Ergänze vergessenes Markup für Texte aus Äthergarn
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9 \newcommand\bigpar\medskip
11 %\hyphenation{Bar-ring-ton}
13 \begin{document}
14 \raggedbottom
15 \begin{center}
16 \textbf{\huge\textsf{Die Jesaja-Mission}}
18 \medskip
19 Alexandra Keller
21 \end{center}
23 \bigskip
25 \begin{flushleft}
26 Dieser Text wurde erstmals veröffentlicht in:
27 \begin{center}
28 Die Steampunk-Chroniken\\
29 Band I -- Æthergarn
30 \end{center}
32 \bigskip
34 Der ganze Band steht unter einer
35 \href{http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.0/de/}{Creative-Commons-Lizenz.} \\
36 (CC BY-NC-ND)
38 \bigskip
40 Spenden werden auf der
41 \href{http://steampunk-chroniken.de/download}{Downloadseite}
42 des Projekts gerne entgegen genommen.
44 \vfill
46 Alexandra Keller studierte Geschichtswissenschaften in Tübingen,
47 Edinburgh und Köln.
49 \bigpar
51 Ihre Leidenschaft für England und viktorianische Kultur lebt sie
52 derzeit in der Entwicklung eines Spieles im Steampunk-Genre für
53 iPad und PC/Mac aus. Wenn sie nicht gerade Korsett tragende
54 Heroinen programmiert, die ihre Luftschiffe in gefährlicher Mission
55 durch die Atmosphäre des Planeten Sky steuern, schreibt sie für
56 ihren Firmen-Blog
57 \texttt{http://eye3ware.com/blog} auf
58 Englisch über Viktorianisches, sowie auf ihrem deutschen Blog
59 \texttt{http://stoerstoff.wordpress.com}
60 über alles andere.
62 \bigpar
64 Derzeit entsteht die Story zum Spiel »Sky Alchemist« in Roman-form.
65 Die Autorin lebt in Köln.
66 \end{flushleft}
68 \section{Die Jesaja-Mission}
70 \textit{»Niemals zuvor hatte die Menschheit eine so erschütternde Erfahrung
71 gemacht und niemals mehr wird sie eine ähnliche durchleben, es sei
72 denn, dass eines Tages ein anderer Globus auftauchte, Millionen von
73 Kilometern von unserem entfernt und ebenfalls von denkenden Wesen
74 bewohnt. Immerhin wissen wir heute, dass solche Entfernungen
75 theoretisch zu überwinden sind, während die ersten Seefahrer
76 fürchteten, dem Nichts zu begegnen.«
79 \begin{flushright}
80 Claude Lévi-Strauss, Traurige Tropen
81 \end{flushright}
83 \bigpar
85 Am 18. November des Jahres 1898 fing Douglas McLoughlin,
86 diensthabender Funker der Æther-Morsestation \textit{Ben Nevis} in den
87 schottischen Highlands, ein rätselhaftes Signal auf. Es war fünf
88 Uhr morgens, Douglas hatte am Vorabend ein paar Gläschen Scotch
89 über den Durst getrunken und sein Schädel fühlte sich an wie ein
90 zum Platzen reifer Kürbis. Douglas griff mit unsicheren Fingern
91 nach einem Bleistift und begann den Funkspruch niederzuschreiben.
93 Das Signal war schwach und brach hin und wieder ab, trotzdem gelang
94 es ihm, eine wenn auch lückenhafte Folge von Zeichen aufzunehmen.
95 Der Code war ihm fremd. Keines der Luftschiffe der Æthereal Fleet
96 verwendete eine derartige Verschlüsselung. Douglas trug die
97 Zeichenfolge in sein Logbuch ein und leitete den Vorgang weiter an
98 die zentrale Auswertungsstelle in London.
100 \bigpar
102 Funkstationen in Deutschland, Frankreich und China fingen von nun
103 an ebenfalls regelmäßig Funksprüche auf, die aus derselben Quelle
104 zu stammen schienen, jedoch andere Zeichensequenzen sendeten. Unter
105 den Geheimdiensten der Großmächte setzte ein Wettlauf um das
106 Entschlüsseln der Funksprüche ein.
108 \bigpar
110 In London vermutete man, es handele sich um die chiffrierte
111 Botschaft eines Militär-Luftschiffes, und sandte die aufgefangenen
112 Sequenzen zum Entschlüsseln ins militärische Kalkulatoren-Zentrum
113 in Compton Hall. Hier standen die großen dampfbetriebenen
114 Analysemaschinen, die mit Hilfe von Lochkarten komplexe
115 Rechenoperationen durchführen konnten. Das Militär nutzte sie
116 hauptsächlich zum Dechiffrieren feindlicher Funksprüche.
118 \bigpar
120 Fünf Analysemaschinen, jede von der Größe eines kleinstädtischen
121 Rathauses, arbeiteten eine Woche unter Volllast an der
122 Entschlüsselung. Sämtliche bekannten Dekodierungs-Algorithmen
123 wurden angewandt. Die Rechenarbeit musste allerdings einmal
124 unterbrochen werden, weil eine Ratte in den Mechanismus von
125 Maschine fünf geraten und zerquetscht worden war.
127 \bigpar
129 Schließlich gelang es den Analysemaschinen, eine der Sequenzen zu
130 dekodieren:
132 »Es wird \ldots{} Krachen \ldots{} brechen, … \ldots{} und fallen«.
134 \bigpar
136 Colonel George Fitzwilliam, Vorsteher des Kalkulatoren-Zentrums saß
137 in seinem Arbeitszimmer und sinnierte über die Bedeutung des
138 rätselhaften Funkspruchs, als Mrs Hall, seine Haushälterin, den Tee
139 brachte.
141 Mrs. Halls praktische Erfahrung mit Dechiffrierung beschränkte sich
142 auf das Entziffern der stets unleserlich geschriebenen
143 Metzgerrechnung und der vom Zimmermädchen Lizzy schlampig geführten
144 Wäschelisten. »Sie sollten die Heilige Schrift lieber im Original
145 studieren, Sir«, bemerkte sie in strengem Ton nach einem
146 beiläufigen Blick auf das Blatt, über dem der Colonel brütete. Der
147 Colonel schaute fragend auf. »Jesaia 24«, erklärte Mrs Hall. Und
148 laut wie die Posaune des jüngsten Gerichtes verkündete sie: »Es
149 wird die Erde mit Krachen zerbrechen, zerbersten und zerfallen«.
151 \bigpar
153 Eine weitere Woche verging, dann kam eine hochrangige
154 Gelehrtenrunde aus Æther-Spezialisten, Physikern, Kalkulatoren und
155 Theologen zusammen, um den Funkspruch zu analysieren. Die Experten
156 waren uneins: Die Theologen vertraten die Meinung, der Spruch sei
157 eine direkte Offenbarung Gottes und kündige das Ende der Welt an,
158 während die Æther-Spezialisten die These vertraten, das Signal
159 beweise die Existenz intelligenten Lebens im All. Die Physiker
160 wandten ein, in 30 Jahren bemannter Schifffahrt im Æther habe man
161 noch keine Spur intelligenter Lebensformen gefunden und überdies:
162 warum sollten Außerirdische, falls sie denn existierten, Verse aus
163 der Bibel senden?
165 Der Vertreter der Kalkulatoren, ein schüchternes Männchen in
166 abgewetztem Gehrock und mit einer übergroßen runden Brille schlug
167 vor, den Funkspruch erneut dechiffrieren zu lassen. Es könne ja
168 schließlich ein Fehler beim Entschlüsseln passiert sein. Immerhin
169 habe man den Rechenvorgang einer Analysemaschine unterbrechen
170 müssen, da ein organisches Objekt den Mechanismus blockiert habe.
172 Die Mehrheit der versammelten Experten war jedoch der Auffassung,
173 der Spruch sei eindeutig, ein Fehler bei der Dekodierung könne
174 daher nicht vorliegen.
176 Schließlich bekam die Presse Wind von der Sache, und damit stand
177 die Regierung unter Zugzwang.
179 \bigpar
181 Egal ob Hilferuf eines unbekannten Æther-Schiffes, Signale einer
182 außerirdischen Lebensform, oder eine direkte Nachricht DES HERRN:
183 es war zwingend notwendig eine Mission ins All zu senden, um dem
184 Ursprung des Signals auf die Spur zu kommen. Da sich die
185 Regierungen Englands, Frankreichs und Chinas nicht über die
186 Aufteilung der Kosten einigen konnten, unterbreitete der bekannte
187 Abenteurer und Analysemaschinen-Millionär Frederick Barrington-Ward
188 der britischen Regierung ein Angebot, das diese nicht ablehnen
189 konnte: die Regierung solle das Schiff und die militärische
190 Besatzung stellen, er werde ein Team hochrangiger Wissenschaftler
191 beisteuern. Überdies versprach er, die Ausrüstung des Schiffes,
192 sowie Löhne und großzügige Boni für die Expeditionsteilnehmer zu
193 finanzieren. Um die Unterstützung der konservativen Kreise Englands
194 zu erhalten, verpflichtete er sich zudem, zwei Plätze auf dem
195 Ætherschiff für Missionare zu reservieren.
197 \bigpar
199 Und so startete am 3. Februar 1899 der schwere Kreuzer \textit{Phönix} unter
200 seinem erfahrenen und im Dienst der Æthereal Fleet in Ehren
201 ergrauten Kapitän Jennings zu seiner großen Fahrt. Im
202 Aufenthaltsraum der \textit{Phönix} drängten sich die zivilen Teilnehmer der
203 Expedition um die großen Panoramafenster und genossen mit lautem
204 »Ahh« und »Ohh« das Spektakel des Ablegens.
206 Die Docks der Æthereal Fleet waren über und über mit lustig
207 flatternden Fahnen und Wimpeln geschmückt. Es war ein Fest. Die
208 Kleider der Damen leuchteten in zarten Pastellfarben, die Herren
209 trugen bunte Einstecktüchlein, Kinder hielten bunte Fähnchen in den
210 von Zuckerwatte verklebten Händchen. Militärkapellen spielten
211 flotte Märsche, ein Chor der Heilsarmee trug freudige Hymnen vor.
212 Fundamentalistische Prediger forderten zu Umkehr und Buße auf
213 angesichts der drohenden Apokalypse. Die Huren aus London und
214 Umgebung machen Extraschichten.
216 Es wurde bereits dunkel, als die \textit{Phönix} schließlich aufstieg.
218 Das nächtliche London lag unter ihnen, rote Lampions leuchteten wie
219 Mohnblüten um die Hafenbecken und spiegelten sich vieltausendfach
220 in der Schwärze des Hafenwassers. Salutschüsse dröhnten, die
221 zuckenden Lichtblitze des Abschieds-Feuerwerks erhellten das
222 zerklüftete Gebirgsmassiv der neugotischen Parlamentsgebäude.
223 Bleich und löchrig wie ein vergammelter Cheddar-Käse hing am
224 südlichen Horizont der volle Mond.
226 \bigpar
228 Manchmal kam ein besonders großer feuerspeiender Drache oder eines
229 der großen Sternenräder dem Luftschiff so nahe, dass Penelope den
230 Geruch verbrannten Pulvers zu riechen glaubte.
232 Penelope dachte an die Wasserstofftanks des Luftschiffes, und
233 daran, dass nur eine dünne Hülle aus gummierter Leinwand zwischen
234 ihr und dem freien Fall aus mehreren hundert Fuß Höhe stand.
235 Frederick Barrington-Ward, Mäzen und wissenschaftlicher Leiter der
236 Expedition, schlenderte zu ihr herüber. Lässig lehnte er sich gegen
237 die Fensterbrüstung und hob sein Champagnerglas: »Auf eine
238 erfolgreiche Mission -- wen immer wir antreffen«. Penelope lächelte
239 höflich. Ihr Blick fiel auf einen drahtigen Mann mit militärischem
240 Bürstenhaarschnitt und buschigem grauem Schnauzbart. Seine runden
241 Brillengläser blitzten im Licht der Gaslampen wie übergroße Augen
242 eines nachtaktiven Tiers. Dr. von Todt, Astronom an einer
243 mitteleuropäischen Universität, hatte anhand der aufgefangenen
244 Radiosignale die Zielkoordinaten der Expedition berechnet. Es war
245 ein Punkt in der Umlaufbahn des Mars.
247 Eine voluminöse Dame in züchtigem Schwarz und vernünftigen Schuhen
248 gesellte sich zu ihnen, ihren verschüchterten Ehemann hinter sich
249 her zerrend. »Ist das Feuerwerk nicht furchtbar gefährlich?«,
250 wandte sie sich direkt an Mr. Barrington-Ward und vermied es,
251 Penelope anzuschauen.
253 »Aber nein, meine Gnädigste«, antwortete der Millionär, »unsere
254 chinesischen Feuerwerker können die Höhe und Flugbahnen ihrer
255 Feuerwerkskörper genau vorausberechnen. Mit charmantem Lächeln
256 fügte er hinzu: »Es sei denn, sie wollten uns hochgehen lassen.«
258 Mrs Collins, als Gattin eines Missionars auch ausländischen Heiden
259 gegenüber zu christlicher Milde verpflichtet, schien dieser Gedanke
260 zu schaffen zu machen. Mr Collins wagte einen Blick auf Penelope,
261 ihr glänzendes schwarzes Haar, ihren makellosen elfenbeinfarbenen
262 Teint und die großen dunklen Augen und sagte: »Ethel, meine Liebe,
263 der HERR wird unsere Reise schützen und leiten und er wird uns
264 nähren mit Milch und Honig.« Sein Blick saugte sich an Penelopes
265 Brüsten fest, die durch die hochgeschlossene Uniform noch betont
266 wurden.
268 Penelope Fairfax, Tochter eines streng atheistischen Mathematikers,
269 der mit der Massen-Produktion billiger Analysemaschinen reich
270 geworden war, hob amüsiert eine Augenbraue.
272 \bigpar
274 Ethel und Nathaniel Collins hatten 15 Jahre als Missionare
275 segensreich unter den Heiden Indiens gewirkt und dort feste
276 Grundsätze hinsichtlich des richtigen Umgangs mit fremden Spezies
277 erworben. Aufgrund ihrer überdurchschnittlichen Taufquote waren sie
278 von der Missionsgesellschaft »First Missionary Society for Godly
279 Predestination« ausgewählt worden, den Außerirdischen, die sich ja
280 bereits durch ihren Funkspruch als empfänglich für das Wort Gottes
281 erwiesen hatten, das Licht des Evangeliums zu bringen.
283 »Was macht eine so hübsche junge Lady wie Sie denn an Bord eines
284 Luftschiffes?«, wandte sich nun Dr. von Todt an Penelope. Sein
285 Englisch hatte einen schwer zu lokalisierenden Akzent. Das »R«
286 sprach er rollend, sein »S« zischelte feucht. Seine vollen Lippen
287 machten kleine nervöse Bewegungen und die Enden seines Schnauzbarts
288 zuckten. Penelope nahm wahr, dass aus den Ohren des Doktors dicke
289 graue Haarbüschel wucherten. In die allgemeine Stille hinein sagte
290 Penelope: »Ich bin die Navigatorin.«
294 Attila hatte sich hinter einem Fass mit Pökelfleisch verkrochen.
295 Die Kälte im Frachtraum machte ihm nichts aus, sein dickes Fell
296 schützte ihn. Unter seinen Pfoten fühlte er das Vibrieren der
297 Maschinen. Das Leben als Æther-Hund war leichter, als in den
298 Hundezwingern von Soho, wo er als Welpe die ersten Monate seines
299 Lebens verbracht hatte. Essensreste gab es genug in der Kombüse,
300 und ein geschickter Rattenjäger konnte sich im Frachtraum noch mit
301 zusätzlichem Fleisch versorgen. Doch er vermisste den
302 Geruchswirrwarr der Erde, den Duft nach Gras, Abfall und den
303 Markierungen anderer Rüden. Hier oben gab es weit weniger Gerüche,
304 dafür nahm seine Nase sie intensiver wahr. Daher war der Mensch
305 ohne Geruch für Attila eine beständige Quelle der Irritation. Der
306 geruchlose Zweibeiner hatte soeben den Frachtraum betreten und
307 bewegte sich zielstrebig zwischen Kisten und Fässern auf eine
308 unscheinbare braune Holzkiste zu. Attila hörte ein leises
309 Quietschen, als er die Kiste öffnete und einige schwere Gegenstände
310 heraus nahm. »Schinken«, roch Attila. Kurz darauf stach der Geruch
311 leicht erhitzten Metalls in seine Nase und seine empfindlichen
312 Hundeohren nahmen ein dünnes hohes Sirren wahr, weit außerhalb
313 dessen, was ein Mensch hören konnte. Ein prägnanter Rhythmus,
314 mehrfach wiederholt. Attila heulte laut auf. Seine Ohren
315 schmerzten. Er schoss hinter seinem Pökelfass hervor und zwängte
316 sich durch eine enge Luke in den angrenzenden Laderaum. Der
317 geruchlose Mensch blieb zurück.
321 Die \textit{Phönix} war bereits vier Monate unterwegs, als Penelope Fairfax,
322 Erster Navigations-Offizier, eine Unstimmigkeit beim Abgleich der
323 Schiffkoordinaten mit den Sternenkarten feststellte. Die \textit{Phönix}
324 steuerte zehn Grad außerhalb des vorberechneten Kurses. Penelope
325 korrigierte die Navigation, machte einen Logbucheintrag und
326 informierte Kapitän Jennings. Einige Tage später stellte Penelope
327 fest, dass das Schiff erneut vom Kurs abgekommen war. Niemand von
328 der Besatzung – alle hatten bereits mehrere Reisen im Æther hinter
329 sich – hatte jemals etwas Ähnliches erlebt. Die \textit{Phönix} hätte sich
330 inzwischen im Sternbild des Wassermanns befinden müssen, nach
331 Penelopes Messungen bewegte sie sich jedoch auf Pegasus zu. Das
332 Radiosignal wurde stärker.
334 \bigpar
336 Die zivilen Teilnehmer der Expedition erfuhren von den
337 Navigationsproblemen beim Dinner – Lammkoteletts, Sauerkraut und
338 Yorkshire-Pudding. Bislang hatte der Koch keine Veranlassung
339 gesehen, am Proviant zu sparen.
341 »Wir mussten feststellen, dass bei der Berechnung unserer
342 Zielkoordinaten ein Fehler aufgetreten ist«, leitete der Kapitän
343 das Thema ein. »Das Signal scheint aus dem Inneren von Pegasus zu
344 kommen, nicht von der Umlaufbahn des Mars.« Mr Barrington-Ward
345 lächelte leichthin. »Dann sollten wir unseren Kurs ändern.« »Aber
346 wie konnte das denn passieren, Kapitän Jennings?«, fragte Mrs
347 Collins. »Ethel, meine Liebe, die VORSEHUNG wacht über unser
348 Schicksal, wo immer wir sind«, sagte Mr. Collins salbungsvoll. Mrs
349 Collins verstummte, ihre Miene machte jedoch deutlich, dass sie das
350 Walten der VORSEHUNG in diesem Fall äußerst dilettantisch fand. Dr.
351 von Todt hielt geziert sein Lammkotelett in seinen überaus
352 behaarten Händen und nagte mit großen weißen Schneidezähnen das
353 Fleisch vom Knochen.
355 \bigpar
357 Kapitän Jennings versammelte seine Offiziere und die
358 Wissenschaftler zu einer Beratung über das Schicksal der
359 Expedition.
361 Lieutenant Leigh-Hunt, der erste Offizier, schlug die sofortige
362 Rückkehr zur Erde vor. Eine Verlängerung der Reise stelle ein zu
363 hohes Risiko hinsichtlich Treibstoff und Lebensmittelreserven da.
365 Lieutenant Penelope Fairfax, die Navigatorin, riet ebenfalls ab,
366 dem Signal weiter zu folgen. Dr. von Todt hingegen – seine
367 Schnurrbartspitzen vibrierten erregt, und Penelope glaubte einen
368 Moment, auch seine Ohren zuckten – befürwortete eine Fortsetzung
369 der Reise. Es sei zu erwarten, dass die Außerirdischen, die das
370 Signal sendeten, über ausreichend Ressourcen verfügten, um das
371 Schiff für die Rückkehr auszurüsten.
373 Kapitän Jennings entschied sich, dem Radiosignal zu folgen.
377 Die \textit{Phönix} war nun beinahe 10 Monate unterwegs. Das Signal schien
378 ferner und ferner zu rücken. Das Schiff war weit ins Sternbild des
379 Pegasus eingedrungen und bewegte sich in Richtung des Großen Bären.
380 Attila lebte inzwischen ausschließlich von Ratten. Zum Dinner gab
381 es für die Expeditionsteilnehmer Grütze mit Speckgrieben. Alle paar
382 Tage kam der geruchlose Zweibeiner in den Laderaum und quälte
383 Attila mit flirrenden Pfeiftönen.
387 Penelope stand auf der leeren Kommandobrücke. Die Offiziere wohnten
388 der Abendandacht bei. So viele Male in den letzten Monaten hatte
389 sie die Koordinaten neu berechnet. Das Schiff schien jedoch
390 beharrlich seinem eigenen Kurs zu folgen, dem undurchschaubaren
391 Plan eines fremden Willens unterworfen, nicht der peilenden,
392 messenden Kunst der Navigatorin. Penelope schaute hinaus in die
393 geheimnisvolle, lockende Schwärze, sah ferne Gestirne, das Licht
394 toter Sonnen, die ihre rätselhaften Lichtbotschaften ins All
395 sandten. Die Sterne des Pegasus schienen zum Greifen nahe. Südlich
396 strahlte rot der Mars, das ursprüngliche Ziel der Mission. In der
397 Weite des Universums, den unendlichen Räumen des Alls, schrumpften
398 das Schiff, seine Besatzung und ihrer aller Leben auf die Größe von
399 Staubkörnchen zusammen. In der Stille der von allen verlassenen
400 Kommandobrücke sah Penelope nun die Wahrheit, die seit Wochen
401 darauf wartete ausgesprochen zu werden: Die \textit{Phönix} war dem Signal
402 zu lange gefolgt. Die Wasser- und Treibstoffvorräte würden noch
403 etwas mehr als zwei Monate reichen. Wenn sie nicht bald einen
404 bewohnbaren Planeten erreichten wo sie Treibstoff, Wasser und
405 Lebensmittel aufnehmen konnten, war das Schiff verloren.
407 \bigpar
409 Schritte hinter ihrem Rücken rissen sie aus ihren Gedanken.
410 Frederick Barrington-Ward hatte die Kommandobrücke betreten. »So
411 sieht also die Unendlichkeit aus, Lieutenant Fairfax«, – der
412 Millionär blickte hinaus auf das schillernde Band der Milchstraße.
413 »Warum haben Sie sich für diese Mission freiwillig gemeldet?«
414 Penelope zögerte. Niemand auf dem Schiff hatte sie je gefragt,
415 warum sie, eine junge, reiche Frau mit besten beruflichen
416 Aussichten in der Æthereal Fleet, sich zu einer so gefährlichen
417 Mission gemeldet hatte. Für andere wäre ein Platz im
418 Expeditionsteam ein Sprungbrett für einen schnellen Aufstieg
419 gewesen. Wieder andere lockten die phantastisch hohen Prämien, die
420 Barrington-Ward für alle Teilnehmer der Expedition ausgelobt hatte.
421 Die Collins konnten zusätzlich zu den irdischen Reichtümern auch
422 noch mit himmlischem Lohn rechnen, wenn sie die Außerirdischen zum
423 Evangelium bekehrten. Penelope jedoch würde mehr Geld erben, als
424 sie jemals ausgeben konnte und mit ihrem Vermögen hätte sie sich
425 jederzeit eine prestigeträchtige Offiziersstelle kaufen können. Ihr
426 früheres Leben erschien ihr plötzlich klein und unwichtig. Sie
427 dachte an Charles Osgood, ihren Verlobten und daran, dass sie durch
428 die Teilnahme an dieser Mission die unvermeidliche Heirat mit einem
429 ungeliebten Mann hatte aufschieben wollen.
431 Sie hatte Barrington-Ward in den letzten Monaten als anregenden
432 Gesprächspartner schätzen gelernt. Zum ersten Mal nahm sie ihn nun
433 als Mann wahr. Penelope griff nach seiner Hand und zog ihn an sich.
434 Und während sich ihre Körper aneinander pressten, ihre Lippen
435 zueinander fanden und sie sich im Angesicht der Sterne liebten, sah
436 Penelope mit aller Klarheit, dass sie nicht mehr zurückkehren
437 würden.
441 Die Reise dauerte nun schon über ein Jahr. Attila lag im Frachtraum
442 und träumte vom Wohlgeruch der Abfallhalden in Soho, einer
443 wundervoll duftenden schwarzen Hündin und davon, wie er einmal eine
444 Hammelkeule gestohlen hatte. Seine Pfoten zuckten, er bellte leise
445 im Schlaf. Zuweilen gab ihm der Koch ein paar Knochenreste oder
446 einen Zwieback, der zu wurmzerfressen war, um ihn der Mannschaft
447 vorzusetzen. Die Ratten, nun Attilas Hauptmahlzeit, wurden dünn und
448 ausgemergelt. Der ohne Geruch kam immer noch regelmäßig in den
449 Frachtraum.
453 Der Funker stellte fest, dass sie sich der Quelle des Funksignals
454 näherten. Am 23. März 1900 fand die \textit{Phönix} in der Umlaufbahn des
455 Sterns Enif die Quelle des Funkspruchs. Sämtliche Mitglieder des
456 Expeditionsteams waren auf die Kommandobrücke geladen, während sich
457 das Schiff dem rätselhaften Objekt näherte. Eine achteckige Kapsel,
458 groß wie eine englische Kathedrale, schwebte im strahlenden roten
459 Licht Enifs. Die Oberfläche bestand aus bläulich schimmernden
460 Metall, das übersät war mit rostigen Pockennarben. »Ein
461 Meteoritensturm«, vermutete Kapitän Jennings. Das ausgesandte
462 Vorauskommando kam mit der Nachricht zurück, es gäbe eine Luke an
463 der oberen Schmalseite der Kapsel.
465 Die Mitglieder des Expeditionsteams, bestehend aus Frederick
466 Barrington-Ward, Dr. von Todt, Mr. Collins, sowie fünf
467 Marinesoldaten, geführt von Penelope Fairfax, stiegen in ihre
468 Raumanzüge. Mrs Collins, in Erwartung außerirdische Wesen
469 vorzufinden, die nach der spirituellen Nahrung des Evangeliums
470 hungerten, drückte ihrem Gatten eine Bibel in die Hand.
472 Die Gruppe bestieg den kleinen, Wasserstoff-betriebenen Raumgleiter
473 und legte ab. Als sie sich der Kapsel näherten, fiel Penelopes
474 Blick auf Dr. von Todt. Der Gelehrte schien merkwürdig erregt,
475 seine Hände zuckten, seine Brillengläser blitzten im grellen Licht
476 Enifs. Die Marinesoldaten benutzten schweres Gerät, um die Luke zur
477 Kapsel aufzustemmen. Schließlich zeigte sich eine schmale Treppe,
478 die nach unten führte. Die metallenen Treppenstufen waren überzogen
479 von einem dunklen flechtenartigen Belag. Penelope führte die Gruppe
480 nach unten. Sie nahm die Maske vom Gesicht. Die Luft roch
481 metallisch und dumpf. Die Kapsel musste über eine autarke
482 Sauerstoffversorgung verfügen. Immer tiefer führten die gewundenen
483 Stufen. Schließlich erreichte Penelope eine sechseckige Tür. Nur
484 mühsam gelang es vier Marinesoldaten, die Tür nach innen
485 aufzustemmen.
487 \bigpar
489 Das erste, was Penelope wahrnahm war der Geruch. Ein süßlich
490 fauliger Dunst quoll ihnen entgegen. Penelope trat in den Raum, der
491 einmal eine Kommandobrücke gewesen war. Im Dämmerlicht sah sie
492 schmutzverkrustete Sternenkarten, rostige Navigationsinstrumente,
493 Geräte, deren Funktion Penelope nicht erkennen konnte. Alles war
494 überzogen von einer dicken Schicht Staub und Unrat. Als nächstes
495 nahm sie die Ratten wahr. Hunderte, Tausende von ihnen wimmelten
496 auf den Kartentischen und Instrumentenborden, schmiegten sich in
497 Bücherregalen aneinander und nisteten in den Rohrsystemen, die sich
498 die Wände entlangzogen.
500 \bigpar
502 Penelope versuchte ein Würgen zu unterdrücken und machte einen
503 weiteren Schritt in den Raum hinein. Der Raum vibrierte vom
504 Rascheln, Scharren und Fiepen der Nager. Doch über dem Grundton aus
505 tierischen Lauten nahmen Penelopes Ohren ein weiteres Geräusch auf:
506 Technisch, und in gleichmäßigem Rhythmus. Ein Morseapparat. Der
507 Apparat schien Signale zu empfangen und auszusenden. Auf der
508 Morsetaste saß, wie auf einer Kinderwippe, eine dicke weiße Ratte
509 und putzte ihr Fell. Die Morsetaste federte mit klickendem Geräusch
510 auf und nieder und sendete den Spruch der Ratte hinaus in die Weite
511 des Alls.
513 \section{Epilog}
515 Der schwere Kreuzer \textit{Phönix} blieb verschollen. Der einzige
516 Überlebende der Mission wurde Monate später in einer Rettungskapsel
517 von der Fregatte \textit{Princess Albertina} in der Nähe des Mars
518 aufgegriffen. Es handelte sich um Dr. von Todt. Bei ihm fanden sich
519 Knochen- und Fellreste, die vermuten ließen, von Todt habe sich von
520 der Leiche eines Hundes ernährt. Außerdem sprangen zwei weiße
521 Ratten aus der Raumkapsel und verschwanden blitzschnell in den
522 Lüftungsschächten der \textit{Princess Albertina}. Dr. von Todt konnte
523 nichts über das Ende der \textit{Phönix} berichten, da er der menschlichen
524 Sprache nicht mehr mächtig schien. Gelegentlich, bei Vollmond,
525 befielen ihn unerklärliche Erregungszustände, unter deren Einfluss
526 er ein hohes Pfeifen ausstieß.
528 Er wurde ins \textit{Mountain View Asylum for the Mentally Sick}
529 eingewiesen, von wo er im Jahr 1905 für immer verschwand.
531 \bigpar
533 Colonel Fitzwilliam, der Vorsteher des Kalkulatorenzentrums Compton
534 Hall ordnete im Jahr 1903 eine Generalüberholung der
535 Analysemaschine fünf an. Als die Arbeiter die Maschinenteile
536 auseinandernahmen, fanden sie unterhalb des Metallmechanismus,
537 unter einem hölzernen Zwischenboden, ein ungeheures Rattennest.
538 Tausende von Lochkarten waren von den emsigen Nagern zum Nestbau
539 verwendet worden – »ein verdammtes stinkendes Datenschlamassel«,
540 wie Bertie Blunt, der Mechaniker, sich ausdrückte. Anhand der
541 Markierungen auf den Lochkarten stellte man fest, dass die Karten
542 zum Entschlüsselungsauftrag des Ben-Nevis Funkspruchs gehört
543 hatten.
545 \bigpar
547 Colonel Fitzwilliam hat diese Entdeckung nie verkraftet. Er reichte
548 seine Demission ein und zog sich aufs Land zurück. Es heißt, er
549 habe seine Haushälterin geheiratet und sei religiös geworden.
551 \bigpar
553 Ausgehend von den Docks der Æthereal Fleet hat sich in London im
554 Laufe der letzten Jahre eine neue Rattenart ausgebreitet.
555 Wissenschaftler haben herausgefunden, dass sie weit intelligenter
556 sind als unsere einheimischen braunen Ratten. In einigen
557 Lagerhäusern haben sie bereits die Herrschaft übernommen.
559 \end{document}