt. Den Beschluß bildete wieder ein Bed
20535 auf seinem Dreirad.
20537 Saltner erkannte auf den ersten Blick, daß er wirklich seinen alten
20538 Bekannten, den ehemaligen Kapitän des Raumschiffs ›Meteor‹, vor
20539 sich hatte. Er trat zur Seite in die halbkreisförmige Ausbuchtung
20540 eines Brückenpfeilers, um den Zug an sich vorüberzulassen. Dem
20541 voranfahrenden Bed erschien jedoch die Entfernung noch nicht
20542 genügend, er winkte mit seiner Fahne und rief sein eintöniges:
20543 „Entfernt euch!“ Saltner blieb ruhig stehen. Er streckte den linken
20544 Arm gegen den Bed aus und wandte ihm die Handfläche mit gespreizten
20545 Fingern zu. Der Bed stutzte. Das war ein nur bei den Numen
20546 gebräuchliches Zeichen und bedeutete ungefähr soviel als: „Dein
20547 Auftrag geht mich nichts an, ich besitze eine weitergehende
20548 Vollmacht.“ Dann rief er ihm auf martisch in entschiedenem Ton zu:
20549 „Fahr zu, ich bin ein alter Freund deines Herrn.“
20551 Der Bed wußte nicht recht, was er davon denken sollte, ließ sich
20552 jedoch in der Meinung, es vielleicht mit einem Numen zu tun zu
20553 haben, einschüchtern und fuhr weiter. Saltner, den sein Stolz
20554 verhindert hatte, sich fortweisen zu lassen, wollte doch lieber die
20555 Begegnung mit Oß vermeiden und blickte über das Geländer der Brücke
20556 in die Landschaft, indem er dem Wagen den Rücken zukehrte. Oß
20557 dagegen hemmte den Wagen und herrschte Saltner an:
20559 „Kann der Bat nicht grüßen!“
20561 Saltner trat jetzt ohne weiteres auf den Wagen von Oß zu, grüßte
20562 höflich nach martischer Sitte und sagte, ebenfalls martisch
20563 sprechend, ganz unbefangen:
20565 „Es freut mich sehr, einem alten Bekannten zu begegnen. Wie geht es
20566 Ihnen, Oß?“
20568 Dabei sah er ihn, die Augen soweit wie möglich aufreißend,
20569 unverwandt an.
20571 Oß hatte Saltner sofort erkannt. In seinen Augen blitzte es
20572 unheimlich, indem er seinen Blick auf Saltner richtete, als ob er
20573 ihn niederschmettern wolle. Aber Saltner kannte die Augen der Nume.
20574 Dieses unruhige Funkeln war nicht der reine Blick des Numen, aus
20575 dem der sittliche Wille sprach, er war getrübt von etwas
20576 Krankhaftem, Selbstischem und besaß nicht mehr die Kraft, den des
20577 Rechts sich bewußten Menschenwillen zu beugen. Er hielt den Blick
20578 aus, während Oß in hochmütigen Worten ihn anherrschte:
20580 „Was fällt dem Bat ein? Wer sind Sie? Wissen Sie nicht, daß Sie
20581 sich sechs Schritt entfernt zu halten und überhaupt nicht mit mir
20582 zu reden haben? Entfernen Sie sich sofort, oder –“
20584 Er griff nach dem Telelytrevolver in seiner Tasche.
20586 Saltner trat jede Bewegung von Oß genau im Auge behaltend,
20587 vorläufig einen Schritt zurück und sagte laut, jetzt auf deutsch,
20588 von dem er wußte, daß Oß, wie jeder Instruktor im deutschen
20589 Sprachgebiet, es verstand, so laut, daß es bis zu den Neugierigen
20590 vor und hinter dem Zug schallte:
20592 „Sie scheinen mich nicht mehr kennen zu wollen. Gestatten Sie, daß
20593 ich Ihrem Gedächtnis nachhelfe. Mein Name ist Josef Saltner,
20594 Ehrengast der Marsstaaten auf Beschluß des Zentralrats mit allen
20595 Rechten des Numen, und hier ist mein Paß, lautend auf zwei
20596 Marsjahre, unterzeichnet von Ill, zur Zeit Protektor der Erde.
20597 Bitte, mit dem gehörigen Respekt zu betrachten.“
20599 Er zog aus seiner Tasche das nach Art der Marsbücher an einem Griff
20600 befindliche Täfelchen und ließ es aufklappen.
20602 „Der Paß ist noch nicht abgelaufen“, sagte er darauf leiser, „ich
20603 denke, Sie lassen jetzt das Ding stecken. Erkennen Sie mich nun
20604 wieder?“
20606 Dabei trat er unmittelbar an den Wagen heran. Er sah, welche
20607 Überwindung es Oß kostete, sich zu bezwingen, aber diesem Dokument
20608 gegenüber blieb ihm kein anderer Ausweg. Oß versuchte jetzt
20609 möglichst unbefangen zu lächeln und sagte:
20611 „Ach, Sie sind Sal – entschuldigen Sie, daß ich Sie nicht gleich
20612 erkannte. Das ist etwas anderes. Es freut mich sehr, Sie zu sehen.
20613 Aber warum beehren Sie mich nicht in meinem Haus? Hier auf der
20614 Straße bin ich gezwungen, sehr vorsichtig zu sein, Sie werden ja
20615 wissen –“
20617 „Die Begegnung überraschte mich, entschuldigen Sie daher diese
20618 formlose Begrüßung auf der Straße. Ich konnte nicht annehmen, daß
20619 der Unterzeichner jener Verordnung identisch sei mit dem Oß, den
20620 ich –“
20622 „Herr, Sie sprechen in einem Ton, den ich zurückweise.“
20624 „Das nützt Ihnen nichts. Sie wissen so gut wie ich, daß derartigen
20625 Befehlen niemand Folge zu leisten braucht.“
20627 „Ich verbitte mir alle Einmischung in meine Angelegenheiten. Ich
20628 bin hier der alleinige Befehlshaber und werde Ihren Widerspruch
20629 bändigen. Wenn Sie auch durch Ihren Paß dagegen geschützt sind, von
20630 meiner bisherigen Verordnung getroffen zu werden, so hindert mich
20631 doch nichts, über Sie selbst einen speziellen Befehl auszusprechen,
20632 so lange Sie sich in dem mir unterstellten Bezirk befinden. Merken
20633 Sie sich das. Ich habe Sie im Verdacht, gegen amtliche Anordnungen
20634 aufzuwiegeln. Sie werden sich deshalb noch heute zu verantworten
20635 haben.“
20637 Ohne Saltner Zeit zu einer Antwort zu lassen, hatte Oß bereits
20638 seinen Wagen in Gang gesetzt und fuhr davon. Saltner blickte ihm
20639 spöttisch nach und schritt dann eilig weiter. Wenige Minuten später
20640 stand er vor dem Haus seiner Mutter. Es war ein altes, nicht großes
20641 Haus. Im unteren Stockwerk wohnte Frau Saltner mit ihrer Bedienung,
20642 einer älteren Frau. Das obere wurde im Winter an Kurgäste
20643 vermietet, war aber jetzt noch unbesetzt. Saltner hatte den
20644 Hausflur schnell durchschritten und die Tür des Wohnzimmers
20645 geöffnet. Es war leer. Der Platz an dem nach dem Garten sich
20646 öffnenden Fenster, an dem seine Mutter den größten Teil des Tages
20647 zu sitzen pflegte, war unbesetzt. Saltner erschrak. Sollte sie
20648 krank sein und zu Bett liegen? Er schaute vorsichtig, um nicht zu
20649 stören, in das Schlafzimmer, aber auch hier war niemand. Besorgt
20650 durchsuchte er nun das ganze Haus, weder seine Mutter noch ihre
20651 alte Magd und Gehilfin, die Kathrin, waren zu finden. Aber auch der
20652 Karo, der Hund, war nicht da, der sonst jeden Kommenden durch sein
20653 Gebell anmeldete und ihm sicher zuerst entgegengesprungen wäre.
20654 Wären die Frauen beide ausgegangen, so hätten sie gewiß das Haus
20655 verschlossen. Doch vielleicht waren sie nur auf einen Augenblick in
20656 den Garten gegangen. Eben wollte sich Saltner Gewißheit holen, als
20657 sich die Hintertür des Hauses öffnete und die Kathrin hereintrat.
20658 Der Korb mit Obst, den sie trug, entfiel fast ihren Händen, so
20659 schnell setzte sie ihn zu Boden, als sie Saltner erblickte.
20661 „Gelobt sei die heilige Jungfrau!“ rief sie aus. „Da ist ja der
20662 Herr Josef.“
20664 „Grüß Gott, Kathrin“, sagte Saltner. „Wo ist denn die Mutter? Es
20665 fehlt ihr doch nichts?“
20667 Die Dienerin brach sogleich in einen Tränenstrom aus.
20669 „Sie haben sie ja, sie haben sie ja!“ rief sie unter Schluchzen.
20671 „Was haben sie denn? So reden Sie doch schon! Kommen Sie hier
20672 herein, Kathrin, und reden Sie vernünftig.“
20674 Die Frau trat in das Zimmer, aber aus ihrem von Weinen
20675 unterbrochenen Redeschwall konnte Saltner zunächst nichts verstehen
20676 als unzusammenhängende Worte, wie „mit dem Karo hat’s angefangen“,
20677 „in den Arm wollen sie stechen“, „den Hund haben’s genommen“, „mich
20678 wollen’s auch impfen“, „sie haben sie“, „im Laboratorium“ und „wenn
20679 sie der Herr Josef nicht schnell herausholt, so werden sie sie doch
20680 noch braten“ und „fünfhundert Gulden sollt’ sie zahlen“. Endlich
20681 beruhigte sie sich soweit, daß Saltner über den Zusammenhang
20682 allmählich klar wurde.
20684 „Mit dem Karo hat’s angefangen.“ Die Hunde waren den Numen ein
20685 Greuel. War ihnen schon die Berührung mit Tieren überhaupt ein
20686 Zeichen der Barbarei, so waren ihnen die Hunde wegen ihres
20687 ekelhaften Treibens auf der Straße und ihres abscheulichen Gekläffs
20688 ganz besonders verhaßt. Sie machten ihnen den Aufenthalt auf der
20689 Erde um so unleidlicher, als sie auch ihrerseits gegen die Martier
20690 eine besondere Abneigung zu haben schienen und sie überall mit
20691 ihrem Gebell verfolgten. Es waren deswegen schon überall
20692 einschränkende Bestimmungen über das Herumtreiben der Hunde auf der
20693 Straße ergangen. Oß aber hatte kurzen Prozeß gemacht, nachdem er
20694 einmal von einem Hund angefallen worden war, und die Tötung aller
20695 Hunde befohlen. Dies war kurz nach Saltners Abreise geschehen, und
20696 das erste Zeichen der bei Oß im Ausbruch begriffenen nervösen
20697 Überreizung gewesen. Die Polizeimannschaften führten den Befehl
20698 möglichst langsam und absichtlich ungeschickt aus und wußten es so
20699 einzurichten, daß viele ihre Lieblinge rechtzeitig in Sicherheit
20700 bringen konnten. Das Haus von Frau Saltner hatte sich aber Oß
20701 einmal zeigen lassen und dabei den Hund bemerkt, ja, er hatte dann
20702 gefragt, ob denn das Vieh noch nicht totgeschossen sei. So mußte
20703 der arme Karo als ein Opfer zur Zivilisation der Menschheit fallen.
20704 Das hatte nun die Frauen, die innigst an dem Hund hingen, in größte
20705 Aufregung versetzt. Frau Saltner war ganz melancholisch geworden
20706 und wurde von einer krankhaften Ängstlichkeit ergriffen, sobald
20707 jemand in das Haus trat.
20709 Nun war die Verordnung über das Impfen gekommen. Unglücklicherweise
20710 war ihr Straßenviertel das erste gewesen, in welchem die Impfung
20711 vollzogen wurde. Sie stellte sich dies als eine fürchterliche
20712 Operation vor und schickte zu einem Freund Saltners, um sich Rat zu
20713 holen, was sie tun solle. Alle seine Vorstellungen waren vergebens,
20714 sie ließ sich nicht bereden, ebensowenig wie Kathrin, zu dem Termin
20715 zu gehen, und der Freund wußte nichts Besseres zu tun, als an
20716 Saltner zu telegraphieren. Inzwischen war der Termin verfallen, und
20717 Frau Saltner wie ihre Dienerin wurden zu je fünfhundert Gulden
20718 Strafe verurteilt. Nun gab es erst recht ein großes Wehklagen, das
20719 Geld war, zumal in Saltners Abwesenheit, nicht zur Stelle zu
20720 schaffen, und die beiden Frauen sollten in das psychophysische
20721 Laboratorium zur Abbüßung der Strafe und zur Vollziehung der
20722 Impfung abgeholt werden.
20724 Die Beamten, welche die Anordnungen des Instruktors nur widerwillig
20725 vollzogen, hätten es gern gesehen, wenn die Frauen sich auf
20726 irgendeine Weise unsichtbar gemacht hätten. Und als sie endlich in
20727 das Haus traten, hatte sich auch Kathrin versteckt und war nicht zu
20728 finden. Frau Saltner aber saß auf ihrem Platz und sagte nur: „Ich
20729 bin eine alte Frau und geh nicht eher hier fort, bis mein Sohn
20730 kommt. Ihr könnt machen, was ihr wollt.“
20732 Da sie keine andre Antwort erhielten und gegen die alte Frau, noch
20733 dazu die Mutter eines in der ganzen Umgegend gekannten und
20734 beliebten Mannes, keine Gewalt brauchen wollten, entfernten sie
20735 sich wieder und brachten irgendeine Entschuldigung vor. Es war
20736 aber, als ob der Instruktor alles heraussuchte, womit er Saltner
20737 Kränkungen bereiten konnte, so daß er sich persönlich um die
20738 Einzelheiten kümmerte, wenn Saltner in Frage kam. Er schickte einen
20739 der Assistenten des Laboratoriums, einen jungen Nume, der hier
20740 seine Studien machte, mit seinen beiden Beds ab, und Frau Saltner
20741 wurde in einem Krankenstuhl in das Laboratorium geschafft.
20743 „Sie haben es gewagt, diese Schufte?“ rief Saltner wütend.
20745 „Eine fast siebzigjährige Frau! Und das nennt sich Nume! Und was
20746 hat denn die Mutter gesagt?“
20748 „Gar nichts hat sie gesagt“, antwortete Kathrin unter neuem
20749 Schluchzen, „als nur immer, mein Josef, mein armer Josef, und, ich
20750 überleb’s nimmer, und geweint hat sie, aber gesagt hat sie nichts
20751 mehr.“
20753 Saltner stand stumm und überlegte, was zu tun sei. Die Tränen
20754 traten ihm in die Augen, wenn er an die Angst dachte, die seine
20755 Mutter ausstand. Er wußte ja, daß ihr tatsächlich nichts geschehe,
20756 daß man sie als eine Kranke behandeln würde und sie vielleicht
20757 sicherer aufgehoben sei als zu Hause. Denn wenn auch Oß
20758 unzurechnungsfähig war, der Leiter des Laboratoriums war ein Arzt,
20759 ein wohlwollender Mann, der seine Aufgabe ernst im Sinn von Ell
20760 nahm, und die Strafanstalt, als welche das Laboratorium diente, mit
20761 Rücksicht auf jeden individuellen Fall leitete. Aber die Angst, die
20762 Furcht, die Vorstellungen, die sich seine Mutter machen mochte, und
20763 die Kränkung! Das konnte wirklich ihr Tod sein. Nicht eine Stunde
20764 länger wollte er sie in dieser Besorgnis allein lassen, er mußte
20765 sie herausholen.
20767 Kathrin begann aufs neue zu jammern.
20769 „Ist es denn wahr, Herr Josef, im Laboratorium, daß die Leute da
20770 gebraten werden –“
20772 „Reden Sie nicht so dummes Zeug, Kathrin, gar nichts geschieht
20773 ihnen, als daß sie ein bißchen beobachtet werden, wie der Puls
20774 geht, wenn sie so oder so liegen, oder wenn sie kopfrechnen –“
20776 „Kopfrechnen, Jesus Maria, das könnt’ ich nun schon gar nicht.“
20778 „Jedenfalls seien Sie still, und hören Sie, was ich sage, aber
20779 passen Sie genau auf. Ich werde jetzt gleich die Mutter holen.“
20781 „Ach Herr Josef, Sie werden sich doch nicht dahin wagen!“
20783 Aber Saltner sprach nicht sogleich weiter. Er ging im Zimmer auf
20784 und ab, während Kathrin lamentierte, und dachte seinen Entschluß
20785 genau durch. Er dachte an die Warnung Schauthalers und an die
20786 Begegnung mit Oß und sagte sich, daß er selbst keinen Augenblick
20787 sicher sei. Aber die Mutter durfte er nicht ohne die größte Gefahr
20788 für ihre Gesundheit länger in ihrer Angst und Einsamkeit lassen. Er
20789 mußte sie und zugleich sich in Sicherheit bringen. Er war in
20790 Sicherheit, sobald er das Gebiet verlassen hatte, das Oß
20791 unterstellt war. Die Instruktoren der Nachbargebiete würden solchen
20792 ungesetzlichen Forderungen nicht nachgeben, außerdem konnte er sich
20793 auch einige Zeit im verborgenen halten. Er mußte sich nur hüten,
20794 etwas zu tun, was von der Oberbehörde der Nume aus verboten war,
20795 denn dadurch hätte er sich auf der ganzen Erde der Verfolgung
20796 ausgesetzt. Sonst aber kam es allein darauf an, den Bezirk von Oß
20797 zu vermeiden, bis dieser abgesetzt war. Dieser Bezirk erstreckte
20798 sich über das westliche Südtirol, fiel aber nicht mit der
20799 österreichischen Landesgrenze zusammen, sondern reichte nur bis an
20800 die Grenzen des deutschen Sprachgebiets. Diese lief in wenigen
20801 Stunden Entfernung im Westen, Süden und Osten über die Berge.
20802 Dahinter war italienisches Sprachgebiet, das einem Kultor in Rom
20803 unterstand. Über diese Grenze mußte er zunächst und auf der
20804 Stelle.
20806 Saltner ging an die Haustür, die er verschloß, ebenso verschloß er,
20807 soweit dies Kathrin nicht schon getan hatte, die Fensterläden. Aus
20808 einer Kassette in seinem Schreibtisch nahm er Papiere, die er zu
20809 sich steckte. Dann ging er in den Garten und rief die Dienerin zu
20810 sich.
20812 „Kathrin“, sagte er, „nun seien Sie ganz still und tun Sie genau,
20813 was ich sage. Ich werde die Mutter und Sie in Sicherheit bringen,
20814 aber wenn Sie nicht genau alles tun, kommen Sie doch noch ins
20815 Laboratorium. Schon gut! Jetzt gehen Sie – aber hier hinten zum
20816 Garten hinaus – zum Rieser und sagen ihm, er möchte sogleich
20817 einspannen und mit dem Wagen hinten am Tor, wo’s nach der Meraner
20818 Straße geht, warten. In einer halben Stunde ist’s dunkel, dann
20819 komme ich. Es wäre aber eine wichtige und geheime Sache, er wird
20820 sich’s schon denken. Dann laufen Sie schnell – ist der Palaoro zu
20821 Haus, der Sohn, mein ich?“
20823 „Er wird schon zu Haus sein. Es gibt jetzt wenig Touren.“
20825 „Er soll mit zwei zuverlässigen Leuten und zwei Maultieren mit
20826 Frauensätteln sogleich nach Andrian aufbrechen, und wenn ich noch
20827 nicht da bin, mich dort erwarten. Er soll auch den Schlüssel zur
20828 kleinen Hütte mitnehmen. Dann laufen Sie gleich wieder nach Hause,
20829 aber von hinten herein, und nehmen die Decken und etwas Zeug für
20830 die Mutter und für sich, aber nur ein kleines Bündel – etwas zu
20831 essen soll der Rieser besorgen –, und kommen wieder zum Rieser, wo
20832 der Wagen hält. Und das weitere wird sich finden. Haben Sie alles
20833 verstanden?“
20835 „Ganz genau, Herr Josef, ich laufe bald.“
20837 \section{49 - Die Flucht in die Berge}
20839 Saltner verließ durch die Hintertür des Gartens seine Wohnung. In
20840 wenigen Minuten stand er vor der Kaserne, die jetzt den Martiern
20841 als Laboratorium, Schule und Strafanstalt diente. Er trat in das
20842 Wartezimmer und verlangte den dirigierenden Arzt oder dessen
20843 Stellvertreter zu sprechen.
20845 Beide hatten bereits die Anstalt verlassen und sich in die Stadt
20846 begeben. Der zweite Assistent, ein ganz junger Mann, der erst vor
20847 kurzem vom Mars gekommen war, empfing ihn. Saltner stellte sich vor
20848 und legitimierte sich durch seinen Paß. Der junge Nume wurde
20849 außerordentlich höflich und etwas verlegen. Er sagte sogleich: „Sie
20850 kommen gewiß wegen Ihrer Frau Mutter. Ich muß gestehen, ich weiß
20851 nicht recht, wie es zusammenhängt, daß Ihre Frau Mutter hier
20852 festgehalten wird, wir wissen ja doch alle, mit welchen Ehren Sie
20853 als der erste Bat auf dem Nu empfangen wurden – aber es liegt ein
20854 ausdrücklicher Befehl des Instruktors vor.“
20856 „Das hängt einfach so zusammen“, sagte Saltner, „daß ich verreist
20857 war und meine Mutter mit den Verhältnissen nicht Bescheid wußte,
20858 auch während meiner Abwesenheit nicht über die Mittel verfügte, die
20859 geforderte Geldstrafe wegen des versäumten Termins zu bezahlen. Ich
20860 komme jetzt, um meine Mutter abzuholen, und deponiere hier
20861 Obligationen im Betrag von tausend Gulden für meine Mutter und
20862 unsere Dienerin Katharina Wackner, mit dem Vorbehalt, die
20863 Gültigkeit der Verordnung auf dem Rechtswege zu bestreiten. Wollen
20864 Sie die Güte haben, meine Mutter holen zu lassen.“
20866 „Ich bin sehr gern bereit, Sie zu Ihrer Frau Mutter zu führen, aber
20867 das Geld kann ich nicht annehmen, Sie müssen dasselbe auf der
20868 Bezirkskasse deponieren, auf den erhaltenen Schein wird die
20869 Entlassung verfügt werden. Ich bin dazu nicht ermächtigt.“
20871 „Das ist aber äußerst fatal. Ich kann meine Mutter keinen
20872 Augenblick länger hier lassen, sie wird dadurch im höchsten Grade
20873 deprimiert, und es steht für ihre Gesundheit das Schlimmste zu
20874 befürchten.“
20876 „Ich muß zugeben, es wäre sehr wünschenswert, daß Ihre Frau Mutter
20877 zu Ihnen käme – unsrerseits würden wir ja gern sofort –, wenn nicht
20878 –“ Er zuckte mit einem bedeutungsvollen Blick die Achseln.
20879 „Indessen, es wird sie beruhigen, wenn ich Sie inzwischen zu ihr
20880 führe. Ich möchte Ihnen gern in jeder Hinsicht gefällig sein und
20881 Ihnen daher folgendes vorschlagen. Um zehn Uhr kommt der Direktor
20882 zurück, es sind dann noch einige Schlaf- und Traumversuche
20883 anzustellen. Inzwischen fahre ich mit dem Geld nach der Kasse,
20884 vielleicht treffe ich noch einen Beamten, ich besorge Ihnen den
20885 Schein, und darauf wird der Direktor die Entlassung verfügen.“
20887 „Sie sind außerordentlich liebenswürdig“, sagte Saltner. „Es ist
20888 nur fraglich, ob es nicht schon zu spät am Tage ist – wollen Sie
20889 mir nicht auf Ihre Verantwortung meine Mutter anvertrauen?“
20891 „Das ist mir ganz unmöglich, so gern ich möchte.“
20893 „Nun“, sagte Saltner mit einem Gesicht, das wenig Freude verriet,
20894 „dann bleibt mir nichts anderes übrig, als ihr freundliches
20895 Anerbieten anzunehmen.“
20897 „Sehr gern. Sobald ich Sie zu Ihrer Mutter gebracht habe, fahre
20898 ich, und in einer halben Stunde bin ich wieder hier.“
20900 Saltner war in verzweifelter Stimmung. Er konnte das Anerbieten des
20901 Numen nicht ablehnen, aber er konnte auch unmöglich diese
20902 Entwicklung der Angelegenheit abwarten. Denn abgesehen davon, daß
20903 sich heute vielleicht überhaupt nichts mehr erreichen ließ, so
20904 mußten doch noch gegen zwei Stunden vergehen, ehe die Entlassung
20905 vom Direktor zu erhalten war. Das war für Saltner so gut als die
20906 Vereitelung seiner Rettung. Denn selbst wenn, was keineswegs
20907 ausgeschlossen war, Oß von der Zahlung nichts erfuhr, so mußte doch
20908 Saltner mit Gewißheit annehmen, daß noch in dieser Stunde Oß seine
20909 Drohung ausführen und ihn persönlich zur Rechenschaft ziehen würde.
20910 Vermutlich war sein Haus jetzt schon besetzt; wenn er nicht
20911 zurückkehrte, so würde man ihn sicher bei seiner Mutter suchen; er
20912 konnte jeden Augenblick erwarten, daß man ihn auf Grund einer
20913 besonderen Order, die der Instruktor durchsetzen würde, hier
20914 verhaften werde. Jede Minute war ihm kostbar. Das ging ihm durch
20915 den Kopf, während er mit dem Assistenten durch die Korridore nach
20916 dem Zimmer seiner Mutter schritt.
20918 Der Nume blieb vor einer Tür stehen.
20920 „Hier ist es“, sagte er, „gehen Sie allein hinein. Ich will
20921 inzwischen in Ihrem Interesse eilen.“
20923 Saltner schoß ein Gedanke durch den Kopf.
20925 „Gestatten Sie noch eine Frage“, sagte er. „Wer vertritt Sie in
20926 Ihrer Abwesenheit von hier?“
20928 „Dr. Frank, der frühere Stabsarzt.“
20930 „Ich kenne ihn. Ich möchte mit ihm über meine Mutter sprechen;
20931 würden Sie die Güte haben, ihm sagen zu lassen, daß er sich hierher
20932 bemühe?“
20934 „Sehr gern.“ Der Nume verabschiedete sich.
20936 Saltner blieb kurze Zeit pochenden Herzens vor der Tür stehen.
20938 Leise klopfte er an. Es erfolgte keine Antwort. Er öffnete die Tür
20939 geräuschlos und trat in das Zimmer. Es war fast dunkel, nur ein
20940 letzter Schein der Dämmerung ließ noch einen unsichern Überblick
20941 zu. Über einem Betstuhl in der Ecke brannte eine ewige Lampe. Davor
20942 kniete Frau Saltner, in inbrünstigem Gebet begriffen. Er hörte sie
20943 leise Worte murmeln.
20945 Saltner wagte kaum zu atmen. Seine Augen füllten sich mit Tränen.
20946 Und doch hing vielleicht alles an einer Minute.
20948 „Mutter“, sagte er leise.
20950 Ihre Lippen verstummten. Ihr Blick richtete sich wie verzückt nach
20951 oben.
20953 „Mutter“, wiederholte er. „ich bin’s, der Josef.“
20955 Sie blieb in ihrer Stellung, als fürchtete sie, durch eine Bewegung
20956 die Erscheinung zu verscheuchen.
20958 „Es ist seine Stimme“, flüsterte sie. „Die heilige Jungfrau hat
20959 mein Gebet erhört.“
20961 Er kniete neben ihr nieder und umschlang sie mit seinem Arm. Jetzt
20962 erst wandte sie ihm das Gesicht zu. Mit einem Freudenschrei fiel
20963 sie ihm um den Hals.
20965 „Steh auf, Mutter“, sagte er, „und komm schnell, ich bin hier, um
20966 dich abzuholen. Wir müssen sogleich gehen.“
20968 Er zog sie empor. Sie küßte ihn zärtlich. Sie sprach kein Wort. Nun
20969 er da war, nun war es ihr wie selbstverständlich, daß sie fortgehen
20970 konnte. Sie suchte ihre Sachen zusammen.
20972 „Laß nur alles liegen“, sagte er, „es wird alles geholt werden. Nur
20973 dein Tuch nimm um, es wird kühl. So, nun komm!“
20975 Ihre Knie zitterten, er mußte sie stützen. Langsam gingen sie zur
20976 Tür und betraten den Korridor.
20978 Nach wenigen Schritten kam ihnen Doktor Frank entgegen.
20980 „Guten Abend, Saltner“, sagte er herzlich. „Nun werden Sie ja
20981 hoffentlich bald die liebe Frau Mutter wieder haben. Kommen Sie mit
20982 mir in mein Zimmer, und essen Sie mit mir zu Abend, dort können Sie
20983 alles gemütlich abwarten.“
20985 „Lieber Freund“, antwortete Saltner, „ich danke Ihnen innig, aber
20986 ich muß Ihnen eine Überraschung bereiten. Ich gehe jetzt mit meiner
20987 Mutter sogleich fort. Ich habe Gründe, weshalb ich nicht warten
20988 kann.“
20990 „Haben Sie denn den Schein und das Attest vom Direktor?“
20992 „Nein, das brauche ich nicht, wir gehen so.“
20994 „Aber ich bitte Sie, bester Freund, das ist unmöglich, das darf ich
20995 ja leider nicht zulassen –“
20997 „Sie müssen es.“
20999 „Es geht nicht. Sie bringen mich in Teufels Küche. Es geht mir an
21000 den Kragen.“
21002 „Ihnen kann gar nichts passieren. Kennen Sie die Verordnung von Oß,
21003 wo es heißt: ›Jeder Anordnung eines Numen, gleichviel, worauf sie
21004 sich beziehe, ist ohne Widerspruch Folge zu leisten‹, von den
21005 Menschen nämlich?“
21007 „Leider ja, ich kenne den Unsinn, muß mich aber danach richten.“
21009 „Nun denn, führen Sie uns in Ihr Zimmer, ich will Ihnen etwas
21010 zeigen.“
21012 Sie traten in das Sprechzimmer des Arztes.
21014 „Können Sie martisch lesen?“ fragte Saltner.
21016 „Ich habe es einigermaßen lernen müssen.“
21018 „Dann sehen Sie sich das an.“ Er zeigte seinen Paß.
21020 „Erkennen Sie an, daß mir danach alle Rechte eines Numen
21021 ausnahmslos zuerkannt sind?“
21023 „Ich muß es anerkennen.“
21025 „Demnach befehle ich Ihnen, meine Mutter und mich sogleich aus
21026 diesem Hause zu entlassen.“
21028 Der Arzt sah ihn verdutzt an. Dann blinzelten die Augen unter
21029 seiner Brille, und ein vergnügtes Schmunzeln ging über sein ganzes
21030 Gesicht. Endlich lachte er und rieb sich die Hände.
21032 „Das ist gut!“ rief er. „Das nenne ich den Jäger in seiner eignen
21033 Falle gefangen. Ja, wenn Eure Numenheit befehlen, so muß ein armer
21034 Bat ja folgen. Aber um meiner Sicherheit willen möchte ich mir den
21035 Befehl doch schriftlich ausbitten.“
21037 Er rückte Papier und Feder zurecht.
21039 Saltner schrieb eilig in martischer Sprache: „Auf Grund der
21040 Verordnung des Instruktors von Südtirol vom 18. September kommt Dr.
21041 Frank, in Vertretung des Direktors des Laboratoriums, meinem Befehl
21042 nach, Frau Marie Saltner aus der Anstalt zu entlassen. Josef
21043 Saltner, Ehrenbürger der Marsstaaten. Bozen, am 20. September.“
21045 Frank verbeugte sich und nahm das Papier in Empfang. Er schüttelte
21046 Saltner die Hand und sagte: „Nun wünsche ich recht glückliche
21047 Reise, denn Sie werden sich wohl auf einige Zeit aus der Nähe
21048 verziehen. Ich begleite Sie bis vors Haus.“
21050 Langsam stiegen sie die Treppe hinab, denn Frau Saltner fiel das
21051 Gehen noch immer schwer. Da kam ihnen ein Diener eilig entgegen.
21053 „Herr Doktor“, rief er, „eben kommt der Instruktor vor die Tür
21054 gefahren. Er wird gleich hier sein.“
21056 Saltner stand erstarrt. Im letzten Augenblick sollte er scheitern?
21058 „Haben Sie nicht einen Nebenausgang, durch den Sie uns führen
21059 können?“ fragte er schnell.
21061 Frank verstand. „Kommen Sie“, sagte er. Und zu dem Diener: „Sagen
21062 Sie dem Herrn Instruktor, ich würde sofort zur Stelle sein. Sie
21063 sehen, ich bin eben bei einer Kranken.“
21065 Damit faßte er Frau Saltner unter den andern Arm, und sie gingen
21066 schnell durch einen Korridor nach einer Nebentreppe und durch
21067 einige Wirtschaftsräume in den Hof. Hier führte eine kleine Tür auf
21068 einen schmalen Weg, der sich hinter dem Haus zwischen den
21069 Weingärten hinzog. Schnell schloß Frank die Tür hinter Saltner und
21070 seiner Mutter zu und eilte ins Haus zurück.
21072 Jetzt tat Eile not.
21074 „Wir müssen uns eilen, Mutter“, sagte er, „damit wir fortkommen,
21075 denn in unserm Haus dürfen wir nicht bleiben. Ich habe einen Wagen
21076 bestellt, wir wollen über die Berge, wo der Oß nichts mehr zu sagen
21077 hat. Ich will dich deshalb das Stückchen tragen.“
21079 „Du wirst es schon recht machen“, sagte sie.
21081 Er nahm sie auf den Arm wie ein Kind und schritt rasch und ohne
21082 Beschwerden zwischen den Mauern dahin. Der Weinhüter kam ihm
21083 entgegen. Als er ihn erkannte, grüßte er ehrerbietig und öffnete
21084 ihm die Türen. So kam er schnell an die Stelle, wo der Wagen hielt.
21085 Kathrin saß schon darin, Rieser stand selbst bei den Pferden.
21086 Saltner hob seine Mutter hinein, Kathrin wickelte sie in eine Decke
21087 und bot ihr Wein an.
21089 Saltner schwang sich auf den Bock. Der Weinhüter war herangetreten.
21090 Hier kannte ihn jeder und liebte ihn, keiner hätte ihn verraten.
21091 Saltner beugte sich zu dem Mann herab und sagte: „Die Nume sind
21092 hinter uns her, sie dürfen uns nicht kriegen.“
21094 „Schon recht“, sagte der Hüter, „ich habe nichts gesehen, hier ist
21095 niemand gewesen.“ Damit tauchte er wieder in das Dunkel der Mauern.
21096 Die Pferde zogen an, der Wagen rollte auf der Straße nach Meran
21097 davon.
21099 Saltner sprach zurück in den halbgedeckten Wagen. Er erkundigte
21100 sich, wie Kathrin ihre Aufträge ausgerichtet habe. Palaoro war zu
21101 Hause gewesen, er hatte gesagt, zwei zuverlässige Leute, die
21102 besten, die da seien, würden gern mit ihm kommen, weil es für den
21103 Herrn Saltner sei. Aber ob er die Maultiere gleich bekommen würde,
21104 wüßte er nicht, doch werde er sein Möglichstes tun. Der Herr
21105 Saltner möge sich nur nicht sorgen, wenn es etwas spät in der Nacht
21106 würde. Dann wäre sie nach Hause gelaufen und hätte die Sachen
21107 zusammengepackt. Als sie gerade wieder hinten zum Hause
21108 hinausgewollt, hätte es vorn gepocht. Da hat sie das Licht schnell
21109 ausgelöscht und zum Guckfenster hinausgeschaut. Dort ist der Wagen
21110 des Herrn Instruktor gestanden, und noch eine Menge von Fahrrädern
21111 mit den großen elektrischen Lampen sind dagewesen und wohl zehn
21112 Leute mit Glockenhelmen, die haben ins Haus gewollt. Da ist sie
21113 schnell hinten hinaus und hat die Tür verschlossen und ist zum
21114 Rieser gelaufen, und der ist auch gerade mit dem Wagen gekommen.
21116 Die Häuser des Ortes lagen hinter den Flüchtlingen. Die Nacht war
21117 klar, und eine Spur von Dämmerung erleuchtete den Weg. Saltner
21118 besprach sich mit dem Besitzer des Fuhrwerks und setzte ihm
21119 auseinander, worauf es ankäme. Sobald Oß die Entführung aus dem
21120 Laboratorium erfahren haben würde, und das war jetzt natürlich
21121 schon geschehen, würde er sie jedenfalls verfolgen lassen. Er
21122 konnte zwar nicht wissen, ob sie sich nicht in Gries versteckt
21123 hielten, aber er würde jedenfalls auch seine fahrenden Gendarmen
21124 die Hauptstraßen entlangschicken. Diese mußten mit ihren schnellen
21125 elektrischen Rädern auf den glatten Chausseen den Wagen bald
21126 einholen. Sie durften also nicht auf der Chaussee bleiben, wenn
21127 auch die Fahrt auf diese Weise viel länger dauern mußte. Hatte Oß
21128 nach den umliegenden Ortschaften telephonisch den Befehl gesandt,
21129 sie aufzuhalten, so war ihnen die Nachricht doch in jedem Fall
21130 vorangeeilt. Man mußte dann sehen, wie man durchkam.
21132 „In der Hinsicht“, sagte Rieser, „brauchen Sie nichts zu
21133 befürchten, wenn nicht gerade ein Nume in Andrian ist. Aber wie
21134 sollte da einer hinkommen? Der Vorsteher sieht gern durch die
21135 Finger, wenn er den Numen ein Schnippchen schlagen kann. Sie setzen
21136 sich dann in den Wagen, und wenn ich mit dem Mann gesprochen habe,
21137 wird er Sie gar nicht erkennen.“
21139 Sie hatten jetzt die Straße verlassen und verfolgten einen
21140 schlechten Feldweg, zwischen Obst- und Weingärten oder Rohrfeldern.
21141 Die Schwierigkeit lag aber darin, über die Eisenbahn und die Etsch
21142 hinüberzukommen. Dazu mußten sie bis Sigmundskron heran, und hier
21143 galt es vorsichtig sein. Die Mitte des Bozener Bodens war noch
21144 nicht erreicht, als sie hinter sich, wo die Straße nach Meran sich
21145 etwas erhöht am Berg hinzieht, die unverkennbaren Lichter der
21146 Martier sich in schneller Fahrt in der Richtung nach Terlan
21147 hinbewegen sahen. Gleich darauf bemerkten sie auch vor sich
21148 Lichter, die in derselben Richtung wie sie auf den dunkel
21149 vorspringenden Felsen von Sigmundskron hineilten. Sie waren aber
21150 auf der Chaussee ihnen bereits voraus und verschwanden bald hinter
21151 den Bäumen und Baulichkeiten des Orts.
21153 „Nun so schnell wie möglich ihnen nach“, rief Saltner. „Die fahren
21154 sicher den Berg hinan, um zu sehen, ob wir über die Mendel wollen.
21155 Bis sie zurückkommen, muß der Weg frei sein.“
21157 „Sie werden aber nicht weit fahren“, sagte Rieser. „Denn das wissen
21158 sie doch, daß sie uns in der ersten halben Stunde einholen müssen,
21159 wenn sie auf dem richtigen Weg sind.“
21161 „Wir müssen unser Glück versuchen.“
21163 Ohne aufgehalten zu werden, passierten sie den Ort und den Fluß und
21164 waren glücklich an der Stelle vorüber, wo links die Straße nach dem
21165 Mendelpaß abgeht. Sie wandten sich rechts, um am Gebirge entlang
21166 ihr Ziel zu erreichen. Jetzt durften sie hoffen, keinem Verfolger
21167 mehr zu begegnen. Die Straße führte hier ein großes Stück
21168 geradeaus, das sie schon zurückgelegt hatten, und Saltner spähte
21169 vorsichtshalber noch einmal rückwärts. Da bemerkte er plötzlich,
21170 wie hinter ihnen das elektrische Licht eines Rades auftauchte. Es
21171 näherte sich nur langsam, da der Weg kein schnelles Fahren
21172 gestaltete. Sie wurden verfolgt.
21174 Saltner verlor die Geistesgegenwart nicht. Er sah, daß es nur ein
21175 einzelner Bed war, der diese Straße einschlug; vielleicht hatte man
21176 ihm gesagt, daß ein Wagen diesen Weg gefahren sei. Er durfte es
21177 nicht darauf ankommen lassen, daß der Wagen erkannt wurde. Der Bed
21178 hätte Hilfe herbeigeholt, und man hätte ihn jedenfalls noch in
21179 Andrian erreicht. Er fühlte nach der Telelytwaffe, die er vom Mars
21180 mitgebracht und heute zu sich gesteckt hatte. Ohne Rieser etwas von
21181 dem Verfolger zu sagen, rief er ihm nur zu: „Fahren Sie weiter, ich
21182 komme gleich nach!“und sprang während der Fahrt vom Wagen.
21184 Er mußte den Bed abhalten, ihnen zu folgen, aber er durfte ihn auch
21185 nicht zurückkehren lassen, um zu melden, daß er durch einen
21186 Überfall verhindert worden sei, die Verfolgung fortzusetzen;
21187 vielmehr mußte er es so einrichten, daß der Bed an einen zufälligen
21188 Unfall glaubte. Und er hatte schon unterwegs daran gedacht, wie er
21189 das einrichten könne. Saltner sprang hinter einen Baum, der ihn
21190 gegen das Licht der Laterne deckte. Die Telelytwaffe ließ sich
21191 ausziehen, daß man wie mit einem Gewehr genau zielen konnte. Das
21192 Rad mit dem Bed näherte sich hell beleuchtet und mochte noch etwa
21193 hundert Schritt entfernt sein. Saltner setzte eine kleine
21194 Sprengpatrone ein und zielte an die Stelle, wo der diabarische
21195 Glockenhelm von den beiden dünnen Stützen getragen wird, die ihn
21196 mit der Fußbekleidung verbinden. Wird diese Verbindung
21197 unterbrochen, so ist die Diabarität aufgehoben, da der zu
21198 schützende Körper nach beiden Seiten gegen die Richtung der
21199 Schwerkraft gedeckt sein muß. Es kommt beim Gebrauch des Telelyts
21200 nicht wie bei einem Schuß auf eine einzige Entladung an, sondern
21201 man kann die Wirkung, die sich wie das Licht in Ätherwellen
21202 fortpflanzt, einige Zeit wirken lassen. Saltner war daher sicher,
21203 wenn er auch bei den Schwankungen des Helms einigemal das Ziel
21204 verlor, doch den Sprengerfolg zu erreichen. Und in der Tat, nach
21205 fünf bis sechs Sekunden begann der Helm sich zu neigen, und die
21206 eine Stütze brach. Der Bed hielt erschrocken sein Rad an. Diesen
21207 Moment der Ruhe benutzte Saltner, um auch die andere Stütze zu
21208 sprengen. Der Helm fiel herab, und der Bed bückte sich sichtlich
21209 unter dem Druck der Erdschwere. Er konnte jedenfalls so bald weder
21210 vorwärts noch rückwärts weit gelangen und war mit seinem Unfall so
21211 beschäftigt, daß er nicht mehr auf den Weg achtete.
21213 In schnellen Sprüngen eilte Saltner dem Wagen nach. Ohne ein Wort
21214 zu sagen, schwang er sich wieder auf den Bock. Eine Stunde später
21215 traf der Wagen in Andrian ein. Rieser ging voraus und überzeugte
21216 sich, daß hier noch keine Nachforschungen angestellt seien. Der
21217 Wirt brachte die Frauen in seiner eignen Wohnung unter, und auch
21218 Saltner legte sich einige Stunden zur Ruhe, um die Ankunft der
21219 Führer abzuwarten.
21221 Um drei Uhr wurde er geweckt. Palaoro war mit zwei Führern und den
21222 Maultieren eingetroffen. Alles wurde sogleich zum Aufbruch
21223 vorbereitet. Frau Saltner fühlte sich vollkommen kräftig, die
21224 Befreiung von ihrer Angst hatte ihr aufgeholfen. Nur die Füße
21225 konnte sie nicht gut gebrauchen, aber auf dem bequemen Sattel des
21226 Maultiers hatte sie keinerlei Beschwerden. Es war noch finster, als
21227 der kleine Zug aufbrach und auf schmalen Pfaden durch eine enge
21228 Schlucht zur Stufe des Mittelgebirges hinaufklomm. Sie waren erst
21229 ein kurzes Stück vorwärts gekommen, als Palaoro in seine Tasche
21230 griff und zu Saltner sagte:
21232 „Da habe ich doch noch etwas vergessen. Gehen Sie nur ruhig
21233 vorwärts, ich hole Sie bald wieder ein.“
21235 Er schritt gemächlich den Weg zurück. Der Wirt, der zugleich
21236 Ortsvorsteher war, trat eben ins Haus, um sich noch ein wenig aufs
21237 Ohr zu legen, als Palaoro herankam.
21239 Er überreichte ihm eine Depesche und sagte: „Das hat mir diese
21240 Nacht der Postmeister in Terlan mitgegeben. Er hatte nach allen
21241 Richtungen Boten ausschicken müssen, so daß er keinen mehr an euch
21242 hatte; da hab ich gesagt, ich wolle das Telegramm mitnehmen.
21243 Beinahe hätt’ ich’s vergessen. B’hüt euch Gott.“
21245 Und schon war er mit raschen Schritten in der Dunkelheit
21246 verschwunden. Der Wirt ging langsam ins Zimmer und entfaltete beim
21247 Schein der Laterne das Telegramm. Es lautete:
21249 „Josef Saltner mit Frau Marie Saltner und Katharina Wackner sind,
21250 wo sie auch auf diesseitigem Gebiet betroffen werden, zu verhaften
21251 und sogleich der hiesigen Gerichtsstelle zuzuführen.“
21253 Der Ortsvorsteher faltete das Papier zusammen und sprach: „Das
21254 hätte halt nachher schon vorher kommen gesollt.“ Dann ging er
21255 wieder zu Bett.
21257 Die Flüchtenden hatten das Mittelgebirge überschritten und
21258 kletterten jetzt auf halsbrecherischen Pfaden die steilen Abstürze
21259 des Gantkofels hinauf. Immer mit gleicher Sicherheit ging Palaoro
21260 voran, die Saumtiere folgten an der Hand ihrer Führer mit festem
21261 Tritt, und Saltner beschloß den Zug. Die Sonne ging auf und
21262 vergoldete die Bergspitzen. Ohne Rast, den Abgrund zur einen, die
21263 Felswand zur andern Seite, setzten die Reisenden ihren Anstieg
21264 fort. Nach vier Stunden war der Rücken erreicht, mit welchem das
21265 Mendelgebirge steil gegen das Etschtal abbricht. Dieser Rücken ist
21266 die deutsch-italienische Sprachgrenze und das Ende des Oß’schen
21267 Machtbereichs.
21269 Menschen und Tiere blieben stehen und erholten sich. Der Blick
21270 hatte sich nach Süden und Westen geöffnet. Auf den schlanken
21271 Pyramiden der Presanella, auf den ewigen Schneemassen der
21272 Ortler-Alpen glänzte strahlend das Sonnenlicht. Drunten im Tal
21273 zogen Nebelstreifen, und über ihnen ruhten dunkel die bizarren
21274 Formen der Dolomiten.
21276 Saltner winkte einen Gruß zurück ins Tal.
21278 „Auf Wiedersehen“, rief er, „wenn die Nebel vergangen sind. Jetzt
21279 sind wir frei!“
21281 Noch eine Viertelstunde mäßig bergab. Dann tat eine grüne, schmale
21282 Talschlucht sich auf, von einem frischen Gebirgsbächlein
21283 durchrieselt. Auf dem Rasen winkte eine Schutzhütte auf einem
21284 verborgenen, selten besuchten Platz. Palaoro schloß auf.
21286 „Hier werden wir wohnen“, sagte Saltner, indem er seine Mutter vom
21287 Maultier hob, „bis das Recht wieder eingezogen ist in unser Land.“
21289 „Wo könnte es schöner sein?“ sagte sie. „Und du bist hier.“
21291 \section{50 - Die Luft-Yacht}
21293 Die Strahlen der aufgehenden Sonne vergoldeten ein prachtvolles
21294 Luftschiff, das aus den äußersten Höhen des Luftmeers von Norden
21295 her herabschießend jetzt seine Geschwindigkeit mäßigte und seine
21296 glänzenden Schwingen ausbreitend langsam und majestätisch, in
21297 geringer Höhe über den Wogen, der nördlichen Küste von Rügen
21298 entgegenschwebte.
21300 Die Fischer in ihren Booten und die Badegäste, die am Strand
21301 lustwandelten, verfolgten das Schiff mit erstaunten Blicken. An den
21302 Anblick von Luftschiffen waren sie gewöhnt, denn der direkte Weg
21303 vom Nordpol nach Berlin führte hier vorüber, wenn auch freilich
21304 diese Schiffe in viel größeren Höhen zu ziehen pflegten. Aber ein
21305 derartiges Fahrzeug hatten sie noch nicht gesehen. Es war keines
21306 der furchtbaren Kriegsschiffe, deren farblose Einfachheit nur die
21307 drohenden Öffnungen der Repulsitgeschütze unterbrach, es war auch
21308 keines der langen und breiten Postschiffe, die den Personenverkehr
21309 vermittelten. Für eines der Boote, die den höheren Beamten der Nume
21310 zur Verfügung standen, war es zu groß und prächtig. Es war in der
21311 Tat ein Schiff, wie es bisher auf der Erde nicht verkehrt hatte,
21312 eine Privatyacht, von einem reichen Numen zu Vergnügungsreisen
21313 erbaut. Seine glatte Oberfläche schimmerte rot und golden, auf
21314 beiden Seiten wie auf den jetzt ausgebreiteten Flügeln glänzte
21315 weithin sichtbar der Name des Schiffes, als wäre er von riesigen
21316 Edelsteinen gebildet, ein nach rechts offener Halbkreis. Wer
21317 martisch zu lesen verstand, erkannte darin den Namen ›La‹.
21319 In der Mitte des Schiffes, auf dessen unterer Seite, befand sich
21320 ein kleiner Salon, ausgestattet in einer ebenso kostbaren als
21321 einfach wirkenden Eleganz und mit jeder Bequemlichkeit, die
21322 martische Kunst zu erdenken vermochte. Eine hier zum erstenmal
21323 angewandte Konstruktion ließ nach beiden Seiten erkerartige Ansätze
21324 so hervortreten, daß sie, ohne die Bewegung des Schiffes zu
21325 verhindern, eine freie Aussicht nach den Seiten und nach unten
21326 gestatteten. Auf einem freihängenden Polster, wie auf einer
21327 Schaukel halb liegend, ruhte hier eine graziöse weibliche Gestalt
21328 in bequemem Morgenanzug, den der mit glänzenden Deli-Kristallen
21329 bedeckte Lisschleier umhüllte. Es war Se. Sie beugte den schlanken
21330 Hals herab, um das Meer zu betrachten. Sobald sie den Kopf bewegte,
21331 spielten die braunen Locken in den lichten Farben des Regenbogens.
21332 Von Zeit zu Zeit betrachtete sie Einzelheiten durch ein Glas, dann
21333 ließ sie wieder den Blick rückwärts über die schaumgekrönten Wogen
21334 in die uferlose Ferne schweifen. Sie konnte sich an diesem
21335 Schauspiel nicht sattsehen. Daß es so viel Wasser gab, Wasser und
21336 immer Wasser auf dieser Erde, wie wunderbar kam es ihr vor, die bis
21337 jetzt nur das eisschollenbedeckte und beschränkte Meer am Nordpol
21338 erblickt hatte.
21340 Eine leise Berührung ihrer Schulter ließ sie aufblicken. Die Herrin
21341 dieses fliegenden Wunderbaus stand vor ihr.
21343 „Da bist du ja, La“, rief sie, sich aufrichtend, der ihr
21344 zunickenden Freundin entgegen. „Hast du endlich ausgeschlafen?“
21346 „Ich bin auch nicht so früh eingeschlafen wie du. Ich glaube, du
21347 träumtest schon, als wir gestern vom Pol abreisten.“
21349 „Ich war furchtbar müde. Ich hatte ja den ganzen Tag gearbeitet, um
21350 mich noch rechtzeitig für dich freizumachen. Ach, La, das war doch
21351 einer deiner gescheitesten Gedanken, mich zu dieser Reise
21352 einzuladen. Aber diese Eile! In der Nacht kommst du mit dem ›Glo‹
21353 an, ganz unerwartet. Früh läßt mich dein Vater nach dem Ring holen,
21354 und abends muß ich schon mit dir fort nach Deutschland. Ich habe
21355 noch gar keine Zeit gehabt, dich irgend etwas zu fragen.“
21357 „Weil du gestern gleich eingeschlafen bist.“
21359 „Ich bin ganz starr über diesen fabelhaften Luxus, das heißt für
21360 ein Luftschiff. Sonst ist es ja gerade so wie zu Hause, aber das
21361 auf einem Schiff zu haben, das ist eben das Überraschende. Wie bist
21362 du nur dazu gekommen?“
21364 „Das hat mir alles der Vater geschenkt.“
21366 „Und das konnte er?“
21368 La nickte.
21370 „Aber du siehst gar nicht so vergnügt aus, wie es sich für eine
21371 solche Prinzessin schickt. Komm, setz dich her und gestehe! Was ist
21372 eigentlich mit euch vorgegangen? Ich versuchte vorhin in dein
21373 Zimmer zu kommen, aber ich glaube gar, du hast es mit einer
21374 akustischen Tür geschlossen, die nur auf das Stichwort aufgeht.“
21376 La lehnte sich auf die schwebenden Polster und blickte zur Erde
21377 hinab. Dann sagte sie:
21379 „Du siehst, wir sind reiche Leute geworden. Der Vater hat eine
21380 wichtige Erfindung gemacht, eine Verbesserung am
21381 Fortbewegungsmechanismus der Raumschiffe.“
21383 „Das weiß ich natürlich, den Fru’schen Gleitrepulsor, der das
21384 Repulsit noch einmal so stark ausnutzen läßt. Das erspart dem Staat
21385 Hunderte von Millionen im Jahr.“
21387 „Nun ja, und einige davon haben wir als Ehrengabe bekommen. Dafür
21388 hat mir der Vater dies schöne Schiff geschenkt und ein Reisejahr
21389 für die Erde. Ich freue mich sehr darüber.“
21391 „Wenn du es nicht sagtest, würde man es kaum glauben. Was hast du
21392 also noch für Sorgen?“
21394 „Weißt du, Se, schreiben oder in die Ferne sprechen kann man solche
21395 Sachen nicht. Drum hab ich dich vor allen Dingen abgeholt, denn das
21396 mußt du doch erfahren, daß wir mit Oß nicht mehr verkehren.“
21398 „Aber Oß ist doch an der Erfindung deines Vaters beteiligt, er war
21399 ja sein Assistent bei den Versuchen?“
21401 „Ja, leider. Er hat auch vom Staat seine Million bekommen, und das
21402 ist eben das Unglück, das ist ihm in den Kopf gestiegen.“
21404 „Wieso? Ein bißchen exzentrisch freilich war er ja immer. Weißt du
21405 noch? Damals am Pol, als Ill die Versammlung abhielt und Grunthe
21406 und Saltner fortgegangen waren, da beantragte er doch, den Menschen
21407 die persönliche Freiheit abzusprechen. Aber was hat er denn
21408 getan?“
21410 „Es war damals nach dem Friedensschluß mit der Erde, als der Vater
21411 die Versuche machte, und Oß war deshalb viel bei uns, wir hielten
21412 uns auf der Außenstation am Nordpol des Mars auf. Und da wollte er
21413 mich binden.“
21415 „Im Spiel? Ja? Nun, das ist doch noch kein Größenwahnsinn. Wer war
21416 denn dabei?“
21418 „Ich wollte aber nicht.“
21420 „Und das hat er übelgenommen, das kannst du ihm nicht verdenken.
21421 Warum wolltest du nicht?“
21423 „Ich – ich war nicht in der Stimmung. Aber er hat das falsch
21424 verstanden. Ich machte mir eben gar nichts aus ihm, und er bildete
21425 sich ein, mir wäre das Spiel zu wenig. Er kam mit einem Antrag
21427 „Im Ernst?“
21429 La bewegte den Kopf bejahend. Ihre Augen blickten in die Ferne
21430 hinaus, aber sie sah nichts von der anmutigen Landschaft, den
21431 buchengekrönten Kreidefelsen zu ihren Füßen.
21433 „Und du hast ihn abgewiesen? La! Das ist freilich schlimm. Das geht
21434 doch nicht. Du mußtest das Spiel annehmen und dann so unausstehlich
21435 sein, daß er von selber –. Aber La, du Liebling, ich glaube gar, du
21436 weinst?“
21438 Sie zog sie an sich und streichelte ihr die Wangen.
21440 „Warum regt dich das so auf, macht dich so traurig? Du bereust? Du
21441 liebst ihn? Darf ich es wissen?“
21443 „Wirklich nicht“, sagte La mit so ruhiger Stimme, daß Se an ihrem
21444 Wort nicht zweifeln konnte. „Ich konnte nicht anders, ich mochte
21445 nichts von ihm wissen.“
21447 „Ach so!“ Se faßte ihre Hand und drückte sie leise. „Also ein
21448 anderer.“
21450 Und bei sich dachte sie: „Also Ell!“ Aber das sagte sie nicht. Vor
21451 solchen Gewissensfragen blieb auch die Freundschaft stehen.
21453 La erhob sich heftig. „Lassen wir das nun“, sagte sie. „Es ist
21454 nichts daran zu ändern. Ich hätte auch jeden andern abgewiesen –
21455 das zu deiner Beruhigung. Ich wollte dir das nur mitteilen, damit
21456 du dich nicht wunderst, wenn ich von Oß nichts mehr hören mag.“
21458 „Und wo ist er denn jetzt?“
21460 „Ich weiß es nicht, ich habe mich nicht darum gekümmert. Der Nu ist
21461 groß. Er ist aus unserer Umgebung verschwunden.“
21463 „Und deine Reise nach der Erde, nach Berlin? Hängt die damit
21464 zusammen?“ fragte Se etwas neugierig.
21466 „Indirekt ja. Ich habe mich über die ganze Sache geärgert. Ich war,
21467 ich weiß nicht warum, in diesem Jahr recht wenig zufrieden mit mir.
21468 Die Ärzte schickten mich hier- und dahin, aber ich war gar nicht
21469 krank, ich war nur – ich weiß nicht. Da kam der Vater auf die Idee,
21470 mich nach der Erde kommen zu lassen. Er mußte wieder hierher zu den
21471 Erweiterungsbauten an der Außenstation. Und da schenkte er mir
21472 vorher das schöne Schiff. Ich wollte die Mutter gern mitnehmen,
21473 aber es wäre für sie zu anstrengend gewesen. Da dachte ich an dich.
21474 Und nun hab ich dich ja.“
21476 Sie küßte Se auf den Mund und sprach weiter: „Sei mir gut und tu
21477 mir den einen Gefallen, wundere dich nicht über mich, ich weiß, was
21478 ich tue, auch wenn es dir seltsam vorkommt. Ich will nämlich einmal
21479 versuchen, wie es sich auf der Erde lebt, ob man überhaupt hier
21480 leben kann.“
21482 Se lächelte still für sich.
21484 „In einem solchen Luftschiff läßt es sich schon leben“, sagte sie.
21485 „Und im Palast des Kultors wird es sich wohl auch leben lassen.
21486 Dort wirst du sicherlich diese La, ich meine die fliegende, in der
21487 wir sitzen, unterbringen.“
21489 „Nein, das werde ich nicht, ich will dir’s gleich verraten. Ich
21490 habe nur dem Vater nicht widersprochen, als er es vorschlug. Aber
21491 ich habe ganz andre Dinge vor. Ich will mir einmal die Bate in
21492 ihrer Heimat ansehen, nicht als Nume, sondern wie ein Mensch möchte
21493 ich unter Menschen verkehren. Wir wollen nicht in dem Schiff
21494 wohnen, sondern in einem Hotel wie gewöhnliche Menschen.“
21496 Se sah die Freundin erstaunt an.
21498 „Was für Ideen du da ausheckst“, sagte sie. „Zur Abwechslung wäre
21499 es vielleicht nicht übel, und ich wäre ganz gern dabei – wenn es
21500 nur ginge. Aber die Schwere, La, die Schwere! Wenn wir als Menschen
21501 auftreten wollen, können wir doch nicht mit den Helmen über dem
21502 Kopf herumlaufen.“
21504 „Könnten wir uns nicht ein bißchen an die Erdschwere gewöhnen? Ein
21505 bißchen nur?“ fragte La, indem sie Se schelmisch ansah.
21507 „Nein“, rief Se abwehrend, „dazu bekommst du mich nicht! Es ist ja
21508 gar nicht dein Ernst!“
21510 „Höre einmal“, sagte La, indem sie sich neben Se setzte und den Arm
21511 um sie schlang. „Ich habe mir etwas ausgedacht und mir in Kla in
21512 aller Stille anfertigen lassen. Darauf bin ich gekommen, wie ich in
21513 einem Blatt die neuesten Moden auf der Erde gesehen habe. Sieh
21514 einmal her.“
21516 Sie holte vom Bücherbrett ein Journal der Erde und schlug es auf.
21518 „Siehst du“, sagte sie, „man trägt jetzt diese merkwürdigen Hüte
21519 mit breiten Krempen, die bis über die Schultern hinausragen, und an
21520 beiden Seiten fallen Bänder herab. Ich vermute, daß unsre
21521 diabarischen Glockenhelme das Muster dazu geliefert haben, unschön
21522 genug sind sie dazu. Da dachte ich mir, so ein Hut müßte sich
21523 diabarisch herstellen lassen, und ich ließ einige Modelle aus
21524 Stellit anfertigen. Ich werde sie dir dann zeigen. Sie sehen aus
21525 wie diese Hüte. Die Verbindung geht durch diese Bänder, die
21526 allerdings an der Schulter befestigt werden müssen. Von dort geht
21527 sie an den Seiten unter den Kleidern fort bis an die Stiefel, die
21528 man aber unter den langen menschlichen Frauenkleidern nicht sieht.
21529 Dieser Anzug schützt zwar nicht so gut wie der übliche Erdanzug mit
21530 Helm, aber in der Hauptsache genügt er völlig. Nur die Oberkleider
21531 und die Arme bleiben ohne Schutz, indessen das kann man schon
21532 aushalten, es ist nicht so schwer; wir brauchen ja die Arme nicht
21533 zu bewegen, sondern können sie meist am Gürtel oder an einem
21534 Seitentäschchen aufstützen. Außerdem habe ich auch diabarische
21535 Schirme gegen Sonne und Regen, die wir durch eine Stellitkette mit
21536 dem Anzug verbinden können. Auf der Straße können wir also überall
21537 ohne Beschwerde gehen, nur dürfen wir die Hüte nicht abnehmen. Aber
21538 bei den menschlichen Damen ist es ja Sitte, bei vielen
21539 Gelegenheiten auch im Zimmer die Hüte aufzubehalten.“
21541 „Das ist fein. Man wird zwar gräßlich aussehen, doch wir sind ja
21542 auf der Erde, da nimmt man es nicht so genau. Aber ich bitte dich,
21543 wir können doch nicht zu Hause immer in Hüten sitzen und damit zu
21544 Bett gehen.“
21546 „Nein, das ist nicht zu verlangen. Trotzdem, im Schiff möchte ich
21547 nicht wohnen, es braucht vorläufig niemand zu wissen, daß wir da
21548 sind. Aber es gibt ja in Berlin Hotels für Nume, mit Zimmern, die
21549 abarisch gemacht werden können. Dort mieten wir uns ein, daß wir
21550 uns zu Hause erholen können. Das Schiff geht sofort weiter, daß die
21551 Leute meinen, wir sind mit irgendeinem Mietschiff angekommen. Die
21552 Schiffer nehmen mit dem Schiff in einem der Vororte Quartier, so
21553 daß wir sie jederzeit herbeirufen können.“
21555 „Das hast du alles sehr hübsch ausgedacht. Aber wie kommen wir denn
21556 zu der nötigen menschlichen Toilette?“
21558 „Das ist das wenigste! Es gibt doch in Berlin große Magazine, wo
21559 man alles haben kann, was Menschen brauchen. Sobald wir im Hotel
21560 angekommen sind, lassen wir uns von dort jemand kommen, und ich bin
21561 überzeugt, in einer Stunde sind wir aufs Eleganteste
21562 ausstaffiert.“
21564 „Du bist gelungen! Was hast du für Ansichten von meinem
21565 Geldbeutel!“
21567 „Sei doch nicht töricht, Liebling. Du bist mein Gast, und ich habe
21568 für dich zu sorgen. Das ist ganz selbstverständlich.“
21570 „Nun, meinetwegen. Ich will dir deine Freude nicht verderben.“
21572 „Ich danke dir, gute Se. Und nun komm, ich will dir die Hüte
21573 zeigen. Wir wollen sie einmal probieren. Auf dem Verdeck ist
21574 Erdschwere, und wir sind dennoch gegen den Luftzug geschützt.“
21576 Die Probe wurde unter Lachen und Necken gemacht. Es ging alles nach
21577 Wunsch, und Se erklärte, daß sie es wohl wagen würde, so spazieren
21578 zu gehen. Aber Gesicht und Haar müßten unter einem Schleier
21579 verborgen werden, und wenn sie so ein bißchen gebückt
21580 einherhumpelten, werde man sie ja wohl für zwei alte Erdmütterchen
21581 halten.
21583 „Aber wenn wir Ell besuchen“, sagte sie fragend zu La, „da wirst du
21584 doch nicht in diesem Aufzug hingehen?“
21586 Sie waren wieder in den Salon getreten, und La war gerade damit
21587 beschäftigt, ihren Hut abzulegen. Währenddessen antwortete sie
21588 unbefangen: „Ell zu besuchen ist gar nicht meine Absicht.
21589 Wenigstens nicht eher, als es die Höflichkeit unbedingt erfordert.
21590 Weißt du, wen wir zuerst aufsuchen werden?“
21592 „Nun dann vielleicht Grunthe?“
21594 La lachte. „Das ist wahr“, sagte sie, „den müßten wir eigentlich
21595 auch einmal heimsuchen. Aber im Ernst, ich will zuerst zu Isma. Wir
21596 haben uns einigemal geschrieben.“
21598 „Mir ist alles recht“, antwortete Se. Und nach einer Pause begann
21599 sie ein wenig zögernd, indem sie La nur verstohlen betrachtete:
21600 „Hast du denn eigentlich wieder einmal etwas von Saltner gehört? Er
21601 ist doch so ohne Abschied vom Mars verschwunden.“
21603 La ergriff das neben ihr liegende Fernglas und richtete es auf die
21604 Landschaft. Dabei sagte sie mit möglichst gleichgültiger Stimme:
21606 „Nur indirekt, hin und wieder. Er lebt, soviel ich weiß, bei seiner
21607 Mutter da irgendwo in den Bergen. Übrigens hat er sich bei mir
21608 verabschiedet, aber, du weißt ja, er hat sich damals auch mit Ell
21609 überworfen wegen der Briefe –“
21611 Se sah, wie Las Hand, die das Glas hielt, leise zitterte. Es war
21612 unmöglich, daß sie etwas durch das Glas zu erkennen vermochte.
21614 „Ach ja“, sagte Se, „ich weiß.“
21616 Beide schwiegen. La sah wieder angelegentlich nach der Landschaft.
21617 Se blickte zu ihr hinüber. Sie konnte aus der Freundin nicht klug
21618 werden. Endlich sagte sie: „Übrigens, wenn wir ihn wiedersehen
21619 sollten, die Bindung ist aufgehoben. Ich will nicht mehr.“
21621 La antwortete nicht. Es war ganz still, man hörte das leise Zischen
21622 der treibenden Maschine.
21624 Plötzlich unterbrach der laute Pfiff einer Lokomotive die Stille.
21625 Hundegebell wurde vernehmbar.
21627 „Oh“, rief Se, „das ist Lärm, das ist die Erde!“
21629 „Ich glaube, wir müssen schon weit über dem Binnenland sein. Ich
21630 sagte dem Schiffer, er solle von Sonnenaufgang an ganz tief und
21631 langsam fahren. Aber wir wollen nun etwas schneller vorwärts, die
21632 Landschaft da unten ist recht eintönig.“
21634 La rief den Schiffer. „Können wir in einer Stunde am Ziel sein?“
21636 „In einer Viertelstunde, wenn Sie wollen.“
21638 „Eine Stunde genügt.“ Der Schiffer ging.
21640 „Wir wollen frühstücken und Toilette machen, ganz einfach“, sagte
21641 sie zu Se.
21643 Das Schiff zog die Flügel ein. Wie ein Pfeil durchschoß es die
21644 Luft.
21646 \section{51 - Martierinnen in Berlin}
21648 In der glänzend ausgestatteten Vorhalle des neuen ›Marshotels‹ an
21649 der Straße ›Unter den Linden‹ in Berlin standen zwei elegant
21650 gekleidete Damen. In ihren gemessenen Bewegungen, mit denen sie die
21651 Einrichtungen des Hotels aufmerksam musterten, machten sie einen
21652 ebenso vornehmen Eindruck, als er dem Reichtum ihrer Toilette
21653 entsprach. Ihr Gesicht war von einem dichten Schleier bedeckt, so
21654 daß es schwer war, über ihr Alter ein Urteil zu gewinnen.
21656 Als sie im Begriff waren, auf die Straße zu treten, näherte sich
21657 ihnen ein Kellner und fragte ehrerbietig: „Befehlen die Damen
21658 Plätze zur Table d’hôte?“
21660 Se trat, entsetzt über diese Zumutung, einen Schritt zurück.
21661 Schnell gefaßt sagte La:
21663 „Wir können darüber noch nicht entscheiden.“
21665 „Wagen gefällig?“ fragte der Portier.
21667 La schüttelte nur den Kopf und ging vorüber.
21669 Der Kellner und der Portier tauschten einen Blick, aus dem wenig
21670 Hochachtung für die beiden Gäste sprach.
21672 Die Damen schritten die Straße entlang nach dem Opernplatz zu. Sie
21673 spannten ihre Sonnenschirme auf, und ihre Bewegungen wurden
21674 sichtlich freier und lebhafter.
21676 „Du hast doch nicht etwa die Absicht“, sagte Se leise, „wirklich
21677 mit diesen Baten essen zu wollen? Das ist doch unmöglich.“
21679 „Mit dem Hut und dem Schleier wird es nicht gehen, sonst aber – man
21680 muß sich an alles gewöhnen.“
21682 „Aber das ist doch zu unanständig.“
21684 „Wir sind auf der Erde. In irgendeine der Restaurationen, die hier,
21685 wie es scheint, in jedem Hause sind, wollen wir jedenfalls einmal
21686 eintreten. Sieh nur, wo man hinblickt, sitzen Leute und trinken
21687 Bier. Das nennen sie Frühschoppen.“
21689 Sie schritten weiter durch das Gewühl der Menschen, über breite
21690 Plätze, dann in engere, noch dichter belebte Straßen hinein. Ihre
21691 Blicke schweiften über Gebäude und Denkmäler, über die begegnenden
21692 Personen und Wagen oder verweilten auf den glänzenden Auslagen in
21693 den Schaufenstern.
21695 „Es gefällt mir gar nicht“, sagte Se. „Alles ist nüchtern, klein
21696 und eng. Man sieht förmlich, wie die Schwere die Gebäude
21697 zusammendrückt, die Dächer herabklappt. Die Wände, die Erker, alles
21698 ist vertikal gezogen, eine horizontale Schwingung ins Freie scheint
21699 es gar nicht zu geben. Sieh nur, wie dieser Balkon mühsam von unten
21700 gestützt ist! Und wie ärmlich und geschmacklos all dies Zeug in den
21701 Läden! Und das ist nun die Hauptstadt! Wie mag es auf dem Lande
21702 aussehen? Denn diese ganze Herrlichkeit reicht nicht weit, selbst
21703 wenn man zu Fuß geht, ist sie in ein paar Stunden zu Ende.“
21705 „Du mußt doch nicht immer unsre Verhältnisse zum Vergleich
21706 heranziehen“, entgegnete La. „Im ganzen ist es staunenswert, was
21707 die Leute für ihre Kulturstufe leisten. Sie haben doch eine
21708 Industrie. Natürlich müssen sie sich nach der Schwere richten und
21709 können nicht wie wir in die Luft hinausbauen. Aber wie angenehm
21710 kann man dafür hier im warmen Sonnenschein gehen, ohne verbrannt zu
21711 werden. Und sieh nur, diese entzückenden weißen Wölkchen, wie sie
21712 über den blauen Grund ziehen. Das gefällt mir besser als unser
21713 ewiger grüner Baumschimmer oder der fast schwarze Himmel darüber.“
21715 „Mir scheint, du willst dich zur Erdschwärmerin ausbilden. Mich
21716 stößt schon dieser entsetzliche Lärm ab. Die Leute unterhalten sich
21717 ja so laut, daß man es auf mehrere Schritte hört. Und dort zanken
21718 sich gar zwei auf offener Straße. Auch die Wagen sind unausstehlich
21719 geräuschvoll, man hört das Rollen der Räder auf weithin. Wie muß
21720 das erst gewesen sein, als noch Pferde vor die Wagen gespannt
21721 waren. Höre nur das unanständige Rufen der Wagenführer: He! He! Das
21722 Klingeln und Pfeifen! Ich möchte mir die Ohren verstopfen.“
21724 „Man gewöhnt sich daran.“
21726 „Was kommt denn dort? Hoch oben sitzen Menschen, und unten ist ein
21727 Tier mit vier Beinen. So was habe ich noch nie gesehen, das müssen
21728 wir uns betrachten.“
21730 „Es sind Reiter“, sagte La. „Sie sitzen auf Pferden. Es sieht gut
21731 aus.“
21733 „O nein, abscheulich! Diese Tiere, wie häßlich. Und wie das riecht!
21734 O pfui! Komm, komm, das halte ich nicht aus.“
21736 Aus der Tür eines Hauses trat ein Nume, mit dem großen, glänzenden
21737 Glockenhelm über dem Kopf. Er schritt bis in die Mitte der Straße,
21738 um sich nach seinem Wagen umzusehen. Ein Teil der Vorübergehenden
21739 wich ihm in einem Bogen aus, andre, die gelbe Marken an der
21740 Kopfbedeckung trugen, gingen zwar dicht an ihm vorüber, blickten
21741 aber finster nach der andern Seite. Gerade jetzt waren die Reiter
21742 bis hierher gelangt. Das Pferd des ersten scheute vor dem Helm des
21743 Martiers, der, ohne an ein Ausweichen zu denken, in der Mitte der
21744 Straße stand. Kerzengerade stieg es in die Höhe. Der gewandte
21745 Reiter behauptete sich im Sattel, er wollte das Pferd an dem
21746 Martier vorüberbringen. In unregelmäßigen Sätzen sprang es hin und
21747 her und schlug aus. So drängte es in die Zuschauermenge hinein, die
21748 sich schnell angesammelt hatte. Diese stob erschrocken auseinander,
21749 auch La und Se wurden gestoßen, allgemeines Geschrei entstand.
21750 Schreckensbleich sahen sie, in die Ecke einer Haustür gedrückt, der
21751 Szene zu. Von den Sporen des Reiters getroffen, machte jetzt das
21752 Pferd einen gewaltigen Satz nach vorn. Es streifte den Helm des
21753 Martiers und riß diesen zu Boden. Die Reiter galoppierten davon,
21754 und ein Hohngeschrei der angesammelten Straßenjugend begleitete die
21755 Niederlage des Numen.
21757 Wütend sprang der Nume in die Höhe, das Publikum beeilte sich, aus
21758 seiner Nähe zu kommen. Ein Schutzmann hatte sich inzwischen
21759 eingefunden und war dem Numen behilflich, in seinen Wagen zu
21760 steigen.
21762 „Wer waren die Reiter?“ fragte der Martier.
21764 „Es waren Herren vom Rennklub.“
21766 „Gut, diesem Unfug muß gesteuert werden.“
21768 Der Nume fuhr davon.
21770 „Das geht ja hier entsetzlich zu“, sagte Se schaudernd. „Man ist
21771 seines Lebens nicht sicher. Ich gehe nicht weiter.“
21773 „Nur noch bis an jene Ecke. Dort in der Restauration hinter den
21774 großen Scheiben sehe ich Damen in Hüten sitzen, da wollen wir uns
21775 ein wenig erholen. Und dann fahren wir direkt zu Isma.“
21777 Sie traten in das reich ausgestattete Lokal ein und schritten
21778 zwischen den Tischen, die Gäste musternd, hindurch, bis sie neben
21779 einem der Fenster an einem noch unbesetzten kleinen Tisch Platz
21780 fanden. Obwohl ihnen alle Verhältnisse fremd und ungewohnt waren,
21781 so machte sie das doch in keiner Weise befangen; es waren ja nur
21782 ›Bate‹, die hier ihren barbarischen Sitten huldigten, und sie
21783 wollten sich das nur einmal ansehen. So dachte wenigstens Se. Sie
21784 rümpfte das Näschen und sagte:
21786 „Eine furchtbare Luft! Diese Gerüche und dieser Lärm – wie kannst
21787 du es nur hier aushalten.“
21789 Das Gemisch von Düften nach Bier, Tabak und geräucherten Würstchen,
21790 in Verbindung mit dem Geräusch der Stimmen, war für martische Sinne
21791 betäubend.
21793 „Wir können hier ein wenig das Fenster öffnen“, sagte La.
21795 Sie befanden sich in dem großen Ausschank einer süddeutschen
21796 Brauerei. Ein Kellner setzte unaufgefordert zwei Glas Bier vor sie
21797 hin, und eine Kellnerin brachte ihnen die Speisekarte.
21799 Se amüsierte sich. „Diesen Topf soll man austrinken?“ sagte sie.
21800 „Aber wie macht man denn das, es ist ja kein Saugrohr dabei?“
21802 La warf einen etwas verzweifelten Blick umher, dann hob sie das
21803 Glas und sagte: „Wir müssen eben trinken wie die Menschen.“ Und sie
21804 nahm einen tüchtigen Zug.
21806 Se versuchte es gleichfalls, aber sie kam nicht recht damit zu
21807 Rande. „Woher kannst du das nur?“ fragte sie lachend. „Ich glaube,
21808 du hast dich auf deine Erd-Expedition vorbereitet!“
21810 „Ich habe es wirklich eingeübt“, antwortete La. „ich habe mir nun
21811 einmal vorgenommen, unter den Menschen so wenig wie möglich
21812 aufzufallen.“
21814 „Und das sagst du so ernsthaft – man möchte es wirklich glauben.
21815 Nun, was steht denn auf dieser wunderbaren Speisekarte, die man mit
21816 beiden Händen halten muß?“
21818 „Ich werde nicht klug daraus. Doch, da –“ sie hielt inne, „– ich
21819 werde mir – dies da –“
21821 Ein wehmütiges Lächeln ging flüchtig über ihre Züge, dann wandte
21822 sie den Kopf ab und blickte sinnend zum Fenster hinaus.
21824 Se las die Stelle, die La mit dem Finger bezeichnet hatte, und warf
21825 dann einen verwunderten Blick auf die Freundin. Sie suchte in ihrem
21826 Gedächtnis, und nun hatte sie es gefunden. Ihre Augen blitzten
21827 schelmisch auf, und plötzlich sagte sie, ganz mit Saltners Akzent:
21829 „Ein Paar Geselchte mit Kraut, die wenn i’ hätt’, ’s wär’ schon
21830 recht.“
21832 La zuckte zusammen. Sie sah Se mit einem flehenden Blick an. Diese
21833 ergriff ihre Hand und sagte, ihr Lachen unterdrückend: „Sei nicht
21834 böse, liebe La, aber eine Nume, der bei der Erinnerung an ›ein Paar
21835 Geselchte‹, die sie noch dazu nie mit ihren Augen gesehen hat, die
21836 Tränen in diese schönen Augen treten, das ist doch ein Anblick, um
21837 Götter zum Lachen zu bringen. Aber es ist wahr, diesen würdigen
21838 Gegenstand müssen wir kennenlernen, aus Dankbarkeit an die lustigen
21839 Zeiten. Und heute habe ich schon viel daraus gelernt“, setzte sie
21840 im stillen für sich dazu.
21842 Se bestellte. Und wieder mußte sie leise lachen. Sie sah sich mit
21843 La und Saltner auf der Aussichtsbrücke des Raumschiffs stehen, als
21844 sich die leuchtenden Flächen des Mars zum erstenmal vor den
21845 Ankommenden im Sonnenschein ausbreiteten, und der Kapitän Oß, der
21846 zu Saltners Ärger La nicht von der Seite wich, sagte: „Morgen
21847 werden wir landen. Es ist ein hübscher Raumschifferglaube, daß der
21848 Wunsch in Erfüllung geht, den man bei der Landung ausspricht; es
21849 muß aber etwas Praktisches und etwas Kleines sein. Was werden Sie
21850 denn sagen?“ Er blickte La schmachtend an, die aber nicht
21851 antwortete. Da tat Saltner in seinem trockenen Ton den klassischen
21852 Ausspruch von den Würstchen. La und Se hatten lange gefragt, was
21853 denn dies sei, und er hatte sie immer mit diesem Geheimnis geneckt,
21854 bis er es ihnen einmal erklärte, und dann war es eine scherzhafte
21855 Redensart geworden.
21857 „Das sind ein paar patente Frauenzimmer“, sagte ein Herr am
21858 Nebentisch zu seinem Nachbar.
21860 „Es sind Tirolerinnen, ich hab’ vorhin die eine sprechen hören“,
21861 sagte der andre. „Sie sind gewiß von der Stürzerschen
21862 Sängergesellschaft.“
21864 Das Essen war gebracht worden. Die Würstchen dampften verlockend
21865 auf den Tellern, nur nicht für die Freundinnen. Sie tauschten
21866 verzweifelte Blicke miteinander.
21868 „Es ist keine Waage unter dem Teller“, sagte La, „man weiß nicht,
21869 wieviel man eigentlich zu sich nimmt. Willst du dir vielleicht
21870 lieber etwas Chemisches geben lassen?“
21872 „Ich bringe es überhaupt nicht fertig, vor allen diesen Leuten zu
21873 essen. Ich schäme mich halbtot.“
21875 „Es kommt ja kein Nume herein, und niemand kennt uns. Ich will dir
21876 etwas sagen – entweder, oder! In dem Schleier können wir überhaupt
21877 nicht essen. Wir drehen dem Publikum den Rücken zu und nehmen die
21878 Schleier ab. Ich stelle mir jetzt vor, ein Mensch zu sein!“
21880 Und mit einem kühnen Entschluß löste La den Schleier von ihrem
21881 Gesicht und begann zu essen.
21883 „Es ist wirklich gut“, sagte sie. „Es ist fett und schmeckt wie
21884 Al-Keht. Versuch es nur!“
21886 Se sah ihr gespannt zu. Sie bewunderte die Seelengröße der
21887 Freundin, aber sie konnte sich nicht zu dem gleichen Opfer für die
21888 Menschheit entschließen.
21890 „Es ist zu viel“, sagte La.
21892 „So wollen wir gehen. Die Leute sehen uns zu. Himmel, da draußen
21893 geht ein Nume vorüber.“
21895 Se drehte sich schnell um, indem sie den Schleier zu befestigen
21896 suchte. Indessen bezahlte La, und sie verließen das Lokal.
21898 \tb{}
21899 Die beiden Herren waren ihnen gefolgt. Als Se und La auf der Straße
21900 stehen blieben, um sich nach einer Droschke umzublicken, trat einer
21901 der Herren an sie heran.
21903 „Die Damen sind fremd und wissen den Weg nicht“, sagte er, den Hut
21904 lüftend, „dürfte ich vielleicht die Ehre haben –“
21906 Ohne ihn einer Antwort zu würdigen, wendeten sie ihm den Rücken zu
21907 und setzten ihren Weg fort. Sie bemerkten alsbald, daß die beiden
21908 ihnen unter anzüglichen Bemerkungen folgten.
21910 „Das ist ja eine unverschämte Gesellschaft“, sagte Se, „es ist
21911 wirklich recht nett hier unter den Baten, man kann sich nicht
21912 einmal frei bewegen.“
21914 „Du mußt bedenken“, bemerkte La entschuldigend, „das sind
21915 ungebildete Leute, die nichts zu tun haben, sonst würden sie um
21916 diese Zeit nicht im Gasthaus sitzen. Dort drüben stehen übrigens
21917 Wagen.“
21919 „Ich werde ihnen aber erst eine kleine Ermahnung geben. Paß auf,
21920 wie sie verschwinden werden.“
21922 Se nestelte an ihrem Schleier und blieb dann stehen. Als sich die
21923 beiden Herren dicht hinter ihr befanden, drehte sie sich plötzlich
21924 um und riß den Schleier herab. Der Glanz ihrer mächtigen Augen und
21925 das Gebietende ihres Blickes zeigte den Abenteuerlustigen sofort,
21926 daß sie vor einer Nume standen. Erschrocken prallten sie zurück.
21928 „Macht, daß ihr in die Schule kommt!“ rief sie ihnen zu.
21930 Beide entfernten sich aufs schleunigste.
21932 Se lachte. „Aber nun habe ich wirklich Hunger“, sagte sie. „Isma
21933 muß mir etwas zum Frühstück verschaffen.“
21935 Eine Droschke brachte sie vor das Haus, wo Isma wohnte. Enttäuscht
21936 sahen sie sich um, nachdem sie den Hof überschritten hatten. Kein
21937 Aufzug im Haus, und drei Treppen! Es war eine mühsame Partie. Se
21938 seufzte wiederholt.
21940 „Man braucht ja nicht in einem solchen Haus zu wohnen oder nicht so
21941 hoch“, sagte La begütigend.
21943 „Man braucht glücklicherweise überhaupt nicht auf der Erde zu
21944 wohnen, sollte ich denken.“
21946 „Nun ja, ich meinte nur, wenn man – zum Beispiel amtlich –“
21948 „Ach so.“
21950 Endlich standen sie vor der Tür, welche die Aufschrift ›Isma Torm‹
21951 trug. Sie hatten nun ihre Schleier abgenommen. Auf ihr Klingeln
21952 öffnete sich die gegenüberliegende Tür, und eine ältere,
21953 freundliche Dame sagte, Frau Torm sei nicht zu Hause. Jetzt
21954 erkannte sie, daß sie zwei Damen vom Mars vor sich habe und
21955 erschöpfte sich in Entschuldigungen. Frau Torm werde sogleich nach
21956 Hause kommen, es sei jetzt ihre Zeit, und die Damen möchten nur
21957 einen Augenblick warten, es sei alles geimpft im Haus, und sie
21958 werde sie sogleich in Frau Torms Zimmer führen. Das geschah denn,
21959 und die unterhaltende Dame ließ sie nun allein.
21961 Die beiden Martierinnen sahen sich sorgfältig in dem freundlichen
21962 und geräumigen Zimmer um. In dem lebensgroßen Porträt an der Wand
21963 erkannte Se sogleich Ismas Gatten, dessen Bild ihr in allen
21964 Schriften über die Erde begegnet war. Mit besonderem Interesse
21965 betrachtete La die Einrichtung im einzelnen, nur irrte sie sich,
21966 wenn sie glaubte, etwa hier den Typus des Wohnzimmers einer
21967 deutschen Hausfrau vor sich zu haben. Denn wenn auch die Tätigkeit
21968 der weiblichen Hand unverkennbar war, so enthielt doch die
21969 Einrichtung nicht nur viele Züge des Studierzimmers eines Mannes,
21970 sondern auch allerlei, was von den landesüblichen Gewohnheiten
21971 abwich und an den Einfluß des Mars erinnerte. Da waren zahlreiche
21972 Kleinigkeiten, die von Ismas Planetenreise erzählten, eine
21973 Fluoreszenzlampe über dem Schreibtisch hing an einem Lisfaden, so
21974 daß sie in der Luft zu schweben schien, ein Bücherbrett war ganz
21975 nach martischem Muster eingerichtet, und es fehlte sogar nicht der
21976 Phonograph, ein Geschenk Ells.
21978 Unter den Drucksachen, die auf dem Tisch lagen, fiel La ein
21979 Flugblatt auf, das in mehreren Exemplaren vorhanden war. Es trug
21980 die Überschrift: ›An die Menschheit!‹ und begann mit den Worten:
21981 „Numenheit ohne Nume! Das sei der Wahlspruch des allgemeinen
21982 Menschenbundes, den wir aufrichten wollen unter allen Kulturvölkern
21983 der Erde.“
21985 La las weiter. Der Inhalt fesselte sie. In feurigen Worten war die
21986 ideale Kultur der Martier gepriesen, aber ebenso entschieden
21987 eifriger Protest erhoben gegen die Form, welche ihre Herrschaft auf
21988 der Erde angenommen hatte. „Ergreifen wir“, so hieß es, „was sie
21989 uns bieten, mit klarer Einsicht und offenem Herzen, so werden wir
21990 ihrer selbst nicht mehr bedürfen. Zeigen wir, daß wir das große
21991 Beispiel ihres Planeten begriffen haben, eine Gemeinschaft freier
21992 Vernunftwesen zu bilden, in der die Ordnung herrscht nicht durch
21993 die egoistische Gewalt einzelner Klassen, sondern durch das
21994 lebendige Gemeinschaftsgefühl aller. Das neue Zeitalter ist
21995 vorbereitet. Der Mars hat uns den gewaltigen Dienst geleistet, uns
21996 zu zeigen, wie die Not des Daseins bezwungen werden kann durch eine
21997 reichere Ausbeutung der Natur und eine größere Selbstbeherrschung
21998 der Menschen. Er hat die historischen Fesseln gebrochen, die uns
21999 verhinderten, die neuen Ideen in der Menschheit lebendig zu machen.
22000 Er hat die Völker geeint in dem gemeinsamen Bewußtsein, daß sie als
22001 Kinder der Erde zusammengehören und ihre häuslichen Streitigkeiten
22002 zu begraben haben, um die Kräfte des Planeten zusammenzufassen; er
22003 hat uns gezeigt, daß es gilt, dem überlegenen und geeinten Planeten
22004 zu begegnen, nicht um ihn zu bekämpfen als einen Feind, sondern um
22005 seiner Freundschaft würdig zu werden und ihn als Bundesgenossen zu
22006 begreifen. Menschliche Wissenschaft und menschliche Arbeit möge
22007 unser Leben mit dem Bewußtsein durchdringen, daß es nur nötig ist,
22008 dem Gesetz der Vernunft zu folgen, um auch unsern Willen auf der
22009 Höhe des sittlichen Ideals zu halten. Wagen wir es zu denken und an
22010 uns selbst zu glauben! Fahren wir fort zu lehren und zu lernen,
22011 damit wir verstehen, was menschliche Freiheit erfordert! Und aus
22012 der Vertiefung des befreiten Menschengefühls heraus einigen wir uns
22013 in einem großen geistigen Bund, daß wir von uns sagen können: Hier
22014 ist die Menschheit, hier ist die Gemeinschaft des Willens, uns frei
22015 unterzuordnen dem Gesetz der Vernunft, hier ist die Erde, um dem
22016 Mars die Bruderhand zu reichen! Und dann, das laßt uns mit
22017 Gewißheit glauben, wird der ältere Bruder uns ebenso frei die Hand
22018 entgegenstrecken und sprechen: Ihr seid würdig der Freiheit, die
22019 Ihr Euch gewonnen habt, nehmt sie hin, wir verzichten freiwillig
22020 auf unsre Herrschaft. Unser Ziel ist erreicht, wenn Ihr Menschen
22021 seid.“ – Daran waren Mitteilungen über die Organisation des Bundes
22022 geknüpft.
22024 Indessen hatte Se in den Zeitungen geblättert, als sie plötzlich
22025 ausrief: „Höre, La, hier steht etwas, das dich interessieren wird,
22026 von Oß und Saltner –“
22028 La griff nach dem Blatt. Noch hatte sie kaum die Stelle gefunden,
22029 als die Tür sich öffnete und Isma eintrat.
22031 Ihre Überraschung war groß und die Begrüßung lebhaft. Und doch
22032 fühlte sich Isma befangen. Warum hatte ihr Ell nichts von dem
22033 bevorstehenden Besuch gesagt? Sie fühlte sich freier, als sie im
22034 Lauf des Gespräches vernahm, daß Ell gar nichts von dem Eintreffen
22035 Las wußte, und gewann bald die Überzeugung, daß es nicht der Wunsch
22036 war, Ell wiederzusehen, der La nach der Erde geführt habe. La
22037 erzählte von ihren Eindrücken und Erlebnissen auf dem Weg vom Hotel
22038 zu Isma, und Se erhielt die ersehnte Kräftigung. Dann brachte Se
22039 das Gespräch auf den Zeitungsartikel über Oß und Saltner.
22041 Es war darin gesagt, daß auf Veranlassung des Instruktors für
22042 Bozen, Oß, der bekannte Forschungsreisende Saltner steckbrieflich
22043 verfolgt werde wegen öffentlicher Anreizung zum Ungehorsam gegen
22044 die Gesetze, Widerstands gegen den vorgesetzten Numen, Bedrohung
22045 des Instruktors, Mißbrauchs amtlicher Papiere und Befreiung von
22046 Gefangenen. Es war noch hinzugefügt, daß hoffentlich die Schwere
22047 der Anklage sich nicht bestätigen werde, da es bekannt sei, daß
22048 gegen den Instruktor Oß selbst eine Untersuchung wegen
22049 Überschreitung der Amtsgewalt schwebe und seine Abberufung
22050 bevorstehe. Saltners Aufenthalt sei unbekannt, doch werde von allen
22051 Behörden aufs angelegentlichste nach ihm geforscht.
22053 La sagte kein Wort. Sie suchte ihre Erregung zu beherrschen. Aber
22054 das Herz schlug ihr in Angst und Sorge. Gewiß hatte Oß Saltner
22055 gereizt, um seine Rache an ihm nehmen zu können. Und sie fühlte
22056 sich schuldig als die geheime Ursache dieser Gegnerschaft. Sie
22057 horchte mit Bangigkeit auf die Erklärungen, die Isma jetzt auf Ses
22058 Frage gab.
22060 Ell hatte Isma am Tag vorher besucht, an demselben Tag, an welchem
22061 er genauere Nachricht über die Vorgänge in Bozen erhalten hatte und
22062 auch die ersten Mitteilungen an die Zeitungen gelangt waren. Die
22063 Klagen über Oß waren zuerst beim Unterkultor in Wien erhoben
22064 worden. Dieser befand sich in der schwierigen Stellung, daß er
22065 amtlich dem Kultor des gesamten deutschen Sprachgebiets in Berlin
22066 verantwortlich, in der Durchführung seiner Anordnungen aber an die
22067 Zustimmung der politischen Oberbehörde, nämlich an das
22068 österreichische Ministerium gebunden war. Infolgedessen konnte er
22069 nicht ohne weiteres die Suspendierung des Oß von seinem Amt
22070 verfügen, sondern es wurden Verhandlungen mit der Wiener Regierung
22071 notwendig. Von dort aus konnte erst an Ell berichtet werden.
22073 So waren mehrere Tage seit der Flucht Saltners vergangen, ehe Ell
22074 von derselben erfuhr. Nun wurde auf Grund der Klage der Behörden
22075 und der Einwohner des Bozener Instruktionsbezirks die
22076 Disziplinaruntersuchung gegen Oß erhoben und der Unterkultor in
22077 Wien angewiesen, sich persönlich nach Bozen zu begeben. Man konnte
22078 annehmen, daß er heute daselbst eintreffen würde. Aber für Saltner
22079 wurde der Stand der Sache dadurch nicht gebessert. Seine
22080 Selbsthilfe war vom Standpunkt der Martier aus eine
22081 Gesetzesverletzung, die eine eindringliche strafrechtliche
22082 Verfolgung erforderte, weil man die Autorität der Nume unbedingt
22083 aufrechterhalten wollte. Ell konnte daher nicht anders handeln, als
22084 die Maßregeln zu bestätigen, durch welche die Verhaftung Saltners
22085 erzielt werden sollte. Isma berichtete ausführlicher über die
22086 Beschuldigung, die von dem Instruktor gegen Saltner erhoben wurde.
22087 Danach erschien es, als hätte Saltner den Instruktor auf offner
22088 Straße insultiert, die Einwohner zum Widerstand aufgefordert, seine
22089 Mutter und die Magd endlich durch einen raffinierten Betrug aus dem
22090 Laboratorium entführt.
22092 Se dachte im stillen: Wie gut, daß man nicht weiß, was er schon auf
22093 dem Mars verbrochen hat! La jedoch sagte mit künstlicher Ruhe: „Man
22094 wird doch erst hören müssen, wie sich die Sache von Saltners Seite
22095 aus ansieht.“
22097 „Gewiß“, erwiderte Isma „und ich kann Ihnen auch darüber Auskunft
22098 geben. Ell hat nämlich gestern einen Brief von Saltner selbst
22099 erhalten, worin er ihm offen seine Handlungsweise darlegt und ihn
22100 um Hilfe gegen die ihm drohende Verfolgung angeht.“
22102 „Einen Brief? So weiß man also, wo er sich aufhält? So ist er in
22103 Sicherheit?“
22105 „Das kann man nicht sagen. Der Brief ist auf einer Station zwischen
22106 Bozen und Trient aufgegeben. Die dortigen Einwohner sind natürlich
22107 alle auf Saltners Seite und werden ihn nicht verraten. Jedenfalls
22108 hat einer der Führer oder Träger, die ohne Zweifel bei Saltners
22109 Flucht beteiligt waren, den Brief zur Station gebracht. Saltner
22110 selbst hält sich wahrscheinlich im Hochgebirge auf irgendeiner
22111 versteckt liegenden Hütte auf.“
22113 Isma erzählte nun, was Saltner getan hatte, nach seiner eigenen
22114 Schilderung in dem Brief, den Ell ihr gestern vorgelesen hatte.
22116 Se schüttelte den Kopf und sagte: „Das sieht alles Saltner ganz
22117 ähnlich. Aber die Sache steht doch recht schlimm. Wenn man ihn
22118 bekommt, wird es ihm sehr übel ergehen.“
22120 „Warum?“ fuhr La plötzlich auf. „Ich glaube jedes Wort, was Saltner
22121 schreibt, und dann hat er sich gar nichts zuschulden kommen lassen.
22122 Er hat Oß nicht angegriffen und sich seinen Befehlen nicht
22123 widersetzt, denn es waren ihm noch keine zur Kenntnis gekommen; und
22124 die Befreiung seiner Mutter hat er auf einem Weg bewirkt, der rein
22125 formell nicht anzugreifen ist.“
22127 „Ell ist doch anderer Ansicht“, erwiderte Isma. „Er entschuldigt
22128 zwar Saltner, der in seiner Lage und nach seinem Charakter nicht
22129 wohl anders handeln konnte, aber er glaubt doch, daß man ihn
22130 verurteilen wird. Und jedenfalls muß er dem Gesetze freien Lauf
22131 gestatten, und, so leid es ihm tut, Saltner aufheben lassen.“
22133 La erblaßte in heimlicher Angst. „Und wie glaubt man seiner habhaft
22134 zu werden?“ fragte sie.
22136 „Ganz leicht wird es ja nicht sein, aber in einigen Tagen bekommt
22137 man ihn sicher. Nur wenige der dortigen Führer kennen seinen
22138 Aufenthalt, und von ihnen verrät ihn keiner. Auch die Kenner der
22139 dortigen Berge werden sich nicht dazu hergeben. Nume können
22140 überhaupt nicht auf diese Höhen steigen und die verborgenen
22141 Schluchten durchsuchen. Aber der Wiener Unterkultor hat ein
22142 Luftboot zur Verfügung, und auch Ell würde nicht anders können, als
22143 ein solches bereitzustellen. Dann lassen sich die Berge mit
22144 Leichtigkeit absuchen, und es ist nicht denkbar, wie Saltner
22145 entkommen sollte.“
22147 „Wenn er aber doch entkäme?“
22149 „Wohin reichte die Macht der Nume nicht?“
22151 „Es handelt sich zuerst nur um die Behörden des Mars auf der Erde.
22152 Auf dem Nu selbst hört jede obrigkeitliche Gewalt der Kultoren oder
22153 Residenten auf. Dann müßte erst der Zentralrat selbst die
22154 Auslieferung beschließen. Und selbst dieser könnte nicht in den
22155 Privatbesitz, in das Haus eindringen, um den Besitzer zu
22156 verhaften.“
22158 „Ich weiß wohl, aber wie sollte Saltner auf den Nu gelangen? Und
22159 wenngleich, die Frage ist ja eben, ob man dem Paß, den Saltner
22160 besitzt, die Bedeutung zuerkennt, daß ihm auch jetzt noch die
22161 Rechte eines Numen zukommen. Man könnte ihn für ungültig
22162 erklären.“
22164 „Es gibt ein unverletzliches Asyl“, sagte La leise, den Blick wie
22165 in weite Ferne gerichtet.
22167 Isma verstand sie nicht. Se sah die Freundin an, als traute sie
22168 ihren Ohren nicht. Dann legte sie ihr liebkosend die Hand auf die
22169 Schulter und sagte lächelnd:
22171 „Ich glaube, du siehst nun wieder zu schwarz. Saltner kann
22172 überhaupt nur so weit verfolgt werden, als das martische
22173 Schutzgebiet auf der Erde effektiv ist. Er wäre also in
22174 außereuropäischen Staaten schon sicher, denn um von dort eine
22175 Auslieferung zu erzwingen, wären Maßregeln erforderlich, die man um
22176 einer solchen Kleinigkeit willen nicht ergreifen wird. Und was Ell
22177 nicht geradezu tun muß, das wird er auch nicht tun.“
22179 „Das glaube ich ja“, sagte Isma. „Unter uns gesagt, Ell äußerte
22180 sich gestern: ich wünschte nichts mehr, als daß wir Saltner nicht
22181 fänden, dann wird der Prozeß in absentia geführt, und in einem Jahr
22182 kann bei der Amnestie die Sache eingeschlossen werden.“
22184 „Nun denn, so wollen wir uns nicht weiter Sorge machen. Saltner
22185 wird sich schon zu helfen wissen. Sagen Sie uns lieber, was wir bei
22186 dem schönen Wetter hier machen sollen.“
22188 „Ich möchte doch wissen“, sagte La zögernd, „wann etwa die
22189 Verfolgung Saltners durch die Luftschiffe aufgenommen werden
22190 könnte.“
22192 „Heute und morgen sicher noch nicht, das weiß ich“, entgegnete
22193 Isma. „Denn Ell sagte, daß der Kultor erst die Verhandlung gegen Oß
22194 zu führen hat, und solange behält er sein Schiff bei sich. Soll ich
22195 noch einmal bei Ell anfragen?“ Sie wies auf das Telephon.
22197 „Ach nein“, sagte La, „wir wollen uns noch gar nicht beim Herrn
22198 Kultor melden. Nun machen Sie Ihre Vorschläge.“
22200 „Das Wetter ist eigentlich zu schön für Berlin.“
22202 „Ach ja“, rief Se. „Wir wollen lieber hinaus. Haben Sie heute
22203 nachmittag für uns Zeit?“
22205 „Bis heute abend, gewiß.“
22207 „Was meinst du, La, dann sehen wir uns einmal Ihren deutschen Wald
22208 dort in der Nähe von Friedau an, den Sie uns so schön geschildert
22209 haben.“
22211 La sann nach. Dann nickte sie und sagte: „Das ist mir sehr recht.“
22213 „Aber wohin denken Sie“, rief Isma. „Dazu brauchen wir ja allein
22214 fünf bis sechs Stunden Eisenbahnfahrt, um nur bis hin zu kommen.“
22216 Jetzt lächelte La. „In zwanzig, in fünfzehn Minuten, wenn Sie
22217 wollen, sind wir da. Machen Sie sich nur zurecht, Sie sollen
22218 sogleich unsre Reisegelegenheit sehen.“
22220 „Sie haben ein Luftschiff?“
22222 „Und was für eins!“ lächelte Se. „Wenn wir wollen, holt uns das
22223 größte Kriegsschiff nicht ein.“
22225 \section{52 - Im Erdgewitter}
22227 Aus den Wipfeln des weiten Bergwaldes ragt ein Felsvorsprung und
22228 blickt hinab auf das grüne Tal und die sanften Höhenzüge, die es
22229 gegen die Ebene abschließen. Hier, zwischen dem blühenden
22230 Heidekraut, hatten La und Se sich gelagert, während Isma, auf den
22231 Ast einer verkrüppelten Fichte gelehnt, träumerisch in das Land
22232 hinausblickte.
22234 „Dies gefällt mir am besten von allem, was ich bis jetzt auf der
22235 Erde gesehen habe“, sagte Se, die violetten Blüten der Erika zu
22236 einem Kranz zusammenfügend. „Und zwar darum, weil es so still, ganz
22237 still ist, fast wie auf dem Nu.“
22239 „Und vieles ist noch schöner“, fügte La hinzu. „Daß wir im milden
22240 Sonnenschein hier sitzen können, über uns das wunderbare Licht des
22241 Himmels! Wie leichte Federn ziehen die weißen Wolkenstreifen dort
22242 oben ihre zierlichen Figuren, und wie seltsam es sich da hinten
22243 ballt über der dunklen Wand, die der sinkenden Sonne
22244 entgegensteigt. Ach, seht doch, was ist das, drüben auf der Wiese
22245 am Rande des Waldes? Ein vorsintflutliches Geschöpf.“
22247 „Es ist ein Hirsch“, sagte Isma, „der auf die Wiese tritt. Sehen
22248 Sie, wie er den Kopf hebt und die Luft einzieht, ob alles sicher
22249 ist. Ach, er verschwindet wieder, vielleicht hat er uns bemerkt.
22250 Übrigens, die Wolken gefallen mir am wenigsten. Es sieht aus, als
22251 sollten wir ein Gewitter bekommen.“
22253 „Ein Gewitter? Oh, davon haben wir gelesen. Das möchte ich einmal
22254 erleben. Ich kann mir keine Vorstellung davon machen. Aber was
22255 blicken Sie denn immer dort hinüber in die Ebene?“ fragte La.
22257 „Sehen Sie dort hinten jenen dunklen Streifen?“ erwiderte Isma.
22258 „Links davon erblicken Sie zwei Türme, das ist das Schloß von
22259 Friedau. Und über dem Streifen – es ist ein bewaldeter Hügelrücken
22260 – glänzt ein heller Punkt in der Sonne. Das ist die Sternwarte Ells
22261 – –“
22263 „Wo?“ rief La eifrig, nach ihrem Glas greifend. „Ja, ich sehe es
22264 ganz deutlich. Den Turm und die Plattform des Hauses. Das möchte
22265 ich einmal in der Nähe sehen. Es ist ja gar nicht weit.“
22267 „Doch mehr als zwanzig Kilometer.“
22269 „In drei Minuten sind wir drüben. Hätten Sie nicht Lust, Ihre
22270 Heimat wieder einmal zu besuchen?“
22272 „Jetzt?“ sagte Isma. „Was sollte ich dort? Alles würde mich nur
22273 traurig stimmen. Nein, auf keinen Fall. Und noch dazu mit dem
22274 Luftschiff, bei welchem die ganze Stadt zusammenlaufen würde. Oh,
22275 Sie wissen nicht, wie man in Friedau über mich denkt.“
22277 „Das ist schade. Ich möchte so gern –“ La zögerte einen Augenblick
22278 und fuhr dann fort: „Ich möchte, offen gestanden, gern einmal mit
22279 Grunthe sprechen. Wir hatten uns eigentlich vorgenommen, ihn zu
22280 besuchen, nicht wahr, Se?“
22282 „Natürlich“, sagte Se lächelnd. „Wir wollen einmal sehen, was er
22283 für Augen macht. Und vielleicht weiß er, wo Sal –“
22285 Sie unterbrach sich auf einen Blick von La.
22287 „Ich aber muß, wie Sie wissen“, sagte Isma, „gegen sieben Uhr
22288 wieder in Berlin sein, ich habe noch eine Vorlesung heute abend –
22289 und jetzt – es ist schon fünf Uhr vorüber.“
22291 „Nun, dann müssen wir Sie freilich nach Hause bringen. Oder noch
22292 einfacher, wir können ja beides vereinigen – das Schiff führt Sie
22293 nach Berlin und holt uns dann wieder hier ab. Es ist so schön hier,
22294 und ich sitze sehr gern noch ein Stündchen im Freien.“
22296 Isma überlegte. „Aber dann ist es doch besser“, sagte sie, „Sie
22297 suchen einen geschützteren Ort auf, daß Sie eine Unterkunft finden
22298 können, falls das Gewitter heraufkommt. Hier wäre es auch für das
22299 Schiff nicht möglich, Sie während des Unwetters aufzunehmen, denn
22300 dann ist alles dicht in Wolken gehüllt. Wollen Sie denn überhaupt
22301 mit diesem auffallenden Schiff bei Grunthe ankommen?“
22303 „Sie haben recht“, sagte La, „er ist imstande und macht sich vor
22304 uns aus dem Staub, wenn wir ihn nicht überraschen. Sie kennen die
22305 Gegend, geben Sie uns einen Rat, wo wir uns am besten wieder
22306 abholen lassen können.“
22308 „Sobald es dunkel ist“, antwortete Isma nach einigem Nachsinnen,
22309 „findet Sie das Schiff nirgends besser als im Garten der Sternwarte
22310 selbst. Dort hat sich Ill, als er Grunthe vom Pol zurückbrachte und
22311 dann mit mir –, dort hat das Luftschiff Ills zwei Tage unbemerkt
22312 von den neugierigen Friedauern gelegen.“
22314 „Aber wie kommen wir dahin?“
22316 „Wir fahren jetzt nach einer Stelle im Wald, von wo Sie in wenigen
22317 Minuten nach einem bekannten Aussichtspunkt zu Fuß gelangen können.
22318 Von dort fährt die Bahn nach Friedau, jede Viertelstunde geht ein
22319 Wagen. In fünfundvierzig Minuten kommen Sie damit nach der Stadt
22320 bis dicht an die Sternwarte. Daß auf der Sternwarte noch abends
22321 Fremdenbesuch eintrifft, ist ja nichts Ungewöhnliches.“
22323 „Gut, so wollen wir es machen. Von halb neun Uhr an soll mein
22324 Schiff für uns im Garten der Sternwarte bereitliegen. Wenn Sie dem
22325 Schiffer bei der Rückfahrt von weitem die Stelle zeigen und die
22326 Lokalität ein wenig beschreiben, findet er sich zurecht. Er ist ein
22327 sehr geschickter Mann. Nun lassen Sie uns zum Schiff gehen.“
22329 Ein schmaler Fußweg zwischen dichtem, jungem Fichtengebüsch, auf
22330 dem nur eine Person hinter der andern schreiten konnte, führte die
22331 drei Damen nach einer Lichtung, wo die schimmernde Luftyacht ›La‹
22332 ruhte. Kaum hatten sie diese betreten, als sie sich in die Lüfte
22333 erhob und nach Ismas Weisung einem der bewaldeten Hügel zuflog, mit
22334 denen der Höhenzug nach der Ebene hin abfiel. Hier fand sich wieder
22335 eine Waldwiese, auf welcher das Schiff sich bequem niederlassen
22336 konnte. Isma führte La und Se durch den Wald bis nach einem
22337 sorgfältig gebauten Promenadenweg.
22339 „Wenn Sie nun in dieser Richtung weitergehen“, sagte sie, „so sind
22340 Sie in fünf Minuten an dem großen Gasthaus ›Zur schönen Aussicht‹,
22341 und unmittelbar unter demselben liegt die Haltestelle der Bahn. Sie
22342 können nicht mehr fehlen. Halten Sie sich aber nicht auf, denn das
22343 Gewitter kommt näher, und auch ich muß mich eilen, damit ich vor
22344 seinem Ausbruch fortkommen
22346 „Seien Sie unbesorgt und reisen Sie glücklich!“ sagte La. „Wir
22347 sehen uns bald wieder. Sind Sie einmal im Schiff, so kann Ihnen
22348 kein Wetter etwas anhaben. Sie sind im Augenblick darüber oder so
22349 weit, als Sie wollen.“
22351 Nach herzlichem Abschied ging Isma durch den Wald zurück, während
22352 La und Se auf dem bequemen Weg sanft bergab stiegen. Bald gelangten
22353 sie an eine Bank, von welcher sich ein lieblicher Blick über den
22354 Wiesengrund des Tales mit seinen Villen und kleinen Teichen und
22355 weit in die Ebene hinaus eröffnete. La ließ sich nieder und sagte:
22356 „Hier wollen wir so lange warten, bis wir das Schiff erblicken und
22357 sehen, daß Isma glücklich abgereist ist.“
22359 Längere Zeit saßen sie schweigend, während ihre Blicke bald über
22360 das Land, bald über den Himmel schweiften. Der Sonnenglanz über der
22361 Ebene war verschwunden. Nur die fernen Höhen im Osten leuchteten
22362 noch in gelblichem Licht. Vergebens suchte La die Türme von Friedau
22363 aus dem Gewirr der dunklen Flecken und Streifen herauszuerkennen.
22364 Der Himmel hatte sich mit einer gleichmäßigen Schicht von Grau
22365 überzogen, unter welcher jetzt von Westen her dunkelbraune
22366 Wolkenmassen sich heranschoben.
22368 „Das Schiff müßte längst sichtbar sein – ich glaube, wir dürfen
22369 nicht länger warten“, sagte Se ängstlich, indem sie den drohenden
22370 Himmel musterte.
22372 „Ich glaube auch, wir warten vergebens“, antwortete La. „Sie werden
22373 gleich bis über die Wolken gestiegen sein, und wir können sie daher
22374 nicht sehen. Horch, was ist das?“
22376 Ein dumpfes Rollen wurde vernehmlich, verstärkte sich und kehrte,
22377 von den Bergen zurückgeworfen, mit erneuter Schärfe wieder.
22379 Se faßte Las Arm. „Komm, komm“, sagte sie hastig.
22381 La fühlte, wie ihr Herz lebhafter schlug, sie zwang sich, ruhig zu
22382 bleiben.
22384 „Wie wunderbar“, sagte sie, „das muß der Donner sein. Laß uns noch
22385 lauschen.“
22387 „Nein, nein, das ist nichts für mich.“
22389 Ein Rauschen und Brausen kam durch den Wald. Plötzlich beugten sich
22390 die Bäume unter der Gewalt eines Windstoßes, ringsumher wirbelten
22391 Tannennadeln und dürre Zweige in einer Wolke von Staub. Die
22392 Martierinnen griffen nach ihren Hüten und banden sie fester. Sie
22393 zogen ihre fast unsichtbaren Listücher aus dem kleinen Futteral,
22394 warfen sie über den Kopf und hüllten sich hinein. Lauter warnte der
22395 Donner.
22397 Von oben her ertönten eilende Schritte. Ein Herr, den Hut in die
22398 Stirn gedrückt, mit einem Wettermantel um die Schultern, kam
22399 schnell den Weg herab. Er grüßte, ohne die Damen genauer zu
22400 beachten. Einige Schritte nachher drehte er sich noch einmal um. Er
22401 wollte sie zur Eile mahnen, aber jetzt erkannte er, daß er
22402 Martierinnen vor sich habe, und setzte seinen Weg ohne zu sprechen
22403 fort.
22405 Der Wind hinderte La und Se an der Bewegung. Jetzt hörte er
22406 plötzlich auf, und sie schritten schnell aus. Der Weg zog sich in
22407 engen Windungen bergab; an der Stelle, an welcher sie sich
22408 befanden, hatten sie jetzt das Wetter mit seinen finstern
22409 Wolkenmassen vor sich.
22411 „Das sieht schrecklich aus“, sagte Se.
22413 Sie hatte noch nicht ausgesprochen, als sie sich mit einem leichten
22414 Schrei zurückwarf und an Las Arm klammerte, die ebenfalls
22415 erschrocken stehenblieb. Ein blendender Blitzstrahl war drüben
22416 jenseits des Tales niedergefahren. Während sie noch erschüttert
22417 standen, begannen einige große Tropfen zu fallen, und nun kam der
22418 Donner mit knatternden Schlägen, die sich in ein langes Rollen
22419 auflösten, und ehe noch der Widerhall geendet, zuckte ein neuer
22420 Blitz, näher und stärker – –
22422 Sie sprachen nicht mehr, sie liefen den Weg hinab. Jetzt brach der
22423 Regen in mächtigem Guß los, im Augenblick war der Weg mit
22424 rieselnden Bächlein bedeckt.
22426 „Ich kann nicht mehr!“ stöhnte Se.
22428 La blieb stehen und sah sich um. „Da, dort!“ rief sie.
22430 Der Weg machte wieder eine Windung. Hier stand, mit dem Blick ins
22431 Tal, ein kleiner Pavillon, nur aus Fichtenstämmchen kunstlos
22432 aufgezimmert und mit Baumrinde bedeckt; aus den ausgesparten
22433 Fenstern hatte man dieselbe Aussicht wie oben, nur beschränkter,
22434 jetzt aber blickte man auf nichts als strömende Wassermassen. Hier
22435 fand man wenigstens einen notdürftigen Schutz gegen den Regen. Die
22436 Freundinnen eilten in die Hütte.
22438 Als sie eintraten, erhob sich von der Bank an der einzigen Seite,
22439 die gegen den Regen und Wind geschützt war, der Herr, der vorhin an
22440 ihnen vorübergegangen war.
22442 „Oh, ich bitte“, sagte La, „lassen Sie sich nicht stören, wir
22443 finden schon Platz.“
22445 Der Herr verbeugte sich nur höflich, verließ aber die Hütte. Er
22446 stellte sich vor derselben neben die Tür unter das vorspringende
22447 Dach.
22449 Ein Blitz, dem betäubender Donner im Moment folgte, ließ die
22450 Martierinnen zusammenschrecken, sie sanken erschöpft auf die
22451 hölzerne Bank.
22453 „Das ist schrecklich“, sagte Se mit bebender Stimme. „ich zittere
22454 am ganzen Körper. Ich will nichts mehr wissen von dieser Erde!“
22456 La nahm ihre Hände zwischen die ihrigen.
22458 „Zage nicht“, sagte sie. „Es ist leicht, ein freier Nume sein, wo
22459 wir herrschen über die Natur und mächtig leben wie die Götter. Aber
22460 hier, in der Gewalt der sinnlosen Mächte, die uns fremd sind und
22461 ungewohnt, müssen wir den Mut des Willens erweisen. Sieh, dieser
22462 Mensch hat uns seinen Platz eingeräumt, uns, die er vielleicht
22463 haßt, und er steht draußen im Sturm und blickt furchtlos in das
22464 tobende Wetter. Was der Mensch kann, muß auch ich können, oder ich
22465 bin nicht wert der Erde. Und das will ich sehen!“
22467 Sie erhob sich und trat an die Brüstung des offenen Fensters, unter
22468 welcher der Fels ins Tal abfiel, so daß gerade nur noch die Wipfel
22469 der hohen Tannen bis herauf reichten. Wind und Regen schlugen von
22470 der Seite herein, La kümmerte sich nicht darum. Die Schulter an die
22471 Pfosten des Fensters gelehnt, stand sie hochaufgerichtet, den
22472 Elementen trotzend, in ihren Lisschleier gehüllt, dessen Zipfel der
22473 Sturm zerzauste. Ihre großen Augen richteten sich gegen den Himmel,
22474 als wollte sie den Wetterstrahl herausfordern. Und wie zürnend über
22475 die Verwegenheit der Nume öffnete sich die Wolke, und die feurigen
22476 Schlangen züngelten nach dem Talgrund, und gleichzeitig dröhnte ein
22477 Donnerschlag, der die Luft erzittern machte.
22479 Geblendet und betäubt hatten alle einen Moment die Augen
22480 geschlossen.
22482 „La, La“, rief dann Se, „was fällt dir ein, was soll das heißen?“
22484 La stand aufgerichtet wie zuvor an ihrem Platz. Sie schüttelte
22485 stolz das Haupt und sprach heiterer als vorher, fast jubelnd:
22487 „Ich kann es, ich kann’s!“
22489 „Wozu das alles!“ rief Se. „Komm her zu mir, du wirst völlig naß.“
22491 „Ich will es. Dieser junge Planet tobt wie ein Jüngling in Launen
22492 und Übermut, nicht achtend der Geschöpfe, die er behüten soll.
22493 Unser Nu ist ein Greis, der uns verwöhnt hat in seiner sicheren
22494 Ruhe. So verwöhnt, daß wir die Gefahr suchen mußten draußen im
22495 Weltraum. Auf der Erde ist die Jugend mit ihrem Wetterunfug, mit
22496 ihrer blinden Torheit, mit ihrem schwankenden Wechsel von Leid und
22497 Glück. Zum Leid ward sie mir, zum Glück soll sie mir werden!“
22499 Sie schwieg, noch einmal vom Rollen des Donners unterbrochen. Aber
22500 sie hatte den Blitz nicht mehr gesehen, das Wetter war über ihrem
22501 Haupt hinweggezogen. Se antwortete nicht. Das Geschick der Freundin
22502 stand vor ihrer Seele wie eine Frage, deren Antwort mächtiger und
22503 immer deutlicher sich ihr aufdrängte und die sie sich dennoch nicht
22504 zu geben wagte. Jetzt lauschte sie wieder auf den Donner, dessen
22505 Stärke sich verringert hatte. Sie fühlte sich freier. Der Nachlaß
22506 der elektrischen Spannung oder die Entfernung der Gefahr, sie wußte
22507 nicht, was es war, aber sie atmete auf. Ihr Blick richtete sich
22508 nach dem Weg, wo sie das Knirschen von Tritten vernahm. Der Fremde
22509 entfernte sich. Er hatte den Hut in die Hand genommen, deutlich sah
22510 sie sein Profil, als er jetzt, einen Blick nach den Wolken werfend,
22511 um die Ecke des Weges bog. Und wie ein Aufleuchten der Erinnerung
22512 durchzuckte es sie. Das Bild hatte sie gesehen, oft gesehen, und
22513 erst heute, die große Kreidezeichnung über Ismas Schreibtisch – nur
22514 freilich, älter sah dieser Mann aus, abgehärmter und dennoch, es
22515 konnte nicht anders sein dots{} doch es war ja nicht möglich – –
22517 Sie wollte etwas zu La sagen. Aber diese stand ganz in den Anblick
22518 der Gegend versunken. Und nun fing La aufs neue zu sprechen an, nur
22519 mit ihrem eigenen Gedankengang beschäftigt. Und Se wandte wieder
22520 der Freundin allein ihre Aufmerksamkeit zu.
22522 Wie in einer stillen Freude begann La:
22524 „Sieh, der Regen wird sanfter, drüben über dem Wald wird’s hell.
22525 Und dort über dem Land, o welch ein frohes Wunder, in bunten Farben
22526 flammt der Bogen über den Himmel, und grollend zieht der Donner
22527 unter ihm hinweg.“
22529 Se stand auf und trat neben La. Die Schritte des Fremden waren
22530 längst verhallt. Sie schlang den Arm um die Freundin und fragte:
22531 „Was ist es mit dir, La? Ich verstehe dich nicht!“
22533 La blickte schweigend in die Ferne, wo die untergehende Sonne und
22534 der abziehende Regen in wundersamer Farbenschlacht sich bekämpften.
22535 Dann zog sie Se an sich und sagte: „Ich liebe die Erde.“
22537 Se blickte ihr in die Augen. „Es wird wohl nicht die ganze Erde
22538 sein“, sagte sie mit stillem Lächeln. „Komm, wir wollen uns auf
22539 diese Bank setzen – der Regen rieselt noch immer im Gebirge –, bis
22540 die Wasser von dem Weg sich ein wenig verlaufen haben, und du wirst
22541 mir beichten, was du darfst, oder wenigstens, was du vorhast; denn
22542 ich ahne wohl, was du fühlst, aber das Ganze, Ungeheure, was du zu
22543 wollen scheinst, vermag ich nicht zu begreifen.“
22545 „Du vermagst es wohl nicht zu begreifen“, sprach La mit kaum
22546 hörbarer Stimme, indem sie Se folgte. „So hab ich auch eine, es ist
22547 die der Vernunft im zeitlosen Willen, daß ich sein soll und daß wir
22548 das eine, dasselbe Ich sein sollen – das ist die oft zu mir gesagt,
22549 und wer vermöcht’ es wohl, der es nicht erlebt? Aber nun weiß ich,
22550 daß es so sein muß. Glaube nicht, ich hätte vergessen, daß ich eine
22551 Nume bin. Ich habe gekämpft um meine Freiheit, um meine Würde, und
22552 mit bittern Tränen hab ich sie mir errungen, glaubt’ ich sie mir
22553 errungen mit jenem Abschiedskuß in Sei. Ein Marsjahr ist
22554 dahingegangen seitdem, zweimal hat die Erde ihren Sonnenlauf
22555 vollbracht, aber frage nicht, wie ich die Zeit durchlebte! – Ich
22556 habe mich aufgerieben in diesem nutzlosen Kampf. Ich hatte ja nicht
22557 gesiegt, ich war geflohen vor mir selbst. Freiheit und Würde hatte
22558 ich nicht gewonnen in meiner Seele, nur Weltraum und Sonne, die
22559 trennenden Mächte der Planeten, hielten mich in dem leeren Schein,
22560 daß der Nu meine Heimat und ich eine Nume sei. So lebt’ ich, mich
22561 selbst betrügend und verzehrend, bis der Morgenstern wieder
22562 leuchtete. Da trieb es mich her. Würde des Numen! Ist sie noch
22563 Würde, wenn sie erhalten wird durch den äußeren Zwang? Nein, Se, es
22564 wurde mir klar, Würde wie Freiheit wiedergewinnen konnte ich nur,
22565 wenn ich selbst mich hingab, um sie in dieser Welt des Scheines zu
22566 verlieren. Und wie ein Zeichen heiliger Bestimmung wurden mir die
22567 Mittel der Macht, die in meine Hände gegeben war. Versuchen wollt’
22568 ich, ob ich auf der Erde das sein kann, was der Geringsten Eine
22569 unter den Menschen ihm hier sein könnte. Ihm! Se, dies eine Wort
22570 verstehst du nicht – ihm? Warum ihm? Das ist das Geheimnis, das
22571 unauflösliche, das weder Menschen noch Nume wissen. Ihm, weil ich
22572 bin, weil wir so wollten, ehe noch Mars und Erde vom uralten
22573 Sonnenschoß sich trennten. Ein lächerlicher Zufall, daß ihm der
22574 Leib gebildet ward in diesem, mir in jenem Abstand vom Sonnenball!
22575 Die Bestimmung ist nur Liebe. Dieser Bestimmung folgen ist
22576 Freiheit. Dieser Bestimmung genügen ist Würde. Ich habe die Erde
22577 versucht, ich kann ich gehe jetzt hin, ich hole ihn und rede zu
22578 ihm, hier bin ich, und anders kann ich nicht sein. Als Nume oder
22579 als Mensch, wie du mich haben willst, ich bin La, deine La. Und
22580 nun, meine Se, schilt nicht, lästre nicht, es nutzt nichts. Komm
22581 mit, laß uns zur Station hinabsteigen, Grunthe soll mir sagen, wo
22582 er ist.“ ihren Mächten trotzen. Und damit du’s weißt, was ich will
22585 „Ja, wer denn?“
22587 „Wer? Es gibt nur einen Menschen.“
22589 \section{53 - Schwankungen}
22591 Die Wohnung Torms auf der Gartenstraße in Friedau stand noch immer
22592 verschlossen, die Jalousien vor den Fenstern waren herabgelassen,
22593 niemand betrat die Räume. Isma hatte sich nicht entschließen
22594 können, die Wohnung aufzugeben, es war ihr, als gäbe sie damit die
22595 letzte Hoffnung auf, noch einmal in ihre Häuslichkeit
22596 zurückzukehren, als raubte sie ihrem Mann das Heim, das er
22597 vielleicht in Schmerz und Elend suchte und ersehnte.
22599 Und dennoch lebte Torm in Friedau in tiefster Verborgenheit. Er
22600 wohnte bei Grunthe. Es war nichts Ungewöhnliches, daß fremde
22601 Gelehrte sich längere Zeit auf der Friedauer Sternwarte zu Studien
22602 aufhielten und dann Ells Gäste waren. So fiel es auch den wenigen
22603 nicht auf, die darum wußten, daß bei Grunthe ein ausländischer
22604 Astronom wohnte, der sich nirgends in der Stadt sehen ließ.
22606 Torm war am Tag, nachdem er von Grunthe die erschütternden
22607 Nachrichten über die Umwandlung der Verhältnisse in Europa erhalten
22608 hatte, nach Berlin gereist. Die Sehnsucht trieb ihn, zu Isma zu
22609 eilen, ihr die Sorge, die Trauer um den Verschollenen zu nehmen,
22610 glücklich bei ihr zu sein und mit ihr vereint dann zu erwarten, was
22611 sein Geschick über ihn bestimmen werde, wenn seine Rückkehr bekannt
22612 geworden sei. Das war ja doch das Natürliche, zu ihr gehörte er, um
22613 zu ihr zu gelangen hatte er sich in die neuen Gefahren gestürzt und
22614 – in die Schuld. Seine Zweifel waren zerstreut, sein Vertrauen
22615 zurückgekehrt. Wenn sie ihn nicht liebte, wenn sie nicht fest an
22616 ihm hielt, was hätte sie gehindert, ihn zu verlassen, um den
22617 mächtigen Freund zu wählen? Was sie offen tun konnte, warum hätte
22618 sie es heimlich tun sollen? Nein, sie hatte es nicht getan, und da
22619 sie es nicht getan, was ging Ell ihn an? Nicht zu Ell wollte er,
22620 sondern zu ihr. Aber ohne vorherige Nachricht. Erst mußte er mit
22621 ihr besprechen, was zu tun sei, wie sie es halten wollten, ehe
22622 jemand erfahren durfte, daß er gerettet sei, wo er sich aufhalte.
22623 Und in diesem Sinne hatte er Grunthe gebeten, das Geheimnis seiner
22624 Wiederkehr zu bewahren.
22626 Wie würde er Isma antreffen, wie würde sie ihm begegnen? Er konnte
22627 sich kein Bild davon machen, vergebens versuchte er sich im Beginn
22628 seiner Fahrt das Wiedersehen auszumalen. Noch immer lag der
22629 Gedanke, als ein Geächteter zu reisen, wie ein Druck auf ihm,
22630 unwillkürlich sah er die Mitreisenden darauf an, ob sie ihn wohl
22631 erkannten. Mitunter erschien er sich als ein Fremder, der sich eine
22632 Entschuldigung ersinnen müsse, um seinen Besuch zu rechtfertigen,
22633 und er mußte sich erst daran erinnern, daß er als der Gatte zu
22634 seiner Frau fahre, die seit zwei Jahren seine Wiederkehr erhoffte.
22635 Dazwischen stellte er Betrachtungen über das Verhalten der
22636 Passagiere an. Es fiel ihm eine Änderung darin auf, die seit seiner
22637 letzten Fahrt durch Deutschland auf der Eisenbahn vor sich gegangen
22638 war. Das war vor dem Antritt seiner Entdeckungsreise gewesen, denn
22639 bei seiner Wiederkehr war er als Triumphator empfangen, überall in
22640 Extrazügen eingeholt worden und nicht als einfacher Passagier
22641 gereist. Ein Typus der Reisenden war ganz verschwunden, der
22642 anspruchsvolle, geringschätzig auf die andern herabblickende,
22643 hochmütige Elegant. Man sah vornehme Leute, aber keine Überhebung;
22644 nicht nur ein höflicher, fast ein kameradschaftlicher Ton herrschte
22645 überall; die verschiedenen Berufsarten und Stände hatten sich unter
22646 dem allgemeinen Druck näher aneinander geschlossen, suchten sich
22647 besser zu verstehen. Und ebenso auffallend war das Fehlen aller
22648 Uniformen.
22650 In Halle kaufte sich Torm eine Zeitung, er gedachte, sich den
22651 übrigen Teil der Fahrt damit zu unterhalten. Aber alsbald stieß er
22652 auf eine Nachricht, die ihm neue Sorgen erweckte. Die Zeitung
22653 brachte die erste Mitteilung über den ›Fall Stuh‹ bei Frankfurt, wo
22654 die Bauern in einem Ort sich an dem durchreisenden Instruktor
22655 vergriffen hatten. Es war hinzugefügt, daß bereits vier der
22656 Tumultuanten als Rädelsführer verhaftet seien und der Instruktor
22657 die Überweisung an den Numengerichtshof verlangt habe. In diesem
22658 Fall fürchte man sehr strenge Strafen für die Schuldigen. Im
22659 Anschluß hieran behandelte ein Artikel die Frage nach der
22660 Gerichtsbarkeit, sofern in einer Streitfrage Nume in Betracht
22661 kämen. In dem Friedensvertrag war festgesetzt, daß Nume überhaupt
22662 nur von martischen Richtern abgeurteilt werden konnten, aber es war
22663 nicht ganz klar, in welchen Fällen Menschen, die sich gegen Nume
22664 vergingen, vor die martischen statt vor die Landesgerichte kämen.
22665 Sicher war dies in politischen Prozessen, aber ob ein Tumult, wie
22666 gegen Stuh, zu den politischen zu zählen sei, war fraglich. Es
22667 wurde nun darauf hingewiesen, daß der Protektor der Erde, als
22668 oberste Instanz in Kompetenzkonflikten, in einem ähnlichen Fall
22669 entschieden hatte, daß es sich um eine Auflehnung gegen martische
22670 Anordnungen zur Kulturleitung der Menschen und somit um ein
22671 hochverräterisches Unternehmen handle, das vor das Numengericht
22672 gehöre.
22674 Es handelte sich um einen jungen Mann namens Erbelein, der wegen
22675 Versäumnis der Fortbildungsschule ins psychophysische Laboratorium
22676 geschickt worden war und sich hier den Anordnungen nicht gefügt
22677 hatte. Aus einem Schrank mit Chemikalien hatte er eine Flasche mit
22678 einem Narkotikum entwendet, seinen Beobachter eingeschläfert und
22679 sich entfernt. Von zwei Beds verfolgt und eingeholt, hatte er
22680 dieselben plötzlich überrumpelt und einen von ihnen nicht
22681 unbedenklich verletzt. Dies war als offene Empörung angesehen und
22682 mit der schwersten Strafe belegt worden, mit lebenslänglicher
22683 Deportation nach einem Dorf der Beds in einer der ödesten
22684 Wüstengegenden des Mars.
22686 Durch diesen Präzedenzfall, der in den Hauptsachen ganz mit seiner
22687 eigenen Verschuldung übereinstimmte, fühlte sich Torm schwer
22688 betroffen. Das alles und noch mehr hatte er sich ja auch zuschulden
22689 kommen lassen. Er hatte sich dem Spruch des Kriegsgerichts
22690 entzogen, Sauerstoff entwendet, ohne Befugnis ein Luftschiff
22691 benutzt, endlich einen Wächter bei Ausübung seines Berufes
22692 niedergeschlagen. Er konnte sich nun die Frage beantworten, was ihm
22693 bevorstand, wenn er für seine Handlungsweise zur Verantwortung
22694 gezogen wurde.
22696 Und nun entdeckte er in demselben Blatt eine weitere Notiz, die ihn
22697 stutzen ließ. Es war darin gesagt, daß die Regierung des Polreichs
22698 der Nume auf der Erde infolge der allgemeinen Teilnahme, die das
22699 Verschwinden des hochverdienten Forschers Torm hervorgerufen habe,
22700 nochmals in allen Teilen der Erde sorgfältige Nachforschungen nach
22701 seinem Verbleib anstellen ließe. Es läge die Möglichkeit vor, daß
22702 er auf eine noch nicht aufgeklärte Weise doch im Mai vorigen Jahres
22703 den Pol verlassen habe und sich vielleicht in unzugänglichen
22704 Gegenden oder bei wilden Völkerschaften aufhalte.
22706 Es war nicht gesagt, daß er eines Verbrechens wegen verfolgt würde.
22707 Aber war das nicht vielleicht bloß eine Vorsichtsmaßregel, sollte
22708 ihm nicht eine Falle gestellt werden? Und wenn er nun plötzlich
22709 auftauchte, würde man dann nicht die Anklage gegen ihn erheben? Die
22710 Flucht vor dem Kriegsgericht mochte durch die Amnestie beim
22711 Friedensschluß von der Anklage ausgeschieden sein, die
22712 Gewaltätigkeit bei der Flucht in Tibet aber jedenfalls nicht. Wenn
22713 diese neuen Nachforschungen jetzt erst geschahen, weil vielleicht
22714 diese seine Tat erst jetzt den Martiern bekannt geworden war?
22716 Torm ließ sein leichtes Gepäck auf dem Bahnhof und trat unschlüssig
22717 in den leise herabrieselnden Regen hinaus. Zu Fuß verfolgte er den
22718 weiten Weg nach Ismas Wohnung, gleichsam als wollte er dem Zufall
22719 noch eine Bestimmung über sein Schicksal einräumen. Dabei musterte
22720 er die eilend einherschreitenden Fußgänger, und je näher er dem
22721 Osten der Stadt kam, um so unruhiger fühlte er sein Herz schlagen.
22722 So oft eine schlanke Frauengestalt ihm begegnete, immer durchzuckte
22723 ihn der Gedanke, ob es nicht Isma sein könnte, und wenn er die
22724 fremden Züge erkannte, wußte er kaum, ob er sich enttäuscht oder
22725 befreit fühlte.
22727 Es war bereits dunkel geworden, als er die Wrangelstraße erreichte
22728 und nach den Hausnummern spähte. Jetzt stand er vor Ismas Haus. Er
22729 mußte sich entscheiden. Er schämte sich seiner selbst. So kam er
22730 nach Hause, den die gebildete Welt als den Entdecker des wahren
22731 Nordpols gefeiert hatte? Heimlich wie ein Flüchtling, der das Licht
22732 des Tages scheut, der die Schwelle des Hauses zu betreten zögert?
22733 War es denn sein Haus? Nein, auch sie war ja geflüchtet –. Und
22734 seine Frau? War sie es denn noch? Nicht mehr nach dem Gesetz des Nu
22735 – wenn sie nicht wollte! Aber sie wollte doch wohl! Nein, nein,
22736 nicht mehr diesen Zweifel! Aber er! Was brachte er ihr? Den
22737 sonnigen Schein des Ruhmes, darin er vor sie zu treten hoffte, um
22738 mit ihr auf den Höhen des Lebens zu wandeln? Konnte er sie
22739 zurückführen in das verlassene Haus, in die friedliche Heimat?
22740 Brachte er ihr den Frieden und die Ruhe, und nicht vielmehr neue
22741 Sorge und rastlose Flucht? Riß er sie nicht heraus aus einem
22742 stillen Glück, aus einer sich begnügenden Tätigkeit, um sie in
22743 unübersehbares Leid zu stürzen? Das alles zog noch einmal, in einen
22744 Moment sich zusammendrängend, vor seinem Bewußtsein vorüber, und
22745 schon wandte er den Fuß, um wieder in das Dunkel der Straße
22746 zurückzutreten.
22748 Da öffnete sich die Tür. Der Portier hatte ihn durch sein Fenster
22749 vor der Haustür stehen sehen. „Zu wem wünschen Sie?“ fragte er
22750 mißtrauisch.
22752 „Wohnt Frau Torm hier?“ fragte Torm heiser.
22754 „Jawohl, im hinteren Flügel, drei Treppen.“
22756 „Wissen Sie vielleicht, ob sie zu Hause ist?“
22758 „Jawohl, es ist eben Besuch nach oben.“
22760 Einen Moment zögerte Torm. Dann sagte er:
22762 „Ich will wiederkommen.“
22764 Die Tür schloß sich hinter ihm. Langsam schritt er die Straße
22765 hinauf. Besuch? Wer war es? Gleichviel – sie mußte allein sein,
22766 wenn er sie wiedersehen wollte. Besuch! Und er, der totgeglaubte,
22767 nach drei Jahren heimkehrende, der überall gesuchte Gatte, er ließ
22768 sich abschrecken durch das Wörtchen Besuch! Das trennte ihn von
22769 ihr, der Heißersehnten. Warum? Er schauderte vor sich selbst.
22771 Warum? Weil er nicht sagen konnte, hier bin ich, dein Hugo, mit dem
22772 das Glück wieder einkehrt am Herd! Weil sie nicht sagen konnte,
22773 hier ist er, den ihr jubelnd bewillkommt habt, hier ist mein Gatte!
22774 Weil er vor ihr stehen mußte als ein Verbrecher, über welchem das
22775 Schwert hängt, die lebenslängliche Verbannung. Weil er seinen Blick
22776 niederschlagen mußte vor ihr, als ein unbesonnener Verletzer des
22777 Gesetzes! Weil er wieder fort mußte von ihr auf immer, oder sie mit
22778 sich ziehen ins Elend, wenn sie ihm folgte in die Wüsten des
22779 feindlichen Planeten –. Nein, nein, dann lieber diesen Schmerz ihr
22780 ersparen! Dann lieber sie in dem Glauben lassen, daß er verschollen
22781 sei, unter dem Eis, oder wo auch immer – –
22783 Und so schritt er die Straße hinab und wieder hinauf, und fragte
22784 sich nochmals, welcher Besuch? Und die Tür öffnete sich jetzt, und
22785 der heraustrat – – es war Ell. Ja, er durfte bei ihr sein, er, der
22786 ihn hinausgelockt in die Gefahren des Pols, er –. Und nun war es
22787 ihm, als müsse er sich auf ihn stürzen –. Doch der sah ihn nicht,
22788 er schritt ruhig, aufgerichtet voran, ein glänzender Wagen hielt in
22789 der Nähe, er stieg hinein.
22791 Torm wandte sich um. Wieder suchte er durch den Regen den Weg nach
22792 dem Bahnhof. Der Nachtzug führte ihn nach Friedau zurück.
22794 Er sagte Grunthe, daß er erst noch nähere Aufklärung über die
22795 Absichten der Martier und das Schicksal des nach Tibet gegangenen
22796 Schiffes abwarten wolle, ehe er es wage, sich zu erkennen zu geben.
22797 Solange wolle er versuchen, verborgen zu bleiben. Bereitwillig bot
22798 ihm Grunthe das abgelegene stille Asyl der Sternwarte zum
22799 Aufenthalt an. Hier weihte er Torm in seine schon längst
22800 vorbereiteten Bestrebungen ein, einen allgemeinen Menschenbund zu
22801 gründen, der durch eine freiwillige Aufnahme der von den Martiern
22802 gebotenen Kulturmittel sich von der Fremdherrschaft der Martier
22803 unabhängig zu machen suchen sollte. Von hier aus reichten die Fäden
22804 der durchaus nicht geheimgehaltenen Verbindung zu den führenden
22805 Geistern aller Kulturstaaten. Hier entwarf Grunthe mit Torm den
22806 Aufruf mit dem Motto: ›Numenheit ohne Nume!‹
22808 Und sie trafen damit einen Ton, der in der Seele der Völker
22809 widerhallte. In Millionen und Abermillionen Köpfen und Herzen waren
22810 dieselben Gedanken, dieselben Gefühle mächtig, es bedurfte nur der
22811 Anregung, um sie zur lebendigen Bewegung auszulösen. Das Wort war
22812 gefunden und gesprochen. Die Menschen waren ja einig, weil sie es
22813 sein mußten; es war nur erforderlich, daß sie es nun auch
22814 freiwillig sein wollten. Nicht Verbrüderung aus Schwärmerei,
22815 sondern gleiche Ziele aus Vernunft. Zahllos strömten die
22816 Zustimmungen in den organisierten Zentren der Vereinigung zusammen.
22817 Es war klar, daß der Menschenbund bald eine Macht werden mußte, mit
22818 der man zu rechnen hatte. Alle politischen und wirtschaftlichen
22819 Parteien konnten sich an der großen Kulturaufgabe beteiligen, die
22820 er sich gestellt hatte, mit Ausnahme einer extremen Gruppe, deren
22821 oligarchische Interessen vor dem bloßen Gedanken der
22822 Gleichberechtigung aller zurückscheuten. Aber ihr Grollen war
22823 unschädlich, weil ihr Einfluß auf die Regierung gebrochen war und
22824 die Verlockung fortfiel, welche so viele nach Macht und Karriere
22825 strebende Kreise der Bevölkerung verleitet hatte, die
22826 kulturfremden, kavaliermäßigen Gewohnheiten nachzuahmen.
22828 Und selbst Anhänger von Lebensanschauungen, denen der Gedanke des
22829 Menschenbundes anfänglich höchst unsympathisch gewesen war,
22830 begannen sich damit zu befreunden. Der Fabrikbesitzer Pellinger,
22831 der sich leicht für alles begeisterte, was einem versöhnenden
22832 Ausgleich dienen konnte, hatte sich den Bestrebungen des Bundes
22833 eifrig gewidmet und gehörte bald zu den Vertrauensmännern Grunthes.
22834 Seine Vermutung, daß der Fremde, der auf der Sternwarte wohnte,
22835 niemand anders wie Torm sei, war ihm bald zur Gewißheit geworden,
22836 als er ihm bei Grunthe begegnete. Er verbarg dies Grunthe nicht,
22837 und dieser hielt es für das beste, ihm gegen Zusicherung der
22838 Verschwiegenheit zu sagen, daß Torm allerdings hier sei, aber aus
22839 politischen Gründen sich versteckt halten müsse.
22841 Herr von Schnabel setzte Pellingers Bemühungen, ihn für den
22842 Menschenbund zu gewinnen, zuerst hartnäckigen Widerstand entgegen.
22843 Mit Leuten, die auf dem Standpunkt eines Ell ständen, könne er sich
22844 nicht befreunden. Er liebte es, sich als einen besonderen
22845 Verteidiger der Ehre des verschollenen Torm aufzuspielen, indem er
22846 behauptete, daß Frau Torm durch Ell kompromittiert sei, der sich
22847 der Verantwortung in feiger Weise entzogen habe. Und da Torm nicht
22848 gegen Ell vorgehen könne, so müsse wenigstens, seiner Ansicht nach,
22849 jeder anständige Mensch sich von Bestrebungen fernhalten, die
22850 darauf hinführten, daß niemand mehr für seine Ehre mit der eignen
22851 Person eintreten könne. Die Gerüchte über Frau Torm seien noch
22852 immer nicht verstummt, und wenn Torm da wäre, so müsse er, ob es
22853 nun verboten sei oder nicht, durch irgendeine Herausforderung Ruhe
22854 schaffen.
22856 Pellinger lachte ihn aus. Er könne ihn versichern, daß alle diese
22857 Gerüchte auf gänzlicher Unkenntnis der Verhältnisse beruhten. Das
22858 sei ganz gleichgültig, meinte Schnabel, man dürfe eben die Gerüchte
22859 nicht dulden.
22861 „So?“ sagte Pellinger. „Und was, meinen Sie, würde dadurch
22862 gebessert werden, wenn Sie zum Beispiel dergleichen behaupteten und
22863 Torm Sie forderte? Ich will jetzt einmal gar nicht von dem
22864 unentschuldbaren Frevel sprechen, der in der kulturwidrigen
22865 Einrichtung des Zweikampfes selbst liegt, sondern die Sache rein
22866 praktisch betrachten. Wird denn dadurch irgend etwas bewiesen?
22867 Würde man nicht erst recht sagen, es muß doch etwas Wahres dran
22868 sein?“
22870 „Jedenfalls würde man Achtung vor dem Mann bekommen.“
22872 „Meiner Ansicht nach müßte man ihn verachten; denn er hätte eine
22873 unsittliche Handlung begangen. Ein Mann wie Torm kann auf die
22874 Achtung derer verzichten, die sie an so verwerfliche Bedingungen
22875 knüpfen. Und so jeder Mann von sittlichem Ernst. Der schiene mir
22876 verachtungswert, der nicht seine eigne Würde und das Bewußtsein
22877 seines Rechts so hochschätzte, daß sie nicht gekränkt werden können
22878 durch das Gerede des Pöbels in Glacéhandschuhen.“
22880 „Na, na, Sie sprechen da in einer Weise, die – die etwas
22881 eigentümlich –“
22883 „Ja, Herr von Schnabel, ich habe mich auch überzeugt, daß wir alle
22884 mehr auf unsern eignen Wert und unser freies Urteil bauen müssen
22885 als auf die sogenannte Ansicht der Gesellschaft, die sich auf
22886 Irrtümern aufbaut. Dadurch sind wir im Begriff, den Wert dieser
22887 Gesellschaft zu heben. Es müssen sich diejenigen zusammenfinden,
22888 die der Unabhängigkeit ihres Urteils sich freuen. Das allein sind
22889 die Gentlemen. Ich bin überzeugt, auch Sie werden sich noch bei uns
22890 einfinden, wenn Sie sich die Sache überlegen. Daß Torm ebenso
22891 denkt, darauf kann ich Ihnen mein Wort geben.“
22893 Herr von Schnabel ging einige Tage in verdrießlichen Gedanken
22894 umher. Auch Dr. Wagner war dem Menschenbund beigetreten. Die Zahl
22895 derer, die seinen Ansichten beistimmte, wurde immer kleiner. Er
22896 wälzte Pellingers Worte hin und her. Endlich suchte er Grunthe
22897 auf.
22899 Es war ein langes Gespräch, das sie führten. Vornehmlich drehte es
22900 sich um die Persönlichkeit von Ell und die Ziele des
22901 Menschenbundes.
22903 Als Herr von Schnabel die Sternwarte verließ, war er Mitglied
22904 geworden. Nicht irgendein besonderes, durchschlagendes Ereignis
22905 hatte seine Sinnesänderung bewirkt. Der Sieg des Idealismus übte
22906 eine assimilierende Kraft der Veredelung aus.
22908 \section{54 - Auf der Sternwarte}
22910 Es begann bereits zu dunkeln, als die beiden Freundinnen nach
22911 kurzer Wanderung bergab die Haltestelle der elektrischen Bahn
22912 erreichten. Sie nahmen sogleich in dem bereitstehenden Wagen Platz,
22913 der sich nach wenigen Minuten in Bewegung setzte. Die helle
22914 Beleuchtung im Innern des Wagens verhinderte sie, etwas von der
22915 anmutigen Gegend, durch die sie fuhren, zu erkennen. Trotzdem
22916 verging ihnen die Zeit rasch, denn La war glücklich, zum erstenmal
22917 von der leidenschaftlichen Liebe und Sehnsucht sprechen zu können,
22918 die sie so lange stillschweigend und duldend hatte im Herzen
22919 verbergen müssen. Se hörte ihr teilnehmend zu, manchmal schüttelte
22920 sie leise den Kopf, immer aber mußte sie wieder mit Bewunderung auf
22921 die Freundin blicken, die mutig und entschlossen den unerhörten
22922 Schritt vom Nu zur Erde wagen wollte. Wenn sie dann ihre Augen
22923 glückstrahlend leuchten sah, so konnte sie nicht zweifeln, daß sie
22924 alle Hindernisse siegreich zu überwinden wissen werde. Sie saßen
22925 allein in ihrem Wagenabteil und konnten darum ungestört miteinander
22926 plaudern. Und dabei fragte Se:
22928 „Eines, liebste La, ist mir doch noch bedenklich. Du sagst, zwei
22929 Jahre lang, zwei Menschenjahre, hast du ihn nicht gesehen, nicht
22930 direkt mit ihm verkehrt. Das ist lange Zeit für einen Mann. Deiner
22931 bist du sicher, aber weißt du denn, wie es mit ihm steht? Ob er
22932 dich denn noch will? Hast du nie diesen Zweifel gehabt?“
22934 „Niemals“, sagte La entschieden. „Niemals seit jenem Augenblick, da
22935 ich ihn unter Tränen in meinen Armen hielt, da ich ihm gestand, daß
22936 ich sein bin. Das war kein Spiel, das waren keine Küsse und
22937 Liebesworte, die wie Frühlingsblumen im Sonnenschein sprießen und
22938 über Nacht im Strauß verwelken. Das wissen wir beide, die unser
22939 Wissen um das Glück mit dem Wissen um das Elend erkauften, daß wir
22940 uns nie gehören können. O Se, du Kleinmütige, du weißt nicht, wie
22941 stolz die Liebe macht; ich weiß jetzt, wie man es werden kann.
22942 Glaubst du, daß der vergessen kann, um den diese Augen aus Liebe
22943 weinten? Nein, ich bin La, ich bin seine La, und das denken wir
22944 beide zu jeder Stunde, denken’s und fühlen’s in tausend Schmerzen,
22945 und ob wir es uns auch niemals wieder sagen, wir zweifeln nicht.“
22947 La schwieg und versank in Träumerei. Sie schloß die Augen und
22948 wollte sich nach ihrer Gewohnheit im Sitz zurücklehnen. Aber der
22949 unbequeme Hut erinnerte sie sogleich, wo sie war.
22951 Se lächelte. „Ich habe mich schon lange darüber geärgert“, sagte
22952 sie, „daß diese Bahn so unbequeme Sitze hat. Bei mir gehen die
22953 kleinen Erdenleiden in keinem großen auf, und ich merke unter
22954 anderm auch, daß die heutigen Strapazen und Erregungen uns ganz
22955 schwach zur Friedauer Sternwarte werden kommen lassen. Aber ich
22956 habe mich nicht wie heute früh auf die Erde verlassen, sondern mir
22957 eine ganze Schachtel Energiepillen eingesteckt.“
22959 „Ich auch“ sagte La und zog das Büchschen aus ihrem
22960 Reisetäschchen.
22962 „Ach sieh doch“, neckte sie Se. „Also hat das Zutrauen zu den
22963 ›Geselchten‹ doch seine Grenzen.“
22965 „Närrchen, wozu haben wir denn unsre Vernunft? Doch nicht, um das
22966 Kleine über dem Großen zu vergessen, sondern alles in seinem
22967 richtigen Verhältnis als Zweck und Mittel abzuwägen.“
22969 „Aha, du sprichst schon im Grunthe-Ton. Da werden wir wohl bald da
22970 sein, hier sieht man bereits erleuchtete Straßen. Nun schnell die
22971 Pillen geschluckt.“
22973 Nicht lange darauf hielt der Wagen an der Endstation. Die Fahrgäste
22974 in den übrigen Abteilen des Wagens waren alle schon unterwegs
22975 ausgestiegen. Die beiden Martierinnen standen allein auf der Straße
22976 und sahen sich ziemlich ratlos um. Der Wagenführer schaltete seine
22977 Lichter um und verschwand in der benachbarten Restauration, um sich
22978 in seiner kurzen Ruhepause zu stärken. Kein Mensch war auf der
22979 Straße sichtbar.
22981 Der Boden war noch feucht und teilweise mit den Resten des
22982 Gewitterregens bedeckt. Die breite, von Vorgärten begrenzte Straße
22983 endete hier in einem kleinen, mit Bäumen besetzten Platz, von
22984 welchem dunkle Alleen nach drei Seiten ausgingen. Man konnte nicht
22985 erkennen, wo sie hinführten, denn zwischen den dichtbelaubten
22986 Bäumen verschwand das Licht der spärlichen Gasflammen, die sie
22987 erhellten, und nur so weit konnte man sehen, als die Strahlen der
22988 elektrischen Bogenlampen an der Endstation der Straßenbahn
22989 reichten.
22991 „So also sieht es in Friedau aus“, seufzte Se. „Und das ist noch
22992 eine Residenzstadt! Wie mag es da erst auf dem Lande sein, wo –“
22994 „Halte keine Reden“, unterbrach sie La, „sondern komm, die
22995 Sternwarte wird schon zu finden sein.“
22997 Sie spähte nach jemand aus, den sie nach dem Weg fragen könnte.
22998 Eine Laterne tauchte in der Hauptstraße auf, es war die eines
22999 Radfahrers, der in eine der Alleen einbog.
23001 „Dort hinaus muß also noch irgend etwas liegen, denn es fahren noch
23002 Menschen hin“, sagte La in unverwüstlicher Laune.
23004 „Weißt du, wer das war?“ rief Se. „Als er bei der Bogenlampe
23005 vorüberfuhr, erkannte ich ihn. Es ist derselbe Mensch, der während
23006 des Gewitters bei dem Pavillon stand. Und – ich bin vorhin nicht
23007 dazu gekommen, mit dir darüber zu sprechen – ist dir nicht eine
23008 seltsame Ähnlichkeit aufgefallen?“
23010 „Mit wem? Ich habe kaum auf ihn geachtet.“
23012 „Mit Ismas Mann. Nach den Bildern. Ich bilde mir ein, es ist
23013 Torm.“
23015 „Wie töricht. Das würde doch Isma zuerst wissen –“
23017 „Wenn er aber Gründe hätte, sich zu verbergen? Du hast ja gehört
23018 –“
23020 „Dann wäre er doch nicht nach Friedau gegangen, wo ihn jeder Mensch
23021 kennt.“
23023 „Und niemand sucht. Er sieht jetzt nicht mehr so aus, wie er damals
23024 ausgesehen hat. Ich glaube gern, daß ihn kein Mensch wiedererkennt.
23025 Der Bart ist anders, das Haar ergraut, die Gesichtsfarbe gebräunt,
23026 die Wangen eingefallen – aber ich habe den Blick für den Charakter
23027 der Physiognomie, ich sehe durch alle Veränderungen hindurch –“
23029 „Aber warum sollte er sich vor seiner Frau verbergen?“
23031 „Es ist mir auch ein Rätsel. Immerhin wäre es sonderbar, wenn es
23032 zwei so ähnliche Individuen gäbe. Doch sieh, da kommt jemand.“
23034 Der Wagenführer trat aus der Restauration. Seine Abfahrtszeit war
23035 gekommen. Auf Las Frage gab er den Damen bereitwillig Auskunft. Die
23036 Allee rechts, immer bergan, in ein paar Minuten kommt man an das
23037 Gitter.
23039 „Also die Allee, die dein Geistertorm hinaufgefahren ist. Wären wir
23040 ihm nur gleich nachgegangen. Nun vorwärts“, sagte La.
23042 Die Steigung war für die beiden Martierinnen beschwerlich. Sie
23043 spannten jedoch ihre Schirme auf, und so kamen sie bald vor das
23044 eiserne Gittertor, das von einer Glühlampe beleuchtet wurde.
23046 Niemand war ihnen begegnet.
23048 „Es ist furchtbar einsam hier“, sagte La.
23050 „Das ist noch das Beste dabei“, sagte Se. „Es ist wenigstens auch
23051 still. Wie spät ist es denn eigentlich?“
23053 „Da oben leuchtet ja das Zifferblatt der Sternwartenuhr. Es ist
23054 acht Uhr vorüber. Wir wollen schellen.“
23056 Grunthe saß mit Torm, der soeben von seinem Ausflug zurückgekommen
23057 war, bei ihrem frugalen Abendessen, als ihm der Besuch zweier Damen
23058 gemeldet wurde. Sein Assistent, der sonst die Besucher der
23059 Sternwarte herumzuführen pflegte, war nicht anwesend, und es war
23060 ihm sehr unangenehm, jetzt sich stören zu lassen, zumal durch
23061 Damen. Er ließ daher sagen, er bedauere, aber die Sternwarte könne
23062 heute nicht gezeigt werden.
23064 Der Diener ging hinaus, kam jedoch nach einer Minute in großer
23065 Aufregung wieder herein.
23067 „Was gibt es denn?“ fragte Grunthe.
23069 „Zwei Damen vom Mars“, stammelte der Diener, indem er Grunthe
23070 ehrfurchtsvoll eine schmale, zierliche Karte überreichte. Sie war
23071 mit einer Nadel durchstochen, an der eine kleine goldene Medaille
23072 hing. Diese Medaille war es, die den Diener in Aufregung versetzt
23073 hatte. Jeder kannte diesen Weltpaß der Nume, das Wappen des Mars
23074 auf der einen Seite, auf der andern die Worte: ›Im Schutze des Nu.‹
23075 Sie öffnete dem Besitzer alle Türen.
23077 „Nume?“ sagte Grunthe verwundert zu Torm. Er betrachtete die Karte.
23078 Sie trug keinen Namen, sondern nur die flüchtig hingeschriebenen
23079 martischen Zeichen: „Die Pflegerinnen von Ara bringen sich in
23080 Erinnerung.“
23082 Grunthes Stirn zog sich zusammen. Seine Lippen bildeten das in
23083 Klammern gesetzte Minuszeichen. So las er noch einmal die Karte.
23084 Dann lösten sich seine Züge wieder zu einem höflicheren Ausdruck,
23085 und er sagte zu dem Diener: „Ich bitte in die Bibliothek. Ich werde
23086 gleich kommen.“
23088 „Es sind La und Se“, sagte er dann zu Torm, „die beiden Nume, die
23089 Saltner und mich nach unserm Sturz gepflegt haben. Ich bin ihnen zu
23090 großem Dank verpflichtet. Ich muß sie empfangen. Wollen Sie
23091 mitkommen?“
23093 „Es würde mich interessieren. Diese La war sehr freundlich gegen
23094 meine Frau während ihres Aufenthalts auf dem Mars. Aber sie ist
23095 auch eine Freundin Ells. Man weiß nicht, was sie herführt. Hören
23096 Sie erst, was sie wollen.“
23098 „Sie können nun einmal Ihr Mißtrauen nicht loswerden. Doch wie Sie
23099 wünschen.“
23101 Torm warf einen Blick durchs Fenster. „Es ist klar geworden“, sagte
23102 er. „Ich will versuchen, am großen Refraktor einige Platten zu
23103 exportieren. Die Damen kennen mich nicht, dort im Dunkeln können
23104 sie mich überhaupt nicht erkennen. Wenn Sie sie herumführen, könnte
23105 ich sie mir dort einmal –; übrigens, nun fällt mir ein, vielleicht
23106 habe ich die Damen schon gesehen, heute, an der schönen Aussicht
23107 bei Tannhausen –. Dort waren zwei Martierinnen, und kurz vorher sah
23108 ich ein merkwürdiges Luftschiff aufsteigen –; nun aber gehen Sie,
23109 wir werden ja sehen.“
23111 Grunthe betrat die Bibliothek mit einem möglichst liebenswürdigen
23112 Gesicht, sogar ein Lächeln machte einen Anlauf zum Erscheinen,
23113 verunglückte aber in seinen ersten Zügen. La und Se enthoben ihn
23114 der Schwierigkeit, ihnen die Hand zu reichen, indem sie ihn auf
23115 martische Weise begrüßten.
23117 Es gab bald ein lebhaftes Gespräch und kurze Erkundigungen und
23118 Erklärungen herüber und hinüber. Grunthe wollte ausführlich auf die
23119 wissenschaftlichen Ergebnisse zu sprechen kommen, die er mit Hilfe
23120 der Mitteilungen gewonnen hatte, die ihm La vom Mars aus hatte
23121 zukommen lassen, aber La ging nicht darauf ein, sie fragte direkt
23122 nach Saltner.
23124 „Ich will Ihnen mitteilen, was wir wissen“, sagte sie. „Er ist in
23125 Bedrängnis, man wird ihn dieser Tage mit Hilfe von Luftschiffen
23126 suchen und gefangennehmen. Ich bin aber von seiner Unschuld
23127 überzeugt.“
23129 Grunthe wurde sehr ernst. Er wagte es sogar, La jetzt anzusehen und
23130 erkannte in ihren Zügen die Aufrichtigkeit der Teilnahme und die
23131 herzliche Sorge um den Freund.
23133 „Es ist für Saltners Freunde“, sagte er, „eine Freude, ein solches
23134 Wort zu hören. Ich weiß, daß auch Ell ihm gerne helfen würde, wenn
23135 er dürfte, aber er ist durch seine Amtspflicht gebunden. Leider
23136 kann Ihre Überzeugung, selbst wenn sie nachträglich vom Gericht
23137 geteilt werden sollte was ich bezweifle, Saltner nichts nützen. Ich
23138 muß Ihnen gestehen, daß seine Lage eine verzweifelte ist. Er selbst
23139 würde sich ja schließlich auch über die Verhaftung und das Urteil
23140 hinwegzusetzen wissen. Aber Sie wissen, wie er an seiner Mutter
23141 hängt. Und damit verknüpft sich sein Geschick. Die alte Dame würde
23142 eine nochmalige Gefangennahme nicht überleben, das ist Saltners
23143 Sorge. Und ihr Zustand gestattet ihm nicht, seinen Zufluchtsort
23144 aufzugeben und etwa, was ihm sonst vielleicht gelingen könnte, sich
23145 am Tag in den Wäldern zu verbergen und in der Nacht auf unwegsamen
23146 Kletterpfaden in Sicherheit zu bringen. Wir sehen daher keinen Weg
23147 vor uns, wie diese Gefahr vermieden werden könnte. Vielleicht schon
23148 morgen geschieht das Traurige.“
23150 „Morgen?“ unterbrach ihn La erschrocken. „Was wissen Sie?“
23152 „Ich erhielt heute eine Depesche von einem seiner Freunde. Zwei
23153 Luftschiffe sind zu seiner Aufsuchung ausgeschickt. Sie sollte
23154 schon heute beginnen. Das Wetter, das die Berge in Wolken hüllt,
23155 verhinderte sie jedoch. Wenn es morgen klar wird – und die
23156 Wetterkarte läßt es vermuten –“
23158 „Können Sie mir sagen, wo Saltner sich aufhält?“
23160 „Genau wissen es nur wenige Eingeweihte. Wir wissen nur, was auch
23161 den andern bekannt ist, in den Bergen, die sich südlich vom
23162 Etschtal oberhalb Bozen, etwa nach dem Nonsberg, hinziehen, in
23163 einer der dort befindlichen Hütten – hier können Sie die
23164 Spezialkarte sehen.“ La ließ sich die Karte erklären.
23166 „Können Sie mir die Karte leihen?“ fragte sie.
23168 „Recht gern. Aber was wollen Sie damit?“
23170 „Ich sagte Ihnen schon, ich bin mit meiner Freundin auf einer Reise
23171 durch Europa. Vielleicht sehe ich mir diese Gegend einmal an.
23172 Übrigens war ich so frei, mein Luftschiff hierher zu bestellen, um
23173 uns abzuholen. Es müßte eigentlich schon hier sein. Frau Torm sagte
23174 uns, daß Sie selbst hier im Garten gelandet seien, so glaubte ich
23175 –“
23177 La hatte ruhig gesprochen. Jetzt trafen sich ihre Blicke mit denen
23178 Grunthes, sie ruhten eine Weile ineinander. Dann legte Grunthe
23179 schweigend die Karte zusammen und überreichte sie La.
23181 „Wünschen Sie eine Empfehlung an einen Kenner der dortigen Gegend?“
23182 fragte er. „Sie dürften dort als Nume wenig Entgegenkommen
23183 finden.“
23185 „Wir brauchen keinen Führer“, erwiderte La. „Wir schweben ja über
23186 den Höhen, da genügt uns die Karte. Ich danke Ihnen.“
23188 Sie erhob sich.
23190 „Wollen Sie nicht einen Gang durch unsere Arbeitsräume tun? Von der
23191 Plattform aus würden wir die Ankunft Ihres Schiffes am besten
23192 bemerken.“
23194 Sie durchschritten mehrere Zimmer und betraten den Rundgang. Hier
23195 und da sprach Grunthe einige erklärende Worte.
23197 „Sie sehen“, sagte er, „wie wir uns Mühe geben, von Ihnen zu
23198 lernen. Vieles hatte Ell bereits eingerichtet, ehe wir etwas von
23199 den Numen wußten. Ich habe mich freilich schon damals gewundert,
23200 wie er auf so viele neue Feinheiten hatte kommen können.“
23202 An einer Stelle war die Seitenwand weit auseinandergeschoben. An
23203 dem dort befindlichen, auf den Sternenhimmel gerichteten Instrument
23204 war Torm beschäftigt. Er verbeugte sich flüchtig, ohne sich stören
23205 zu lassen.
23207 Se beobachtete ihn scharf, soweit es die matte Beleuchtung
23208 gestattete, während sie scheinbar das Werk einer in der Nähe
23209 stehenden Uhr studierte.
23211 „Wissen Sie“, sagte sie plötzlich laut zu Grunthe, „daß wir Frau
23212 Torm beinahe mitgebracht hätten? Wir waren mit ihr im Wald, nur
23213 mußte sie leider nach Berlin zurück. Haben Sie denn etwas von den
23214 Gerüchten gehört, daß Torm wirklich zurückgekehrt sei und sich nur,
23215 man weiß nicht warum, hier verborgen halte? Wir haben mit Frau Torm
23216 natürlich nicht davon gesprochen, aber Sie können wir ja doch
23217 fragen.“
23219 Torm hatte sich bei Ses Worten tief auf das Instrument gebeugt, und
23220 Se sah deutlich, wie seine Hand an der Schraube des Apparats
23221 zitterte.
23223 „Welches Gerücht?“ fragte Grunthe, als hätte er nicht recht gehört.
23224 In diesem Augenblick erhellte sich die Gegend plötzlich wie von
23225 Sonnenlicht, und durch die geöffnete Wand drang auf kurze Zeit ein
23226 tagheller Schein.
23228 „Das Luftschiff“, rief La und blickte zum Fenster hinaus, während
23229 Se ihren Blick auf Torm gerichtet hielt, der sich schnell
23230 entfernte.
23232 „Der Schiffer beleuchtet seinen Landungsplatz.“
23234 „Und meinem Assistenten hat er die Aufnahme verdorben“, setzte
23235 Grunthe hinzu.
23237 „Das tut mir sehr leid“, sagte La. „Aber wir wollen Sie auch nicht
23238 länger stören. Würden Sie jetzt die Güte haben, uns in den Garten
23239 zu führen?“
23241 Als La und Se mit Grunthe den Garten betraten, lag das Schiff schon
23242 auf dem Rasenplatz. Nur zwei kleine Lichter machten es im Dunkel
23243 kenntlich. Grunthe konnte die freundliche Einladung nicht
23244 abschlagen, die Yacht zu besichtigen und einen Augenblick im Salon
23245 Platz zu nehmen.
23247 Se setzte sich ihm gegenüber, und ihn offen anblickend begann sie:
23249 „Nun will ich Ihnen auch einmal etwas auf den Kopf zusagen,
23250 Grunthe. Dieser Mann, den sie Ihren Assistenten nannten, war Hugo
23251 Torm, und Sie wissen es. Warum steckt er hier im Verborgenen? Warum
23252 ist er nicht bei seiner Frau, die ihn für tot hält? Warum läßt er
23253 sie in ihrem Harm sitzen? Und das dulden Sie? Das ist ja ganz
23254 unerhört. Und nun reden Sie die Wahrheit.“
23256 Grunthe saß stumm mit eingezogenen Lippen.
23258 „Sie wollen nicht reden?“ fragte Se.
23260 „Ich darf nicht. Es sind nicht meine Geheimnisse.“
23262 „Ach, also Torms! Das Zugeständnis genügt. Und billigen Sie dies
23263 Verhalten?“
23265 „Nein.“
23267 „Warum benachrichtigen Sie nicht Frau Torm?“
23269 „Das geht mich nichts an. Davon verstehe ich nichts. Das muß ich
23270 Torm überlassen.“
23272 „Und seine Gründe? Er muß Ihnen doch Gründe angegeben haben.“
23274 „Ich kann nichts sagen.“
23276 „So werde ich Isma –“
23278 „Ich bitte Sie“, unterbrach sie Grunthe, „Sie können nicht wissen,
23279 ob das gut wäre. Nehmen Sie an, er stünde unter dem Druck einer
23280 Schuld, oder glaubte es wenigstens – er würde seine Frau nur ins
23281 Unglück stürzen, wenn er jetzt käme, oder er scheue sich, vor sie
23282 als ein Ausgestoßener zu treten, aber er hoffe, daß der Makel noch
23283 von ihm genommen werden könnte, in einiger Zeit –. Nehmen Sie an,
23284 er warte nur noch Nachrichten ab. Eine vorzeitige Mitteilung könnte
23285 alles verderben –“
23287 „Nehmen wir an, was wir wollen“ hub jetzt La an, „hier gibt es gar
23288 keine andre Wahl, als die Frau in dieses Geheimnis zu ziehen, und
23289 sie kann dann entscheiden –. Ihr haltet das wahrscheinlich für
23290 besonders edel, daß der Mann die inneren Kämpfe in sich ausficht
23291 und die Frau aus Schonung in der Angst der Ungewißheit läßt, weil
23292 ihr denkt, sie könnte sich wieder durch rücksichtsvolle Gefühle
23293 bestimmen lassen, das zu tun, was sie eigentlich nicht will.
23294 Zartgefühl nennt ihr’s, und Hochmut ist es, weiter nichts. Der
23295 Hochmut, daß ihr allein so außerordentlich fähig seid zu
23296 beurteilen, wo und wieweit man sich aufopfern darf. Das kommt aber
23297 alles davon, weil ihr nicht wißt, was Freiheit ist; Freiheit, die
23298 das Gefühl anerkennt, wie es wirklich ist, aber nicht es
23299 zurechtstutzt, wie es euch verständig scheint. Und weil eure
23300 Vernunft zu blöde ist, um dieses ganze Gewirr von Gefühl und
23301 Berechnung zu durchschauen so verderbt ihr das Leben aus lauter
23302 Edelmut in der schönsten Selbstlüge.“
23304 „Ich verstehe nichts davon“, sagte Grunthe wiederholt, indem er
23305 aufstand. „Ich will nichts damit zu tun haben, das sind Sachen, die
23306 sich nicht berechnen lassen. Ich bitte nur, wahren Sie ein
23307 Geheimnis, das nicht das Ihrige ist, wie auch ich es tue.“
23309 „Das versteht sich von selbst“, erwiderte Se. „Wir können nur von
23310 dem Gebrauch machen, was wir mit eignen Augen gesehen haben.“
23312 „Leben Sie wohl“, sagte Grunthe. „Und möge Ihre Reise zum Ziel
23313 führen.“
23315 „Sie werden uns in jedem Fall nächste Nacht wieder hier sehen.
23316 Dürfen wir in Ihrem Garten übernachten?“
23318 „Selbstverständlich. Indessen – ich kann mich nicht darum
23319 kümmern.“
23321 „Das beanspruchen wir nicht“, sagte La lächelnd. „Wenn wir aber
23322 vielleicht Gäste mitbringen, die mit Ihnen sprechen möchten, wie
23323 können wir Sie von unsrer Ankunft benachrichtigen?“
23325 „An der Tür, die vom Garten nach dem Haus führt, ist eine Klingel.
23326 Wir werden wahrscheinlich die nächste Nacht durcharbeiten, wenn es
23327 klar ist.“
23329 „Es wird klar werden“, sagte La, indem sie jetzt Grunthe die Hand
23330 reichte.
23332 Er nahm sie, er drückte sie sogar ein wenig. Dann ging er mit
23333 steifen Schritten aus der Tür.
23335 La sah ihm nach.
23337 „Ich fürchte“, scherzte Se, „den hast du auch erobert. Er hat dir
23338 ja beinahe die Hand gedrückt.“
23340 „Ja“, sagte La, „er hat sich gebessert. Aber im Ernst, er ist einer
23341 von den Menschen, die wert wären, auf dem Nu geboren zu sein. O Se,
23342 wenn es Gott gäbe, daß wir morgen hier alle zusammen sind!“
23344 „Laß uns hoffen und ruhen. Wir haben einen schweren Tag vor uns.“
23346 „Ich will nur noch mit dem Schiffer sprechen. Eine Stunde vor
23347 Sonnenaufgang wollen wir aufbrechen.“
23349 Alle Luken wurden geschlossen, die Lichter gelöscht. Dunkel und
23350 verschwiegen lag das Schiff auf dem Rasen, verborgen von den hohen
23351 Bäumen des Parks. Ein fernes Wetterleuchten zuckte zuweilen im
23352 Norden, im Süden aber, alle Sterne überstrahlend, zog der rötliche
23353 Mars seine Bahn in ruhigem Licht.
23355 \section{55 - In höchster Not}
23357 Der getreue Palaoro war in der Nacht auf das Gebirge gestiegen, um
23358 Saltner die Nachricht zu bringen, daß zwei Luftschiffe in
23359 Bereitschaft seien, ihn zu suchen. Diese Nachforschung konnte nur
23360 dadurch geschehen, daß die Luftschiffe Tal für Tal und Berghalde
23361 für Berghalde absuchten und jedes einzelne Häuschen, jede Hütte
23362 anliefen, um sich die Insassen anzusehen. Dies war allerdings eine
23363 umständliche Sache, doch war das Gebiet, um das es sich handelte,
23364 in bestimmter Weise eingeschränkt. Denn alle Täler, die den
23365 Gebirgsstock umgaben oder aus ihm herausführten, waren sogleich am
23366 Tag nach Saltners Flucht abgesperrt worden, die hier zerstreut
23367 liegenden Ortschaften waren besetzt, und es wäre nicht möglich
23368 gewesen, sie unentdeckt zu passieren. Ein einzelner Gebirgssteiger,
23369 wie Saltner, hätte sich wohl vorüberschleichen können, nicht so
23370 eine Gesellschaft, in der Saltners Mutter sich befand. Denn diese
23371 mußte entweder reiten oder getragen werden, war also auf die
23372 gangbaren Wege angewiesen. Die Hütten, welche in Betracht kamen,
23373 waren entweder Unterstandshütten für Touristen, oder es waren
23374 Sennhütten oder Zufluchtsorte für Hirten. Sie lagen stets an
23375 hervorragenden Punkten oder offen auf Wiesen und Almen, so daß sie
23376 von der Höhe aus leicht wahrgenommen werden konnten. Wollte Saltner
23377 für ein Luftschiff unentdeckbar bleiben, so konnte es nur dadurch
23378 geschehen, daß er sich in den Wald flüchtete, der die Abhänge der
23379 Bergrücken bedeckte.
23381 Da am ersten Tag nach Palaoros Ankunft des dichten Nebels wegen auf
23382 den Bergen noch keine Gefahr der Entdeckung vorlag, brach Saltner
23383 mit dem Führer auf, um in den Wäldern eine passende Unterkunft zu
23384 suchen. Die Hütten, die sich hier für Köhler und Holzschläger
23385 errichtet fanden, waren allerdings höchst primitiver Art. Es gelang
23386 ihnen aber, doch einen Bau aufzufinden, der sich durch einige
23387 Arbeit wenigstens für den Notfall bewohnbar machen ließ. Sie
23388 setzten diese ärmliche Wohnung, so gut es ging, instand und kehrten
23389 abends nach der sogenannten Kleinen Hütte zurück. In der Nacht wäre
23390 es nicht möglich gewesen, Frau Saltner in das abgelegene Tal durch
23391 den Wald zu transportieren, da sie getragen werden mußte. Sie
23392 beschlossen also, es am Tag zu wagen. Gefährlich für die Entdeckung
23393 war dies freilich, denn es mußte ein weites, baumloses Plateau,
23394 dann eine steile Schutthalde und ein Felsabstieg passiert werden,
23395 ehe man in den Wald gelangte. Sie hofften, daß der Nebel noch
23396 anhalten werde.
23398 Vor Sonnenaufgang verließ Saltner die Hütte und bestieg den
23399 Bergrücken, der den Blick nach Norden und Westen gestattete. Hinter
23400 den Zacken der Dolomiten strahlte der Himmel in leuchtendem Rot.
23401 Ein Meer von weißen Nebeln wogte in den Tälern, und nur die Gipfel
23402 der Berge blickten wie Inseln aus ihm hervor. Rosig glühten die
23403 Schneeriesen im Westen, und ihre höchsten Häupter glänzten bereits
23404 im Sonnenlicht. Saltner spähte nach der Gegend, wo Bozen unter
23405 Nebeln verborgen lag. Und da – siehe –, aus den weißen Wolken
23406 tauchten zwei dunkle Punkte auf, deutlich hoben sie sich jetzt
23407 gegen den hellen Himmel ab. Er richtete sein Fernglas darauf. Es
23408 war kein Zweifel, es waren die beiden Luftschiffe, die sich zu
23409 seiner Verfolgung aufmachten. Er eilte den Berg hinab.
23411 „Wir müssen fort“, sagte er zu Palaoro. „Sie suchen uns, und der
23412 Tag wird klar werden. Aber sie fahren nach Südost, wir werden also
23413 noch Zeit haben, ehe sie bis hierher kommen. Für den Anfang steigen
23414 auch die Nebel noch herauf, wir müssen sehen, daß wir zur rechten
23415 Zeit Deckung finden.“
23417 Der Zug setzte sich in Bewegung. Saltner und Palaoro trugen den
23418 Tragstuhl mit Frau Saltner. Katharina schritt, ebenfalls mit Gepäck
23419 beladen, hinterher. Es ging die Bergwand im Südwesten hinauf, dann
23420 über ein weites Plateau. Man kam nur langsam vorwärts. Oft mußte
23421 geruht werden. Endlich waren die Felsen am Rande des Plateaus
23422 erreicht, das sich von hier mit einer steilen Schutthalde in ein
23423 Tal hinabsenkte. Dieses mußte passiert werden, um den Bergrücken
23424 auf der gegenüberliegenden Seite zu gewinnen. Von dort führte der
23425 Weg durch eine Scharte zwischen zwei Gipfeln nach einem zweiten,
23426 engeren Tal, dessen waldbedeckte Abhänge sicheren Schutz boten. In
23427 dem ersten Tal zogen sich die Nebel jetzt bis dicht an den Rand des
23428 Plateaus. Ehe die kleine Expedition den schmalen, aber
23429 verhältnismäßig leicht gangbaren Pfad betrat, der hier hinabführte,
23430 spähte Saltner noch einmal nach den Schiffen aus, ohne eine Spur
23431 von ihnen bemerken zu können. Dann bedeckten die Nebel die
23432 Flüchtigen. Bevor der neue Aufstieg begann, wurde eine Ruhepause
23433 gehalten und dann mit neuen Kräften vorwärts geschritten. Es waren
23434 gegen vier Stunden seit dem Aufbruch vergangen, als sie aus den
23435 Talnebeln herausstiegen und sich anschickten, die Höhe zu
23436 passieren. Man hatte hier wieder einen weiten Umblick nach Westen
23437 und Süden. Plötzlich blieb Palaoro stehen.
23439 „Sie kommen“, rief er aus.
23441 Er hatte in der Ferne, im Süden, einen dunkeln Punkt bemerkt, den
23442 nun Saltners Glas als Luftschiff nachwies. „Sie nähern sich“, sagte
23443 Saltner, „aber sie haben sich getrennt – es ist nur ein Schiff.“
23445 „Sie werden von zwei verschiedenen Seiten anfangen. Diese wollen
23446 wahrscheinlich hinüber nach den Hütten am Laugen. Hier können wir
23447 nicht weiter, in wenigen Minuten müssen sie uns sehen. Wir müssen
23448 den Berg zwischen uns bringen. Sie werden vorläufig jedenfalls auf
23449 der Südseite bleiben.“
23451 Man bog nach rechts ab und war bald durch die aufsteigenden, mit
23452 Rasen und verkrüppelten Fichten bedeckten Felsabhänge des
23453 Bergrückens gegen das herannahende Schiff gedeckt, so lange es sich
23454 nicht über den Gipfel erhob. Es war aber anzunehmen, daß die
23455 Martier zunächst die Abhänge im Süden absuchen würden. Der
23456 beschwerliche Weg führte nun bergab nach einem Felsriegel zu, von
23457 dem aus sich eine Schlucht in das Tal hinabzog. Doch war es
23458 fraglich, ob diese von einem Wildbach durchströmte, in steilen
23459 Abstürzen niedergehende Schlucht passierbar sein würde. Dies mußte
23460 zunächst untersucht werden. Das Ende des Felsriegels, der nach
23461 Norden fast senkrecht etwa hundert Meter abstürzte, war mit hohen,
23462 flechtenbedeckten Fichten bestanden und bot unter diesen und
23463 zwischen den Felstrümmern einen vorläufigen Zufluchtsort. Hier
23464 wollte Saltner die Frauen verbergen, während Palaoro einen Weg nach
23465 dem Tal auskundschaften sollte. Es galt nur noch die kurze Strecke
23466 über den kahlen Rücken bis zum Beginn des Waldes zu durchqueren.
23468 Vielleicht noch hundert Schritte bergab trennten die Flüchtigen von
23469 dem schützenden Dickicht, als sie vor sich, nach Norden, über den
23470 dort hervorragenden Berggipfeln ebenfalls einen Punkt bemerkten,
23471 der unzweifelhaft ein Luftschiff war.
23473 „Dort ist das andere Schiff“, rief Palaoro.
23475 So schnell, als es möglich war, durchliefen sie die kurze Strecke
23476 und suchten einen geschützten Platz unter den hohen Stämmen. Die
23477 Sonne schien warm auf die harzduftenden Nadeln, in langen Bändern
23478 hingen die graugrünen Flechten von den Ästen, und der aus
23479 Felstrümmern bestehende Boden war mit weichem Moos bedeckt. Man hob
23480 Frau Saltner aus dem Stuhl, und die Frauen ruhten an geschützter
23481 Stelle in der stillen, sonnendurchwärmten Luft, während Saltner und
23482 Palaoro bis an den Rand des Absturzes vorgingen, um vorsichtig nach
23483 dem vermuteten Feind auszuspähen.
23485 „Es ist mir nicht recht erklärlich“, sagte Saltner, „warum dieses
23486 Schiff einen so seltsamen Weg eingeschlagen hat, daß es jetzt von
23487 Norden kommt. Aber gleichviel, wenn sie uns nicht auf dem Weg
23488 hierher erkannt haben, sind wir vorläufig sicher.“
23490 „Sie können uns schon gesehen haben. Sie kommen ja gerade auf uns
23491 zu.“
23493 „Leider. Sie haben die ursprüngliche Richtung geändert. Man möchte
23494 wirklich glauben, daß sie hierher wollen. Ach, sie steigen in die
23495 Höhe und spannen die Flügel auf, sie werden eine Landung
23496 versuchen.“
23498 „Wenn sie wirklich uns gesehen haben und hier in das Wäldchen
23499 wollen, so können sie nur draußen auf dem Bergrücken landen, von wo
23500 wir gekommen sind. Sonst können sie nirgends heran, das verhindern
23501 die Bäume.“
23503 „Kommt, Palaoro. Wir wollen nach der andern Seite gehen, hier ist
23504 nichts zu tun und nichts zu befürchten. Das Schiff ist so hoch, daß
23505 man es nicht mehr sehen kann, ohne zu weit aus den Bäumen zu
23506 treten. Was tun wir nun, wenn sie landen?“
23508 „Wir steigen in die Schlucht hinunter, so weit es geht.
23509 Nachklettern werden sie uns nicht. Bleiben Sie bei der Frau Mutter,
23510 und ziehen Sie sich inzwischen nach der Schlucht zu. Kathrin kann
23511 hier den Stuhl ein Stück tragen. Ich sehe inzwischen nach dem
23512 Schiff.“
23514 Saltner brachte seine Mutter mit Hilfe der Magd bis an die Stelle,
23515 wo die Schlucht begann. Hier kletterte er selbst weiter, um den Weg
23516 zu untersuchen. Es ging zunächst steil bergab, aber es schien ihm
23517 möglich, doch noch hier herabzukommen. Nach einer kurzen Strecke
23518 erweiterte sich die Schlucht zu einem kleinen, von fast senkrechten
23519 Wänden umgebenen Felskessel. Den nahezu ebenen Boden, auf dem ein
23520 kleines Bächlein entsprang, bedeckte kurzer Rasen. Im Sonnenschein
23521 funkelten die Wassertropfen auf den Halmen, kleine blaue
23522 Schmetterlinge und weißschimmernde große Apollofalter spielten in
23523 diesem stillen Winkel. Die Quelle rieselte als schmales Rinnsal der
23524 Felswand zu, die sie in einer kleinen Klamm durchbrach. Aber die
23525 Neigung war gering, Saltner schritt durch das seichte Wasser und
23526 überzeugte sich, daß sich dahinter der Boden des Tales erweiterte.
23527 War man einmal bis hierher vorgedrungen, so mochte der weitere
23528 Abstieg wohl gelingen. Nun beeilte er sich zurückzukehren.
23530 Er hatte etwa zwei Drittel des Aufstiegs kletternd zurückgelegt,
23531 als er zu seinem Erstaunen von Baum zu Baum ein Seil nach oben hin
23532 ausgespannt fand. Bald begegnete ihm Palaoro, der Frau Saltner auf
23533 einem Arm trug, während er sich mit Hilfe des Seiles vorsichtig den
23534 steilen Abhang hinabarbeitete. Ihm folgte Katharina. Ohne ein Wort
23535 zu sprechen unterstützte Saltner den Abstieg, bis sie das Ende des
23536 Seils erreicht hatten. Hier setzte Palaoro Frau Saltner nieder und
23537 sagte zu ihr beruhigend: „Hier sind sie ganz sicher, die dreißig
23538 Meter können die Herren Martier nicht herabkraxeln. Wir wollen nur
23539 das Seil holen.“
23541 Er winkte Saltner und beide stiegen wieder den Berg hinauf.
23543 Kurz vor der Höhe blieb Palaoro stehen und berichtete Saltner das
23544 Geschehene. Als er vorhin den Rand des Waldes erreicht hatte und
23545 die kahle Berglehne nach oben übersehen konnte, habe er das von
23546 Norden gekommene Luftschiff bemerkt, das mit ausgebreiteten
23547 Schwingen im Segelflug langsam über der Höhe schwebte. Es sei ein
23548 ganz besonders großes, schönes Schiff gewesen. Da sei von der
23549 andern Seite das kleine Regierungsschiff, das er als das Schiff des
23550 Unterkultors in Wien erkannte, schnell herbeigekommen und hätte dem
23551 andern Schiff Signale gemacht, die er nicht verstand. Darauf hat
23552 das große Schiff die Flügel eingezogen, und er hat nicht sehen
23553 können, was aus ihm geworden, da es hinter den Bäumen verschwunden
23554 ist. Das kleine aber ist dicht vor dem Wald auf dem Bergrücken
23555 gelandet. Nun ist der Pitzthaler, der Grenzjäger, aus dem Schiff
23556 geklettert und nach dem Wald gegangen. Wie er gesehen hat, daß es
23557 der Pitzthaler ist, hat er sich langsam zurückgezogen, und wie die
23558 vom Schiff aus den Pitzthaler hinter den Bäumen nicht mehr sehen
23559 konnten, ist er ihm so wie zufällig entgegengegangen. Hat ihn nun
23560 der Pitzthaler gefragt, ob er nicht hier herum den Herrn Saltner
23561 gesehen hat, der sollt’ mal gleich auf das Schiff kommen, denn sie
23562 hätten von oben bemerkt, wie er um den Berg herumgegangen sei, und
23563 da könnt’ er jetzt nirgends anders stecken als hier im Wald. Da
23564 hätte er geantwortet, das wollte er dem Herrn Saltner schon sagen,
23565 wenn er ihn halt zufällig hier treffen täte, wenn aber der Herr
23566 Saltner nicht käme, was sie dann wohl tun würden. Dann würden sie
23567 den Wald hier besetzen, daß er nicht herauskönnte, und er und der
23568 Verpailer, der auch mit wäre, die müßten ihm halt nachgehen und ihn
23569 herausholen, denn sonst kämen sie um ihr Brot. Er hätte sich aber
23570 am Fuß was vertreten und könnte nur langsam den Berg
23571 heruntersteigen. Und darauf wäre der Pitzthaler wieder
23572 zurückgegangen. Nun sei er erst wieder bis an den Waldrand
23573 geschlichen und habe gesehen, wie der Herr Unterkultor und vier
23574 Beds mit Glockenhelmen aus dem Schiff gekraxelt und mit den beiden
23575 Grenzjägern nach dem Wald zu gegangen seien. Da sei er rasch
23576 zurückgesprungen, habe das Seil ausgespannt und sei mit den Frauen
23577 herabgestiegen. Und er hat noch gesehen, wie die Grenzjäger mit den
23578 Martiern erst nach der andern Seite gegangen sind.
23580 Während des Berichts lösten Saltner und Palaoro das Seil und
23581 stiegen die Schlucht wieder hinab. Sie beschlossen, sich bis in den
23582 Felskessel hinabzuziehen und dort des weiteren zu warten. Beide
23583 hofften, daß ihnen die Grenzjäger nicht sogleich folgen, sondern
23584 die Martier unter irgendeiner Ausrede mit der Verfolgung hinhalten
23585 würden.
23587 Mit vielen Beschwerden gelang es, den übrigen Teil des Weges
23588 zurückzulegen. Sobald sie hinter dem nächsten Felsblock
23589 hervortraten, befanden sie sich am Rand der kleinen Wiese. Saltner
23590 trug jetzt seine Mutter, Palaoro ging voran. Er stand am Eingang
23591 zum Kessel. Da sprang er zurück. Erschrocken winkte er Saltner.
23592 Dieser setzte seine Mutter sanft nieder und sprang zu ihm.
23594 „Was gibt es?“ fragte er leise.
23596 „Das große Luftschiff liegt auf der Wiese“ flüsterte Palaoro.
23598 „Um Gottes willen! So sind wir verloren. Wir sind von beiden Seiten
23599 eingeschlossen.“
23601 Er warf einen Blick auf die seitlichen Abstürze der Schlucht, der
23602 ihn belehrte, daß hier ein Entkommen mit den Frauen nicht denkbar
23603 sei. Ratlos blickten die Männer sich an.
23605 „Habt Ihr Leute bei dem Schiff gesehen?“ fragte Saltner.
23607 „Ich hab mir gar nicht Zeit genommen“, antwortete Palaoro. „Sie
23608 müssen von oben gesehen haben, daß hier der einzige Ausweg ist, und
23609 haben ihn verlegt. Wenn sie sich jetzt hier umschauen, müssen sie
23610 uns finden, auch wenn die von oben nicht herabkommen. Bergauf
23611 werden die Nume nicht steigen, aber vielleicht haben sie auch
23612 Grenzjäger bei sich. Wir wollen wenigstens das kleine Stückchen
23613 zurück bis dort zwischen die beiden Felsen.“
23615 „Es ist auch nur für den Augenblick“, sagte Saltner, „aber wir
23616 wollen es tun. Möglich wäre es ja, daß die Grenzjäger nicht sehen
23617 wollen und vorbeiziehen, wahrscheinlich freilich nicht, es ist zu
23618 klar, daß wir hier stecken müssen. Ich werde mir dann das Schiff
23619 ansehen, und wenn es nicht anders ist –“
23621 „Ergeben?“ stammelte Palaoro.
23623 „Ihr nicht, das hat keinen Zweck. Ihr könnt hier an der Seite
23624 hinaufklettern. Ich aber kann die Frauen nicht verlassen.“
23626 Er lehnte einen Augenblick wie gebrochen an dem Felsen.
23628 „O meine Mutter!“ flüsterte er. Dann ging er zurück zu den Frauen.
23630 „Ich muß euch noch ein paar Minuten hierlassen“, sagte er. „Dort
23631 zwischen den Felsen wirst du besser sitzen. Es ist noch ein
23632 Hindernis drunten, hoffentlich läßt es sich beseitigen.“
23634 „Du mein lieber Josef, was ich dir für Mühe mache. Aber wenn sie
23635 uns wieder fangen, das ist zu schrecklich“, antwortete Frau
23636 Saltner.
23638 Bald waren die Frauen untergebracht.
23640 „Ich gehe jetzt“, sagte Saltner, sich beherrschend. „Ängstige dich
23641 nicht, Mutter.“
23643 Er küßte sie.
23645 „Aber du kommst bald wieder?“
23647 „Gott wird helfen.“
23649 Saltner warf noch einen Blick zurück. Dann schlich er bis an den
23650 Felsblock, der den Eingang zur Waldblöße deckte. Von oben konnte
23651 man ihn nicht mehr sehen. Ein moosbedeckter Vorsprung am Felsen
23652 bildete eine natürliche Bank. Hier ließ er sich einen Augenblick
23653 nieder, um noch einmal zu bedenken, was er tun solle. Es war nichts
23654 zu tun. Hierbleiben konnte er nicht. Vorüber konnte er auch nicht.
23655 Er mußte sich gefangengeben. Auch das wäre ihm zuletzt gleichgültig
23656 gewesen. Aber die Mutter! Sie überlebte den Schrecken nicht. Das
23657 war das Ende! Und nun war alles verloren. Keine Rettung.
23659 „Gnädiger Gott, hilf uns“, sagte er leise. „Doch Dein Wille
23660 geschehe.“
23662 Er erhob sich, er wollte um die Ecke des Felsens nach dem Schiff
23663 ausspähen. Da war es ihm, als hörte er leises Rascheln der dürren
23664 Zweige, die den Moosboden bedeckten. War es eine Eidechse? Kam
23665 jemand? Er zögerte einen Augenblick. Die Spalte neben dem Felsen,
23666 durch welche das Sonnenlicht in den Wald blickte, verdunkelte sich.
23667 Eine Gestalt stand vor ihm.
23669 Er richtete sich hoch auf. Das Herz schlug ihm, wie ein Nebel legte
23670 es sich vor seinen Blick. Wer war das? Unter dem Schatten eines
23671 breiten Hutes leuchteten ihm zwei Augen entgegen, glückstrahlend,
23672 sonnenhaft. Schweigend standen sich beide gegenüber, bis es leise;
23673 zögernd, als fürchte er, aus einem Traum zu erwachen, über Saltners
23674 Lippen kam, eine einzige Silbe:
23676 „La!“
23678 Es war ihm, als müsse er zu Boden sinken. Da bewegte sich die
23679 Gestalt. Zwei Arme umschlangen ihn, eine weiche Wange fühlte er an
23680 der seinigen. La barg ihren Kopf an seiner Schulter und flüsterte:
23681 „Sal! mein Sal!“
23683 Er sank auf die Moosbank nieder und zog sie mit sich. Ihre Lippen
23684 glühten aufeinander.
23686 „Du bist es, du bist es“, sagte La selig.
23688 Er zog sie aufs neue an sich.
23690 Endlich stammelte er: „Und du, wie kommst du – O du mein Glück,
23691 weißt du denn –“
23693 „Ja, ja! Ich komme, um dich zu fangen und nie wieder freizugeben.
23694 Ich komme vom Nu, und ich will bei dir bleiben auf der Erde, oder
23695 wo du willst – nur nicht allein, nicht länger allein. Ich kann es
23696 nicht!“ Sie sank aufs neue an seine Brust. Dann sprang sie auf.
23698 Von oben hörte man das Klingen des Bergstocks. Palaoro wurde
23699 sichtbar. Er prallte zurück, als er La erblickte. Dann rief er:
23700 „Sie steigen von oben herab.“
23702 Saltner blickte auf La. „Du kommst zu mir, Geliebte“, sagte er
23703 hastig. „Aber ich bin gefangen und eingeschlossen. Du kommst, nur
23704 zu sehen, wie ich dir entrissen werde.“
23706 La lächelte glücklich. „Das ist unmöglich“, sagte sie. „Geh und
23707 hole deine Mutter, und du wirst sehen.“
23709 Saltner wirbelte der Kopf, aber er nahm sich keine Zeit, zu
23710 überlegen, wie das alles möglich sei. Er prüfte nicht, er zweifelte
23711 nicht, Las Wort glaubte er. Weiter bedurfte es nichts. Er sprang
23712 mit Palaoro den Felsen hinauf.
23714 „Wir sind gerettet, gerettet!“ rief er seiner Mutter zu. „Fürchte
23715 dich nicht vor den Numen, zu denen ich dich bringe, es sind unsre
23716 Freunde.“
23718 „Wenn du es sagst, so ist es gut.“
23720 In wenigen Minuten standen sie wieder bei La, die an dem Felsen
23721 gewartet hatte.
23723 „Das ist unsre Retterin“, sagte Saltner, auf La weisend.
23725 La faßte ehrfurchtsvoll die Hand von Saltners Mutter und sprach:
23726 „Sie sollen bald zufrieden sein.“
23728 „Gott segne Sie“, antwortete die Mutter.
23730 La schritt voran. Die nachfolgenden Menschen stutzten bei dem
23731 Anblick, der sich ihnen bot. Kathrin stieß einen Schrei der
23732 Verwunderung aus.
23734 Wie eine goldene Schale in der Sonne leuchtend lag die Luftyacht
23735 auf der Waldwiese. Niemand war zu sehen als am Fuß der breiten,
23736 bequemen Schiffstreppe der Schiffer in seinem Glockenhelm, der
23737 salutierend die Herrin des Schiffs erwartete. La eilte voran. Als
23738 sie das Geländer erfaßte, flammte ein Funkenbogen über dem Eingang,
23739 der die Aufschrift zeigte: „Willkommen im Schutze der La.“
23741 Am Eingang zum Schiff blieb sie stehen und wiederholte die Worte.
23742 Man stieg in das Schiff, der Schiffer folgte, im Augenblick war die
23743 Treppe eingezogen.
23745 Palaoro blieb vorläufig auf dem Verdeck. Saltner führte seine
23746 Mutter und die Magd in den Raum, dessen Tür La öffnete.
23748 „Hier ist Ihr Zimmer“, sagte sie, „und daneben das für Katharina.
23749 Nun ruhen Sie sich recht aus. Und was Sie wünschen, sprechen Sie in
23750 diese Öffnung, so wird es da sein.“
23752 Frau Saltner war sprachlos. Ein weicher Polsterstuhl am Fenster
23753 nahm sie auf. Sie blickte sich im Zimmer um.
23755 „Das ist ja gerade wie daheim in unsrer Sommerwohnung“, sagte sie
23756 endlich. „Die Täfelung ringsum, und die Gardine in der Ecke, und
23757 dort, das Kruzifix und das Lämpchen –. Nur die Bilder, und die
23758 Kissen, und die Teppiche das ist alles viel kostbarer – wie kommt
23759 das nur – –“
23761 „Das ist die Zauberin, die es gemacht hat“ sagte Saltner, gerührt
23762 Las Hand ergreifend. „Sie hat nichts vergessen von allem, was ich
23763 ihr von unserm Heim schildern mußte. Ihr gehört dieses Wunder von
23764 einem Luftschiff.“
23766 La sah dem geliebten Mann in die Augen.
23768 „Uns beiden!“ sagte sie dann.
23770 „Du willst? Du willst es wirklich?“ rief Saltner jubelnd und schloß
23771 sie in seine Arme. Doch wie in einem tiefen Schreck verstummte er
23772 plötzlich. „Aber ich bin ein Mensch“, sagte er tonlos.
23774 „Sei, was du willst, ich bin dein, deine La.“
23776 Er blickte auf die Herrliche, Königliche, deren Blick wie bittend
23777 zu ihm aufgeschlagen war. Er wußte nicht, was mit ihm vorging. Der
23778 plötzliche Übergang von der Verzweiflung zum höchsten Glück, von
23779 der Not zur Sicherheit, vom Unerreichbaren zum Wirklichen verwirrte
23780 ihn. Er schüttelte den Kopf, und sein Antlitz strahlte dabei von
23781 Freude.
23783 „Ich weiß ja nicht, was ich bin, wer ich bin, wo ich bin. Ich weiß
23784 nur, daß ich namenlos glücklich bin. Schau, Mutter, das ist sie,
23785 die ich liebe, der ich alles verdanke. Ich weiß nicht, wie man das
23786 bei euch auf dem Mars macht, wenn man eine Frau haben will, und es
23787 ist mir auch ganz egal, und du bist halt die La! Da, Mutter, gib
23788 ihr einen Kuß, ich muß einmal einen Juchzer tun.“
23790 Und mit einem Sprung war er aus dem Zimmer, und während die alte
23791 Frau ihre Hände zitternd auf das von Liebe und Schönheit strahlende
23792 Haupt der glücklichen Nume legte, schallte draußen ein Jodler laut
23793 und jubelnd zu den Bergen empor, und das Echo der Felsen gab ihn
23794 zurück – –
23796 \section{56 - Selbsthilfe}
23798 Kaum war der Widerhall verklungen, als noch eine andere,
23799 unerwartete Antwort ertönte. „Holla! Wer da?“ Die Grenzjäger traten
23800 aus dem Wald. Sie waren nicht wenig erstaunt, hier Saltner und
23801 Palaoro auf dem Verdeck des fremden Schiffes zu sehen.
23803 „Grüß Gott, Herr Saltner“, rief Pitzthaler, sich auf sein Gewehr
23804 lehnend. „Da sind’s wohl gar schon gefangen?“
23806 „Das bin ich schon“, rief Saltner lustig. „Es tut aber nichts. Es
23807 ist ganz schön hier.“
23809 „Aber um die Belohnung haben’s mich gebracht. Es sind hundert
23810 Gulden ausgesetzt.“
23812 „Darum sollt Ihr nicht kommen. Da habt’s an Hunderter, und da noch
23813 einen.“ Die Scheine flatterten hinab.
23815 Von innen rief eine Stimme: „Wollen die Herren ins Schiff kommen?
23816 Wir werden bald aufsteigen.“
23818 Saltner und Palaoro verschwanden. Die Luken schlossen sich.
23820 La zog Saltner in den Salon. „Du sollst deine La sehen“, sagte sie,
23821 sich an ihn schmiegend, „die fliegende und die wandelnde, denn
23822 beide haben ihren Herren gefunden.“
23824 Er blickte um sich, und von dem zarten Schmuck der Wände, von dem
23825 Reichtum der Ausstattung schweiften seine Blicke nach der wonnigen
23826 Gestalt, die ihn umschlungen hielt.
23828 „Es ist ein Märchen“, sagte er. „Eine Fee hat mich in ihr
23829 Zauberschloß geführt, und ich wundre mich über nichts mehr. Und ich
23830 würde es nicht glauben, wenn ich nicht diese Lippen – –“
23832 „Glaubst du es nun?“ fragte La, sich endlich aus seiner Umarmung
23833 lösend.
23835 „Was du willst. Aber ich habe dich so unendlich viel zu fragen. Wie
23836 konntest du mich finden? Wie kamst du auf diese Stelle? Wie kamst
23837 du überhaupt zu diesem Schiff? Und zu diesem Menschen? Und doch
23838 habe ich noch keine Ruhe. Die Mutter wird sich ängstigen, sie ist
23839 noch nie in einem Luftschiff aufgestiegen. Ich glaube, wir müssen
23840 zu ihr gehen.“
23842 „Sei ganz ruhig. Ich verließ sie, die Hände auf dem Schoß gefaltet,
23843 mit geschlossenen Augen im Lehnstuhl liegend. Ich schob den
23844 Fenstervorhang vor und schickte die Magd zu ihr. Sie wird jetzt
23845 schlafen und merkt nichts von der Fahrt. Doch ich will schnell
23846 sehen.“
23848 Im Augenblick war sie zur Tür geschlüpft und wieder zurück.
23850 „Sie schläft“, sagte sie. „Und nun kannst du fragen. Doch ich will
23851 es dir sagen.“
23853 Und sie begann zu erzählen, von ihrem Kampf mit sich selbst, von
23854 ihrem Entschluß, von ihrer Prüfungsreise auf der Erde – und
23855 inzwischen löste sich das Schiff von seinem Lager, langsam sanken
23856 die Felswände hinab, heller strahlte die Sonne –
23858 „Wir steigen“, sagte La, sich unterbrechend.
23860 „Und sieh“, rief Saltner, „das Nächstliegende hab ich vergessen in
23861 der Überraschung, dich zu haben. Was hast du mit dem Schiff des
23862 Unterkultors abgemacht? Was tust du jetzt, wenn sie von dir unsere
23863 Auslieferung verlangen? Wie kannst du überhaupt uns befreien?“
23865 „Sie riefen mich an, als ich hierherkam, weil sie wußten, daß ich
23866 deinen Zug und die Verfolgung gesehen hatte, und verlangten durch
23867 Signale, daß ich sie unterstützen sollte. Ich ging darauf ein, um
23868 bei der Hand zu sein, und besetzte den unteren Ausgang. Ich dachte
23869 mir, daß du hier herabkommen würdest, wenn der Weg oben versperrt
23870 ist. Und so hab ich dich gefangen. Aber ans Ausliefern denke ich
23871 nicht, wenn du – du – bei mir bleiben willst.“
23873 „Und wenn sie dich zwingen? Das Gesetz ist auf ihrer Seite.“
23875 „Gesetz gegen Gesetz – wenn du willst, wenn du bestimmst, daß ich
23876 dein bin und du mein nach dem Gesetz der Numenheit – dann darf ich
23877 dir das Geheimnis sagen des unverletzlichen Asyls. Doch wisse, du
23878 darfst es nur bestimmen, wenn es dein freier Wille ist, um deinet-
23879 und meinetwillen, nicht aber um deiner Rettung willen. Darum darfst
23880 du nicht sorgen; ich rette dich vor jeder Gefahr, auch wenn du frei
23881 bleiben willst ohne mich – ich muß es dir sagen, damit kein fremder
23882 Gedanke, keine Sorge dich beeinflußt. Dieses Schiff ist das
23883 schnellste das je gebaut worden. Niemand kann es einholen. Ich
23884 bringe dich mit der Mutter hinüber über den Ozean, wo du sicher
23885 bist, und auch auf den Unterhalt brauchst du nicht zu denken. Denn
23886 ich bin nicht zur Erde gekommen, um Freiheit aufzuheben, sondern
23887 Freiheit zu bringen, dir und mir.“
23889 Er hatte ihr zugehört, den Blick tief in ihre Augen versenkt und
23890 ihre Hände in den seinen haltend, und dann antwortete er:
23892 „Ich weiß nicht, ob ich alles verstehe, aber wenn’s darauf
23893 hinauskommt, ob es mein freier Wille ist, daß du mein Weib sein
23894 sollst –. O La, die du das getan hast, von der Höhe deines Nu
23895 herabzusteigen zu diesem Jammertal, um diesem Menschen das Leben
23896 zurückzugeben –. Wie kannst du das fragen, meine La, mein Glück und
23897 mein alles – freilich will ich’s, bestimm’ ich’s, ich, Josef
23898 Saltner, so wahr ich hier sitze und dich in meine Arme ziehe, ich
23899 will’s.“
23901 „Und ich“, sagte La feierlich, „auch ich will. Und nun ist es
23902 Gesetz, und ich bin dein. Und damit du es beweisen kannst, so komm,
23903 Ohr an Mund, und höre, was niemand wissen darf, außer uns beiden.“
23905 Sie flüsterte in sein Ohr, und dann barg sie das Gesicht an seiner
23906 Schulter.
23908 Da klopfte es am Telephon.
23910 „Das ist der Schiffer“, sagte La. Sie warf einen Blick aus dem
23911 Fenster. „Ah, dort ist das Regierungsschiff. Laß uns hören.“
23913 Als sich der Unterkultor überzeugt hatte, daß Saltner mit seiner
23914 Begleitung unter Zurücklassung des Tragstuhls und Gepäcks in die
23915 Schlucht hinabgestiegen war und somit entweder den Feldjägern oder
23916 dem von ihm zu Hilfe gezogenen Luftschiff nicht entgehen konnte,
23917 begab er sich mit seinen Beds wieder nach seinem Schiff zurück.
23918 Sobald Las Schiff über der Berglehne erschien, signalisierte er
23919 ihm, daß es sich zu ihm begeben solle, um die Gefangenen, die er
23920 dort vermutete, an ihn auszuliefern. La wollte sich dieser
23921 gesetzlich begründeten Forderung nicht entziehen und ließ daher ihr
23922 Schiff in der Nähe des Kultorschiffes sich niedersenken.
23923 Unmittelbar darauf erschien der Beamte selbst an Bord der ›La‹ und
23924 wurde vom Schiffer in den Salon gewiesen, in welchem er La und
23925 Saltner fand.
23927 Der Unterkultor war ein vornehmer Mann mit entschiedenem Wesen.
23928 Ohne Saltner weiter zu beachten, begrüßte er La höflich und sagte,
23929 daß er den Kommandierenden des Schiffes zu sprechen wünsche.
23931 „Er steht vor Ihnen“, sagte La, ihn mit ruhiger Würde anblickend.
23932 „Ich war bis vorhin Besitzerin dieser Privatyacht, habe aber jetzt
23933 das Eigentum und das Kommando derselben abgetreten an meinen
23934 Gemahl, Josef Saltner, dessen Name Ihnen bekannt ist und den ich
23935 mir hiermit vorzustellen erlaube.“
23937 Der Beamte machte eine Bewegung des Unwillens und der Überraschung.
23938 Seine Augen wanderten prüfend über La und Saltner. Dann sagte er
23939 kühl: „Die Höflichkeit verbietet mir, Zweifel in Ihre Worte zu
23940 setzen. Doch muß ich Sie bitten, mir die Papiere des Schiffes und
23941 Ihre eigene Legitimation vorzuweisen.“
23943 La trat an den Wandschrank und reichte ihm die Papiere, die er
23944 sorgfältig prüfte. Sie enthielten die Schenkungsurkunde Frus über
23945 die Luftyacht ›La‹, die zu Las vollkommen freier Verfügung gestellt
23946 war; ferner einen Freipaß vom Verkehrsministerium des Mars, gültig
23947 für das ganze Sonnensystem und bestätigt für die Erde von Ill, dem
23948 Protektor der Erde, und alles, was für die Legitimation Las
23949 erforderlich war.
23951 Der Beamte gab die Papiere ehrfurchtsvoll zurück.
23953 „Die Legitimation ist unanfechtbar“, sagte er. „Ich freue mich, in
23954 Ihnen die Tochter eines Mannes begrüßen zu können, dessen
23955 technischer Tätigkeit bei der Besitzergreifung der Erde wir zu so
23956 großem Dank verpflichtet sind. Doch“, setzte er sehr ernst hinzu,
23957 „ich habe, wie Sie hier sehen, den Auftrag von den Residenten der
23958 europäischen Staaten, aufgrund der gesetzmäßig geführten
23959 Untersuchung, Josef Saltner von Bozen nebst seiner Mutter Marie und
23960 der Magd Katharina Wackner zu verhaften. Es ist nichts darüber
23961 bekannt, noch aus Ihren Papieren zu entnehmen, daß Saltner ihr
23962 Gemahl sei; auch kann weder dieser Umstand, der überdies zu
23963 beweisen wäre, noch der Aufenthalt auf diesem Schiff die Verhaftung
23964 aufheben oder verhindern. Ich bedauere daher, dazuschreiten zu
23965 müssen –“
23967 Er wandte sich zu Saltner, der an der gegenüberliegenden Wand des
23968 Salons stand, und wollte auf ihn zuschreiten, um ihn zum Zeichen
23969 der Verhaftung zu berühren. Doch La trat dazwischen, und auf einen
23970 Wink von ihr flüsterte Saltner einige leise Worte gegen ein kleines
23971 Schild, das rosettenartig in der Wand angebracht war. Sofort wich
23972 die Wand an dieser Stelle auseinander und schloß sich wieder hinter
23973 ihm.
23975 „Die Verhaftung ist jetzt nicht mehr möglich“, sagte La.
23977 Der Beamte warf einen finsteren Blick auf sie. „Ich muß Sie
23978 bitten“, sprach er, „mir dieses Zimmer zu öffnen, oder ich müßte
23979 die Öffnung erzwingen.“
23981 La blickte ihn stolz an.
23983 „Das werden Sie niemals wagen“, rief sie. „Haben Sie nicht gesehen,
23984 daß die Tür eine akustische ist, die sich nur auf das Losungswort
23985 öffnet? Und wenn ich Ihnen sage, daß dieses Wort niemand wissen
23986 darf, außer mir und – ihm? Werden Sie nun glauben, wer er ist?“
23988 „So ist es“, rief der Unterkultor zurückweichend, „das ist – Ihr
23989 –“
23991 „Mein Zimmer.“
23993 „Dann allerdings. Der Beweis ist geführt. Dieser Raum ist
23994 unverletzlich.“
23996 Er lächelte gezwungen.
23998 „Und ich glaube, unsere Unterhandlungen sind damit erledigt“, sagte
23999 La kalt.
24001 „Nicht ganz“, erwiderte der Beamte nach kurzem Schweigen. „Doch
24002 fürchten Sie nicht, daß ich Sie aufhalte. Geben Sie nur Auftrag,
24003 mich zu Frau Saltner und ihrer Magd zu führen. Diese Personen
24004 können Sie nicht schützen.“
24006 La wollte entrüstet erwidern. Doch erschrocken hielt sie inne.
24007 Jetzt war das Gesetz auf seiner Seite. Sie stand stumm.
24009 „Sie werden sich nicht weigern“, sagte er.
24011 „Und wenn ich es tue?“
24013 „So muß ich Gewalt gebrauchen. Ich werde das Schiff durchsuchen
24014 lassen.“
24016 Er schritt nach der Tür, um die Beds zu rufen, die vor dem Schiff
24017 auf seine Befehle warteten. Zu diesem Zweck mußte er auf das
24018 Verdeck steigen, von wo die Landungstreppe nach außen ging.
24020 La klopfte das Herz. Was sollte sie tun? Bis jetzt hatte sie die
24021 Gesetze nicht verletzt. Aber wie sollte sie die Mutter schützen?
24023 \tb{}
24024 Da öffnete sich die Tür ihres Zimmers. Saltner stand neben ihr.
24025 Rasche Worte bestätigten die Vermutung, die ihn ohne Rücksicht auf
24026 seine Sicherheit herausgetrieben hatte, um La und der Mutter zu
24027 Hilfe zu eilen.
24029 „Wir werfen die Leute hinaus!“ rief er.
24031 „Beim Nu, ich bitte dich, das dürfen wir nicht.“
24033 „Warum nicht? Ich darf mich ja doch nicht mehr hier sehen lassen.“
24035 „Aber Gewalt, das ist etwas anderes. Es versperrt uns die Rückkehr
24036 zum Nu, es beraubt dich deines Bürgerrechts.“
24038 „Und doch sehe ich keinen andern Ausweg. Den Nu oder mich! Wenn der
24039 Mann nicht freiwillig geht, wirst du wählen müssen.“
24041 La blickte ihn an, die Hände zusammenpressend. Dann warf sie die
24042 Arme um seinen Hals.
24044 „Dich, dich!“ rief sie.
24046 „Habe ich das Kommando?“
24048 „Ja, ja.“
24050 Saltner sprang dem Beamten nach. La folgte pochenden Herzens. Der
24051 Unterkultor stand auf dem Verdeck, er winkte den Beds.
24053 „Wie wird die Treppe aufgezogen?“ fragte Saltner La hastig.
24055 „Vom Steuerraum aus automatisch.“
24057 „Sage dem Schiffer, daß er sich bereithält. Hoffentlich verläßt der
24058 Kultor das Schiff. Wenn nicht, bleibt doch nichts übrig, als ihn
24059 hinauszuwerfen.“
24061 „Sal – er ist bewaffnet – ich bitte dich –“
24063 Leise stieg Saltner die Treppe zum Verdeck hinauf.
24065 Die Beds hatten nicht sogleich die Winke des Beamten bemerkt, weil
24066 sie ihre Aufmerksamkeit nach der entgegengesetzten Seite in die
24067 Luft gerichtet hatten. Dort zeigte sich in großer Höhe von Südosten
24068 her ein dunkler Punkt, das andre Schiff der Martier, das jetzt die
24069 beiden Schiffe auf dem Bergrücken bemerkt hatte und, ohne sich zu
24070 übereilen, auf sie zuhielt. Es war ein Stationsschiff aus Rom,
24071 eines jener großen und furchtbar schnellen Kriegsschiffe, mit allen
24072 Waffen ausgerüstet, wie sie in den Hauptstädten der Erde den
24073 obersten Beamten zur Erhöhung der Autorität des Nu beigegeben
24074 waren.
24076 Ein paar rasche Schritte brachten Saltner hinter den Kultor. Dieser
24077 wandte sich nach ihm um, aber in demselben Augenblick hatte Saltner
24078 ihm mit einem raschen Griff den Telelytrevolver aus der Tasche
24079 gerissen und ihn weit hinweggeschleudert.
24081 „Was wagen Sie?“ rief der Kultor. „ich verhafte Sie –“
24083 „Bedaure sehr – verlassen Sie sofort das Schiff, wenn Sie nicht
24084 eine unfreiwillige Spazierfahrt machen wollen –“
24086 Auf den Ruf des Kultors waren die Beds aufmerksam geworden, sie
24087 blickten her. Saltner durfte ihnen keine Zeit lassen, sich mit dem
24088 Kultor zu verständigen, denn wenn sie von ihren Telelytwaffen
24089 Gebrauch machten, war er verloren. Er kommandierte: „Die Treppe
24090 herauf! Aufsteigen! Schnell!“
24092 Im Augenblick schlug sich die Treppe in die Höhe und schob sich auf
24093 dem Verdeck ineinander, während das Schiff in die Höhe schoß. Die
24094 Beds sahen ihm erstaunt nach, wußten aber nicht, was sie tun
24095 sollten, da Palaoro gleichzeitig auf einen Wink Saltners den Kultor
24096 ins Innere des Schiffes gezogen hatte. Sein Protest wurde nicht
24097 beachtet.
24099 „Was machen wir mit dem Mann?“ sagte Saltner. „Wir wollen ihn doch
24100 nicht mitschleppen. Dort hinter dem Felsvorsprung können uns die
24101 Beds und das kleine Schiff nicht sehen. Dort setzen wir ihn ab. Mag
24102 er schauen, wie er heimkommt.“ Saltner erteilte dem Schiffer die
24103 nötigen Befehle. Nach zwei Minuten lag das Schiff wieder still.
24105 Der Kultor stieg in stummem Ingrimm die Schiffstreppe hinab, die
24106 sich sofort wieder hob.
24108 „Nehmen Sie’s nicht übel, Herr Kultor“, rief ihm Saltner nach.
24109 „Aber es ging nicht anders. Habe die Ehre.“
24111 Der Kultor wandte sich um. „Ich warne Sie“, rief er wütend.
24112 „Ergeben Sie sich noch jetzt. Ich lasse Sie sonst rücksichtslos
24113 durch das Kriegsschiff verfolgen und vernichten.“
24115 „Tut mir leid“, antwortete Saltner. „Muß jetzt notwendig auf meine
24116 Hochzeitsreise. B’hüt euch Gott.“
24118 Man konnte nicht mehr verstehen, was der Kultor erwiderte, die ›La‹
24119 war schon wieder zu hoch gestiegen. Aber man sah, daß das
24120 Kriegsschiff auf den Ort zuhielt, wo es den Kultor bemerkt hatte,
24121 der ihm mit den Armen winkte. Auch das kleinere Schiff erschien
24122 jetzt.
24124 La war neben Saltner getreten. „Komm herab“, sagte sie,
24126 „wir müssen die Luken schließen und uns beeilen. Das Schiff dort
24127 ist ein schnelles Kriegsschiff, wir können ihm nur durch
24128 schleunigste Flucht entgehen.“
24130 Saltner warf einen Blick zurück, dann umfaßte er La und sprang, sie
24131 in die Höhe hebend, die Treppe hinab, auf der jetzt Marsschwere
24132 herrschte.
24134 „Wenn wir ausreißen müssen, so übernimm du wieder den Oberbefehl.
24135 Ich weiß ohnehin nicht, wohin wir eigentlich wollen.“
24137 „Die Luken zu!“ befahl La. „Volle Diabarie!“
24139 Die ›La‹ schoß senkrecht in die Höhe. Schnell war sie bedeutend
24140 höher als das niedrig schwebende Kriegsschiff. Aber dieses erhob
24141 sich jetzt schräg und gewann, da es in voller Fahrt war, bald einen
24142 Vorsprung nach Norden. Es kehrte nun in einem Bogen zurück, um der
24143 ›La‹ den Weg abzuschneiden. Es hatte gar nicht angelegt, um den
24144 Kultor aufzunehmen, da inzwischen dessen eigenes Schiff
24145 eingetroffen war, von dem aus er sich mit dem Kriegsschiff durch
24146 Signale verständigte.
24148 Die ›La‹ stieg weiter kerzengerade empor, während das Kriegsschiff
24149 ihr in immer engeren Spiralen folgte. Der Horizont erweiterte sich
24150 schnell, schon lagen die Bergriesen der Alpen tief unten, die
24151 Eishäupter der Ortlergruppe erschienen als flache Schneehügel; im
24152 Norden und Süden tauchten die Ebenen auf und verschwammen mit der
24153 Luft des Himmels. Palaoro war bei dem zweiten Schiffer im
24154 Steuerraum. In den drei Räumen, in denen sich Menschen befanden,
24155 wurden die Sauerstoffapparate in Tätigkeit gesetzt, um die Luft
24156 atembar zu erhalten. Die Höhe von zwölf Kilometern war erreicht.
24157 Fern im Westen schien der Himmel von Wolken bedeckt zu sein. „Dort
24158 müssen wir hin“, sagte La. „Im Nebel können wir die Richtung
24159 ändern, ohne daß es bemerkt wird. Wir müßten sonst vielleicht die
24160 Flucht so weit fortsetzen, bis wir in den Erdschatten kommen, und
24161 das führt uns zu weit vom Ziel ab.“
24163 „Und welches ist das Ziel?“
24165 „Berlin.“
24167 „Aber La?“
24169 „Du sollst alles hören. Erst aber wollen wir einmal sehen, ob das
24170 Kriegsschiff uns nachkommen kann. Richtung nach West! Voll
24171 Repulsit!“ sagte sie zum Schiffer.
24173 Das Schiff wandte seine Spitze nach Westen mit einer sanften
24174 Neigung nach oben. Der Reaktionsapparat wirkte. Es sauste durch den
24175 luftverdünnten Raum. Die Geschwindigkeit steigerte sich allmählich
24176 auf 400 Meter in der Sekunde.
24178 Das Kriegsschiff war der ›La‹ gefolgt. Sobald es erkannt hatte, in
24179 welcher Richtung die ›La‹ zu entkommen suchte, schlug es
24180 ebendieselbe ein. Aber nun zeigte sich die Überlegenheit der Yacht.
24181 Die Entfernung von dem Verfolger wuchs schnell. Nach fünfundzwanzig
24182 Minuten hatte das Schiff einen Weg von 600 Kilometern zurückgelegt.
24183 Von der Erde erblickte man nichts, eine dichte Wolkendecke lagerte
24184 hier unten. Das Kriegsschiff war nur noch als ein Punkt zu
24185 erkennen. Nach weiteren fünf Minuten umhüllten Wolken die Yacht.
24186 Alsbald wurde der Lauf gemäßigt. „Wenden Sie sofort“, sagte La zum
24187 Schiffer, „und benutzen Sie die Wolken soweit wie möglich nach
24188 Nordost. Kommen wir aus den Wolken heraus, und ist dann das
24189 Kriegsschiff nicht mehr sichtbar, so fahren Sie so schnell wie
24190 möglich nach Berlin. Dort wird man uns zunächst auf keinen Fall
24191 suchen.“
24193 „Das scheint mir doch fraglich“, sagte Saltner. „Sobald das
24194 Kriegsschiff sieht, daß wir ihm entkommen, wird es nach der
24195 nächsten Stadt hinabgehen und nach allen Richtungen telegraphieren.
24196 Man wird uns, wo wir hingelangen, sofort erkennen.
24198 Es wird wohl also nichts übrig bleiben, als bis über Europa
24199 hinauszugehen.“
24201 „Das ist wahr. Wir können erst in der Dunkelheit nach Berlin. Aber
24202 wo bleiben wir so lange? Wir wollen doch nicht immerfort hier in
24203 den Wolken herumfahren?“
24205 „Warum willst du nicht sogleich nach Amerika?“
24207 „Ich werde es dir dann erklären.“
24209 „Wo sind wir denn eigentlich?“
24211 „Wir müssen mitten in Frankreich sein. Wir wollen hinab und uns
24212 einmal umsehen.“
24214 „Dann laß uns doch lieber nach irgendeinem abgelegenen Gebirge
24215 gehen, wo es einsam ist und so bald keine Nachrichten hinkommen,
24216 dort können wir warten, bis es Zeit ist, nach Berlin zu reisen.“
24218 „Du hast recht. Fahren Sie also weiter nach Südwest, mit mäßiger
24219 Geschwindigkeit, und suchen Sie auf den Pyrenäen einen guten
24220 Landeplatz. Dort warten wir bis gegen Abend. Dann gelangen wir
24221 gerade zur rechten Zeit nach Berlin. Und jetzt komm! Wir wollen
24222 einmal nach der Mutter sehen, und dann – ich habe dir noch soviel
24223 zu erzählen. Und es ist auch noch jemand hier, den du begrüßen
24224 mußt.“
24226 Se trat ihnen im Salon entgegen.
24228 „Sind wir endlich in Sicherheit?“ fragte sie. Und Saltner die Hand
24229 reichend, fuhr sie lächelnd fort: „Sobald man mit Ihnen
24230 zusammenkommt, ist man seines Lebens nicht sicher.“
24232 „Seien Sie mir nicht böse. Ich werde von nun ab ganz vernünftig
24233 werden.“
24235 „Bei soviel Glück?“
24237 „Ja, es macht mich bescheiden.“
24239 \section{57 - Das Spiel verloren}
24241 Die letzte Woche war für Ell im höchsten Grad aufregend gewesen. Er
24242 arbeitete von früh bis spät in die Nacht und konnte doch die Last
24243 verantwortungsvoller Entscheidungen nicht bewältigen, die ihn
24244 bedrückte und seine ganze Tatkraft in Anspruch nahm. Er fühlte, wie
24245 eine nervöse Abspannung sich seiner bemächtigte, deren er nicht
24246 Herr zu werden vermochte. Selbst zu einem Besuch bei Isma, nach
24247 welchem er sich sehnte, hatte er noch nicht Zeit finden können.
24249 Die Übergriffe der Beamten hatten sich wiederholt. Es war nicht
24250 immer ein krankhafter Zustand, ausgesprochener Erdkoller, wie bei
24251 Oß, der dazu Veranlassung gab, sondern eine schärfere Tonart begann
24252 Platz zu greifen, die leicht zu Konflikten führte. Und dies kam
24253 daher, daß die auf der Erde angestellten Nume eine starke Partei
24254 auf dem Mars hinter sich wußten. Die Antibaten, welche auf ein
24255 härteres und entschiedeneres Vorgehen gegen die Menschen als eine
24256 untergeordnete und nur durch Gewalt zu zügelnde Rasse drangen,
24257 hatten im Parlament wie im Zentralrat an Einfluß gewonnen. Ells
24258 Tätigkeit bot ihnen einen willkommenen Angriffspunkt, auf den sie
24259 zunächst ihre Kräfte richteten. Die Strenge, mit welcher Ell jedem
24260 Übergriff der Instruktoren und Beamten entgegentrat, wurde in der
24261 Presse in übertriebener Weise erörtert und als eine
24262 Voreingenommenheit für die Menschen hingestellt und getadelt. Die
24263 Absetzung von Oß, die sofort nach der vom Wiener Unterkultor
24264 vorgenommenen Untersuchung verfügt worden war, wurde besonders
24265 aufgebauscht, da Oß eine angesehene und als Techniker um den Staat
24266 verdiente Persönlichkeit war. Schon daß sich Saltner durch die
24267 Flucht auf die Berge der Strafe entzogen hatte, war als ein Zeichen
24268 von Nachlässigkeit gedeutet und Ell zum Vorwurf gemacht worden.
24269 Unter diesem Druck, auf den Ell nicht Rücksicht nehmen wollte,
24270 hatte der italienische Kultor das Kriegsschiff zur Verfügung
24271 gestellt, um Saltner aufzusuchen.
24273 Die gegen die Menschen gerichtete Strömung auf dem Mars war ja
24274 nichts Neues. Ell hatte stets mit ihr rechnen müssen, und er hatte
24275 ihr Anwachsen mit Besorgnis verfolgt. Doch vertraute er fest auf
24276 die Macht der Vernunft in den Numen und die Reinheit seiner eigenen
24277 Absichten, und in diesem Glauben hatte ihn Isma aus innerstem
24278 Herzen bestärkt. Jetzt aber begannen die direkten Angriffe auf ihn
24279 offener hervorzutreten, und er hatte zu seinen übrigen Arbeiten
24280 seine Verteidigung in der Presse zu führen. Ein lebhafter Wechsel
24281 von Lichtdepeschen, die alle über den Nordpol nach dem Mars gingen,
24282 fand zwischen Berlin und Kla statt.
24284 Aber ganz ohne Einfluß auf Ell war dieser vom Mars, das heißt von
24285 einem Teil seiner Bevölkerung ausgeübte Druck doch nicht geblieben.
24286 Er sah sich veranlaßt, die ihm zu Gebote stehenden Machtmittel
24287 rücksichtsloser zu gebrauchen, und je mehr ihn das Mißverständnis
24288 und der Tadel seiner Handlungen verdroß, um so mehr gewöhnte er
24289 sich, auf seine eigenen Entscheidungen und Entschlüsse zu vertrauen
24290 und jede anderweitige Beratung abzulehnen. Mit Erschrecken sagte er
24291 sich zuweilen im stillen, daß die Furcht, er werde dahin kommen,
24292 sein Kultoramt in autokratischer Weise zu handhaben, nicht
24293 unberechtigt sei. Und immer wieder nahm er sich vor, unter keinen
24294 Umständen sich dazu drängen zu lassen, als Selbstherrscher zu
24295 verfahren oder den antibatischen Forderungen nachzugeben.
24297 \tb{}
24298 Der einflußreichste Teil der Martier ging ja, wie bei der
24299 Besitznahme, so auch bei der Behandlung der Erde von rein idealem
24300 Gesichtspunkt aus. Die Kultur des Mars, den Geist der Numenheit auf
24301 der Erde zu verbreiten, war ihr Ziel; eine Beherrschung der
24302 Menschheit, soweit sie notwendig schien, nur ein vorübergehendes
24303 Mittel, eine Art notwendigen Übels. Aber gerade hier verstimmte es
24304 vielfach, daß die Menschen im großen und ganzen so wenig
24305 Entgegenkommen und Verständnis für das zeigten, was die Martier
24306 ihnen bringen wollten. Man erkannte wohl Ells Tätigkeit in gewisser
24307 Hinsicht an, aber man hielt seinen Weg doch für etwas umständlich.
24308 Die Hebung der Bildung konnte natürlich nur allmählich geschehen,
24309 und sie war die notwendige Vorbedingung für das Gelingen des
24310 zivilisatorischen Werkes, das die Nume an der Erde ausführen
24311 wollten. Aber man meinte, daß eine entschiedenere Wegräumung der
24312 Hindernisse hinzukommen müsse. Ein solches Hindernis sah man in
24313 Deutschland noch immer vor allem in der politischen Übermacht der
24314 reaktionären Parteien. Man verlangte einen entschiedenen Bruch mit
24315 den oligarchischen Traditionen, die sich von dem Gedanken einer
24316 bevorzugten und herrschenden Klasse nicht trennen konnten. Man
24317 wünschte hier ein entschiedenes Vorgehen, das aber wieder ohne
24318 Anwendung von Gewaltmaßregeln, die Ell verhüten wollte, nicht
24319 möglich gewesen wäre.
24321 Ein weiterer Grund zur Unzufriedenheit, der sich allerdings gegen
24322 die Regierung der Zentralstaaten selbst und gegen Ill als den
24323 Protektor der Erde wendete, war die bisherige Beschränkung der
24324 Kulturtätigkeit auf die westeuropäischen Staaten. Man verlangte die
24325 effektive Ausdehnung des Protektorats auf die ganze Erde, vor allem
24326 die Einbeziehung Rußlands und der Vereinigten Staaten von
24327 Nordamerika. Ill sah voraus, daß dies zu neuen schweren Kämpfen
24328 geführt hätte; er hoffte, sie zu vermeiden, wenn man es der Zeit
24329 überließ, von selbst den Einfluß zu gewinnen, der bei der
24330 kulturellen Überlegenheit der Martier auf die Dauer nicht
24331 ausbleiben konnte. Aber diese weise Zögerung hatte doch zur Folge,
24332 ungeduldigere Köpfe der antibatischen Strömung zuzuführen. Ihre
24333 hauptsächliche Kraft indessen zog die Partei der Antibaten aus dem
24334 Teil der Bevölkerung, in welchem die idealen Kulturziele von
24335 eigennützigen Absichten getrübt waren. Zwar hatte man auf dem Mars
24336 geglaubt, für immer der Gefahr enthoben zu sein, daß der reine
24337 Wille der Vernunft zum Guten in Kampf geraten könne mit
24338 selbstischen Interessen, mit dem Bestreben, wenn auch nicht für den
24339 einzelnen, so doch für den Staat, Vorteile auf Kosten der
24340 Gerechtigkeit gegen alles Lebendige zu gewinnen. Aber sobald mit
24341 der Erschließung der Erde das Gefühl der Macht und die Möglichkeit
24342 sich eingestellt hatte, Wesen, die man nicht für seinesgleichen
24343 hielt, auszubeuten, erhoben sich in den weniger hochstehenden
24344 Elementen der Bevölkerung, an denen es nicht fehlte, wieder jene
24345 niederen Instinkte eines unter dem schönen Namen des Patriotismus
24346 sich verbergenden Egoismus. Man erklärte es für eine nationale
24347 Pflicht des Martiers, von der Erde alles zu gewinnen, was das
24348 wirtschaftliche Interesse des Mars irgend daraus ziehen konnte. Mit
24349 einem Worte, was man wollte, war nichts anderes als die Erhöhung
24350 der Revenuen des Mars, aber nicht bloß durch den berechtigten
24351 Handelsverkehr, sondern durch die direkte Arbeit der Menschen für
24352 die Martier. Zwar hatte man schon bedeutende Energiemengen von der
24353 Erde bezogen durch Anlegung von Strahlungsfeldern in Tibet, in
24354 Arabien und in den äquatorialen Gegenden von Afrika. Aber diese
24355 wurden von martischen Gesellschaften auf ihre Kosten, obwohl mit
24356 hohem Gewinn, betrieben. Man wollte jedoch von Staats wegen zur
24357 Erhöhung der Privatrente aller Bürger eine Besteuerung der
24358 Menschen, um diese zu größerer Arbeit im Sinne der Martier zu
24359 zwingen. Man führte aus, daß die Menschen bei ihrer natürlichen
24360 Indolenz nur dann dazu gebracht werden könnten, sich die Technik
24361 der Martier und damit ihre Kultur anzueignen, wenn man sie durch
24362 eine hohe Steuer veranlasse, die von der Sonne ihnen zuströmende
24363 Energie unter Anleitung der Martier auch wirklich auszunutzen.
24365 Auf Grund dieser populären Erwägung wollte jetzt die
24366 Antibatenpartei ihren ersten größeren Schlag führen. Er sollte, wie
24367 sich wenigstens die Entschiedenen sagten, nur die Vorbereitung
24368 sein, um die den Menschen zugesprochenen Rechte sittlicher
24369 Persönlichkeiten überhaupt in Zweifel zu stellen und schließlich
24370 aufzuheben. Die Erde sollte zu einer Werkstatt für die Erhaltung
24371 des Mars durch eine Riesenrente erniedrigt werden. Diese letzten
24372 Gesichtspunkte wurden zwar noch verschleiert, aber die Gegner
24373 enthüllten sie in ihrer ganzen Unsittlichkeit und Torheit, ohne
24374 doch die Anhänger einer Besteuerung der Menschen überzeugen zu
24375 können, welche schiefe Bahn sie zu beschreiten im Begriff waren.
24377 Gestern hatte Ell die Nachricht erhalten, daß der Antrag
24378 eingebracht worden war – und nicht ohne Aussicht auf Annahme –, für
24379 die westeuropäischen Staaten eine vorläufige Jahressteuer von 5.000
24380 Millionen Mark anzusetzen, indem man anführte, daß die Hälfte davon
24381 bereits durch die Verminderung der Militärlasten gedeckt sei.
24382 Außerdem sollten von nun ab die Menschen die Kosten der martischen
24383 Verwaltung selbst tragen, was man in Rücksicht auf die zu zahlenden
24384 Schulgelder auf ebensoviel veranschlagen mußte.
24386 Ell sagte sich, daß eine solche Maßregel, wenn sie sich
24387 verwirklichen sollte, ihm die Fortführung seines Amtes unmöglich
24388 machen würde. Sein ganzes Streben war auf die Versöhnung, auf die
24389 freiwillige Anpassung der Menschen an die Kulturwelt des Mars
24390 gerichtet. Der Aufruf zur Begründung eines allgemeinen
24391 Menschenbundes, der zwar die Befreiung der Erde von der Herrschaft
24392 des Mars anstrebte, aber durch ein Mittel, das zu demselben
24393 versöhnenden Ziel führen sollte, das er ersehnte, war ihm daher
24394 willkommen. Er tat nichts, um diesen Ideen und ihrer Ausbreitung
24395 entgegenzutreten. Bei der Antibatenpartei auf dem Mars wurden
24396 jedoch die Tendenzen des Menschenbundes unter ganz anderem
24397 Gesichtspunkt betrachtet. Hier wollte man ja nicht das Kulturheil
24398 der Erde, sondern ihre Ausnutzung, und man sah daher in dem Bund
24399 eine große Gefahr, ein revolutionäres Unternehmen. Die neue
24400 Steuerlast, die man den Menschen zudachte, sollte sie belehren, daß
24401 sie auf keine freiwillige Aufgabe der Mars-Herrschaft zu rechnen
24402 hätten. Siegten die Antibaten mit ihrem Vorhaben, so mußte dies auf
24403 der Erde erneute Erbitterung hervorrufen und die Menschen über die
24404 Absichten der Nume enttäuschen. Es würde also der von Ell
24405 angestrebten Versöhnung entgegengewirkt werden, und seine eigene
24406 Arbeit wäre nicht nur in Frage gestellt, sondern es wäre damit auch
24407 sein vom Zentralrat gebilligter Plan gewissermaßen zurückgewiesen
24408 worden. Ell mußte sich die Frage vorlegen, ob er dann seine
24409 Tätigkeit noch für nutzbringend halten dürfte.
24411 Heute nun brachten ihm die neuen Zeitungen vom Mars ihn persönlich
24412 kränkende Nachricht. Man hatte ihm in einer Parlamentsrede seine
24413 Abstammung von den Menschen mütterlicherseits zum Vorwurf gemacht
24414 und die Regierung getadelt, daß sie einen Mann in eine so
24415 verantwortliche Stellung eingesetzt habe, dem man als Halb-Numen
24416 kein Vertrauen entgegenbringen könne.
24418 Ell ging entrüstet in seinem Zimmer auf und ab. Sollte er nicht
24419 diesen Leuten sein Amt vor die Füße werfen? Aber das hieße die
24420 Sache aufgeben, der er sein Leben gewidmet hatte. Durfte er nicht
24421 hoffen, wenn er selbst festhielt, doch seine Ansicht zum Sieg zu
24422 führen und Gutes auf der Erde zu wirken? Ja, wenn er sich nur
24423 selbst sicherer gefühlt hätte. Wenn nicht in jenem Vorwurf ein Kern
24424 von Wahrheit gelegen hätte! War nicht seine Heimat auf zwei
24425 Planeten, und hatte er die Kraft gehabt, im entscheidenden Moment
24426 allein der Stimme der Numenheit zu folgen, die ihn hieß, nichts
24427 anderes im Auge zu haben, als die große Aufgabe, das Verständnis
24428 der Planeten anzubahnen? Hatte er nicht als ein schwacher Mensch
24429 geschwankt in seiner Pflicht, ganz sich selbst zu vergessen um des
24430 Ganzen willen, hatte er nicht seiner Neigung Gehör gegeben und der
24431 Freundin zuliebe die Erde verlassen, wo er hätte wirken sollen?
24432 Gewiß, es war nicht seine Absicht gewesen, sich dieser Pflicht zu
24433 entziehen, äußere Umstände hatten ihn verhindert, rechtzeitig zu
24434 ihr zurückzukehren. Aber eben diesen Umständen durfte er keinen
24435 Spielraum des Zufalls gestatten, er hätte sich der Gefahr nicht
24436 aussetzen dürfen, die Pflicht zu versäumen. Das war seine Schuld.
24437 Er hatte eine Schuld auf sich geladen. Durfte er dann noch sich als
24438 den Mann betrachten, der hoch genug stand, um die Kultur zweier
24439 Planeten zu vermitteln? Durfte er sich die Kraft zutrauen,
24440 gegenüber den Angriffen von beiden Seiten die Verantwortung zu
24441 tragen und die Machtfülle nicht durch menschliche Leidenschaften zu
24442 entstellen?
24444 In solchen Gedanken wandelte sich seine Entrüstung in ernste
24445 Selbstprüfung, und immer wieder erwog er die Frage, ob er der
24446 Sache, die er durchzufechten entschlossen war, auch wohl an diesem
24447 Platz noch die rechten Dienste zu erweisen vermöge.
24449 Da wurde ihm der Unterkultor von Wien gemeldet.
24451 Als das Luftschiff Las, von dem Kriegsschiff verfolgt, den Blicken
24452 der Martier entschwunden war, hatte sich der Beamte sofort auf den
24453 Weg nach Berlin gemacht. Drei Stunden später war er dort angelangt.
24454 Er wurde sogleich vorgelassen. Empört beklagte er sich über die
24455 Behandlung, die sich Saltner gegen ihn herausgenommen, und
24456 verlangte die volle Strenge des Gesetzes gegen den Frevler, an
24457 dessen Ergreifung er nicht zweifelte.
24459 Ell glaubte seinen Ohren nicht trauen zu dürfen, so überraschte ihn
24460 das, was er hören mußte.
24462 „La?“ fragte er. „Sind Sie auch sicher, La, die Tochter von Fru,
24463 des technischen Direktors im Ministerium für Raumschiffahrt? Sie
24464 hat Saltner in aller Form für ihren Gemahl, nach dem Rechte des Nu,
24465 erklärt und ihn in ihrem Luftschiff entführt?“
24467 „Es ist kein Zweifel, die Papiere waren in Ordnung, der Beweis –
24468 wie ich ihnen sagte. Und dieser Bat wagte es, mich anzufassen, mich
24469 mit Gewalt ins Schiff hinabzuziehen, mich auszusetzen und mir
24470 höhnische Worte nachzurufen. Aber Sie werden –“
24472 „Ich werde dem Gesetz gemäß verfahren. Ich bedaure tief dieses
24473 Ereignis. Entschuldigen Sie mich jetzt, aber halten Sie sich,
24474 bitte, in der Nähe, daß ich Sie eventuell noch einmal sprechen
24475 kann, ehe Sie nach Wien zurückkehren. Ich danke Ihnen für Ihren
24476 Bericht, Sie haben Ihrerseits korrekt gehandelt, Sie konnten nicht
24477 wissen, daß das Luftschiff Freunde und Helfer Saltners barg. Sorgen
24478 Sie dafür, daß eine etwaige Nachricht von dem verfolgenden Schiff
24479 mir sogleich mitgeteilt wird.“
24481 Der Beamte hatte noch nicht die Tür erreicht, als das Signal am
24482 Depeschentisch erklang und zwei Telegramme, die mit eilig
24483 bezeichnet waren, sich auf die Platte desselben schoben.
24485 Ell riß das erste auf und rief sogleich den Unterkultor zurück.
24487 „Aus Lyon, vom Kommandanten des Kriegsschiffs“, sagte er. „Die
24488 Luftyacht ›La‹, mit unerreichbarer Geschwindigkeit fliegend, ist in
24489 einer unübersehbaren Wolkendecke verschwunden und konnte nicht mehr
24490 aufgefunden werden.“
24492 Der Beamte stand starr.
24494 „Ihrer Rückkehr nach Wien steht nun vorläufig nichts entgegen“,
24495 sagte Ell. „Das weitere werde ich veranlassen. Leben Sie wohl.“
24497 Sobald Ell allein war, ließ er sich auf seinen Stuhl sinken und
24498 stützte die Hände in den Kopf.
24500 Das hatte La getan! Er konnte es nicht begreifen. Um Saltners
24501 willen! Er sah sie vor sich, wie sie damals, als er auf dem Nu mit
24502 ihm stritt, Saltners mannhaftes Eintreten für das Vaterland mit
24503 einem Kuß belohnte, und eine Regung von Neid stieg in ihm auf, die
24504 er gewaltsam zurückdrängte. Mochte sie! Der Vorgang hatte für ihn
24505 eine ganz andere Bedeutung. Das war offne Auflehnung gegen die
24506 Herrschaft der Nume auf der Erde. Was Saltner getan hatte,
24507 freilich, das sah ihm ganz ähnlich, das mochte er selbst
24508 verantworten, ja er konnte es ihm nicht einmal verdenken. Und er
24509 hätte es ihm herzlich gegönnt, daß ihm die Flucht glücke. Gegen ihn
24510 einschreiten zu müssen, war ihm ein peinlicher Gedanke. Ja, wenn es
24511 Saltner aus eigner Kraft gelungen wäre, sich der Verfolgung zu
24512 entziehen! Aber daß es durch Las Hilfe geschehen mußte! Daß sie
24513 sich dazu hergab, den Schuldigen der Macht des Gesetzes zu
24514 entreißen! Wie konnte sie das vor sich selbst verantworten? Mag
24515 sein, daß sie sich keines ungesetzlichen Mittels bedient hatte, mag
24516 sein, daß sie glaubte, in gutem Recht bei ihrer Selbsthilfe zu
24517 handeln. Aber die Beihilfe zur Flucht war doch ein Faktum, das
24518 blieb. Und diesen Mann band sie in aller Form an sich – La, die
24519 Tochter Frus –, was mußte das wieder auf dem Mars für Aufsehen
24520 erregen! Daraus würden die Gegner Kapital schlagen. Schließlich
24521 würde man natürlich Ell verantwortlich machen, daß der Geist der
24522 Widersetzlichkeit nicht nur bei den Menschen geduldet werde,
24523 sondern sich durch die Berührung mit ihnen sogar auf die Nume
24524 fortpflanze. Und was würde La tun? Wohin wollte sie sich flüchten?
24525 Wenn sie nach dem Mars ging oder nach fremden Teilen der Erde,
24526 welch schwierige Auseinandersetzungen, Verhandlungen, neue
24527 Angriffspunkte ergaben sich da?
24529 Gab es denn heute keine Ruhe für ihn? Er mußte sie suchen. Wo? Zu
24530 Isma! Er wollte zu Isma. Er erhob sich. Da fiel sein Blick auf das
24531 zweite Telegramm. Mochte es liegen bleiben! Doch nein, das ging
24532 nicht, vielleicht war es doch wichtig. Er brach es auf. Oh, wie
24533 lang!
24535 „Kalkutta. dots{} Der Kommissar der Marsstaaten hat die Ehre zu
24536 melden, daß es geglückt ist, unzweifelhafte Spuren des gesuchten
24537 Hugo Torm aufzufinden und daß die Beweise vorliegen. Torm war der
24538 Fremde, der wiederholt in den Verhandlungen mit Tibet erwähnt wurde
24539 und sich längere Zeit in Lhasa aufgehalten hat. Es sind Leute
24540 ermittelt worden, die mit ihm die Reise nach Kalkutta gemacht haben
24541 und sich im Besitz von Gegenständen befinden, die sie von Torm
24542 erhielten. Hier konnte festgestellt werden, daß Torm am 18. oder
24543 19. August das Post-Luftschiff nach London benutzt hat. Sein
24544 gegenwärtiger Aufenthalt konnte hier nicht ermittelt werden.“
24546 Ell sank auf seinen Platz zurück.
24548 Torm lebte! Daran war nun kein Zweifel mehr möglich.
24550 Ell fühlte, wie sich ihm das Blut in den Kopf drängte, wie seine
24551 Gedanken sich verwirrten – –. Und jetzt brauchte er Klarheit,
24552 volle, nüchterne Klarheit!
24554 Warum freute er sich denn nicht? Er mußte sich doch freuen, daß der
24555 bewährte Freund, der verdiente Forscher, der Mensch überhaupt
24556 gerettet war, und vor allem, daß – –
24558 Ja, er wollte ja zu Isma. Er wollte bei ihr Ruhe suchen und Trost.
24559 Jetzt konnte er sie ihr bringen. Jetzt konnte er ihre Hände fassen
24560 und ihr sagen: „Freue dich, Isma, er lebt!“ Und er sah, wie sie die
24561 Augen aufschlug und ihn ungläubig ansah und er wieder sagte: „Er
24562 lebt“, und wie die blauen Augen sich mit Tränen füllten und sie
24563 aufschrie: „Er lebt!“, und wie sie an seine Brust sank und den Kopf
24564 an seine Schulter lehnte und schluchzte: „O mein Freund, mein
24565 Freund! Ich bin so glücklich!“ Und es war ihm, als müßte er sie von
24566 sich stoßen, und doch war es solche Seligkeit, sie an sich zu
24567 pressen und die Lippen auf ihr Haar zu drücken, und zu sehen, wie
24568 dies geliebte Wesen sich nicht zu fassen wußte im unerhofften Glück
24569 – –. Warum freute er sich denn nicht? Warum zögerte er auch nur
24570 einen Augenblick? Also vorwärts!
24572 Er stand wohl auf, er schritt auf und ab, er blieb vor dem Telephon
24573 stehen, aber er konnte sich nicht entschließen, nach dem Wagen zu
24574 rufen. Nein, er konnte sich nicht freuen, er wollte nicht! Das
24575 Glück war ihm so nahe, die erträumte Zukunft so schön – und es
24576 sollte nicht sein? Aber was war denn geschehen? Würde es nicht so
24577 sein, wie es immer gewesen war? Würde sie ihn weniger lieb haben?
24578 Würde er sie nicht sehen, so oft er wollte? Hatte er sie je anders
24579 begehrt? Wußte er nicht seit Jahren, daß sie ihm nie anders gehören
24580 würde, und war er nicht glücklich gewesen trotz alledem mit der
24581 treuen Freundin?
24583 Doch, es war anders, es war eben nicht mehr so wie früher. Er wußte
24584 es, sie selbst hatte sich frei gefühlt, sie hatte sich mit dem
24585 Gedanken vertraut gemacht, daß sie den Gatten nie wiedersehen
24586 würde, sie hatte den Schmerz durchlebt und langsam sich gewöhnt, an
24587 den Verschollenen zu denken als an einen Verlorenen. Und wenn sie
24588 je die Zukunft erwog, so sah sie einen andern neben sich. Und er,
24589 Ell, er glaubte nur zu sicher zu wissen, daß diese Zukunft ihm
24590 gehörte, zu fest hatte sich die Hoffnung in ihm gegründet, daß er
24591 sie nun bald sein nennen würde in einem andern Sinne, ganz sein. Er
24592 mochte das namenlose Glück nicht ausdenken, nur das wußte er, wie
24593 viel leichter er dann die Schwere seines Ringens und Kämpfens
24594 ertragen würde. – – Ja, es war anders geworden, er sah schon lange
24595 nicht mehr in ihr die Freundin, der er geschworen hatte zu dienen
24596 ohne Verlangen. In verzehrenden Flammen loderte in ihm die
24597 Leidenschaft, sie zu besitzen! Sie wieder zurückkehren zu sehen in
24598 die Arme eines andern – nein, es war nicht mehr möglich. Es konnte
24599 nicht mehr so sein, nimmermehr konnte er neben ihr hergehen in
24600 ehrlicher Entsagung. Wenn er jetzt die Geliebte verlor, so verlor
24601 er auch die Freundin, so hatte er sie ganz und auf immer verloren
24602 –. Dann mußte er fort, er durfte sie nicht mehr sehen – sie war ihm
24603 verloren – verloren – –
24605 Und das sollte er ertragen? Und das sollte er dulden? Und dabei
24606 wissen, daß sie ihn liebte? Wo war denn der Mann? Er war ja nicht
24607 da. Zurückgekehrt, ein Totgeglaubter, und der erste Schritt war
24608 nicht zu seiner Frau? Warum kam er nicht und nahm sein Recht in
24609 Besitz? Warum verbarg er sich? Kam er vielleicht doch niemals
24610 wieder? Und wäre dieser Kampf mit sich selbst und der Sturm, den
24611 die Nachricht in Ismas Herzen erregte, wären sie unnütz, zwecklos?
24612 Doch nein, die Nachricht war zu sicher. Aus einem Postluftschiff
24613 der Martier steigt man an einer Station aus, aber man verunglückt
24614 nicht. Und wenn man in einem der zivilisierten Staaten ausgestiegen
24615 ist, so verschwindet man nicht spurlos, wenn man nicht will, wenn
24616 man nicht gute Gründe dazu hat. Warum also verbirgt sich Torm? Nur
24617 in seinem Gewissen muß der Grund liegen, er muß etwas getan haben,
24618 das ihn zur Flucht vor der Welt veranlaßt. Aber warum auch vor
24619 Isma? Also auch vor ihr muß er sich scheuen? Er will vielleicht gar
24620 nicht zu ihr? Offenbar, er will nicht! Und vor diesem Mann, der
24621 vielleicht Ismas nicht mehr würdig ist, der sich vor ihr verbirgt,
24622 sollte er, Ell, das Feld räumen? Wenn Torm sich gegen die Nume
24623 vergangen hatte, so war es Ells Pflicht, dies zu sühnen. Welche
24624 Rücksicht sollte er nehmen, wenn Torm selbst seine Rechte aufgab
24625 oder das Recht der Nume sie ihm absprach? Und deshalb sollte Ell
24626 den grausamen Verzicht auf sich nehmen, der ihm das Liebste, das
24627 Teuerste entriß, der ihm die Wurzel im innersten Gemüt zerstörte,
24628 aus dem seine Energie, sein Mut, sein Vertrauen, die ganze große
24629 Aufgabe seines Lebens die besten Kräfte zog?
24631 Ell ballte die Faust. „Hab ich mein Sein hingegeben für die Sache,
24632 so will ich auch mein Glück mir erobern! Wo ist er, dem ich sie
24633 geben soll, die ich mir verdient habe, die mir gehört? Wo ist er?
24634 Verschwunden –, nun gut – er bleibe verschwunden!“
24636 Er sank in seinen Stuhl zurück und verfiel in dumpfes Brüten. Tiefe
24637 Stille herrschte in dem weiten Raum, nur von Zeit zu Zeit entrang
24638 sich seiner Brust ein Seufzer, ohne daß er darum wußte. Und er
24639 wußte nicht, daß die Zeit verging, daß das Dunkel des Abends sich
24640 über die Stadt gelegt hatte – –
24642 Und wenn Torm doch kam? Ja, verhindern konnte er es wohl, aber mit
24643 diesem Wissen vor Isma treten – das konnte er nicht. Und sie sein
24644 nennen um den Preis einer Schuld – das konnte er nicht, das war ja
24645 unmöglich. Und wer weiß – er hatte Isma mehrere Tage nicht gesehen
24646 –, wenn – wenn Torm schon gekommen wäre? Er fuhr in die Höhe, von
24647 einem plötzlichen Schrecken aufgejagt. Wenn sie bei ihm wäre, und
24648 ihm nichts davon gesagt hätte, wenn – –
24650 Jetzt bemerkte er, daß es dunkel war. Ein Handgriff schaltete das
24651 Licht ein. Dann stand er vor dem Telephon.
24653 Wie es auch werden mochte, verbergen durfte er ihr nichts! Er
24654 fragte an, ob Isma zu Hause wäre. Sie war da. Sie freue sich sehr,
24655 ihn bald zu sehen.
24657 Wenige Minuten später saß Ell in seinem Wagen. Er ließ so schnell
24658 fahren, als es der Straßenverkehr ermöglichte, aber der Weg war
24659 weit. Er sah es jetzt ein, er durfte ihr die Nachricht nicht
24660 vorenthalten. Wenn Torm nicht zu ihr zurückkehrte, so mußte sie
24661 trotzdem wissen, daß er hätte zurückkehren können.
24663 Aber wie würde dies auf sie wirken? Nun sorgte er sich wieder um
24664 die Freundin. Doch er hatte sich einmal angemeldet –. Er wollte sie
24665 sprechen, er konnte ja vorsichtig sein, die neue Hoffnung für sie
24666 nur andeuten – –
24668 Der Wagen hielt, diesmal direkt vor der Tür. Ell eilte die Treppen
24669 hinauf. Die Wirtin öffnete. Ell wollte mit flüchtigem Gruß an ihr
24670 vorüber.
24672 „Der Herr Kultor werden verzeihen“, sagte sie verlegen. „Frau Torm
24673 sind nicht zu Hause.“
24675 Ell prallte zurück. „Nicht zu Hause? Aber ich habe ja vor einer
24676 halben Stunde mich angemeldet.“
24678 „Ja, Frau Torm haben es mir auch gesagt, wir waren gerade bei
24679 Tisch, aber dann – dann –“
24681 „Was war dann?“ fragte Ell ungeduldig und hart.
24683 „Der Herr Kultor mögen verzeihen, ich weiß es ja nicht –. Es kamen
24684 die beiden Damen wieder –“
24686 „Welche Damen?“
24688 „Nun die Damen vom Mars, die gestern schon hier waren und die
24689 Partie gemacht haben mit Frau Torm.“
24691 „Welche Damen? Welche Partie? Sagen Sie alles!“
24693 „Um Gottes willen, ich weiß ja nichts weiter, sie waren drin im
24694 Zimmer, nur kurze Zeit, und auf einmal kam Frau Torm herausgestürzt
24695 im Mantel und Hut, ganz eilig, und rief nur ›Ich muß fort‹, und die
24696 beiden Damen gingen mit ihr, ich weiß ja nicht wohin. Und ich
24697 wollte noch fragen, was ich denn nun sagen sollte, wenn der Herr
24698 Kultor kämen, aber weil die beiden fremden Damen vom Mars dabei
24699 waren, getraute ich mich nicht. Und ich bin noch die Treppe
24700 hinuntergelaufen und habe gesehen, es stand ein Wagen vor der Tür,
24701 in dem fuhren sie alle drei fort –“
24703 „Wie lange ist das her?“
24705 „Noch keine zehn Minuten.“
24707 „Führen Sie mich ins Zimmer, ich werde warten.“
24709 „Ach, entschuldigen Sie nur, Herr Kultor, das habe ich noch ganz
24710 vergessen, Frau Torm hat mir zugerufen, sie käme die Nacht nicht
24711 zurück.“
24713 „So will ich doch nachsehen, ob sie nicht eine Nachricht für mich
24714 hinterlassen hat.“
24716 Ell sah sich vergeblich im Zimmer um. Kein Zeichen für ihn. Isma
24717 hatte offenbar ganz vergessen, daß sie ihn erwartete. Er ging.
24719 Er wußte nicht, was er denken sollte. Mit Torm mußte dieser
24720 plötzliche Aufbruch zusammenhängen, das war das einzige, was er
24721 sich sagte, aber weiter kam er nicht. Und so konnte sie ihn
24722 verlassen, ohne auch nur mit einem Wort seiner zu gedenken? Und die
24723 Damen vom Nu?
24725 Völlig niedergeschlagen kam er zu Hause an. Neue Depeschen waren
24726 eingetroffen. Er las sie durch – von Isma war nichts darunter. Er
24727 fühlte sich nicht imstande, zu arbeiten.
24729 Ein Gedanke drängte sich ihm immer wieder vor: Verloren! Verloren!
24730 Das hatte er um sie verdient?
24732 Es war zehn Uhr geworden. Da klang es noch einmal am
24733 Depeschentisch. Die tiefe Glocke. Das war etwas Besonderes, eine
24734 Lichtdepesche vom Mars.
24736 Er öffnete das Stenogramm und sah nach der Unterschrift: „Für den
24737 Zentralrat, der Präsident der Marsstaaten.“
24739 „Ich habe die Ehre, Ihnen mitzuteilen, daß der Zentralrat Ihnen
24740 seine ernste Mißbilligung aussprechen muß über die Nachsicht, mit
24741 welcher im deutschen Sprachgebiet die Übergriffe der Menschen gegen
24742 unsre Beamten behandelt werden. Der Zentralrat erwartet von Ihnen
24743 sofortige entschiedene Maßregeln, wodurch den Menschen begreiflich
24744 gemacht wird, daß sie der Herrschaft der Nume sich unter allen
24745 Umständen ohne Widersetzlichkeit zu beugen haben. Zugleich mögen
24746 Sie Vorbereitungen treffen, daß die nach dem nächstens zu
24747 veröffentlichenden Gesetz auf das deutsche Sprachgebiet fallende
24748 Kontribution von einer Milliarde Mark rechtzeitig erhoben werden
24749 kann.“
24751 Ell schleuderte das Blatt auf den Tisch.
24753 „Das bedeutet den Sieg der Antibaten!“ rief er aus.
24755 \section{58 - Lösung}
24757 Zu derselben Zeit, als Ell in seinem Wagen nicht schnell genug
24758 durch die Straßen Berlins jagen konnte, saß Torm an einem der
24759 großen Tische des Bibliothekzimmers in der Friedauer Sternwarte. Er
24760 beugte sich über seine Arbeit. Wohl zuckte es häufig in seiner
24761 Hand, die Blätter mit den langen Zahlenreihen zurückzuschieben,
24762 aber er bezwang sich; denn er wußte, daß ihn dann die bohrenden
24763 Gedanken nur noch heftiger quälten.
24765 Durfte er noch länger hier zögern? Und was sollte er tun? Grunthe
24766 hatte sich an den Protektor Ill selbst gewandt, um zu erfahren,
24767 welche Motive den neuen Nachforschungen nach Torm zugrunde lägen.
24768 Aber die Antwort war noch nicht eingetroffen. Wie die Zeitungen
24769 meldeten, hatte sich der Protektor, vom Zentralrat berufen, zu
24770 einer wichtigen Konferenz nach dem Mars begeben. Ehe er
24771 zurückkehrte, konnten, trotz der gegenwärtigen günstigen Stellung
24772 der Planeten und der neuerdings erzielten kolossalen
24773 Geschwindigkeit der Raumschiffe doch noch gegen zwei Wochen
24774 vergehen. So lange noch hier auszuhalten, erschien Torm manchmal
24775 als eine Unmöglichkeit. Und was dann, wenn die Antwort ungünstig
24776 ausfiel?
24778 Alle seine Willenskraft bot er auf, um die Sehnsucht nach Isma
24779 zurückzudrängen. Und doch grübelte er immer wieder, ob es nicht
24780 richtiger sei, ihr selbst die Entscheidung zu überlassen, sich zu
24781 ihm zu bekennen oder nicht. Doch nein, das hieße, sie zu einem
24782 verhängnisvollen Entschluß treiben. Aber er, er selbst, sollte er
24783 nicht für sich auf die Entscheidung seines Schicksals dringen,
24784 indem er Ell benachrichtigte? Er fand die Antwort nicht und
24785 versenkte sich aufs neue in seine Rechnungen.
24787 Da klang plötzlich durch die Stille des Raums aus dem Nebenzimmer,
24788 in welchem Grunthe arbeitete – die Tür war nur angelehnt –, eine
24789 helle Stimme, die Torm emporfahren machte.
24791 „Grüß Gott, Grunthe!“ erscholl es.
24793 „Saltner!“ hörte er Grunthe freudig überrascht rufen.
24795 „Ja, ich bin’s. Und ich will Sie nur ins Schiff holen, hier getraue
24796 ich mich nicht herein. Aber eins, sagen Sie gleich – ist Torm hier?
24797 Na, machen’s keine Sperenzen, ich weiß, daß er bei Ihnen logiert.
24798 Wo ist er?“
24800 „Er arbeitet in der Bibliothek.“
24802 „Dann heraus mit ihm, rufen Sie ihn. Frau Isma ist hier. Wir haben
24803 sie mitgebracht.“
24805 Da flog die Tür auf. Torm stand im Zimmer.
24807 „Wo?“ fragte er bloß. Aber er wartete keine Antwort ab. Es konnte
24808 ja nicht anders sein – sie war im Schiff, und das Schiff lag
24809 natürlich im Garten. Mit einem Satz war er an der Tür der Veranda
24810 und riß sie auf.
24812 Hier lehnte Isma am Geländer der Treppe. Pochenden Herzens wartete
24813 sie auf den Erfolg von Saltners Botschaft.
24815 Einen Moment blieb Torm stehen, als er sie erkannte, nur einen
24816 Moment. Dann hielt er sie in den Armen. Wie lange, sie wußten es
24817 nicht.
24819 „Komm herein!“ sagte er endlich. Noch vermochte er nichts anderes
24820 zu sprechen. Er trug sie fast in das Zimmer. Es war leer. Grunthe
24821 und Saltner hatten es durch eine andere Tür verlassen.
24823 Sie hielten sich an den Händen und blickten sich an. Isma zitterte.
24824 Die Tränen drängten sich in ihre Augen. Das war er! Der von ihr
24825 geschieden war in der blühendsten Kraft des Mannes, hoffnungsfroh
24826 und siegesgewiß – das Haar war ergraut, tiefe Falten hatten
24827 Anstrengung und Sorge in seine Stirn gegraben –, sie hätte Mühe
24828 gehabt, ihn wiederzuerkennen – aber die blauen Augen strahlten ihr
24829 in der alten Innigkeit entgegen.
24831 Sie schluchzte. „Ich habe dich wieder!“
24833 Wieder warf sie ihre Arme um seinen Hals, er aber löste sich sanft
24834 und sah sie nun an mit einem ernsten Blick voll Kummer und Liebe.
24836 „Isma“, sagte er langsam, „du weißt nicht, wen du umarmst.“
24838 „Ich weiß es, Hugo, ich weiß es! Die Freunde, die treuen, die mich
24839 hierherbrachten, haben es mir gesagt. Ich weiß, warum du
24840 fernbliebst, warum du nicht zu mir eiltest. Es war nicht recht,
24841 doch ich versteh’ es – ich aber gehöre zu dir, drum bin ich hier
24842 –“
24844 „Über mir schwebt das Gericht und die Not, die Schande, die den
24845 Frevler am Gesetz trifft. Du weißt nicht alles –. Ich brach das
24846 Vertrauen der Nume am Pol, ich nahm von ihrem Gut, ich floh mit
24847 Gewalttat und stieß den Wächter hinab ins Schiff Ich bin ein
24848 Geächteter, solange die Nume herrschen. An dich aber hab ich kein
24849 Recht, du stehst im Schutze des Nu, du bist frei. Warum kommst du,
24850 mich in die furchtbare Qual zu stürzen, wieder von dir fliehen zu
24851 müssen, nachdem ich dich gesehen – oh, es ist furchtbar!“
24853 „Nein, nein“, rief sie, aufs neue sich an ihn schmiegend. „Ich
24854 lasse dich nicht von mir, jetzt nicht wieder, und es ist nicht
24855 furchtbar. Was du auch getan, du tatest es, um zu mir zu kommen,
24856 nun trag ich mit dir, was geschehen soll. Aber du brauchst nichts
24857 zu fürchten. Unsere Freunde führen uns, wohin der Arm der Nume
24858 nicht reicht.“
24860 Er schüttelte den Kopf. „Das geht nicht“, sagte er finster. „Ich
24861 nehme keine Gnade an von denen, die ich als Feinde der Menschheit
24862 betrachte, von den Vernichtern meines Glücks – das geht nicht!“
24864 „Oh, wie kannst du so sprechen! Saltner ist in derselben Lage, er
24865 hat nicht gezögert, Las Hilfe anzunehmen, er hat sie zur Frau
24866 genommen nach den Gesetzen des Nu –“
24868 „Dann kann er es tun, weil er sie liebt. Ich aber hasse diese Nume.
24869 Und wir beide sind geschieden nach dem Gesetz des Nu –“
24871 „Geschieden, wir? Wer hat das bestimmt? Dieses Gesetz ist nichts
24872 ohne unsern Willen. Es schützt unsern Willen gegen fremden
24873 Eingriff, aber gegen unsern Willen kann es weder fesseln noch
24874 scheiden. Und ich habe niemals und werde niemals – o Hugo, wie
24875 kannst du glauben, ich würde dich verlassen, ich, die ich selbst
24876 die Schuld trage unsrer Trennung – hier stand ich, an dieser
24877 Stelle, da beschwor ich Ell, mich mitzunehmen nach dem Nordpol,
24878 denn binnen Tagesfrist gedacht ich dich zu finden, und es wurden
24879 zwei Jahre – nicht durch meine Schuld –“
24881 „Erinnere mich nicht an ihn“, unterbrach er sie hart. „Diese zwei
24882 Jahre – oh! Als ich zurückkam und umkehrte vor deiner Tür, da trat
24883 er heraus –“
24885 „Hugo“, sagte sie flehend, „das Leid hat dich verbittert, sonst
24886 würdest du so nicht reden. Ja, er ist mein Freund, der treueste,
24887 beste, das weißt du, und das wird er uns immer beweisen. Eben
24888 sagtest du, ich sei frei, wo aber findest du mich? In den
24889 Prunkzimmern des Kultorpalais oder hier im Asyl des Geächteten, der
24890 mich nicht will?“
24892 Er blickte sie lange an, dann zog er sie an sich.
24894 „Verzeih mir“, sagte er, „es ist wahr, ich habe dich ja hier, du
24895 geliebte Frau. Was kümmert uns der Menschen Rede? Ich habe
24896 gelitten, und das Elend war über mir. Aber die Philister sollen
24897 nicht über uns sein. Wie wollen wir den Numen trotzen, wenn wir
24898 nicht uns selbst die Freiheit im Gefühl zu wahren wissen? Mir aber
24899 zerreißt es das Herz, daß ich dich nicht halten kann mit offnem
24900 Trotz, weil ich selbst keine Stätte mehr habe, so weit die Planeten
24901 kreisen. Denn eins will ich bewahren, den Stolz, und Rettung will
24902 ich nicht durch ihre Gnade!“
24904 Isma beugte sich zurück und sah ihm groß in die Augen.
24906 „Wenn nicht durch ihre Gnade“, sagte sie langsam, „dann gibt es nur
24907 eins: durch die Wahrheit!“
24909 Seine Augen erweiterten sich, als er erwiderte: „Wenn ich dich
24910 recht verstehe –“
24912 „Vertraue dich Ell an. Sage ihm alles und höre, was er für richtig
24913 hält. Und wenn es nötig ist, stelle dich ihrem Gericht. Ich aber
24914 werde bei dir sein.“
24916 Er zögerte. „Das heißt, ich gebe mich in seine Hand.“
24918 „Er ist edel und groß.“
24920 Torm runzelte die Stirn. Er dachte lange nach. Endlich sagte er:
24921 „Ich sehe keinen andern Ausweg. Und nun du zu mir kamst, darf ich
24922 nicht länger zögern, mein Schicksal zu entscheiden. Ich werde
24923 gehen.“
24925 Sie fiel ihm um den Hals. „Geh“, rief sie, „gehen wir, und
24926 sogleich!“
24928 „Jetzt? Auf der Stelle? Wie meinst du das? Es ist Abend – und ich,
24929 in meiner Überraschung, ich habe noch nicht einmal gefragt, wie
24930 kamst du her?“
24932 „Komm mit zu La, und du wirst alles begreifen.“
24934 Er schloß sie noch einmal in seine Arme. Dann gingen sie Hand in
24935 Hand durch das Zimmer nach der Veranda, in den Garten.
24937 Sie standen vor dem Luftschiff.
24939 „Verzeih mir“, sagte Torm zu Isma, „aber jetzt in die Gesellschaft
24940 der andern zu gehen, sie zu begrüßen, zu reden – es ist mir
24941 unmöglich – und es ist doch schon zu spät, um Ell noch zu sprechen,
24942 selbst wenn La uns wirklich so schnell und noch jetzt –“
24944 „Ich werde La rufen.“
24946 Die Beratung mit La dauerte nicht lange.
24948 „Sie, Torm“, sagte sie, „wird Ell jederzeit empfangen, und Sie
24949 haben nicht eher Ruhe, bis die Entscheidung gefallen. Für uns aber
24950 ist es erwünscht, noch heute nacht alles abzuwickeln, denn der
24951 Boden Europas brennt uns unter den Füßen, und wenn die Sonne
24952 aufgeht, möchte ich hoch über den Wolken sein. In einer halben
24953 Stunde können Sie in Ells Zimmer stehen.“
24955 „Ihr Interesse entscheidet“, sagte Torm. „Meinetwegen dürfen Sie
24956 sich nicht aufhalten. Ich bin bereit.“
24958 La führte Torm und Isma ins Schiff. Sie sahen noch, wie La mit
24959 Grunthe sprach, der das Schiff verließ. Dann blieben sie allein im
24960 kleinen Salon. Was hatten sie nicht alles sich mitzuteilen! Sie
24961 glaubten eben erst begonnen zu haben, als La eintrat und sagte:
24963 „Wir sind auf dem Vorbau des Kultorpalais, auf dem Anlegeplatz für
24964 die Luftschiffe, steigen Sie schnell aus und lassen Sie sich
24965 melden. Da Sie an dieser nur für Nume zugänglichen Tür Einlaß
24966 verlangen, wird man keine Schwierigkeiten machen. Unser Schiff
24967 finden Sie am Akazienplatz, wohin Sie eine der vor dem Palais
24968 haltenden Droschken in wenigen Minuten bringt. Und nun viel Glück
24969 auf den Weg!“
24971 Isma umarmte ihn schweigend, dann stieg Torm die Schiffstreppe
24972 hinab. Von den Türmen der Stadt schlug die elfte Stunde, als der
24973 diensttuende Bed Torm nach seinem Begehr fragte. Ein Besuch um
24974 diese Zeit mußte wohl etwas sehr Wichtiges sein, darum zögerte er
24975 nicht anzufragen, ob der Kultor noch empfange. Er arbeitete noch.
24977 Ell erbleichte, als er die Karte las.
24979 „In mein Privatzimmer“, sagte er.
24981 Die beiden Freunde standen einander gegenüber. Beide fühlten sich
24982 nicht frei. Beide hatten gegen die Macht eines Verhängnisses
24983 gekämpft, das stärker war als sie, dem sie sich nun ergeben mußten.
24984 Auch in Ells Zügen hatten Überarbeitung und Sorgen ihre Spuren
24985 zurückgelassen. Es war nur ein Moment, daß ihre Blicke aufeinander
24986 ruhten. Und jeder sah im andern ein stilles Leid, das an ihm
24987 zehrte, und die Erinnerung stieg auf an die Jahre treuer,
24988 gemeinsamer Freundesarbeit und kühner Hoffnung, und die Rührung des
24989 Wiedersehens umschleierte ihre düsteren Blicke mit milder Freude.
24990 Sie eilten aufeinander zu, und ihre Hände lagen ineinander.
24992 „Sie werden vor allen Dingen wissen wollen, wo ich war“, begann
24993 Torm endlich „ich aber komme, um von Ihnen zu hören – Sie empfangen
24994 mich als Freund, wie aber empfängt mich der Kultor – was habe ich
24995 zu erwarten?“
24997 „Ich verstehe Sie nur halb“, erwiderte Ell betroffen. „Was
24998 veranlaßt Sie zu der Frage? Sprechen Sie offen –. Kommen Sie aus
24999 Tibet über Kalkutta?“
25001 Torm zuckte zusammen. „Ach, Sie wissen? Doch nun hören Sie erst
25002 alles.“
25004 Er berichtete kurz über seine Flucht vom Pol und aus dem Luftschiff
25005 und die Ereignisse, die sich dabei zutrugen. Er verheimlichte
25006 nichts. Er erzählte, was ihn veranlaßt hatte, weder seine Frau noch
25007 Ell aufzusuchen, sondern sich in Friedau verborgen zu halten, wo Se
25008 ihn erkannt habe; daß ihn Isma infolgedessen aufgesucht hätte und
25009 er jetzt hier sei, um den Rat Ells zu vernehmen und die Folgen
25010 seiner Handlungen zu tragen.
25012 Ell hörte schweigend zu, den Kopf sinnend auf die Hand gestützt. Er
25013 unterbrach ihn mit keinem Wort, keine Miene verriet, was in ihm
25014 vorging.
25016 Das hatte er nicht gewußt. Die Tat gegen den Wächter des Schiffes
25017 war verderblich für Torm. Ell, als oberster Beamter der Nume
25018 hierselbst, mußte sie verfolgen. Der eben erhaltene Erlaß hatte ihm
25019 seine Pflicht eingeschärft. Wenn er dieser Pflicht folgte, wenn er
25020 die Mahnung des Zentralrats annahm, so war Torm verloren. Torms
25021 Schicksal war in seine Hand gelegt. Ein Druck auf diese Klingel,
25022 und er kehrte nicht mehr aus diesem Zimmer zurück, nicht mehr zu
25023 Isma – –. Und dann? Isma war frei. Aber wo war sie? Ohne ein Wort
25024 des Abschieds hatte sie ihn verlassen und war zu ihrem Mann geeilt.
25025 Ein tiefer, bitterer Schmerz gekränkter Liebe durchzuckte ihn.
25026 Durch Jahre hatte sie ihn in hoffnungsfroher Freundschaft gehalten,
25027 bis die Erwartung des nahen Glücks ihn ganz eingenommen, und jetzt
25028 – nun war er ihr nichts mehr. Das war Isma! Ja, er konnte sich
25029 rächen. Er konnte auch – –. Und durfte er denn schweigen? Durfte er
25030 Torm, nun er um sein Verbrechen wußte, unbehelligt ziehen lassen?
25031 Ihn der Gattin zurückgeben und sie in ihrem Glück schützen? Und wie
25032 dann den Gedanken an sie ertragen?
25034 Torm hatte längst geendet. Ell saß noch immer, den Kopf in die Hand
25035 gestützt, die seine Augen beschattete, ohne zu sprechen. Torm
25036 wartete geduldig, obwohl sein Herz pochte. Denn jetzt mußte sich
25037 alles entscheiden.
25039 Endlich richtete sich Ill auf und blickte Torm an. Er begann ruhig,
25040 fast gleichgültig:
25042 „Ihr Prozeß am Pol und was damit zusammenhängt, die Entwendung des
25043 Sauerstoffs – wovon übrigens nichts bekannt geworden ist –, die
25044 unerlaubte Benutzung des Luftschiffs zur Flucht – darüber können
25045 Sie beruhigt sein. Ich sehe dies als eine zusammenhängende einzige
25046 Handlung an, die unter die Friedensamnestie fällt. Sie können
25047 deswegen nicht verfolgt werden. Ich nehme es auf mich, diese Akten
25048 kassieren zu lassen. Aber das andere! Das ist traurig, das ist
25049 schwer! Wenn es zur Anzeige kommt, sind Sie verloren.“
25051 Torm sprang auf.
25053 „Sie wissen es, so bin ich verloren.“
25055 Auch Ell erhob sich. Er schritt durch das Zimmer auf und nieder,
25056 noch immer mit sich kämpfend. Dann blieb er wieder vor Torm
25057 stehen.
25059 „Wenn es zur Anzeige kommt, sage ich, und wenn Sie bei Ihrem
25060 Geständnis stehen bleiben.“
25062 „Wie kann ich anders.“
25064 „Denn es ist nichts davon bekannt geworden. Es ist etwas geschehen,
25065 was Sie nicht wissen. Das Schiff mit der gesamten Besatzung ist auf
25066 der Rückkehr bei Podgoritza durch die Albaner vernichtet worden,
25067 ehe irgendeine Nachricht von ihm zu uns gelangt ist. Niemand wurde
25068 gerettet, alle Papiere und Aufzeichnungen sind verbrannt oder
25069 verschwunden. Niemand kann beweisen, was Sie getan haben, außer
25070 Ihnen – und mir!“
25072 „O ich Tor!“ murmelte Torm; bleich und finster blickte er auf Ell.
25074 „Wollen Sie widerrufen, was Sie mir gesagt haben? Es war vielleicht
25075 nur eine poetische Ausschmückung ihres Abenteuers? Sie haben den
25076 Wächter nur leicht beiseite gedrängt?“
25078 „Ich schlug ihn vor die Stirn, ich hörte ihn mit einem Aufschrei
25079 dumpf auf die Kante der Treppe schlagen. Hätte ich gewußt, was ich
25080 jetzt weiß, ich hätte vielleicht geschwiegen. Lügen werde ich
25081 nicht. Und doch – komme, was da kommen will, es ist besser so.
25082 Gewißheit konnte ich nicht anders erlangen, als daß ich mit Ihnen
25083 sprach. Gewißheit mußte ich erlangen, und die Wahrheit mußte ich
25084 sagen, wenn ich überhaupt sprach. Und Sie müssen meine Bestrafung
25085 einleiten.“
25087 „Ich muß es, wenn –“, er unterbrach sich und ging wieder auf und
25088 ab. Dann trat er an das Fenster. Torm hörte ihn leise stöhnen. Nun
25089 wandte er sich um. Er schritt auf Torm zu. Er sah verändert aus.
25090 Aus dem geisterhaft bleichen Gesicht leuchteten seine großen Augen
25091 wie von einem überirdischen Feuer. Vor Torm blieb er stehen und
25092 faßte seine Hände.
25094 „Gehen Sie“, sagte er mit Bestimmtheit. „Gehen Sie, mein Freund,
25095 ich werde die Anzeige nicht erstatten. Was Sie gesprochen haben,
25096 der Kultor hat es nicht gehört – verstehen Sie –“
25098 Torm schüttelte den Kopf.
25100 „Sie werden es verstehen, binnen einer Stunde. Wohin gehen Sie?
25101 Nach Friedau? Sie haben nichts mehr zu befürchten. Gehen Sie –
25102 geben Sie sich zu erkennen – und seien Sie glücklich – gehen Sie
25103 –“
25105 Er drängte Torm zur Tür. Ein Diener nahm ihn in Empfang und zeigte
25106 ihm den Weg durch die Gemächer und über die Treppen.
25108 Sobald Ell allein war, sank er wie gebrochen auf einen Sessel. Er
25109 schloß die Augen und preßte die Hände vor die Stirn. Nur wenige
25110 Minuten. Dann stand er auf. Er wußte, was er wollte.
25112 Mit fester Hand setzte er zwei Depeschen auf. Die eine war in
25113 martischer Kurzschrift, sie war an den Protektor der Erde gerichtet
25114 und trug den Zusatz: Als Lichtdepesche auf den Nu nachzusenden. Die
25115 andre ging an Grunthe: Sofort zu bestellen.
25117 \tb{}
25118 „Besorgen Sie dies eilends“, sagte er zu dem Diener. „Und nun
25119 wünsche ich nicht mehr gestört zu sein.“
25121 Torm fand vor der Tür des Palais bereits einen Wagen halten, und
25122 als er herantrat, winkte ihm Isma entgegen. Sie hatte keine Ruhe im
25123 Schiff gefunden und wollte ihn hier erwarten. Angstvoll blickte sie
25124 ihm entgegen.
25126 „Alles gut!“ rief er und sprang in den Wagen, der sogleich sich in
25127 Bewegung setzte.
25129 „Ich bin frei, wir sind sicher! Nun habe ich dich erst wieder!“
25131 „Gott sei bedankt“, flüsterte Isma, an seine Schulter gelehnt. „Und
25132 was sagte Ell?“
25134 „Gehen Sie nach Friedau, seien Sie glücklich!“
25136 „Sonst nichts?“
25138 „Nichts.“
25140 Nach ihr hatte er nicht gefragt, für sie hatte er keinen Gruß,
25141 keinen Glückwunsch, ihr Name war nicht über seine Lippen gekommen.
25142 So klang es schmerzlich durch ihre Seele, während Torm, immer
25143 lebhafter werdend, seine Unterredung mit Ell berichtete.
25145 Am Akazienplatz verließen sie den Wagen. Alsbald senkte sich das
25146 Luftschiff auf den menschenleeren Platz und nahm sie auf.
25148 Gegen ein Uhr nachts ließ sich das Luftschiff wieder auf seinen
25149 Ankerplatz im Garten der Sternwarte von Friedau nieder.
25151 Grunthe hatte die Rückkehr erwartet. Saltner holte ihn herbei.
25153 „Es ist zwar schon spät, aber das hilft heute nichts, und aus den
25154 Beobachtungen wird auch nichts. Eine Stunde müssen Sie uns noch
25155 schenken. Ich feiere nämlich meine Hochzeit, schauen’s, da müssen
25156 Sie schon noch einmal lustig sein. Ich habe die ganze Expedition
25157 eingeladen.“
25159 Als er in den Salon des Schiffes trat, fand er eine Tafel für sechs
25160 Personen nach Menschensitte gedeckt.
25162 „Wir sind eigentlich zwei Brautpaare“, sagte Saltner zu Grunthe.
25163 „Von Ihnen verlangen wir nicht, daß Sie das dritte abgeben, aber
25164 eine Dame haben wir doch für Sie. Meine Mutter schläft freilich,
25165 aber hier – die Se kennen’s ja, wir haben uns wieder versöhnt.“
25167 „Ausnahmsweise“, sagte Se lachend, „werde ich mich heute
25168 herablassen, mit euch fünf Menschen an einem Tisch zu essen, aber
25169 nur zu Ehren der drei Entdecker des Nordpols.“
25171 Unter lebhaftem Gespräch hatte man an der Tafel Platz genommen.
25172 Torm wandte sich zu Se und sagte, sein Glas erhebend: „Die
25173 Vertreterin der Nume gestatte mir, nach unsrer Sitte ihr zu danken.
25174 Denn ihrem Scharfblick verdanke ich das Glück dieser Stunde.“
25176 „Ich danke Ihnen“, erwiderte Se, „und ich freue mich, daß Sie nun
25177 dem Bild wieder ähnlich sehen, nach welchem ich Sie erkannte.“
25179 „Und jetzt“, rief Saltner, die Gläser neu füllend, „wie damals, als
25180 wir zuerst den Pol erblickten, bring ich wieder ein Hoch aus auf
25181 unsre gnädige Kommandantin, auf Frau Isma Torm, und diesmal stößt
25182 sie selbst mit an, und das ist das beste. Und nun, Grunthe, können
25183 Sie wieder sagen: Es lebe die Menschheit!“
25185 Grunthe erhob sich steif. Sein Unterarm streckte sich im rechten
25186 Winkel von seinem Körper aus, und seine möglichst wenig gebogenen
25187 Finger balancierten das Weinglas wie ein Lot, mit dem er eine
25188 Messung ausführen wollte.
25190 „Es lebe die Menschheit“, sagte er, „so sprach ich einst. Ich sage
25191 es jetzt deutlicher: Es lebe die Freiheit! Denn ohne diese ist sie
25192 des Lebens nicht wert. Wenn die Freiheit lebt, so ist es auch kein
25193 Widerspruch, wenn ich mich dessen freue, was meine verehrten
25194 Freunde von der Polexpedition für ihre Freiheit halten, die
25195 Vereinigung mit einem Vernunftwesen, das kein Mann ist. Um aber den
25196 abstrakten Begriff der Freiheit durch eine konkrete Persönlichkeit
25197 unsrer symbolischen Handlung zugänglich zu machen, sage ich, sie
25198 lebe, die uns die Freiheit gebracht hat. Wie sie herabstieg von dem
25199 Sitz der Nume und den Wandel seliger Götter tauschte mit dem
25200 schwanken Geschick der Menschen, nur weil sie erkannte, daß es
25201 keine höhere Würde gibt als die Treue gegen uns selbst, so zeigte
25202 sie uns, wie die Menschheit sich erheben kann über ihr Geschick,
25203 wenn sie nur sich selbst getreu ist. Denn es gibt nur eine Würde,
25204 die Numen und Menschen gemeinsam ist, wie der Sternenhimmel über
25205 uns, das ist die Kraft, nachzuleben dem Gesetz der Freiheit in uns.
25206 Sie tat es, und so brachte sie die Freiheit diesen meinen Freunden,
25207 und allen ein Vorbild, wie Nume und Menschen gleich sein können.
25208 Darauf gründet sich unsre Hoffnung der Versöhnung, der wir
25209 entgegenstreben. Ihr aber, die in so hohem Sinn uns genaht und die
25210 Freunde der Not entrissen, ihr gelte unser Glückwunsch und Hoch.
25211 Und so sage ich nun: Es lebe La!“
25213 Er blieb stehen, wie in Nachsinnen verloren, sein Glas starr vor
25214 sich hinhaltend, an das die andern mit Herzlichkeit anstießen.
25216 Saltner küßte La und flüsterte: „Du kannst dir aber etwas
25217 einbilden, das ist das erste Mal, daß er eine Frau leben läßt!“
25219 „Und das letzte Mal“, murmelte Grunthe, sich niedersetzend.
25221 Saltner aber sprang auf und trat zu Grunthe und umarmte ihn, ehe er
25222 es verhindern konnte.
25224 Grunthe wand sich verlegen. „Ich glaube“, sagte er, „ich meine ja
25225 eigentlich diese La, in der wir sitzen, das schöne Luftschiff –“
25227 „Oh, oh!“ rief Se, „das hilft Ihnen nichts mehr, Sie haben von
25228 ›Persönlichkeit‹ gesprochen – jetzt können Sie nichts mehr
25229 zurücknehmen.“
25231 „Nein, ich will es ja auch nicht“, sagte er ernsthaft.
25233 Da öffnete sich die Tür. Der Schiffer trat ein.
25235 „Eine Depesche für Herrn Dr. Grunthe ist eben gebracht worden“,
25236 sagte er.
25238 Grunthe stand auf und trat beiseite. Er las.
25240 Dann kehrte er zum Tisch zurück. Er sah sehr ernst aus.
25242 „Es ist etwas Wichtiges geschehen“, sagte er auf die fragenden
25243 Blicke der andern. „Ell hat sein Amt niedergelegt.“
25245 „Wie? Was? Lesen Sie!“
25247 Er reichte Saltner das Blatt. Dieser las:
25249 „Ich benachrichtige Sie hierdurch, daß ich soeben bei Ill um
25250 Enthebung vom Kultoramt und um meine Entlassung aus dem Dienst der
25251 Marsstaaten eingekommen bin. Unter den obwaltenden Umständen ist
25252 mir die Fortführung unmöglich. Ich bitte Sie, meinen Besitz in
25253 Friedau als den Ihrigen zu betrachten. Ich selbst gehe nach dem
25254 Mars, um gegen die Antibaten zu wirken. Sie werden bald von mir
25255 hören. Glück dem Menschenbund! Saltner und Torm meinen Gruß. Ihr
25256 Ell.“
25258 Isma wußte nicht, wohin sie blicken sollte. Sie fühlte, wie Blässe
25259 und Röte auf ihrem Antlitz wechselten. In der allgemeinen Erregung
25260 achtete man nicht auf sie.
25262 „Also darum“, sagte Torm, „darum sagte er, in einer Stunde werde
25263 ich verstehen, warum der Kultor meinen Bericht nicht gehört habe –
25264 –. Lassen Sie uns des edlen Freundes gedenken!“
25266 „Auf Ell!“ sagte Saltner. „Aber Sie müssen mir noch erklären –“
25268 „Es muß ein politisches Ereignis eingetreten sein – vielleicht ist
25269 der Antrag über die Steuern angenommen“, bemerkte Torm. „Also auf
25270 Ell!“
25272 Sie erhoben die Gläser. Ismas Hand zitterte. Als sie anstieß,
25273 entglitt das Glas ihren Fingern und zerbrach.
25275 La allein hatte gesehen, was in Isma vorging. Kaum klangen die
25276 Scherben auf dem Tisch, als sie auch ihr Glas fallen ließ und mit
25277 einem leichten Stoß Saltner das seine aus der Hand schlug.
25279 „Das ist recht!“ rief sie.
25281 „Fort alle mit den Gläsern und Flaschen! Auch der Nu will sein
25282 Recht haben. Ehe wir Abschied nehmen, meine lieben Freunde, noch
25283 einen Zug vom Nektar des Nu aus den Kellern der La!
25285 Und dann hinauf in den Äther!“
25287 \section{59 - Die Befreiung der Erde}
25289 Zum zweiten Mal war es Herbst geworden, seit La und Saltner die
25290 Freunde in Friedau verlassen hatten, um zunächst außerhalb des
25291 Machtbereichs der Martier die Entwicklung der Dinge abzuwarten. Das
25292 ganze Gebiet der Vereinigten Staaten von Nordamerika stand ihnen
25293 zur Verfügung. Ihr Haus und ihr Glück führten sie mit sich. Ob in
25294 den blühenden Gärten des ewigen Frühlings an den Buchten der
25295 kalifornischen Küste, ob auf den Schneegipfeln der Sierra Nevada
25296 oder unter den Wundern des Yellowstone-Parks, für La und Saltner
25297 galt das gleich, das glänzende Luftschiff war ihre Heimat; ob es in
25298 den Lüften schwebte oder unter Palmen ruhte, treu barg es die Wonne
25299 der Vereinten und machte sie unabhängig von der Welt.
25301 Nur über dieses Freigebiet hinaus durften sie sich nicht wagen. La
25302 mußte sich den Wunsch versagen, die Ihrigen auf dem Mars oder auch
25303 nur ihren Vater am Pol der Erde zu besuchen, und konnte ihn selbst
25304 bloß zu kurzem Besuch einigemal bei sich sehen. Se war alsbald nach
25305 dem Mars zurückgekehrt. Palaoro, der sich zum geschickten
25306 Luftschiffer ausgebildet hatte, war bei Saltner zurückgeblieben.
25307 Auch die beiden Martier, die in Las Diensten standen, blieben ihr
25308 treu, selbst als sich das Verhältnis von Martiern und Menschen
25309 schärfer zuspitzte.
25311 Die Partei der Antibaten auf dem Mars hatte immer deutlicher ihre
25312 Ziele enthüllt. Den Menschen sollte die Würde der freien
25313 Selbstbestimmung abgesprochen, die Menschheit in eine Art
25314 Knechtschaft zum Dienst der Nume gestellt werden. Die Erde wollte
25315 man lediglich als ein Objekt der wirtschaftlichen Ausnutzung
25316 zugunsten des Mars behandeln und das Kulturinteresse der
25317 Menschheit nur insofern berücksichtigen, als es zum Mittel für die
25318 größere Leistungsfähigkeit dieser tributären Geschöpfe dienen
25319 konnte. Und diese Auffassung des Verhältnisses zur Erde war jetzt
25320 auf dem Mars zum Sieg gelangt. Sowohl im Parlament als im
25321 Zentralrat besaßen die Antibaten die Majorität. Die Abdankung von
25322 Ell, die unglücklicherweise kurz vor die Neuwahlen fiel, durch
25323 welche alle Marsjahre ein Drittel der Volksvertreter neu ernannt
25324 wurde, hatte zum Sieg der Antibaten bedeutsam mitgewirkt. Sie war
25325 als der sichtbare Beweis aufgefaßt worden, daß die bisherige
25326 Methode in der Regierung der Menschen nicht die richtige sei. Man
25327 verlangte ein rücksichtsloses Verfahren, höhere Revenuen, baldige
25328 Unterwerfung Rußlands und der Vereinigten Staaten. Mit dem Sieg der
25329 Antibatenpartei begann diese neue Politik. Maßregel folgte auf
25330 Maßregel, um die Erde dem Dienst des Mars zu unterwerfen.
25332 Oß und einige andere höhere Beamte der Martier auf der Erde waren
25333 allerdings aus ihren Stellungen abberufen worden, da sie zweifellos
25334 von jener nervösen Störung befallen waren, die man vulgär als
25335 Erdkoller bezeichnete. Aber ihre Ersatzmänner verfolgten die
25336 Politik der Unterdrückung nur mit größerer Klugheit. An Ells Stelle
25337 war der Martier Lei gekommen, ein ausgesprochener Antibat, ein sehr
25338 energischer Mann, der selbst vor gewalttätigen Eingriffen nicht
25339 zurückscheute. Ell war auf den Mars gegangen und hatte dort mit
25340 aller Kraft zugunsten der Erde zu wirken versucht, vorläufig ohne
25341 erkennbaren Erfolg. Gleich ihm waren seine früheren Untergebenen in
25342 das Privatleben zurückgetreten und agitierten nun auf dem Mars als
25343 seine entschiedenen und gefährlichen Gegner.
25345 Ells Oheim, der Protektor der Erde und Präsident des Polreichs,
25346 Ill, kämpfte noch eine Zeitlang gegen die vom Zentralrat
25347 gewünschten Maßregeln. Als man aber gegen seinen ausdrücklichen Rat
25348 ihn beauftragte, die Vorbereitungen zu treffen, um im nächsten
25349 Frühjahr die russische Regierung erforderlichenfalls mit Gewalt zu
25350 veranlassen, auch in ihrem Gebiet die Einsetzung martischer
25351 Residenten und Kultoren zuzulassen und einen jährlichen Tribut von
25352 30 Milliarden Mark zu zahlen – um sie zu zwingen, die ausgedehnten
25353 Steppen und Wüsten im Süden und Osten mit Strahlungsfeldern zu
25354 bedecken –, da legte auch Ill mit schwerem Herzen sein Amt nieder.
25355 Die Erde war nun der Gewalt einer den Menschen feindlich gesinnten
25356 Partei ausgeliefert.
25358 Rußland machte einen Versuch zum Widerstand. Aber der Geist, der
25359 jetzt auf dem Mars herrschte, war weniger ›human‹ als in den ersten
25360 Kriegen mit den europäischen Staaten. Die Martier scheuten sich
25361 nicht, den Hafen von Kronstadt und das blühende Moskau ohne
25362 Rücksicht auf Menschenleben zu zerstören. Der Zar gab nach, da er
25363 sah, daß alles auf dem Spiel stand und seine Herrschaft zu
25364 zerfallen drohte. Es gab keine Mittel für Rußland, der
25365 vernichtenden Gewalt der Luftschiffe zu widerstehen. Der russische
25366 Kaiser wurde Vasall der Marsstaaten. Das war im Sommer des dritten
25367 Jahres nach der Entdeckung des Nordpols.
25369 Schwer lag die Fremdherrschaft über Europa und den von ihm
25370 abhängigen Ländern. Die Geldsummen, welche in Gestalt von Energie
25371 nach dem Mars flossen, waren ungeheuer. Jedoch nicht diese
25372 Leistungen waren es, die als drückend empfunden wurden. Zwar
25373 erhoben die Staaten, um die auferlegten Tribute zu bezahlen,
25374 Steuern in einer Höhe, die man vorher für unmöglich gehalten hätte.
25375 Aber dies war nur die Form, in welcher ein Strom des Reichtums nach
25376 dem Mars hin mündete, dessen schier unerschöpfliche Quelle in der
25377 Sonne lag und nun zum erstenmal von den Menschen bemerkt und
25378 benutzt wurde. Es fehlte nicht an Geld, vielmehr, der
25379 Nationalreichtum stieg sichtlich, und zwar in allen Schichten der
25380 Bevölkerung, die Lebenshaltung hob sich, und von wirtschaftlicher
25381 Not war nirgends die Rede. Denn zahllose Arbeitskräfte fanden zur
25382 Herstellung und Bearbeitung der Strahlungsfelder Beschäftigung, und
25383 selbst die gefürchtete Entwertung von Grund und Boden trat nicht
25384 ein. Mit dem Fortschritt in der Herstellung billiger chemischer
25385 Nahrungsmittel fanden sich zugleich andere Methoden der
25386 Bodenausnutzung. Der Verkehr blühte. Das Hauptzahlungsmittel
25387 bestand in Anweisungen auf die Energie-Erträge der großen
25388 Strahlungsfelder. Die aufgespeicherte Energie selbst kam nur zum
25389 kleinen Teil in den Verkehr, die geladenen Metallpulvermassen, die
25390 ›Energieschwämme‹, wurden zum größten Teil direkt nach dem Mars
25391 exportiert, die Scheine über diese Erträge aber wanderten von Hand
25392 zu Hand und in die Regierungskassen als Steuern. Von hier wurden
25393 sie als Tribut an die Marsstaaten verrechnet.
25395 So hatten die Martier allerdings durch ihre Tributforderungen die
25396 Menschen gezwungen, der neuen Quelle des Reichtums in der direkten
25397 Sonnenstrahlung sich zuzuwenden und der Menschheit einen ungeahnten
25398 wirtschaftlichen Fortschritt verliehen. Aber sie hatten dies nicht,
25399 wie die Menschenfreunde auf dem Mars wollten, durch allmähliche
25400 Erziehung zur Freiheit getan, sondern durch Zwang. Und dieser Zwang
25401 war es, der die Menschen des äußeren Segens nicht froh werden ließ.
25402 Es war Fremdherrschaft, die auf ihnen lag, und je leichter ihnen
25403 der Gewinn des Unterhalts wurde, um so schwerer empfanden sie den
25404 Verlust der Freiheit und Selbständigkeit. Und der gemeinsame Druck
25405 ward wider Willen der Martier ein schnell wirkendes Mittel zur
25406 Erziehung des Menschengeschlechts. Er weckte das Bewußtsein der
25407 gemeinsamen Würde.
25409 Je schwerer die Hand der Martier auf den Völkern ruhte, um so
25410 rascher und mächtiger verbreitete sich der allgemeine Menschenbund.
25411 Seine Prinzipien waren noch dieselben: Numenheit ohne Nume!
25412 Erringung der Kulturvorteile, die der höhere Standpunkt der Martier
25413 bieten konnte, um die Erde unabhängig von ihrer Herrschaft zu
25414 machen – auf friedlichem Weg.
25416 Aber was Ill und Ell als das eigene Ziel betrachtet hatten, darin
25417 sahen die neuen Gewalthaber eine gefährliche Überhebung der
25418 Menschen, die nur zu Unbotmäßigkeit führen würde. Und sie begingen
25419 den großen Fehler, den Menschenbund zu verbieten.
25421 Damit wurde aus dem Bund eine geheime Gesellschaft, die nur um so
25422 fester zusammenhing. Er wurde ein wirklicher Bund der Menschen, der
25423 aufklärend und verbrüdernd wirkte zwischen allen Nationen und
25424 Stämmen, zwischen allen Gesellschaftsklassen und Bildungsstufen.
25425 Ein jeder fühlte nun, daß er nicht bloß Franzose oder Deutscher,
25426 Handarbeiter oder Künstler, Bauer oder Beamter sei, sondern daß er
25427 dies nur sei, um ein Mensch zu sein, um eine Stelle auszufüllen in
25428 der gemeinsamen Arbeit, das Gute auf dieser Erde zu verwirklichen.
25429 Die Gegensätze milderten sich, das Verbindende trat hervor. In den
25430 Staaten, in denen herrschende Klassen die hergebrachte Scheu vor
25431 der Geltung des Volkswillens noch immer nicht überwunden hatten,
25432 machte sich nun doch die Einsicht geltend, daß allein in der
25433 Einigkeit des ganzen Volkes die Kraft zur Erhebung zu finden sei.
25434 Längst erstrebte Forderungen einer volkstümlichen Politik wurden
25435 von den Fürsten zugestanden. Man lernte, jeden eignen Vorteil dem
25436 Wohl des Ganzen unterzuordnen. Und während ein ohnmächtiger Zorn
25437 gegen den Mars in den Gemütern kochte, erhoben sich die Herzen in
25438 der Hoffnung auf eine bessere Zukunft, und ein machtvoller, idealer
25439 Zug erfüllte die Geister: Friede sei auf Erden, damit die Erde den
25440 Menschen gehöre!
25442 Der Menschenbund war der Träger dieser Ideen, aber man zweifelte
25443 nun, sie auf friedlichem Weg durchführen zu können. Rettung, so
25444 schien es, war nicht mehr zu hoffen vom guten Willen der Martier;
25445 man mußte sie zu erobern suchen durch eine allgemeine gewaltsame
25446 Erhebung gegen die Bedrücker – „zum letzten Mittel, wenn kein
25447 andres mehr verfangen will, ist uns das Schwert gegeben“ –. Der
25448 Menschenbund wurde eine stille Verschwörung zur Abschüttelung der
25449 Fremdherrschaft. Aber wo war ein Schwert, das nicht vom
25450 Luftmagneten emporgerissen, vom Nihilit nicht zerstört wurde, das
25451 hinaufreichte zu den schwerelosen, pfeilgeschwinden,
25452 verderbenbringenden Hütern der martischen Herrschaft?
25454 Die herrschende Gärung konnte den Martiern nicht verborgen bleiben.
25455 Die Partei der Menschenfreunde auf dem Mars machte sich die
25456 Tatsache zunutze, daß die Unzufriedenheit auf der Erde nicht zu
25457 leugnen war. Sie wies auf die Gefahren hin, die hieraus entstehen
25458 mußten. Unermüdlich war Ell an der Arbeit, die Tendenzen der
25459 Antibaten zu bekämpfen und die Nume mit dem Wesen, der
25460 geschichtlichen Entwicklung und den Bestrebungen der Menschen
25461 bekannter zu machen. Und seine Anhänger wuchsen an Zahl. Aber
25462 gerade weil die Antibaten bemerkten, daß sie Gefahr liefen, an
25463 Macht einzubüßen, wurden sie um so verblendeter in den Mitteln zu
25464 ihrer Erhaltung. Aufs neue gewann die Absicht deutlichere Gestalt,
25465 den Menschen durch ein Gesetz direkt das Recht der Freiheit als
25466 sittliche Personen abzusprechen. Und gegen den Menschenbund wurde
25467 ein System von Verfolgungen in Szene gesetzt. Die Erbitterung nahm
25468 zu. Die Martier aber erkannten, daß die Fäden der Verschwörung nach
25469 den Vereinigten Staaten hinwiesen. Der Sitz der Zentralleitung des
25470 Bundes war nicht mehr in Europa, er befand sich in einem Land, das
25471 ihrer Macht nicht unterworfen war.
25473 Es kam zu einer stürmischen Sitzung im Parlament und im Zentralrat
25474 des Mars, etwa ein Jahr nach der Unterwerfung Rußlands. Man
25475 verlangte, daß nun auch die Vereinigten Staaten von Nordamerika
25476 gezwungen werden sollten, sich der direkten Regierung durch die
25477 Marsstaaten zu fügen. Eher werde man vor den Umtrieben des
25478 Menschenbundes und der Widersetzlichkeit der Erde nicht sicher
25479 sein. Und die Antibaten siegten wieder, obwohl mit geringer
25480 Majorität. Den Vereinigten Staaten wurde die Forderung gestellt,
25481 die Häupter des Menschenbundes, unter denen man Saltner als eines
25482 der gefährlichsten bezeichnete, auszuliefern und Residenten und
25483 Kultoren der Marsstaaten in die Hauptstädte der einzelnen Staaten
25484 aufzunehmen.
25486 Der Beschluß fand in einem großen Teil der Marsstaaten keineswegs
25487 Billigung. Die Ansichten Ells, der bei einer Nachwahl in das
25488 Parlament berufen worden war, wurden in weiten Kreisen geteilt. Man
25489 sagte sich, daß ein etwaiger Widerstand der Vereinigten Staaten zur
25490 Niederwerfung viel größere Mittel erfordern würde als die
25491 Bezwingung des russischen Reiches. Denn hier war die Sache
25492 entschieden, wenn der Zar sich beugte. In Amerika aber war
25493 anzunehmen, daß, wenn auch die zentrale Regierungsgewalt aufgehoben
25494 werde, jeder Staat für sich einen Widerstand leisten könne, der bei
25495 der weiten Ausdehnung des Gebietes zu umfangreichster
25496 Machtentfaltung und wahrscheinlich zu traurigen Verheerungen
25497 zwingen würde. Aber der Beschluß war nun gefaßt und mußte
25498 durchgeführt werden. Das Ultimatum wurde gestellt. Es enthielt die
25499 Drohung, daß im Fall irgendeiner Feindseligkeit gegen die zur
25500 Ausführung der verlangten Bestimmungen eintreffenden Luftschiffe
25501 das Gesetz als sanktioniert zu gelten habe, wonach die gesamte
25502 Bevölkerung der Erde des Rechts der freien Selbstbestimmung für
25503 verlustig erklärt werde.
25505 Die Vereinigten Staaten antworteten mit der Kriegserklärung.
25507 Drei Tage darauf erfolgte von seiten der Marsstaaten die
25508 Verkündigung des angedrohten Gesetzes: Die Bewohner der Erde
25509 besitzen nicht das Recht freier Persönlichkeit.
25511 Es war eine Zeit unbeschreiblicher Aufregung in allen zivilisierten
25512 Staaten. Man empfand die Erklärung als eine Beschimpfung der
25513 gesamten Menschheit. In Europa herrschte eine ohnmächtige Wut.
25514 Jeder bangte davor, sich zu äußern oder zu widersprechen, weil er
25515 den Schutz des Rechtes von sich genommen fühlte. Ein letzter Rest
25516 der Hoffnung ruhte noch auf den Vereinigten Staaten. Aber die
25517 Hoffnung war gering. Wie wollten sie der Macht der Martier
25518 widerstehen? Und wirklich – die Überflutung der Staaten durch eine
25519 Luftschifflotte von gegen dreihundert Schiffen ging vor sich, ohne
25520 daß Widerstand versucht wurde. Die martischen Schiffe verteilten
25521 sich auf die Hauptverkehrspunkte in dem ganzen ungeheuren Gebiet.
25522 Eine merkwürdige Ruhe herrschte im Land, ein passiver Widerstand,
25523 der unheimlich war. Die Kultoren und Residenten waren da, aber
25524 außerhalb des Nihilitpanzers ihrer Schiffe wagten sie nichts zu
25525 unternehmen. Die Martier stellten eine dreitägige Frist zur
25526 Übergabe der Regierungsgewalt und drohten im Fall der Weigerung mit
25527 Verwüstungen in großem Maßstab, vor allem auch mit Unterbrechung
25528 des Verkehrs. Es schien keine Rettung. Mit Zittern und Bangen
25529 verfolgte man auf der ganzen Erde die Vorgänge in Nord-Amerika. In
25530 dumpfem Schmerz beugten sich die Gemüter. Sollte auch das letzte
25531 Bollwerk der Freiheit auf der Erde vernichtet werden? Das war das
25532 Ende der Menschenwürde!
25534 Der gegenwärtige Protektor der Erde und Präsident des Polreichs,
25535 Lei, war mit der Exekution gegen die Vereinigten Staaten beauftragt
25536 worden. Sein Admiralsschiff lag auf dem Kapitol zu Washington. Am
25537 11. Juli sollte die zur Unterwerfung gestellte Frist ablaufen. Es
25538 war am Morgen dieses Tages, der die Geschichte der Menschheit
25539 entscheiden mußte, als der Protektor durch den Lichtfernsprecher
25540 der Außenstation am Nordpol den Auftrag geben wollte, eine
25541 Nachricht durch Lichtdepesche nach dem Mars zu senden. Vergeblich
25542 versuchte der Beamte zu sprechen. Der Apparat versagte – man mußte
25543 auf der Außenstation den Anschluß nicht zustande bringen können. Es
25544 wurde nun nach der Polinsel Ara telegraphiert. Die Leitung war
25545 nicht unterbrochen. Aber lange erhielt man keine Antwort. Endlich
25546 kam eine Depesche: „Anwesenheit des Protektors sofort
25547 erforderlich.“ Das Schiff des Protektors raste nach dem Nordpol,
25548 von einer kleinen Schutzflottille gefolgt. Im Lauf des Nachmittags
25549 bemerkte man, daß die übrigen in Washington befindlichen
25550 Luftschiffe der Martier ebenfalls nach Norden hin sich entfernten.
25551 Gleiche Nachrichten liefen aus allen übrigen Städten ein. Sobald
25552 das letzte Schiff der Martier die Hauptstadt verlassen hatte,
25553 tauchten vorher in den Häusern verborgen gehaltene amerikanische
25554 Truppen überall auf, die martischen Beamten, die allein den Verkehr
25555 mit dem Pol hatten vermitteln dürfen, sahen sich plötzlich für
25556 gefangen erklärt, und die nächste Depesche nach dem Pol lautete,
25557 nicht mehr in martischer, sondern in englischer Sprache: „Wir sind
25558 im Besitz des Telegraphen. Die feindlichen Schiffe sind fort.“
25560 Und die Antwort, gezeichnet vom Bundesfeldherrn Miller, lautete:
25561 „Großer Sieg! Die Außenstation ist erobert, achtzehn Raumschiffe
25562 mit 83 Luftschiffen fielen in unsere Hände. Lei gefangen. Von den
25563 zurückkehrenden Luftschiffen sind bereits über fünfzig genommen.
25564 Ruft alle Völker zum Kampf auf!“
25566 Das Unglaubliche war geschehen. Was niemand für möglich gehalten
25567 hatte – die Macht der Martier war gebrochen, die Unbesiegbaren
25568 waren gefangen in ihrem eigenen Bollwerk! Eine Vereinigung von
25569 lange vorbereiteter Überlegung, von unerhörter Tatkraft und
25570 schlauem Mut hatte es zustande gebracht. Die Nume waren vollständig
25571 überrascht worden.
25573 Tief verborgen in der Einsamkeit des Urwalds war ein Verein von
25574 Ingenieuren seit Jahr und Tag tätig gewesen. Der Opfersinn
25575 amerikanischer Bürger und die von der ganzen Erde
25576 zusammenströmenden Mittel des Menschenbundes hatten hier eine mit
25577 unbeschränktem Kapital arbeitende Werkstatt ins Leben gerufen. Man
25578 hatte auf dem Mars die Technik des Luftschiffbaus schon längst
25579 studieren lassen, und auf der Erde diente das Luftschiff ›La‹ als
25580 Muster. Es war gelungen, durch schlaue Operationen große
25581 Quantitäten von Rob, Repulsit und Nihilit einzuführen, und der
25582 allmächtige Dollar hatte es in Verbindung mit Kühnheit und
25583 Intelligenz fertiggebracht, daß hier in aller Stille eine Flotte
25584 von dreißig Luftschiffen hergestellt worden war. Die nötige
25585 Mannschaft war eingeübt worden. Das Letztere war hauptsächlich
25586 Saltner zu verdanken, der diesen Dienst auf seinem eigenen
25587 Luftschiff gründlich erlernt hatte. So war es gekommen, daß die
25588 Vereinigten Staaten ohne Wissen der Martier über Luft-Kriegsschiffe
25589 verfügten, die den martischen an Geschwindigkeit nichts nachgaben.
25591 Freilich, diese wenigen Schiffe konnten gegen die Übermacht der
25592 Martier und ihre überlegene Übung nichts ausrichten. Aber General
25593 Miller, der Generalstabschef der Union, hatte einen Plan
25594 ausgedacht, zu dessen Durchführung sie ausreichen konnten.
25596 Sobald die Flotte der Martier zur Besetzung der Staaten
25597 aufgebrochen war, hatte sich die kleine Unionsflotte unbemerkt in
25598 das nördliche Polargebiet begeben. Äußerlich besaßen die Schiffe
25599 ganz das Ansehen und die Abzeichen der martischen Kriegsschiffe. So
25600 näherten sie sich unbefangen der Polinsel Ara. Keiner der hier
25601 anwesenden Martier konnte vermuten, daß es sich um feindliche
25602 Schiffe handeln könne. Die Insel war überhaupt nicht eigentlich
25603 militärisch besetzt, denn sie war durch ihre Lage am Nordpol
25604 vollständig gegen eine Überrumpelung geschützt gegenüber einem
25605 Feind, der keine Luftflotte besaß. Außerdem ließ sich die ganze
25606 Insel auf dem Meer durch einen Nihilit-Kordon gegen jede Annäherung
25607 zu Schiff absperren. Es befanden sich daher nur einige Avisos zum
25608 Nachrichtendienst hier. Auf den benachbarten Inseln waren noch
25609 große Werkstätten errichtet, wo die vom Mars eingeführten
25610 Luftschiffe montiert und bemannt wurden. Daneben befanden sich
25611 ausgedehnte Werke zur Komprimierung von Luft, die nach dem Mars
25612 verfrachtet wurde. Im ganzen hatte sich so hier eine Kolonie von
25613 einigen tausend Martiern angesiedelt, die aber in keiner Weise auf
25614 einen kriegerischen Angriff eingerichtet war.
25616 Die Überrumpelung der Insel gelang vollkommen. Zwei Schiffe drangen
25617 unmittelbar an den inneren Rand des Daches der Insel. Die Besatzung
25618 dieser Schiffe bestand aus lauter Freiwilligen, die geschulte
25619 Ingenieure waren und die Einrichtungen des abarischen Feldes
25620 sorgfältig studiert hatten. Ehe man in den Maschinenräumen wußte,
25621 was vorging, waren die martischen Ingenieure überwältigt oder durch
25622 die vorgehaltene Waffe zur Ausführung der Befehle der Amerikaner
25623 gezwungen. Sie wurden verhindert, eine Nachricht durch das
25624 abarische Feld nach der Außenstation zu geben. Den nächsten
25625 Flugwagen, der zum Ring der Außenstation auffuhr, bestieg General
25626 Miller selbst mit einer auserwählten Schar von Offizieren,
25627 Ingenieuren und Mannschaften. Eine Stunde später waren sie auf dem
25628 Ring. Auch hier wurden die Ingenieure, welche das abarische Feld
25629 bedienten, ohne Schwierigkeit überrumpelt und gefesselt. Dann drang
25630 man in die obere Galerie, die große Landungshalle der Raumschiffe
25631 vor. Hier lag die größte Schwierigkeit. Mehrere hundert Martier
25632 waren damit beschäftigt, die Raumschiffe zu entladen, denn es waren
25633 neue Raumschiffe gekommen mit Kriegsmaterial, vor allem mit neuen
25634 Luftschiffen. Dies waren hauptsächlich Mannschaften der
25635 Kriegsflotte, die mit Telelytrevolvern bewaffnet waren. Sobald sie
25636 die erste Überraschung überwunden hatten, setzten sie sich zur Wehr
25637 und zwangen das kleine Häuflein der Angreifer, sich schleunigst in
25638 das untere Stockwerk zurückzuziehen. Hier erhielten diese zwar nach
25639 einiger Zeit Verstärkung durch einen zweiten Flugwagen, dennoch
25640 konnten es beide Teile nicht auf einen Kampf ankommen lassen – die
25641 Telelytwaffen, die hier gegeneinander wirksam geworden wären,
25642 hätten binnen wenigen Minuten zur vollständigen Vernichtung von
25643 Freund wie Feind geführt. Die Menschen aber befanden sich im Besitz
25644 des abarischen Feldes und der Elektromagneten der Insel – sie
25645 drohten, den ganzen Ring durch Veränderung des Feldes zum Sinken zu
25646 bringen und die Außenstation zu zerstören, wenn sich die Martier
25647 nicht auf der Stelle ergäben.
25649 Die Martier konnten zwar auf ihren Raumschiffen die Außenstation
25650 verlassen, doch hätte es mehrere Stunden gedauert, ehe sie
25651 dieselben klar zum Raumflug hätten machen können. In dieser Zeit
25652 konnte, wenn die Menschen ernstmachten, das Kraftfeld der Station
25653 und damit das Gleichgewicht des Ringes gestört werden. Überhaupt
25654 sagten sie sich, daß sie bald Hilfe und Ersatz von den Ihrigen
25655 bekommen müßten, und wollten deshalb nicht diese wichtigste ihrer
25656 Anlagen auf der Erde gefährden. So blieb ihnen nichts übrig, als
25657 sich gefangenzugeben.
25659 Inzwischen hatten die übrigen amerikanischen Luftschiffe die
25660 gesamte Kolonie auf den Inseln um den Pol eingeschlossen und
25661 rücksichtslos mit ihren Nihilitsphären und Repulsitgeschützen
25662 angegriffen. Die vollständig überraschten Martier waren wehrlos,
25663 die wenigen Schiffe, die zum Gebrauch fertig waren, wurden sofort
25664 durch die Angreifer zerstört, ehe sie soweit bemannt waren, daß sie
25665 sich durch den Nihilitpanzer schützen konnten. Andererseits waren
25666 diesmal die Menschen durch das Nihilit gegen einen Angriff durch
25667 die Telelytwaffen geschützt. Auch hier war die Überrumpelung
25668 gelungen, die Martier mußten sich ergeben. Sie wurden sämtlich auf
25669 der Insel Ara untergebracht und hier bewacht.
25671 Sobald die Insel im Besitz der Amerikaner war, wurde nach den
25672 Städten der Union telegraphiert, gleich als ob es sich um Bitten
25673 oder Anordnungen der Martier handle. Zunächst hatte man den
25674 Protektor um sofortige Rückkehr gebeten, dann richtete man ähnliche
25675 Ansuchen an die übrigen Schiffe der Martier. Einzelne Kapitäne
25676 folgten ohne Bedenken, andere hielten weitere Umfragen, wodurch
25677 eine allgemeine Verwirrung entstand. Es bestätigte sich jedoch, daß
25678 der Protektor selbst mit einer Flottille nach dem Pol aufgebrochen
25679 war. Endlich kam von der dem Pol zunächst gelegenen Station von
25680 einem martischen Kapitän selbst ein in der amtlichen Geheimschrift
25681 aufgegebenes Telegramm, das den tatsächlichen Vorgang meldete; die
25682 Polstation sei von einer Luftschifflotte der Union überfallen.
25683 Hierauf wurden sämtliche Schiffe zur Hilfeleistung nach dem Pol
25684 berufen, und auch das letzte Stationsschiff verließ Washington. Der
25685 Telegraph wurde nun von den Beamten der Union in Besitz genommen,
25686 und die Menschen erhielten jetzt die Nachricht von dem unerhörten
25687 Ereignis.
25689 Ahnungslos war Lei mit dem schnellen Admiralsschiff allen andern
25690 vorangeeilt, um nur sobald als möglich auf der Insel zu erfahren,
25691 was geschehen sei. In seinem raschen Flug bemerkte er die
25692 Zerstörungen in der Kolonie, konnte aber nichts anderes glauben,
25693 als daß es sich um einen Unglücksfall, eine Explosion handle. Er
25694 senkte sich auf das Dach der Insel, wo nichts Verdächtiges zu
25695 bemerken war. Aber kaum berührte das Schiff das Dach, als es im
25696 Augenblick erstürmt wurde. Der Protektor der Erde war
25697 kriegsgefangen.
25699 Nun erhob sich die kleine Luftflotte der Amerikaner und flog den
25700 nach und nach eintreffenden martischen Schiffen entgegen. Diese
25701 konnten in den sich nähernden Schiffen nichts anderes erwarten wie
25702 entgegenkommende Boten. Sie mäßigten ihren Flug, um etwaige Signale
25703 zu erkennen. Da zischten die Repulsitgeschosse, und ehe sich eine
25704 Hand nach dem Griff des schützenden Nihilitapparates ausstrecken
25705 konnte, wurden die Robhüllen zertrümmert, und die Schiffe der
25706 Martier stürzten in die Wogen des Meeres oder zerschellten auf den
25707 schwimmenden Eismassen. Es war eine furchtbare, erbarmungslose
25708 Zerschmetterung der Feinde.
25710 Noch mehrfach gelang es, vereinzelt ankommende Schiffe der Martier
25711 durch Überraschung zum Sinken zu bringen. Dann hatten einige der
25712 nachfolgenden Schiffe den Überfall bemerkt, die später
25713 eintreffenden waren gewarnt und näherten sich in ihren
25714 Nihilitpanzern. Zwischen zwei mit den Waffen und
25715 Verteidigungsmitteln der Martier ausgerüsteten Schiffen konnte es
25716 keinen Kampf geben, beide waren unverletzlich. Die Amerikaner zogen
25717 sich daher auf die Insel zurück, deren Umkreis auf dem Meer sie
25718 durch die Nihilitzone und deren Dach sie durch ihre Luftschiffe
25719 schützten. So war es auch den Martiern, die nun im Verlauf des
25720 Tages ihre ganze Flotte aus den Vereinigten Staaten um den Pol
25721 konzentrierten, nicht möglich, einen Angriff zu wagen.
25723 Während die Kapitäne noch berieten, brachte ein Schiff die
25724 Nachricht, daß nach einer Depesche vom Südpol auch die Außenstation
25725 an diesem Pol in den Händen der Menschen sei. Sie war gleichzeitig
25726 mit dem Nordpol von zwei amerikanischen Luftschiffen überrascht
25727 worden, die hier leichtes Spiel hatten. Der Südpol lag in der Nacht
25728 des Winters vergraben, die Station war bis auf eine kleine Anzahl
25729 Wächter verlassen, die den unerwarteten Besuch ohne Mißtrauen
25730 aufgenommen hatten und sogleich überwältigt worden waren.
25732 Die Nume auf der Erde waren somit von jeder Verbindung mit dem Mars
25733 abgeschnitten.
25735 Als die Nachricht nach Europa gelangte, brach ein Jubel aus, wie
25736 ihn die Erde noch nicht vernommen. Aber auch hier war alles zu
25737 einer Erhebung vorbereitet. Überall, wo sich die Beamten der
25738 Martier nicht in ihre Luftschiffe retten konnten, bemächtigte man
25739 sich ihrer Personen. Allerdings hielten die Luftschiffe ihrerseits
25740 die Hauptstädte besetzt und bedrohten sie mit vollständiger
25741 Vernichtung. Sie unterbrachen die Verbindungen der Länder mit dem
25742 Pol, und zwei Tage lang schwebte Europa wieder in banger Sorge. Es
25743 war der Rache der Martier schutzlos ausgesetzt, und die Regierungen
25744 waren gezwungen, die eignen Staatsbürger zum Teil mit Anwendung von
25745 Gewalt zu veranlassen, die gefangenen Martier wieder freizugeben.
25746 Der erste Jubel verklang so schnell, wie er gekommen war, und eine
25747 tiefe Niedergeschlagenheit trat an seine Stelle.
25749 Doch welch Erstaunen ergriff die Bewohner der europäischen
25750 Hauptstädte, als sie eines Tages die drohenden Kriegsschiffe auf
25751 den Dächern der Regierungsgebäude verschwunden sahen. Zuerst wollte
25752 man an keine günstige Veränderung glauben, man befürchtete
25753 irgendeine unbekannte, neue Gefahr. Um Mittag erst erklärte eine
25754 Bekanntmachung der Regierungen allen Völkern, was geschehen sei.
25755 Der Waffenstillstand mit dem Mars war geschlossen worden.
25757 Die Amerikaner hatten am Pol neben ungeheuren Vorräten an Rob und
25758 Kriegsmaterial einige achtzig Luftschiffe erbeutet und diese durch
25759 die gefangenen Martier instand setzen lassen. Dadurch waren sie in
25760 die Lage gesetzt, nicht nur den Pol zu halten, sondern ihre Macht
25761 auch über die ganze Erde zu erstrecken. Zwar konnten sie den
25762 Schiffen der Martier nichts anhaben, aber ebensowenig konnten sie
25763 von diesen aufgehalten werden. Sie begaben sich nach allen
25764 denjenigen Punkten der Erde, wo die Martier große Anlagen zur
25765 Verwertung der Sonnenstrahlung geschaffen hatten, und bedrohten
25766 diese mit Vernichtung des martischen Eigentums. Zugleich drohte man
25767 mit der völligen Zerstörung der Außenstationen an den Polen.
25768 Hierdurch wäre nicht nur das Leben von einigen tausend Martiern,
25769 sondern auch ein unermeßliches Kapital und die Verbindung zwischen
25770 Erde und Mars zerstört worden.
25772 Der gefangene Protektor korrespondierte von der Außenstation aus
25773 durch Lichtdepeschen mit dem Zentralrat des Mars. Hier erkannte man
25774 alsbald, daß die Gefahr ungeheurer Verluste und Verheerungen nur
25775 durch einen friedlichen Ausgleich zu vermeiden war. Der Zentralrat
25776 konnte nicht wagen, einen Vernichtungskrieg zu beginnen, der zwar
25777 schließlich mit der Ausrottung der Menschen und ihrer Kultur
25778 geendet, aber der Regierung der Marsstaaten die Verantwortung
25779 aufgebürdet hätte. Es wurde daher zwischen den Marsstaaten und dem
25780 Polreich der Erde einerseits, den Vereinigten Staaten, die auf
25781 einmal die führende Macht der Erde geworden waren, und den
25782 Großmächten Europas andererseits ein Waffenstillstand geschlossen,
25783 dessen Bestimmungen im wesentlichen folgende waren:
25785 Das Recht der Menschen auf die Freiheit der Person wird anerkannt.
25786 Die Nume sollen auf der Erde keinerlei Vorrechte besitzen.
25788 Das Protektorat über die Erde wird aufgehoben. Sämtliche bisherige
25789 Beamte der Marsstaaten auf der Erde und sämtliche Kriegsschiffe
25790 haben die Erde zu verlassen.
25792 Die Kriegsgefangenen werden freigegeben.
25794 Die Stationen der Martier auf den Polen sowie ihr gesamtes auf der
25795 Erde erworbenes Vermögen bleibt ihnen erhalten, desgleichen ihre
25796 Raumschiffe auf der Außenstation des Nordpols. Doch bleiben diese
25797 Stationen so lange im Besitz der Amerikaner, bis durch einen
25798 endgültigen Friedensvertrag das künftige Verhältnis der beiden
25799 Planeten geregelt sein wird, und zwar nach Maßgabe obiger
25800 Grundsätze.
25802 Dieser Friedensvertrag ist innerhalb eines halben Erdenjahres
25803 abzuschließen und soll den freien Handelsverkehr beider Planeten
25804 als eine Bestimmung enthalten.
25806 Der Sprung von der Not zur Rettung war so ungeheuer, daß man erst
25807 allmählich fassen konnte, welches Heil der Menschheit zuteil
25808 geworden. Und nun war die Freude unbeschreiblich.
25810 \tb{}
25811 Vom Mars kam Raumschiff auf Raumschiff und führte die Kriegsschiffe
25812 der Martier und diese selbst nach dem Nu zurück. Die Staaten
25813 ordneten aufs neue ihre Verfassungen und schlossen untereinander
25814 ein Friedensbündnis, das die zivilisierte Erde umfaßte. Die
25815 Grundsätze, welche der Menschenbund verbreitet und gepflegt hatte,
25816 trugen dabei ihre Früchte. Ein neuer Geist erfüllte die Menschheit,
25817 mutig erhob sie das Haupt in Frieden, Freiheit und Würde.
25819 Am dritten August verließ das letzte Raumschiff der Martier die
25820 Erde. Erst wenn der definitive Friede geschlossen war, sollte ein
25821 regelmäßiger, friedlicher Verkehr wieder beginnen. Bis dahin
25822 durften nur Lichtdepeschen gewechselt werden.
25824 \section{60 - Weltfrieden}
25826 Saltner hatte sich aus Rücksicht auf Las Eigenschaft als Martierin
25827 an der kriegerischen Erhebung gegen die Martier nicht beteiligt. La
25828 bedauerte innig die Trübung der Beziehungen zwischen den Planeten,
25829 doch stand sie nicht bloß als Gattin ihres Mannes, sondern auch mit
25830 ihrem Gerechtigkeitsgefühl auf der Seite der Menschen, die für ihre
25831 Unabhängigkeit kämpften. Sie hörte nicht auf zu glauben, daß die
25832 Vernunft auf dem Mars siegen und zu einem heilsamen Frieden führen
25833 werde.
25835 Sobald die Herrschaft der Martier über Europa aufgehört hatte,
25836 begab sich Saltner mit La und den übrigen Angehörigen des
25837 Luftschiffs in seine Heimat zurück. Er gab damit vor allem dem
25838 Wunsch seiner Mutter nach, die von tiefer Sehnsucht nach ihren
25839 heimatlichen Bergen befallen war. In der Nähe von Bozen, hoch über
25840 dem Tal, erwarb La eine schloßartige Villa, um den Herbst und
25841 Winter in diesem geschützten südlichen Klima und doch in Höhenluft
25842 zuzubringen.
25844 Der Verkehr durch Lichtdepeschen und die Friedensverhandlungen mit
25845 dem Mars gestalteten sich nicht so einfach, wie man gehofft hatte.
25846 Die Beamten, welche den Lichtverkehr zu vermitteln hatten, waren
25847 wenig geübt, und als im Herbst die telegraphische Station auf die
25848 Außenstation am Südpol verlegt werden mußte, gelang es nur mit
25849 Schwierigkeit, den Apparat hier überhaupt zur Funktion zu bringen.
25850 Eine Zeitlang fürchtete man, damit gar nicht zu Rande zu kommen,
25851 und als dies endlich geglückt war, kamen nicht selten
25852 Mißverständnisse im Depeschenwechsel vor, der infolgedessen von den
25853 Martiern auf das Dringendste eingeschränkt wurde.
25855 Und doch hätte man gerade jetzt auf der Erde, mehr als je, gern
25856 Näheres über die Vorgänge auf dem Mars erfahren. Denn die letzten
25857 Nachrichten waren beunruhigender Natur gewesen, und als über ein
25858 Vierteljahr vergangen war, ohne daß die entscheidende
25859 Friedensnachricht vom Mars eintraf, begannen beängstigende Gerüchte
25860 über die Absichten der Martier sich auf der Erde zu verbreiten. Es
25861 waren wiederholt in der Nähe der Station Raumschiffe beobachtet
25862 worden, die sich allerdings in gehöriger Entfernung hielten, aber,
25863 wie man fürchtete, die Vorboten irgendeiner feindlichen
25864 Unternehmung sein konnten.
25866 In der Tat stand das Schicksal der Erde vor einer furchtbaren
25867 Entscheidung.
25869 Die Niederlage der Martier, der Verlust der Herrschaft über die
25870 Erde, hatte der Antibaten-Partei zunächst einen schweren Schlag
25871 versetzt. Die Vertreter einer menschenfreundlichen Politik wiesen
25872 darauf hin, wie allein das scharfe und ungerechte Vorgehen gegen
25873 die Bewohner der Erde die Schuld trage, daß der Nume nun vor dem
25874 Menschen sich demütigen müsse. Es sei dies aber eine gerechte
25875 Strafe für die Fehler der Antibaten, die sich somit als unfähig zur
25876 Führung der Regierungsgeschäfte erwiesen hätten. Die Idee der
25877 Numenheit, die Gerechtigkeit gegen alle Vernunftwesen verlange als
25878 die allein würdige Sühne die Bestätigung der Freiheit, welche die
25879 Menschen sich erkämpft hätten. Es gäbe überdies kein Mittel, die
25880 Menschen, seitdem sie sich im Besitz der Waffen der Martier
25881 befänden, auf eine andre Weise zu bezwingen, als durch eine
25882 vollständige Verheerung ihres Wohnorts; eine solche Barbarei aber
25883 könne den Numen nie in den Sinn kommen. Sie seien der Erde genaht,
25884 um ihr Frieden, Kultur und Gedeihen zu bringen, nicht um einen
25885 blühenden Planeten zu vernichten, nur damit sie seine Oberfläche
25886 zur Sammlung der Sonnen-Energie ausbeuten könnten.
25888 Obwohl diese Ansicht wieder die öffentliche Meinung zu beherrschen
25889 begann, war doch die Macht der Antibaten noch keineswegs gebrochen.
25890 Es gab eine große Anzahl Martier, deren wirtschaftliche Interessen
25891 durch den Verlust der von der Erde fließenden Kontributionen
25892 geschädigt waren und deren Vernunft durch den Egoismus der
25893 Herrschsucht Einbuße erlitten hatte. Sie stellten sich auf den
25894 Standpunkt, daß die menschliche Rasse überhaupt nicht kulturfähig
25895 im Sinne der Nume sei und daß es daher für die Gesamtkultur des
25896 Sonnensystems besser sei, die Bewohner der Erde zu vernichten,
25897 damit ihr Planet den wahren Trägern der Kultur als unerschöpfliche
25898 Energiequelle diene. Der Wortführer dieser Ansicht war Oß, während
25899 Ell an der Spitze der Menschenfreunde stand. Man warf ihm vor, daß
25900 ja gerade durch seine Amtsführung als Kultor erwiesen wäre, wie
25901 unfähig die Menschen zur Aneignung der martischen Kultur seien.
25902 Habe er doch selbst sein Amt aufgegeben.
25904 Ell gab zu, daß er sich über die Schnelligkeit getäuscht habe, mit
25905 der seine Reformen zur Wirkung gelangen könnten. Die Nume seien zu
25906 zeitig zur Erde gekommen, die Menschheit sei allerdings noch nicht
25907 reif für die Lebensführung der Martier. Aber sie habe doch gezeigt,
25908 daß sie zu vorgeschritten sei, um als unfrei behandelt zu werden.
25909 Und deshalb sei es nunmehr der richtige Weg, durch einen
25910 friedlichen Verkehr mit der Erde die Vorteile auszunutzen, welche
25911 die Erde als Energiequelle biete, zugleich aber damit der
25912 Menschheit das Beispiel einer überlegenen Kultur zu geben, die ihr
25913 ein Vorbild sein könne. Nicht durch Unterjochung, sondern durch
25914 freien Wetteifer müßten die Menschen erst auf die Stufe geführt
25915 werden, die sie für die direkte Aufnahme martischer Kultur fähig
25916 mache.
25918 Diese entgegengesetzten Meinungen, die in den Marsstaaten zu
25919 heftigen politischen Kämpfen führten, verzögerten die endgültige
25920 Entscheidung über den Friedensschluß. Beide Parteien suchten den
25921 Abschluß immer wieder hinauszuschieben in der Hoffnung, bei den
25922 nächsten Wahlen zum Zentralrat eine entscheidende Majorität zu
25923 bekommen. Man wußte dies auf der Erde und sah daher dem Ausfall
25924 dieser Wahl mit Spannung und Furcht entgegen. Ell und Oß
25925 kandidierten beide für den Zentralrat. Der Sieg Ells bedeutete den
25926 Frieden. Der Sieg von Oß ließ befürchten, daß die Martier für ihre
25927 Niederlage vom 11. Juli furchtbare Rache nehmen würden. Anfang
25928 Dezember mußte die Wahl stattfinden, die Entscheidung fallen. Und
25929 gerade jetzt versagte wieder der Lichttelegraph. Seit vierzehn
25930 Tagen hatte man keine Depesche vom Mars erhalten, vergeblich
25931 arbeitete und operierte man an dem Apparat – die Rechnungen wollten
25932 mit den Beobachtungen nicht stimmen –, und jeden Tag depeschierte
25933 man vom Südpol, daß man bestimmt hoffe, morgen mit der Einstellung
25934 fertig zu werden.
25936 Unheimliche Gerüchte über die Absichten der Martier durchschwirrten
25937 die Erde. Eines vor allen nahm immer deutlichere Gestalt an und
25938 erfüllte die Gemüter mit Grausen. Man sagte, daß sich in Papieren
25939 der Martier, die nach der eiligen Entfernung der Beamten
25940 aufgefunden worden seien, ausgearbeitete Projekte befunden hätten
25941 zu einer völligen Vernichtung der Zivilisation der Erde. Der
25942 ehemalige Instruktor von Bozen, Oß, der Kandidat der Antibaten für
25943 den Zentralrat, bekannt als ein hervorragender Ingenieur, sollte
25944 der Urheber eines Planes sein, wonach bei einem dauernden
25945 Widerstand der Menschen die Oberfläche der Erde unbewohnbar gemacht
25946 werden konnte. Einzelne Blätter brachten detaillierte Ausführungen.
25947 Es handelte sich um nichts Geringeres als die Absicht, die tägliche
25948 Umdrehung der Erde um ihre Achse aufzuheben. Diese Rotation der
25949 Erde sollte so verlangsamt werden, daß der Tag allmählich immer
25950 länger wurde und endlich mit dem Umlauf der Erde um die Sonne
25951 zusammenfiele, daß also Tag und Jahr gleich würden. Dann würde die
25952 Erde in derselben Lage zur Sonne sein wie der Mond zur Erde, das
25953 heißt, sie würde der Sonne stets dieselbe Seite zukehren. Es gäbe
25954 keinen Unterschied mehr von Tag und Nacht, die eine Seite der Erde
25955 hätte ewigen Sonnenschein, die andere ewige Finsternis – die Sonne
25956 bliebe für denselben Ort stets in demselben Meridian stehen. – Die
25957 Folgen einer solchen Veränderung wären furchtbar gewesen. Der Plan
25958 der Martier sollte angeblich dahin gehen, die Erde in eine solche
25959 Stellung zu bringen, daß der Stille Ozean in ewiger Sonnenglut, die
25960 großen Festlandmassen aber, der Hauptsitz der zivilisierten
25961 Staaten, in ununterbrochener Nacht blieben. Dann mußte allmählich
25962 eine Verdampfung des gesamten Meeres stattfinden. Denn die
25963 Wasserdämpfe würden sich auf der immer kälter werdenden Nachtseite
25964 der Erde niederschlagen und diese mit ewigem Schnee und
25965 unschmelzbarem Gletschereis überziehen. Eine Eiszeit, der kein
25966 Leben widerstehen könnte, würde auf die Schattenseite der Erde
25967 hereinbrechen, während die Sonnenseite in Gluten verdorren würde.
25968 Wohl nur auf einer schmalen Grenzzone könnte sich Leben erhalten.
25969 Aber wer vermochte zu sagen, welch andere, verderbliche
25970 Umwandlungen bei einer derartigen Änderung des Gleichgewichts von
25971 Luft und Wasser auf der Erde noch eintreten mochten?
25973 Wohl versuchte man diesen Plan als ein törichtes Hirngespinst
25974 hinzustellen, als ein Schreckmittel, das die Martier wohl
25975 absichtlich den Menschen zurückgelassen hätten. Doch konnte man die
25976 entschiedenen Befürchtungen nicht genügend zerstreuen. Das Projekt
25977 schien zu gut fundiert. Oß hatte die Energiemenge ausgerechnet, die
25978 zur Hemmung der Erdrotation erforderlich ist. Sie ist allerdings so
25979 groß als die Strahlungsenergie, die von der Sonne in 600 Jahren zur
25980 Erde gelangt, wenn man nur die gegenwärtig den Menschen auf der
25981 Erdoberfläche zugängliche Energie in Anschlag bringt. Viel größer
25982 aber ist die Energiestrahlung unter Berücksichtigung aller
25983 Strahlengattungen. Und wenn die Martier den von ihnen
25984 aufgespeicherten Energieschatz aufbrauchten, so waren sie sicher,
25985 ihn wieder ersetzen zu können. Oß hatte eine Methode ausgedacht –
25986 er nannte sie die ›Erdbremse‹ –, wonach die Rotationsenergie der
25987 Erde selbst die Arbeitsquelle sein sollte, um eine Hemmung
25988 erzeugen, sie sollte zur Arbeit benutzt und somit die Erde durch
25989 sich selbst gebremst werden. Zwanzig Jahre genügten seiner Rechnung
25990 nach, um die Erdrotation auf das gewünschte Maß zu verringern.
25992 Mit besonderem Bangen sah man dem 11. Dezember entgegen. An diesem
25993 Tag fand die Opposition von Mars und Erde statt, es trat die
25994 Stellung ein, in der die beiden Planeten sich am nächsten befanden.
25995 Bei der Opposition am Ende des August vor vier Jahren war die
25996 Anwesenheit der Martier auf der Erde entdeckt worden; die
25997 Opposition im Oktober vor zwei Jahren hatte den Sieg der
25998 Antibatenpartei gebracht; so bildete man sich ein, die nächste
25999 Opposition im Dezember dieses Jahres müsse wieder durch irgendein
26000 unheilvolles Ereignis sich auszeichnen. Daß sich dieses gerade an
26001 den 11. Dezember, als den Tag der Opposition, knüpfen müsse, war ja
26002 eine Art Aberglaube; daß aber die Zeit der größten Annäherung der
26003 Planeten die günstigste für etwaige Unternehmungen der Martier
26004 gegen die Erde war, ließ sich nicht leugnen. Und so fehlte es nicht
26005 an düsteren Prophezeiungen für diesen Tag.
26007 Das Aufhören des Depeschenverkehrs mit dem Mars vergrößerte nun die
26008 Sorge. Man befürchtete, daß die Antibatenpartei gesiegt habe und
26009 die Unmöglichkeit, den Apparat einzustellen, auf einer
26010 absichtlichen Störung durch die Martier beruhe. Wenn das auch
26011 seitens der Union, die im Besitz der Außenstationen war, nicht
26012 zugegeben wurde, so traf man doch Anstalten, im Fall eines
26013 unerwarteten Erscheinens von Raumschiffen der Martier die Station
26014 sperren, ja im Notfall stürzen zu können. Seltsam war es gewiß, daß
26015 auch auf der Station am Nordpol, wohin man trotz des Polarwinters
26016 ein Luftschiff entsandt hatte, die Einstellung des Phototelegraphen
26017 nicht gelingen wollte.
26019 Inzwischen war die Entscheidung auf dem Mars gefallen. Ein
26020 aufregender Streit der Meinungen, wie er seit Jahrtausenden in der
26021 politischen Geschichte des Mars unerhört war, fand endlich seine
26022 Schlichtung. Die Beweggründe, die Ell zuletzt ins Feld führte,
26023 hatten einen durchschlagenden Erfolg. Der Plan von Oß, die Erde zu
26024 bremsen, bestand wirklich, und Ell zeigte, zu welchen
26025 unmenschlichen und verwerflichen Folgen diese wahnwitzige
26026 Unternehmung führen müsse, deren Möglichkeit außerdem durchaus
26027 fraglich sei. Und endlich deckte er einen Umstand auf, der bisher
26028 noch immer als Geheimnis behandelt worden war – die Gefahr, die den
26029 Menschen und vielleicht auch den Martiern bei einem dauernden
26030 Aufenthalt auf der Erde drohte, das Wiederaufleben der furchtbaren
26031 Krankheit Gragra. Selbst auf diese hatte Oß in einem geheimen
26032 Memorial hingewiesen als auf ein Mittel, die Menschen zu
26033 vernichten. Ell scheute sich nicht, dieses Aktenstück zu
26034 veröffentlichen. Da erhob sich eine allgemeine Entrüstung in dem
26035 überwiegenden Teil der Martier. Schon die ganze Methode geheimer
26036 Pläne und Machinationen, die den Martiern als ein bedenkliches
26037 Zeichen politischen Rückschritts erschien, noch mehr aber der
26038 Verfall der Gesinnung, die Mißachtung des sittlich Guten und Edlen
26039 empörte auch das Gemüt derer, die sich eine Zeitlang durch
26040 Sondervorteile hatten zu Menschenfeinden machen lassen, und
26041 erweckten sie zum Bewußtsein ihrer Würde als Nume. So brachte der
26042 Tag der Wahl ein überraschendes Resultat. Der Registrierapparat der
26043 telegraphisch abgegebenen Stimmen zeigte für Ell über 312 Millionen
26044 Stimmen gegen etwa 40 Millionen für Oß.
26046 Ell war mit einer erdrückenden Mehrheit in den Zentralrat gewählt,
26047 mit ihm noch Ill und drei andere Führer der menschenfreundlichen
26048 Partei. Die antibatische Bewegung war hierdurch endgültig
26049 unterdrückt.
26051 Schon am folgenden Tag genehmigte der Zentralrat den
26052 Friedensvertrag mit den verbündeten Erdstaaten in der Fassung, wie
26053 er längst sorgfältig ausgearbeitet von der menschenfreundlichen
26054 Partei vorlag.
26056 Aber ein unerwartetes Hindernis zeigte sich. Schon in den letzten
26057 Tagen waren die Depeschen nicht mehr von der Erde erwidert worden.
26058 Eine Störung des Apparats war vorhanden, und die Martier erkannten,
26059 daß sie auf der Unfähigkeit der Menschen beruhte, ihren
26060 Phototelegraphen zur Einstellung zu bringen. Trotz aller Bemühungen
26061 war es unmöglich, die Friedensbotschaft der Erde durch
26062 Lichtdepesche mitzuteilen.
26064 Der Zentralrat hatte beschlossen, daß Ell, in Anerkennung seiner
26065 Verdienste um die Erschließung der Erde und der nun erlangten
26066 Versöhnung der Planeten, an der Spitze der Kommission nach der Erde
26067 gehen sollte, die beauftragt war, den Friedensvertrag zwischen
26068 beiden Planeten zu vollziehen. Aber es war im Waffenstillstand
26069 bestimmt worden, daß kein Raumschiff auf der Erde landen sollte,
26070 bis nicht telegraphisch die Annahme des Friedens durch die
26071 Marsstaaten mitgeteilt sei. Und das war nun vorläufig unmöglich.
26073 Ein Raumschiff, das man entsandte, um Aufklärung über die Ursache
26074 der Störungen zu erhalten, und das mit der größten erreichbaren
26075 Geschwindigkeit fuhr, kehrte nach zwölf Tagen unverrichteter Sache
26076 zurück. Es hatte versucht, sich durch Signale mit der Außenstation
26077 am Südpol zu verständigen, war aber nicht verstanden worden. Und
26078 als es Anstalten traf, sich auf die Station hinabzulassen, wurde es
26079 durch Repulsitstrahlen bedroht und an der Landung verhindert, so
26080 daß es wieder umkehren mußte. Doch berichtete es, daß, soviel sich
26081 bemerken ließe, die Station nicht in richtiger Verfassung zu sein
26082 scheine und die Unmöglichkeit des telegraphischen Verkehrs
26083 vielleicht an einer Verschiebung der Außenstation liege.
26085 Hierauf nahm man seine Zuflucht zum Retrospektiv. Dies gestattete,
26086 die Station genau zu beobachten. Und nun stellte sich für die
26087 Gelehrten der Martier unzweideutig heraus, daß der Ring der
26088 Außenstation seine Lage geändert habe. Die Berechnung zeigte, daß
26089 binnen kurzem das Gleichgewicht des ganzen Kraftfeldes überhaupt
26090 gestört werden müßte, wenn nicht bald eine Korrektur eintrat. Die
26091 Menschen hatten es nicht richtig verstanden, die Korrektionen
26092 vorzunehmen, die zur Erhaltung des Feldes und des Ringes notwendig
26093 waren. Die Karte der Polargegend, die auf dem Dach der unteren
26094 Stationen sich befand und den Entdeckern des Nordpols das erste,
26095 unlösbare Rätsel über die Einrichtungen der Martier aufgegeben
26096 hatte, diente nämlich dazu, eine Kontrolle für die feinen
26097 Bewegungen der Außenstation infolge von Schwankungen der Erdachse
26098 zu haben. Beide Stationen, im Norden wie im Süden, schwebten nun in
26099 höchster Gefahr. Es mußte, sollte nicht der Verkehr mit der Erde
26100 dauernd in Frage gestellt sein, sofort das Kraftfeld in den
26101 richtigen Stand gesetzt werden, und dies konnte nur durch martische
26102 Ingenieure geschehen.
26104 Wie aber sollten die Martier dies rechtzeitig bewirken, da sie
26105 jetzt kein Mittel hatten, die Menschen zu benachrichtigen, und ihre
26106 Raumschiffe der Gefahr ausgesetzt waren, von den Menschen bei der
26107 Landung zerstört zu werden? Und selbst, wenn es gelang, sich vor
26108 der Landung mit den Menschen zu verständigen, so war es noch immer
26109 sehr fraglich, ob bei dem Zustand der Station nicht diese Landung
26110 mit unbekannten Gefahren verbunden sei. Jetzt das Band mit der Erde
26111 neu zu knüpfen, indem man sich einem Raumschiff anvertraute, war
26112 ein Unternehmen auf Leben und Tod. Wer wollte sich daran wagen? Der
26113 Wille zum Frieden war auf beiden Planeten vorhanden, der Beschluß
26114 der friedlichen Übereinkunft auf beiden Seiten gefaßt. Und nun
26115 sollte der Weltfrieden daran scheitern, daß man die
26116 Friedensbotschaft nicht verkündigen, die einzige Brücke, die
26117 Außenstation, nicht vor der Vernichtung schützen konnte?
26119 Da erbot sich Ell, das Rettungswerk zu unternehmen. Er wußte, was
26120 er wagte. Aber er wußte auch, daß, wenn irgend jemand, so ihm die
26121 Pflicht erwachsen war, die Verbindung zwischen den Planeten
26122 herzustellen. Wieder stand er so nahe an der Erfüllung seines
26123 Lebenszwecks, und noch einmal sollte seine Hoffnung fehlschlagen?
26124 Aber es war auch die einzige Aufgabe, die er noch zu erfüllen
26125 hatte. War der Friede geschlossen, so war alles getan, was er tun
26126 konnte.
26128 Eine freiwillige Gruppe geübter Ingenieure schloß sich ihm an. Das
26129 Regierungsschiff ›Glo‹ sollte Ell mit seinen Genossen binnen sechs
26130 Tagen nach der Erde bringen. Man hatte verschiedene Maßregeln
26131 ausgedacht, um den Menschen die friedliche Absicht kundzutun,
26132 insbesondere die Übermittlung von direkten Nachrichten durch
26133 Hinabwerfen geeigneter Gegenstände auf die Erde. Die Hauptsorge für
26134 Ell war, ob er noch zurecht kommen würde, den Einsturz der
26135 Außenstation zu verhindern. Mit noch nie erlebter Geschwindigkeit
26136 schoß der ›Glo‹ durch den Weltraum.
26138 Die Störungen des abarischen Feldes und der Außenstation waren zwar
26139 in der letzten Zeit auch von den Menschen wahrgenommen worden, doch
26140 reichten ihre Kenntnisse und Mittel nicht aus, sie in ihren
26141 Ursachen zu erkennen und ihre Bedeutung zu beurteilen. Man wußte
26142 nicht, in wie großer Gefahr die Station schwebe, wenn nicht
26143 schleunigst eine Korrektur eintrete. Als sich Ells Raumschiff der
26144 Station näherte, bemerkte Fru, der genaueste Kenner dieser Technik,
26145 der Ell freiwillig begleitet hatte, daß die Hilfe nur von der
26146 Erdoberfläche aus zu bringen sei. Von dorther mußte das Feld
26147 reguliert werden. Er bezweifelte, ob die regelrechte Beförderung im
26148 Flugwagen überhaupt noch möglich sei oder es für die nächsten
26149 vierundzwanzig Stunden bleiben werde, und da Ell fürchtete, viel
26150 kostbare Zeit zu verlieren, ehe er sich vom Raumschiff aus mit der
26151 Außenstation verständigen könne – denn dies war nur durch
26152 unzureichende Signale möglich –, so beschloß er, überhaupt vom
26153 Anlegen am Ring abzusehen. Er wollte vielmehr versuchen, sogleich
26154 so weit in die Atmosphäre hinabzusteigen, bis die Dichtigkeit der
26155 Luft das Aussetzen eines Luftschiffes gestattete, und mit diesem
26156 wollte er nach dem Pol direkt sich begeben. Es war dabei wichtig,
26157 der Erdachse so nahe wie möglich zu bleiben, obwohl er allerdings
26158 hier befürchten mußte, von den Menschen angegriffen zu werden, ehe
26159 er seine friedlichen Absichten darlegen konnte.
26161 Das Raumschiff hatte sich bis auf zwanzig Kilometer der
26162 Erdoberfläche genähert und kam nun in die Luftschichten, die
26163 freilich bei ihrer geringen Dichtigkeit den Menschen noch nicht
26164 gestatteten, sich in ihnen ohne Schutz aufzuhalten, aber doch die
26165 Grenze bildeten, bis zu welcher sich dicht verschlossene
26166 Luftschiffe allenfalls erheben konnten. Gern wäre Ell noch weiter
26167 hinabgestiegen, indessen schon nahten sich Kriegsschiffe der
26168 Menschen, deren Angriff er das schutzlose Raumschiff nicht
26169 aussetzen durfte. Aber diese trauten ihrerseits dem Raumschiff
26170 nicht und hielten sich in so weiter Entfernung, daß der Austausch
26171 von Signalen nicht möglich war. Die Martier ließen ihre in Kapseln
26172 eingeschlossenen Briefe durch eine besondere Vorrichtung aus dem
26173 hermetisch geschlossenen Raumschiff herabfallen, doch war nicht
26174 darauf zu rechnen, daß sie im Gewirr der Eisschollen des Bodens
26175 gefunden werden würden. Inzwischen drängte Fru auf einen
26176 entscheidenden Entschluß, da jede Stunde die Gefahr für die
26177 Erhaltung der Station vergrößerte.
26179 So entschloß sich Ell, das Raumschiff in einer Höhe zu verlassen,
26180 zu der die Luftschiffe nicht emporsteigen konnten. Hier war
26181 freilich das Luftschiff der Martier, auf welchem er das Raumschiff
26182 verlassen mußte, selbst der Gefahr ausgesetzt, sich nicht schwebend
26183 halten zu können. Dennoch war der Versuch, auf diese Weise zur Erde
26184 zu gelangen, die einzige Möglichkeit, die übrig blieb. Und Ill
26185 schwankte keinen Augenblick, die gefahrvolle Landung zu versuchen.
26187 Um das Luftboot so leicht wie möglich zu machen, nahmen außer Ell
26188 und Fru nur noch zwei Ingenieure in demselben Platz. Dann wurde es
26189 verschlossen und die Entladungskammer des Raumschiffs geöffnet.
26190 Sobald das Luftschiff von seinem Halt gelöst war, stürzte es mit
26191 großer Geschwindigkeit abwärts. Sofort wurden die Flügel
26192 ausgespannt und der Fall in eine schiefe Ebene übergeleitet, die in
26193 der Richtung nach dem Pol hinführte. So gelangte das Luftschiff bis
26194 in die Höhe von zehn Kilometern hinab und hatte sich damit dem Pol
26195 so weit genähert, daß seine Bahn in eine Schraubenlinie verändert
26196 werden mußte, damit es nicht zu weit vom Pol fortschösse. Jetzt
26197 hatten die amerikanischen Kriegsschiffe das martische Schiff
26198 bemerkt und näherten sich ihm, in ihre Nihilitpanzer gehüllt. Es
26199 gelang den Martiern, ihr Schiff zu ruhigem Schweben zu bringen. Wie
26200 jedoch sollte man sich bei den geschlossenen Schiffen verständigen?
26201 Und sie zu öffnen, verbot die noch viel zu stark verdünnte Luft
26202 dieser Höhe. Fru strebte danach, durch weiteres Sinken um einige
26203 tausend Meter in dichtere Luftschichten zu gelangen. Deshalb zog er
26204 die Flügel des Luftschiffs ein. Nun erst vermochten die
26205 amerikanischen Schiffe die große weiße Fahne zu erkennen, die das
26206 martische Schiff als Friedenszeichen führte. Sie näherten sich
26207 trotzdem weiter. Das eine legte sich in die Fallinie des martischen
26208 Schiffes und deutete damit an, daß es ein weiteres Sinken nicht
26209 zulassen würde. Das andere zog zum Zeichen des Verständnisses
26210 seinen Nihilitpanzer ein und kam dem martischen Schiff so nahe, daß
26211 man die hinter den schützenden Robscheiben ausgeführten Signale
26212 verstehen konnte.
26214 Ell signalisierte: „Wir bringen den Friedensvertrag. Ich, Ell, bin
26215 mit dem Abschluß beauftragt. Laßt uns sofort nach der Station.“
26217 Der Kapitän antwortete: „Ich bin hocherfreut, darf Sie aber nicht
26218 näher heranlassen, bis ich Instruktionen erhalten habe. Es werden
26219 sogleich weitere Schiffe eintreffen.“
26221 Darauf erwiderte Ell: „Es ist höchste Gefahr, die Außenstation ist
26222 im Gleichgewicht gestört. Lassen Sie uns sogleich hin.“
26224 Hierdurch wurde der Kapitän mißtrauisch. Er signalisierte: „Das
26225 verstehe ich nicht.“
26227 Ell war der Verzweiflung nahe. Der zähe Amerikaner antwortete
26228 nicht, und alles konnte an einer halben Stunde hängen, um die man
26229 zu spät zur Station kam. Auch Fru wußte nicht, was zu tun sei. Das
26230 Signalisieren nahm zu viel Zeit in Anspruch. Ja, wenn man sprechen
26231 könnte! Die Schiffe lagen jetzt dicht nebeneinander. Aber durch die
26232 geschlossenen Hüllen konnte der Schall nicht dringen.
26234 „Ich spreche hinüber!“ rief Ell. „Wir können nicht länger warten.“
26236 „Unmöglich“, rief Fru.
26238 „Es muß gehen.“
26240 Ehe ihn die andern hindern konnten, hatte er den Verschluß, der zum
26241 Verdeck führte, geöffnet und wieder geschlossen. Er stand auf dem
26242 Verdeck in der eisigen dünnen Luft. Mit Erstaunen sah man vom
26243 amerikanischen Schiff aus ihm zu. Ell winkte und rief durch ein
26244 Sprachrohr. Man verstand, daß er sprechen wolle. Der Kapitän, in
26245 seinen Pelz gehüllt, den Sauerstoffapparat vor dem Mund, trat
26246 ebenfalls auf das Verdeck. Ell mußte, um zu sprechen, die
26247 Sauerstoffatmung unterbrechen. Er mußte schreien, um in der dünnen
26248 Luft gehört zu werden. So setzte er dem Kapitän die Tatsachen
26249 auseinander. Dieser schüttelte einige Male den Kopf, dann begann er
26250 zu verstehen, er nickte. Er hütete sich wohl zu sprechen. Mehrere
26251 Minuten waren darüber vergangen. Ell fühlte, wie es ihm im Kopf
26252 sauste, wie sein Herz schlug, wie seine Glieder erstarrten, seine
26253 Augen nichts mehr erkannten. Aber der Amerikaner trat in sein
26254 Schiff zurück, und im Augenblick darauf entfernte es sich nach dem
26255 Pol zu.
26257 Fru öffnete den Verschluß und zog Ell in das Innere des Schiffes.
26258 Er faßte den Zusammensinkenden in seine Arme, ein Blutstrom brach
26259 aus Ells Munde. Vergeblich bemühten sich die Martier um den
26260 Leblosen, während ihr Schiff in rasender Eile dem Amerikaner nach
26261 dem Pol folgte.
26265 Die Mittagssonne eines klaren, windstillen Dezembertages lag auf
26266 den Bergen, deren helle Landhäuser über das Etschtal und die
26267 beschneiten Höhen weit nach Süden hin schauten. Es war warm wie im
26268 Frühling auf der Veranda, an deren Geländer La lehnte. Ihre Blicke
26269 waren auf den Fußweg gerichtet, der von der Stadt nach der Villa
26270 emporführte. Dort, wo der Pfad aus dem Tannenwald hervortrat, um in
26271 mehrfachen Windungen den steilen Rasenabhang vor dem Haus zu
26272 erklimmen, wurde jetzt Saltners Gestalt sichtbar. Er kam aus der
26273 Stadt. Mit Vorliebe pflegte er den Weg, obwohl er eine Stunde
26274 tüchtigen Steigens in Anspruch nahm, zu Fuß zurückzulegen, um, wie
26275 er sagte, nicht aus der Übung zu kommen. Sonst vermittelte das
26276 Luftschiff den Verkehr in wenigen Minuten. Als er La erkannte,
26277 schwang er den Hut und sprang schneller den Pfad hinauf. Bald stand
26278 er auf der Veranda.
26280 „Sind Nachrichten da?“ rief La ihm entgegen.
26282 „Vom Mars noch nicht, aber vom Südpol“, sagte er, sie mit einem Kuß
26283 begrüßend.
26285 „So ist die Einstellung noch immer nicht gelungen?“
26287 „Nein, aber man hat die Annäherung eines Raumschiffes beobachtet,
26288 das der ›Glo‹ zu sein scheint. Es vermeidet jedoch die Station und
26289 scheint sich unter dieselbe herab bis in die Atmosphäre senken zu
26290 wollen. Die amerikanischen Luftschiffe bewachen die gesamte
26291 Umgebung des Pols.“
26293 La atmete auf. „Das ist ein gutes Zeichen“, sagte sie. „Hoffentlich
26294 begegnet man ihm nicht feindlich, ein einzelnes Raumschiff ist
26295 nicht zu fürchten, es wird Nachrichten bringen wollen.“
26297 „Man kann das nicht wissen. Es ist gar nicht zu sagen, was die
26298 Martier möglicherweise sich ausgedacht haben und womit sie uns
26299 überraschen. Du warst selbst sehr besorgt.“
26301 „Ja, wenn Oß gesiegt haben sollte, wäre allerdings alles zu
26302 befürchten. Die ›Erdbremse‹ ist nicht bloß Phantasie, ich weiß, daß
26303 er solche Gedanken schon mit sich herumtrug, als er noch Assistent
26304 des Vaters war. Gebe Gott, daß das Schiff eine gute Nachricht
26305 bringt.“
26307 „Wir wollen uns nicht vor der Zeit ängstigen“, sagte Saltner, indem
26308 er den Arm um ihre Schulter legte, um sie von der Veranda ins Haus
26309 zu führen.
26311 In diesem Augenblick hallte vom Tal ein Kanonenschuß herauf. Gleich
26312 darauf ein zweiter und dritter.
26314 „Was ist das?“ fragte La erschrocken.
26316 Beide kehrten um und blickten auf die Stadt hinab. Wieder ertönten
26317 die Schüsse. Sie spähten mit den Ferngläsern hinunter.
26319 Saltner ergriff Las Hand.
26321 „Es muß eine gute Nachricht sein“, rief er. „Schau dort, an den
26322 Türmen und auf den Schlössern werden die Fahnen aufgezogen. Sollte
26323 etwa –“
26325 „O Sal, wenn es der Friede wäre!“
26327 Saltner eilte ans Telephon. Er sprach das Telegraphenamt an. Eine
26328 Weile mußte er warten, weil die Beamten voll beschäftigt waren.
26329 Dann kam die Antwort.
26331 „Botschaft vom Mars. Der Friedensvertrag nach Vorschlag der
26332 Erdstaaten vom Zentralrat genehmigt. Ell mit dem Abschluß des
26333 Friedens auf der Erde beauftragt. Nähere Nachrichten stehen noch
26334 aus.“
26336 La fiel ihrem Mann um den Hals. Tränen der Freude drängten sich in
26337 ihre Augen. Er schloß sie in seine Arme. Er wußte, was in ihr
26338 vorging. Jetzt, erst jetzt fand sie die volle Ruhe, nun war ihr
26339 Bund bestätigt vom Geschick der Planeten.
26341 „Wollen wir hinab, um die neuen Nachrichten in Empfang zu nehmen?“
26342 fragte er.
26344 „Laß uns hierbleiben. Ich möchte jetzt nicht gerade unter die
26345 Menschen. Bleibe bei mir in unserm Haus!“
26347 „So soll Palaoro mit dem kleinen Schiff hinab, um uns sogleich die
26348 Extrablätter mit neuen Nachrichten heraufzubringen. Du hast recht,
26349 geliebte La!“
26351 Noch ehe Palaoro zurückkehrte, erfuhr Saltner durch ein
26352 telephonisches Gespräch mit einem Freund den Hauptinhalt der neuen
26353 Depeschen. Diese waren aber so unklar und zum Teil widersprechend,
26354 daß La und Saltner nicht wußten, was sie davon halten sollten. Es
26355 hieß, die Gesandtschaft unter Ells Führung sei zum Abschluß des
26356 Friedens eingetroffen und habe die Friedensbotschaft selbst auf die
26357 Erde gebracht. Sie sei aber an der Landung verhindert worden, weil
26358 eine Beschädigung des abarischen Feldes vorläge. Eine spätere
26359 Depesche besagte, die Außenstation sei im Begriff,
26360 zusammenzustürzen, oder sei schon eingestürzt. Die Deputation der
26361 Marsstaaten sei dabei verunglückt. Die letzte Nachricht meldete,
26362 die Bestätigung des Friedensvertrages mit den Marsstaaten sei
26363 bereits an die Regierungen telegraphiert. Der Erbauer der Station,
26364 Fru, sei zur Rettung der Außenstation vom Mars herbeigeeilt.
26366 La und Saltner tauschten noch ihre Ansichten über die Bedeutung
26367 dieser Nachrichten aus, als Palaoro mit dem Luftboot anlangte. Das
26368 erste, was er überreichte, war eine lange Depesche an La.
26370 Sie riß den Umschlag auf.
26372 „Vom Vater“, rief sie jubelnd. „Er kommt zu uns!“ Sie durchflog das
26373 Blatt. Ihre Züge wurden ernst.
26375 „Was ist geschehen?“ fragte Saltner besorgt.
26377 „Der Vater ist gesund und die Station ist gerettet –“
26379 „Gott sei Dank!“
26381 „In der letzten Stunde. Mit Mühe gelang es dem Vater, das Unheil
26382 noch abzuwenden. Daß die Unseren zurechtkamen, verdanken sie der
26383 Aufopferung Ells. Und er –“
26385 Saltner beugte sich über das Blatt. La hob ihre tränenfeuchten
26386 Augen zu ihm auf, er küßte ihre Stirn.
26388 „Das Andenken dieses Edlen ist unvergeßlich“, sagte er. „Er war der
26389 Führer auf dem Weg, den die Welt nun wandeln kann zu Freiheit und
26390 Frieden.“
26392 \end{document}