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\quad *
\quad *
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9 \newcommand\bigpar\medskip
10 \newcommand\gedanke\textit
15 \textbf{\huge\textsf{Die letzte Grenze
}}
25 Dieser Text wurde erstmals veröffentlicht in:
27 Die Steampunk-Chroniken\\
33 Der ganze Band steht unter einer
34 \href{http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/
2.0/de/
}{Creative-Commons-Lizenz.
} \\
39 Spenden werden auf der
40 \href{http://steampunk-chroniken.de/download
}{Downloadseite
}
41 des Projekts gerne entgegen genommen.
45 Dieter Bohn, geboren
1963 in Trier, wohnt derzeit in Dormagen und
46 arbeitet im Marketing eines großen Automobilzulieferers.
48 Von »Raumpatrouille«, »Zack« und »Perry Rhodan« geprägt, ist er
49 seit fast
25 Jahren im Fandom mit Risszeichnungen, Datenblättern
50 und Illustrationen aktiv.
52 Die letzten Jahre nahm dabei das Schreiben von Stories einen immer
53 breiteren Raum ein. Er hat sich mit seinen Geschichten bei einer
54 Reihe von Schreibwettbewerben platziert, darunter
2009 beim
57 Neben einer Storysammlung und einem Hörbuch hat er in verschiedenen
58 Anthologien veröffentlicht, sowie drei STELLARIS-Gaststories zum
59 »Perryversum« beigesteuert.
61 Zurzeit schreibt er an seinem ersten Roman.
65 \texttt{http://www.dieterbohn.de/
}
68 \section{Die letzte Grenze
}
70 »Eine Frau? Mir kommt keine Frau an Bord!« Nicolas John McGuire III
71 hielt es nicht mehr in seinem Sessel. Sein Gesicht war puterrot.
72 »Und schon gar nicht eine Lady Thornton! Wenn sich diese
73 Suffragette beweisen will, soll sie Polo spielen!«
75 Die missbilligenden Blicke einiger anderer Mitglieder des
76 Hershley-Clubs in Oxford richteten sich auf die beiden Männer, die
77 sich bis gerade noch in angemessenem Tonfall in einer Ecke des
78 blauen Salons unterhalten hatten.
80 »Gemach, lieber Nicolas! Ihr vergesst Eure gute Erziehung!« Lord
81 Ralph Cumberland richtete das Mundstück seiner Pfeife anklagend auf
82 seinen Freund. »Lord Thornton ist ein Earl des Commonwealth, ein
83 Mitglied des Unterhauses … und unser wichtigster Geldgeber. Dem
84 schlägt man nicht so einfach einen Wunsch ab.«
86 »Einen Wunsch? Nur weil seine ungezogene Tochter den
\emph{Wunsch
}
87 nach etwas Aufregung verspürt, kommt mir keine Frau an Bord der
90 »Nun, da hinter diesem
\emph{Wunsch
} unser größter Mäzen steht, ist
91 es wohl eher ein
\emph{Befehl
}.« Das Mundstück der Pfeife
92 verschwand wieder in der gepflegten Fülle seines üppigen Barts.
94 »Dies ist kein Sommernachtsausflug zu den Scharrbildern von
95 Avebury. Wir setzen unser Leben aufs Spiel, um dorthin zu gehen, wo
96 noch nie ein Mensch zuvor gewesen ist! Die Chancen stehen fünfzig
97 zu fünfzig, dass wir nicht zurückkehren. Was sagt denn Lord
98 Thornton dazu? Hat er keine Angst um sein Töchterchen?« McGuire
99 warf entschuldigende Blicke zu den Männern im Salon. Dann richtete
100 der Mittdreißiger seinen Gehrock und ließ sich wieder in seinem
103 »Nun, Lady Ellen ist ein wenig … geradlinig in ihrem Temperament.
104 Wenn sie erst einmal Fahrt aufgenommen hat, ist sie wie ein
105 Dampfross, das niemand so schnell stoppen kann. Außerdem munkelt
106 man, dass Lord Thornton ohnedies nicht viel zu sagen hat. Sie ist
107 die Älteste von sechs Schwestern. Nach dem frühen Tode ihrer Mutter
108 hat sie das Regiment im Hause Thornton übernommen. Letztes Jahr hat
109 sie Kimberley auf seiner Expedition durch den Schwarzen Kontinent
110 begleitet und davor war sie mit Lambermont in der Antarktis. Ihr
111 seht, mein Freund, Master Thornton ist die Angst um sein
112 Töchterlein gewohnt.«
114 »Mit einem Schlitten durch das Ewige Eis oder auf Dromedaren durch
115 Dschungel und Wüsten ist eines, aber hier reden wir von einer Reise
116 mit einer Rakete zu den Planetenräumen!«
120 Nicolas John McGuire III starrte wie ein verschrecktes Kaninchen
121 auf die feingeschnittene Hand, die sich ihm forsch
124 »Gehe ich recht in der Annahme, dass auch Sie ein großer Liebhaber
125 der Werke von Jules Verne sind?«, fragte der Rest, der irgendwo an
126 der Hand hing und der Nicolas nur als weißes Kleid ins Bewusstsein
127 drang. Dieses Mädchen – diese Frau – legte ein reichlich
128 ungebührliches Verhalten an den Tag. Nicolas’ Augen wanderte den
129 rüschenbesetzten Arm hinauf, bis er in zwei grüne Augen blickte,
130 die ihn im Schein der Gaslaternen frech ansahen. Sie hatte ein
131 schmales Gesicht. Zu schmal für Damen ihres Standes, deren
132 Lebenszweck sich üblicherweise scheinbar darin erschöpfte, auf
133 Gesellschaften zu promenieren und sich mit erlesenen Speisen zu
136 ›Natürlich!‹, wollte er sagen, aber es kamen nur gegurgelte Laute
137 aus seinem Mund. Die Luft im Lesezimmer seines Landsitzes kam ihm
138 plötzlich heiß und stickig vor. Diese Frau entsprach ganz und gar
139 nicht den Ladies, die er im Allgemeinen mit Verachtung strafte.
141 »Ah, da stehen ja seine Bücher!« Sie drehte sich scheinbar entzückt
142 zu einer Bücherwand um und überspielte damit den Fauxpas McGuires.
143 »Sie haben bestimmt eine Menge Anregungen in seinen Büchern
146 »Mylady«, fand McGuire endlich seine Stimme wieder. »Ich kann nicht
147 verhehlen, dass es mir widerstrebt, Sie auf diese ungewisse Reise
148 mitzunehmen. Aber nachdem Ihr werter Herr Vater uns keine Wahl
149 lässt, muss ich wohl in den sauren Apfel beißen.«
151 »Ich danke Ihnen für ihre Offenheit, Lord McGuire. Aber ich bin nun
152 einmal neugierig. Zu neugierig, um mein Leben damit zu vergeuden,
153 an der Seite eines Ehemannes
\emph{nur
} schön auszusehen. Wenn man
154 fünf widerborstige Schwestern hat, lernt man schnell sich
155 durchzusetzen, oder man findet sich mit irgendeiner langweiligen
156 Lordschaft verheiratet wieder … Oh! Verzeihung, Eure
157 \emph{Lordschaft
}.« Sie klimperte kokett mit den Wimpern.
161 In diesem Augenblick kam Cumberland zur Tür herein. »Die Kutsche
164 McGuire bot der knapp zehn Jahre jüngeren Frau galant den Arm.
165 Gemeinsam schlenderten sie zur Kutsche.
167 »Ja, ich bewundere Verne. Aber auch all die anderen Utopisten. Ohne
168 solche Menschen – Menschen mit Visionen … mit Phantasie – würden
169 wir vielleicht noch auf den Bäumen hocken.«
171 »Sie sind doch nicht etwa auch ein Anhänger von diesem Darwin?
172 Lassen Sie das nicht den Erzbischof hören!«
174 »Verne hat sich nur in einem wichtigen Punkt geirrt. Man kann eine
175 Rakete nicht mit einer Kanone
\emph{abschießen
}. Die Besatzung
176 würde durch die Kräfte des Abschusses regelrecht – verzeihen Sie
177 mir den ordinäre Ausdruck – zerquetscht werden. Aber warten Sie ab,
180 Sie stiegen in die Kutsche und machten sich auf den langen Weg
181 durch das hügelige Hinterland. Nach einer Stunde, in der Lady
182 Thornton die beiden Männer mit fundiertem Wissen und
183 ausgezeichneter Bildung überraschte, erreichten sie einen Durchlass
184 in einer schwer bewachten Zaunanlage.
186 »Nationales Interesse! Sie verstehen?«, sagte Cumberland, als die
187 Soldaten Ihrer Majestät sie durchließen. »Wer den Æther beherrscht,
188 beherrscht die Welt.«
190 Schließlich bog ihre Kutsche um einen letzten Hügel … und da lag
193 »Dies ist die
\emph{Explorer
}!«, Nicolas deutet voller Stolz auf
194 das Gebirge aus Kupfer, Messing und Holz. Die
\emph{Explorer
} war
195 beileibe nicht schön, aber beeindruckend in ihren Ausmaßen. Im
196 Grunde sah sie aus wie eine Dampflokomotive, die garstige Riesen
197 zur Form einer Mörsergranate verknetet hatten.
199 »Sie liegt ja auf Schienen!«, sagte Lady Thornton verblüfft,
200 nachdem sie eine Weile die gigantischen Ausmaße der Gefährtes
203 »Wie ich bereits sagte: Verne lag falsch mit seiner Kanone. Wie Sie
204 sehen, laufen die Schienen von der Spitze dieses Hügels dort durch
205 das Tal bis zum Gipfel jenes Berges dort in der Ferne. Wir
206 verwenden ein Dampfkatapult, das die
\emph{Explorer
} den ganzen Weg
207 \emph{kontinuierlich
} beschleunigt. Erst wenn wir dort hinten die
208 Schienen verlassen, setzt unser eigener Antrieb ein.« Nikolas war
209 in seinem Element. »Wir verwenden eine gewichtsreduzierte WATSON
210 231 Dampfmaschine mit fliehkraftgeregelter Druckkontrolle und eine
211 spezielle Übersetzung mit verminderter Reibung. Eine automatische
212 Zufuhr schiebt spezielle Kohlepellets nach einem fein abgestimmten
213 Programm in den Brennofen ein. Die Kessel werden bereits
214 aufgeheizt. Sehen Sie diese Holzluken dort, Mylady? Sobald uns das
215 Dampfkatapult aus dem Bereich der Erdanziehungskraft herausgeworfen
216 hat, werfen wir diese Luken ab – das spart Gewicht – und dann
217 fahren vier Propeller aus, die im Moment noch hinter den Luken im
218 Rumpf der
\emph{Explorer
} versenkt sind.«
220 »Wenn man bedenkt, dass vor wenigen Jahrzehnten noch dieser Newton
221 behauptete, dass das Schwerefeld der Erde zu stark sei, um es mit
222 dampfgetriebenen Luftschiffen zu verlassen.« Auch Cumberland stand
223 die Begeisterung in Gesicht geschrieben. »Mit diesem Gefährt werden
224 wir Geschichte schreiben. In wenigen Jahren werden hunderte solcher
225 Fahrzeuge unterwegs sein, um neue Welten zu erobern.«
227 »Und was geschieht, wenn wir diese neuen Welten erobert haben?«,
228 fragte die junge Frau, die ihren Blick nur mühsam von der
229 \emph{Explorer
} losreißen konnte. »Werden wir dann das Leid, mit
230 dem wir unseren eigenen Planeten zu Grunde richten, auch auf neue
231 Planeten exportieren? Ich
\emph{war
} in Afrika und ich habe
232 gesehen, was wir
\emph{zivilisierten
} Weißen mit den schwarzen
233 Eingeborenen gemacht haben! Sie haben uns mit offenen Armen
234 empfangen – und wir machten Leibeigene aus ihnen!«
236 »Mich dünkt, Eure Ansichten sind recht …
\emph{liberal
}, Mylady«,
237 sagte Lord Cumberland mit einem missbilligenden Heben der
240 »Bei Ihnen klingt das wie ein Schimpfwort! Spricht es denn gegen
241 die Würde unseres Standes, die Würde anderer Menschen … die Würde
242 \emph{aller
} Menschen zu achten?«
244 »Bitte, Mylady! Lord Cumberland! Echauffieren Sie sich bitte nicht!
245 Vielleicht ist es dem Menschen ja gar nicht gegeben, die Erde zu
246 verlassen. Vielleicht überstehen unsere schwächlichen Körper den
247 Start ja gar nicht. Vielleicht ist die Luft dort draußen im Æther
248 doch nicht atembar? Vielleicht wimmelt es dort oben von Meteoren,
249 die jeden Verkehr zwischen den Planeten unmöglich machen.«
251 »Wenn Sie mich fragen«, flüsterte Lord Cumberland mit einem
252 Seitenblick auf Lady Thornton, »halte ich Meteoriten nicht
253 unbedingt für die größte Gefahr, die uns auf der Reise droht.«
257 „Verehrter Lord McGuire, zuerst einmal danke ich Ihnen dafür, dass
258 Sie sich für dieses exklusive Interview bereit erklärt haben. Der
259 Start Ihrer … Wie nennen Sie es?
\emph{Weltenrakete
}? … wird
260 \emph{das
} Ereignis von nationaler Bedeutung sein. Und deshalb ist
261 es mir eine besondere Ehre, dass Sie den Lesern der
262 \emph{New London Gazette
} diesen Logenplatz in der Geschichte
265 »Es ist mir ein Vergnügen, Mister Conolly! Ich möchte Sie aber noch
266 einmal nachdrücklich auf unsere Vereinbarung hinweisen, dass dieses
267 Interview erst am Tage vor dem Start am
19. Mai erscheinen darf!
268 Wie ich Ihnen bereits mitgeteilt habe, wissen wir, dass eine Gruppe
269 französischer Offiziere an einem ähnlichen Vorhaben arbeitet. Es
270 ist eine Frage der nationalen Ehre, dass es ein Gefährt des
271 Britischen Empires sein
\emph{muss
}, das zuerst den Weltenæther
272 zwischen den Planeten erobert.«
274 »Das bringt mich auf die Frage nach Ihrer Motivation. Unbeachtet
275 davon, dass es eine Frage der Ehre ist. Was bringt einen Gentleman
276 dazu, dieses Risiko auf sich zu nehmen?«
278 »Sehen Sie, der Reichtum des Commonwealth liegt in seinen Kolonien
279 begründet. Um seinen Reichtum zu bewahren, muss ein Reich
280 expandieren. Nun, da die weißen Flecken der
\emph{Terra Incognita
}
281 immer kleiner werden, wird eine weitere Expansion nicht ohne
282 militärische Konflikte ablaufen. Aber
\emph{da draußen
} erwarten
283 uns genügend unerforschte Gestade – wie seinerzeit Australien – um
284 neue Kolonien zu gründen.«
286 »Aber Sie wissen doch überhaupt nicht, was Sie dort draußen
289 »Da muss ich Ihnen widersprechen: Heute wissen wir sehr wohl, wie
290 es dort draußen aussieht. Zumindest
\emph{glauben
} wir es zu
291 wissen. Sehen Sie, früher glaubte man, die Erde stehe im Zentrum
292 des Universums. Dabei war das nur die Erklärung für das, was die
293 Menschen sahen: Sterne gehen im Osten auf, im Westen unter – also
294 dreht sich der Kosmos offenbar um die Erde. Sternbilder verändern
295 nie ihren Umriss – also müssen ihre Lichtpunkte wohl an der
296 Innenseite einer weiten Kugel fixiert sein, in deren Zentrum die
297 Erde ruht. Jede andere Konfiguration würde nämlich im Lauf der
298 Nacht den Abstand der Fixsterne verändern und perspektivische
299 Verzerrungen verursachen. Und auf dieser Fixsternsphäre kreisen die
300 Wandelsterne wie Mond, Sonne, Planeten um die Erde auf ihren
301 verschiedenen Bahnen.«
303 »Sie sprechen von der Vorzeit.«
305 »Durchaus nicht! Es sind gerade mal
500 Jahre her, dass Kopernikus
306 die Erde von ihrem Thron im Zentrum des Universums gestoßen hat.
307 Zumindest der hinreichend gebildete Mensch weiß dies. Aber gehen
308 Sie mal aufs Land und fragen Sie einen einfachen Bauern … Dort
309 spricht man immer noch von
\emph{Himmelsgewölbe
}. Heute wissen wir,
310 dass die Erde eine Welt unter vielen ist und der Blick durch immer
311 bessere Teleskope zeigt uns, wie es auf diesen Welten aussieht.
312 Zumindest
\emph{glauben
} wir es zu wissen. Aus diesem
313 \emph{Glauben
} wird jedoch nur
\emph{Wissen
}, wenn jemand hinfährt
316 »Stimmt es, dass Sie den Mond nur umrunden wollen? Wenn Sie schon
317 einmal diesen weiten Weg zurückgelegt haben, warum können Sie dann
320 »Landen könnten wir schon! Aber wir könnten nicht mehr starten!
321 Auch wenn die Schwerkraft auf dem Mond geringer als auf unserer
322 Erde ist, es fehlt uns auf dem Mond ein geeignetes Dampfkatapult,
323 das uns hilft, diese Schwerkraft zu überwinden. Aus eigener Kraft
324 ist unser Weltenschiff nicht dazu in der Lage. Noch nicht! Wir
325 legen
\emph{jetzt
} den Grundstein für eine Mondlandung, indem wir
326 ein mögliches Landeterrain sondieren. Es bleibt späteren
327 Expeditionen überlassen, eine permanente Kolonie auf dem Mond zu
328 errichten und ein geeignetes Rückkehrkatapult zu installieren.«
330 »Würden denn die Menschen einer solchen Kolonie auf dem Mond
333 »Nun, spätestens seit den Höhenexpeditionen der Gebrüder
334 Montgolfier wissen wir, dass der gesamte Weltenæther mit atembarer
335 Luft gefüllt ist. Bis man Wasser auf dem Mond selbst findet, müsste
336 man es von der Erde oder den Eisplanetoiden herbeischaffen. Ob der
337 Mondstaub allerdings ausreichend fruchtbar für den Anbau von
338 Nahrung ist, ist ein Restrisiko, das ich persönlich bereit wäre
341 »Apropos
\emph{Risiko
}: Ist es nicht zu riskant, eine Frau mit auf
342 die Expedition zu nehmen?«
344 »In der Tat: Es
\emph{ist
} riskant! Aber Lady Ellen Thornton hat in
345 den letzten Jahren gezeigt, dass Sie das Risiko nicht scheut!«
347 »Aber ist es denn schicklich – gerade für eine Dame ihres Standes –
348 Wochen zusammen mit zwei
\emph{Männern
} auf engstem Raum zu
351 »Ich bitte Sie!
\emph{Gerade
} Angehörige unseres Standes verfügen
352 über die nötige Distinguiertheit, um
\emph{über
} solchen Gelüste zu
353 stehen, auf die Sie offenbar anspielen. Wir treten diese Expedition
354 als Vertreter der Menschheit an – der
\emph{gleichberechtigten
}
357 »Sie sprachen Australien an. Erwarten Sie, auf neue Aboriginies zu
360 »Ganz auszuschließen ist dieser Gedanke nicht. Aber das Ausmalen
361 dieses Bildes überlasse ich lieber den hochverehrten Herrschaften
362 Shelley, Conan-Doyle, Wells und Verne.«
366 Nicolas John McGuire III stellte eine hölzerne Kiste auf den Tisch,
367 die ein wenig aussah wie ein dickes Grammophon samt Schalltrichter,
368 mit einer milchig, gläsernen Platte an der Stirnseite. »Dies ist
369 eine Erfindung eines befreundeten preußischen Obersts. Er nennt sie
370 \emph{Fernzeichner
}. Sie sendet geheimnisvolle Strahlen aus – er
371 nennt sie Z-Strahlen. Wenn die Strahlen auf einen Gegenstand
372 treffen, werden sie zurückgeworfen und hier in diesem Trichter
373 gesammelt. Auf irgendeine Weise, fragt mich nicht
\emph{wie
}, wird
374 hier …«, er klopfte auf die milchige Glasplatte, »… ein Bild
375 daraus, wie der Æther vor uns aussieht. Wenn ein Hindernis vor uns
376 ist, sollte es hier erscheinen.«
378 Sein Freund Ralph Cumberland trat näher und beäugte den Kasten
379 misstrauisch. »Hat das irgendetwas mit dieser neumodischen
380 Elektrizitätskraft zu tun, die auf so geisterhafte Weise Dinge
383 Nicolas zuckte mit den Schultern. »Es funktioniert! Wie … ist mir
386 »Ich habe davon in einer Gazette gelesen. Das ist unheimlich! Wenn
387 nicht sogar
\emph{unheilig
}!«
389 »Ich habe auch davon gelesen«, sagte Lady Thornton. »Das ist die
392 »Das ist Magie!
\emph{Schwarze
} Magie!« Cumberland fuchtelte mit
393 seiner Pfeife herum. »Die Welt wird vom Dampf bewegt. Das reicht!«
395 »In ein paar Jahrzehnten wird die Dampfkraft von der Elektrizität
396 verdrängt werden!«, fauchte die Lady.
398 »Papperlapapp! Das Britische Empire ruht auf den Säulen Kohle,
399 Dampf und den Ressourcen seiner Kolonien! Und so wird es – mögen
400 Gott und die Königin uns beistehen – immer sein!«
402 Nicolas blickte zwischen seinem Freund und dieser streitbaren
403 \emph{Frau
} hin und her. Auf der einen Seite sein Freund Ralph, den
404 er seit Jahren kannte und schätzte und der ihm nun erschreckend
405 blasiert und borniert vorkam. Und auf der anderen Seite dieses
406 aufgeschlossene, scharfzüngige, quirlige, streitbare, starke … und
411 Der Start war schlimmer gewesen als erwartet. Tonnen schienen ihre
412 Körper in die Spezialsessel zu pressen. Die unhandlichen Anzüge aus
413 feuerhemmenden Materialien taten das ihre, die Andruckphase zu
414 einer Tortur zu machen. In ihren Rücken fauchte der Kessel,
415 gurgelten die Leitungen, stampften die Kolben – wie ein
416 vorsintflutliches Ungeheuer. Lady Thornton hielt sich besser als
417 erwartet. Beim Einsetzen der Schwerelosigkeit verlor sie kurz das
418 Bewusstsein, doch schon bald nahm sie ihren Platz vor den
419 Backbordinstrumenten ein. McGuire saß festgeschnallt vor dem Ruder
420 und Cumberland hielt mit einer Karbidlampe und einem System von
421 Parabolspiegeln Kontakt mit Beobachtern auf der Erde.
423 »Ich wünschte, mehr Menschen könnten diesen Blick auf den Erdball
424 werfen.« Lady Thornton konnte ihren Blick kaum vom Backbordbullauge
425 abwenden. »Es würde ihnen zeigen, wie klein sie und ihre
426 kleinlichen Zänkereien um die Länder Anderer sind.«
428 McGuire unterdrückte ein Grinsen als er die Schnute sah, die Lady
429 Thornton ganz undamenhaft zog. Diese Frau – und dass sie eine Frau
430 war, konnte auch die eher funktionale als ästhetische Schutzmontur
431 nicht verbergen – benahm sich manches Mal eher wie ein Lausejunge,
432 als eine Lady des Commonwealths. McGuire ertappte sich immer öfter
433 dabei, dass er sich, wie ein Bildhauer vor einem unbehauenen Block
434 Marmor, die Figur
\emph{darin
} vorstellte.
436 »Sie spielen doch nicht etwa die Kolonialpolitik unseres
437 ruhmreichen Landes an?«, brauste Cumberland auf.
439 »Wo denken Sie hin, Lord Cumberland?«, begann sie in zuckersüßem
440 Tonfall, um just, als ein befriedigter Ausdruck auf seinem Gesicht
441 erschien, nachzuschieben: »Frankreich, Preußen, Spanien sind keinen
442 Deut besser! Überall regiert die Gier auf die Habe des anderen …
443 auf das vermeintlich grünere Gras auf der anderen Seite.«
445 »Warum sind Sie überhaupt mitgekommen? Auf einer Reise, die
446 möglicherweise das Fundament für
\emph{neue
} Kolonien legt?«
448 »Um zu verhindern, dass Menschen wie Sie
449 \emph{für Gott und den König
} Besitz von anderen Wesen und deren
450 Ländereien ergreifen und zugrunde richten – wie es in Afrika oder
451 der Neuen Welt geschehen ist!«
453 »Sie beleidigen Ihr Land,
\emph{Mylady
}! Wenn Sie ein Mann wären
456 »Was dann? Würden Sie mir dann in männlichem Imponiergehabe den
457 Fehdehandschuh hinwerfen? Um einen Menschen, der anderer Meinung
458 ist als Sie, mundtot zu machen? – Ja nicht auf die Argumente der
459 anderen hören, lieber gleich diese Meinung
\emph{tilgen
}?«
461 »Ralph! Mylady! Sie vergessen sich!«, fuhr McGuire empört
462 dazwischen. »Unsere Reise ist gefährlich genug. Auch ohne Ihre
463 Zwistigkeiten! Ralph, darf ich Sie an unsere Gespräche im Club
464 erinnern, in denen auch wir zwei über gewissen Schattenseiten
465 unserer Politik diskutiert haben. Wohl gemerkt: distinguiert
466 diskutiert. Wie es sich für Gentlemen geziemt! – Und Sie, meine
467 Dame, werfen meinem Freund das Gleiche vor, was Sie selbst
468 praktizieren: Auch
\emph{Sie
} sehen
\emph{Ihre
} Meinung als die
469 allein gültige an und wollen Cumberland seinen Standpunkt nicht
470 zugestehen. – Also bitte: Mäßigen Sie sich! – Beide!«
472 Cumberland starrte ihn einen Augenblick aufgebracht an, dann drehte
473 er sich brüsk um und widmete sich wieder seinen Geräten. Ellen
474 Thornton zog wieder ihre Schnute, doch diesmal wie ein gescholtenes
475 Mädchen. Man sah ihr an, dass sie nicht gewohnt war, ihre eigenen
476 Argumente um die hübschen Ohren gehauen zu bekommen.
480 »Mit dem Fernzeichner scheint etwas nicht zu stimmen.« Ellen
481 Thorntons Stimme klang beunruhigt von ihrem Platz herüber. »Er
482 zeigt ein massives Hindernis voraus!«
484 »Hab ich nicht gesagt, dass dieses Ding suspekt ist!« Cumberland
485 sah nicht von seinem Platz am Teleskop auf. »Wir schneiden gleich
486 zum ersten Mal die Mondbahn. Noch ein paar tausend Meilen und wir
487 werden als erste Menschen einen Blick auf die unbekannte Rückseite
488 des Mondes werfen können! Er ist das einzig Massive weit und
491 Die letzten Tage hatte es nur kleinere Reibereien zwischen Lady
492 Thornton und Cumberland gegeben, denen Nicolas stets wie ein Puffer
493 zwischen ihnen die Spitzen genommen hatte. Zu seinem Erstaunen
494 musste McGuire feststellen, dass die Frau auf Bemerkungen von ihm
495 weit weniger patzig reagierte als auf solche seines Freundes.
497 Nicolas verriegelte das Steuerrad in seiner Position, schnallte
498 sich los und schwebte zu der jungen Frau hinüber.
500 Am Rande der Milchglasscheibe zeigte sich ein schnurgerader
503 »Hier! Sehen Sie, Lord McGuire! Es scheint, als hätten wir eine
504 massive Mauer vor uns. So weit das Auge reicht … beziehungsweise
505 die Strahlen des Gerätes.«
507 »Hmm? Vielleicht hat das Gerät tatsächlich einen Defekt.«
509 »Diese … Mauer
\emph{hat
} sich bewegt!«, sagte sie eindringlich.
510 »Viel mehr:
\emph{Wir
} bewegen uns … mit voller Geschwindigkeit
511 darauf zu! – Wir
\emph{müssen
} beidrehen!«
513 Nicolas schwebte zum Bullauge am Bug und hielt sich links und
514 rechts an den Messinggriffen fest. So sehr er auch in die
515 sternendurchwirkte Schwärze des Himmelsæthers starrte, er konnte
516 kein Hindernis erkennen. Nun kam auch Cumberland herbeigeschwebt
517 und blickte angestrengt nach draußen. »Nichts!«, brummte er nach
518 einer Weile. »Ich sehe nur Sterne. Die sehen zwar merkwürdig nah
519 aus, aber das liegt wohl …«, er klopfte mit dem Knöchel seines
520 Zeigefingers an das Glas des Bullauges, »… an diesem deutschen
521 Spezialglas, dass Sie unbedingt haben wollten, mein Freund.« Damit
522 räumte er den Platz und schwebte zu seinem Posten zurück.
524 Nicolas sah nach draußen. Plötzlich spürte er einen Luftzug an
525 seiner Seite. Dann prallte Lady Thornton, die herangeschwebt war,
526 sanft gegen ihn und krallte sich an den Handgriffen fest. Ihre
527 Hände berührten sich. Diese Nähe verwirrte ihn. Der dezente Duft
528 ihres Parfüms drang in seine Nase, konnte jedoch
\emph{ihren
} Duft
529 nicht ganz überdecken. »Nick, bitte … Lord McGuire, bitte vertrauen
530 Sie mir. Vertrauen Sie meiner weiblichen Intuition. Wir müssen
533 »Mein liebes Kind!«, donnerte Cumberland von achtern. »Wenn wir
534 jetzt beidrehen, haben wir vielleicht nicht mehr genügend Kohle für
535 eine Rückkehr! Wollen Sie uns dem Tode überantworten?«
537 »Wenn wir nicht beidrehen, kollidieren wir mit voller
538 Geschwindigkeit mit … mit … dem da!« Sie deutete auf den Strich auf
539 der Scheibe des Fernzeichners. Nun sah auch McGuire, dass der
540 Strich weiter zur Mitte gewandert war. Irgendjemand musste eine
541 Entscheidung treffen! Noch einmal spähte er durch das Bullauge. Mit
542 beiden Händen schirmte er die störenden Reflexe der Gaslaternen ab.
543 Nichts! Nur das Meer der Sterne. So fern, und doch so …
546 Er drehte sich herum, stieß sich an der Täfelung ab und schoss quer
547 durch den Raum. Mit beiden Händen fing er sich ab, schwang sich vor
548 die Steuerung, löste die Arretierung und warf das Ruder herum.
550 »Was tun Sie da?«, brüllte Cumberland. »Hat diese Furie Ihren
551 Verstand geraubt? Selbst wenn da etwas wäre, wir bekämen unser
552 Vehikel niemals bis dahin zum Stillstand.«
554 Wortlos arretierte McGuire das Ruder in seiner Endlage. Dann warf
555 er sich herum in Richtung Heizungsraum. An der Stahltüre fing er
556 sich ab. Mit fliegenden Fingern riss er Kohlepakete aus den
557 Zuführmagazinen und stopfte sie per Hand in den Brennofen.
558 »Richtig! Zum Abbremsen sind wir zu schnell, aber mit etwas Glück
559 können wir daran vorbeischrammen!«
561 »Vorbeischrammen? Woran vorbeischrammen? Kerl! Sind Sie von Sinnen?
562 Sie verheizen unseren Vorrat für die Rückreise!«
564 »Der Kohlenvorrat wird reichen. Wir müssen nur etwas langsamer
565 fahren … und den Gürtel enger schnallen.«
567 »Unser Kurs ändert sich! Wir können es schaffen!« Lady Thornton
568 zeigte auf den Fernzeichner. Ihr Finger zitterte. Die Linie quer
569 auf dem Glas hatte sich nach rechts geneigt. Bald würde sie
570 parallel zur Flugrichtung stehen … wenn sie nicht vorher mit diesem
571 \emph{Etwas
} kollidierten.
573 »Cumberland! Ralph! Fahren Sie um Himmels Willen die Räder aus!«,
574 schrie Nicolas. »Ellen! Schnallen Sie sich an!« Er sah noch, wie
575 sein Freund an den wuchtigen Hebeln hantierte.
579 Dann war nichts mehr.
583 Er erwachte in einem Bad aus Düften. Als er blinzelnd die Augen
584 öffnete, blickte er in zwei grüne Seen über sich … und ein Meer aus
585 Kopfschmerzen trieb ihm das Wasser in die Augen. Er lag auf dem
586 Boden und sein Kopf ruhte weich im Schoß von Lady Thornton. Sein
587 Körper fühlte sich so leicht an, doch eigentlich wollte er nie
590 »Du hast dir den Kopf angestoßen, Nicolas«, sagte die sanfte Stimme
591 über ihm. Etwas Kühles drückte sich auf seine Stirn. »Lord
592 Cumberland läuft draußen herum und schaut sich die Schäden der
597 Nicolas richtete sich auf und hielt sich stöhnend den Kopf.
598 »
\emph{Läuft
} draußen herum? Auf
\emph{wem
} oder
\emph{was
} läuft
601 »Das siehst du … das sehen Sie sich besser selbst an, Lord
602 McGuire«, verbesserte sie sich rasch.
606 Er griff nach ihrer Hand und drückte sie sanft. »Es klingt schöner,
607 wenn du
\emph{Nicolas
} sagst!« Sie hielten in einem Moment
608 zärtlicher Übereinkunft inne. Dann rappelte sich Nicolas ächzend
609 auf und kletterte vor ihr nach draußen. Es war nicht nur die
610 Gegenwart Ellens, die ihn beschwingte – er
\emph{hatte
} nur ein
611 Bruchteil des Gewichtes, das er auf der Erde wog. Am Heck des
612 Schiffes tänzelte die Karbidlaterne in der Hand von Lord Cumberland
613 in der Dunkelheit. Es knirschte, als Nicolas seinen Fuß vorsichtig
614 von der Leiter auf den nachtschwarzen Boden setze.
616 »Ralph! Lord Cumberland! Wie sieht es aus?«
618 »Ah! Sind Sie wieder auf den Beinen?« Der Lichtkreis der Laterne
619 wanderte auf sie zu und riss die Holzbeplankung des Schiffes aus
620 der allgegenwärtigen Finsternis. »Ich muss Ihnen danken! Ihnen
621 beiden! Ohne Sie wären wir auf diesem Himmelskörper zerschellt. Das
622 Schiff hat nur wenig abbekommen. Und wie Sie sicher bemerkt haben,
623 ist die Schwerkraft so gering, dass ein Abheben eigentlich möglich
624 sein sollte. Und wir haben sogar noch soviel Kohlen, dass wir das
625 hier …« Er drehte seinen Fuß auf dem Fußballen. Es knirschte. »…
626 gar nicht benötigen! Wär’ eine ziemliche Plackerei, das
629 McGuire hockte sich nieder und strich mit der Hand über eine
630 hauchdünne Staubschicht auf dem Boden. »Ist das Ruß?«
632 »In der Tat! Dieser Boden ist über und über damit bedeckt. Und
633 darunter ist etwas, das ich in Ermangelung eines besseren Begriffes
634 \emph{Stahl
} nennen möchte.«
636 »Wollen Sie damit sagen, dass diese Welt
\emph{künstlich
} ist?«,
637 keuchte Lady Thornton.
639 »Fällt Ihnen eine andere Antwort ein, Mylady?«
643 »Nicolas, schau doch, dort drüben!« Ellen deutete auf einen schwach
644 leuchtenden Fleck in einiger Entfernung oberhalb des unsichtbaren
645 Horizonts. »Was mag das sein?«
649 Cumberland hob eine Augebraue ob dieser ungebührlichen
654 »Und dort sind noch mehr! Und dort … und dort!« Sie schienen in
655 einem Talkessel gelandet zu sein. Nun, da sich seine Augen an die
656 Finsternis gewöhnt hatten, schälten sich immer mehr schwache
657 Lichtflecken an den ansteigenden Hängen des Talkessels aus der
658 Schwärze der Nacht. Zwar standen der grelle Ball der Sonne und die
659 blaue Murmel der Erde hoch am Himmel, und auch der Mond hing hell
660 strahlend rund vierzig Grad über dem Horizont, doch alle drei
661 schafften es nicht, die Schwärze des Untergrundes zu erhellen. Es
662 schien, als ob dieser
\emph{Ruß
} jedes Licht verschluckte.
664 »Lasst uns nachsehen!« Nicolas packte zwei Karbidlaternen aus. Dann
665 machten sich die drei mit weit ausholenden Sprüngen schweigend auf
666 den Weg zur nächstgelegenen Lichtquelle.
668 »Man merkt gar nicht, dass wir bergauf gehen«, sagte Lady Thornton
671 »Warum sollten wir bergauf gehen?, fragte Cumberland.
673 »Weil es so aussieht, als ob dieses leuchtende Oval auf das wir zu
674 marschieren, im Hang eines kleinen Hügels steckt – den man in
675 dieser Schwärze nicht sehen kann. Und wenn wir uns auf etwas
676 zubewegen, das
\emph{über
} uns liegt, muss es nun mal
677 \emph{bergauf
} gehen!«, meinte sie schnippisch.
679 »Ich habe den Eindruck, dass das Licht nicht mehr ganz so hoch
680 hängt«, bemerkte McGuire. In der Tat erschien es ihm, dass der
681 Lichtfleck immer weiter zu Boden sank, je mehr sie sich ihm
682 näherten, dafür schienen die Lichter an der anderen Seite des
683 Talkessels angestiegen zu sein. Schließlich standen sie vor einem
684 mannsgroßen, blendend hellen Fleck im flachen Boden. Sein Licht
685 warf scharfe Kontraste auf ihre Kleidung.
687 »Vorsicht!«, rief Lady Thornton, als Cumberland seine Hand langsam
688 dem Licht näherte, die Augen mit dem anderen Arm beschattet.
690 »Kalt! Strahlt keine Wärme aus!«, sagte er. Dann zog er einen
691 Schraubendreher aus der Tasche und tippte damit auf die leuchtende
692 Fläche. »Sieht nach so etwas wie Glas aus. Fühlt sich aber viel
693 weicher an.« Nun wagten sich auch die anderen näher. Die strahlend
694 helle Fläche war übergangslos in den Boden eingelassen.
696 »Keine Fuge!«, sagte Cumberland, der mit seinem Schraubendreher
697 über den Rand der Fläche kratzte. »Das ist mir zu hell!« Er erhob
698 sich und drehte sich um. »Merkwürdig, keine Sterne zu sehen«,
699 brummte Cumberland als er wieder klar sehen konnte. »Nur im Zenit
700 sind die Sterne klar zu sehen. Zum Horizont hin werden sie immer
701 schwächer. Ob die Luft dieser Planetenkugel so diesig ist?«
703 »Sie standen gerade vor einem, mein Freund!«
707 »Sie standen gerade vor einem Stern!«
709 »Sind Sie toll, Nicolas?«
713 McGuire lachte höhnisch. »Ich wollte, ich wäre es! Ich wünschte,
714 dies wäre eine Ausgeburt meines kranken Geistes … und nicht der
715 Ruin unseres Weltbildes! Das ist keine Planetenkugel auf der wir
716 hier stehen … sondern das Himmelsgewölbe. Und das da …«, er zeigte
717 auf den Lichtfleck im Boden, »… ist einer der vielen Sterne, die
718 man am Nachthimmel sieht.«
720 Sein Lachen nahm einen irren Tonfall an. »Wir sind nicht auf den
721 Hügel eines kugelförmigen Körper gestiegen, sondern wir bewegen uns
722 an der Innenwand einer gigantischen
\emph{Hohlkugel
} entlang!«
724 Er deutete hinauf zum Mond. »Schauen Sie sich den Mond an. Sollten
725 wir seine Rückseite nicht als konvexe Form wahrnehmen? Doch sieht
726 die Rückseite nicht eher wie … abgeschnitten aus? Wie eine
727 Halbkugel, die auf der riesigen Fläche der Himmelsphäre festgemacht
728 ist? – Keppler, Galilei, Kopernikus! Alle haben sie falsch gelegen!
729 Die Erde steht im Zentrum ihres eigenen, kleinen Universums, und
730 alles um Sie herum – Sterne, Planeten, Monde, die Sonne – alles nur
731 Fälschungen! Vorspiegelungen eines zynischen Wesens, das uns in
732 einem Terrarium hält!«
734 »Ihr seid lästerlich, Nicolas!«
736 »Nein, er hat Recht, Lord Cumberland«, sagte Ellen Thornton tonlos.
737 »Die Welt, wie wir sie kennen – zu kennen glaubten – ist mit einem
738 gewaltigen Getöse eingestürzt!«
740 Sie wandte sich dem Schiff zu. »Wir müssen die französische
741 Expedition warnen, dass sie nicht wie eine Fliege an die Wand
746 »Es wird Kriege geben«, meinte Nicolas nach dem geglückten Start.
747 Die geringe Schwerkraft hatte in der Tat kein Problem dargestellt.
748 »Kriege zwischen religiösen Fundamentalisten, die in diesem
749 \emph{Terrarium
} den Beweis für eine Schöpfung Gottes sehen werden,
750 und Aufklärern, die nicht ruhen werden, einen Blick
\emph{hinter
}
751 die Scheibe des Terrariums zu werfen.«
755 »
\emph{Terrarium
}«, sagte Cumberland nun tonlos, ohne aufzublicken.
756 Seit Stunden hatte er nichts mehr gesagt, sondern nur in seinem
757 Sitz gekauert und vor sich hin gestiert. »Das ist der richtige
758 Ausdruck. Wir sind das Spielzeug von … was auch immer. – Es wird
759 eine beispiellose Welle von Suiziden geben.«
763 »Wird man uns überhaupt glauben, Nicolas?« Seit dem Start hatte sie
764 seine Nähe gesucht, so als bräuchte sie in einen Halt für ihr
765 Leben. »Dürfen wir das den Menschen überhaupt sagen?«
767 »Die Wahrheit lässt sich nicht verschweigen! Eine Weile kann man
768 sie vielleicht unterdrücken, aber es werden andere kommen.« Nicolas
769 legte seinen Arm um sie … und sie ließ es sich gefallen. Die Zeiten
770 des demonstrativen Zurschaustellens ihrer Unabhängigkeit waren
771 vorbei. Sie hatten vom Baum der Erkenntnis gegessen und die
772 Erkenntnis war zu groß für einen Einzelnen.
774 »Andere, die herausfinden werden, wie diese Himmelssphäre
775 funktioniert. Wie sich die falschen Planeten auf ihren Bahnen –
776 oder vielleicht
\emph{Schienen
} – bewegen. Und was jenseits der
779 »Andere?
\emph{Du
} möchtest wieder kommen und die Geheimnisse
784 Er drückte seine Stirn an ihre. »
\emph{Ich
} werde bei Dir sein und
785 wir werden die Unruhen, die da kommen mögen, überstehen.
790 Sie sah ihn mit einem Augenaufschlag an und ein klein wenig blitzte
791 in ihren Augen der Lausejunge auf. »Dann können wir die Geheimnisse
792 vielleicht Nicolas John McGuire, dem Vierten, überlassen?«