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[reichenbach.git] / Hans_Reichenbach_-_Relativitaetstheorie_und_Erkenntnis_apriori.txt
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24 \begin{document}\r
25 RELATIVITÄTSTHEORIE\r
26 UND ERKENNTNIS APRIORI\r
28 VON\r
30 HANS REICHENBACH\r
32 BERLIN\r
34 VERLAG VON JULIUS SPRINGER\r
36 1920\r
37 \newpage\r
38 Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung\r
39 in fremde Sprachen, vorbehalten.\r
41 Copyright 1920 by Julius Springer in Berlin.\r
42 \newpage\r
43 ALBERT EINSTEIN\r
45 GEWIDMET\r
49 \tableofcontents\r
50 %Inhaltsübersicht.\r
51 %\r
52 %/*\r
53 %  Seite\r
54 %\r
55 %I. Einleitung      1\r
56 %\r
57 %II. Die von der speziellen Relativitätstheorie behaupteten\r
58 %Widersprüche      6\r
59 %\r
60 %III. Die von der allgemeinen Relativitätstheorie behaupteten\r
61 %Widersprüche      21\r
62 %\r
63 %IV. Erkenntnis als Zuordnung      32\r
64 %\r
65 %V. Zwei Bedeutungen des Apriori und die implizite Voraussetzung\r
66 %Kants      46\r
67 %\r
68 %VI. Widerlegung der Kantischen Voraussetzung durch die\r
69 %Relativitätstheorie      59\r
70 %\r
71 %VII. Beantwortung der kritischen Frage durch die wissenschaftsanalytische\r
72 %Methode      71\r
73 %\r
74 %VIII. Der Erkenntnisbegriff der Relativitätstheorie als Beispiel der\r
75 %Entwicklung des Gegenstandsbegriffes      89\r
76 %\r
77 %Literarische Anmerkungen      104\r
78 %*/\r
83 \chapter{I. Einleitung.}\r
84 \page{1}\r
86 Die \erratum{\name{Einsteinsche}}{\name{Einstein}sche} Relativitätstheorie hat die philosophischen\r
87 Grundlagen der Erkenntnis in schwere Erschütterung\r
88 versetzt. Es hat gar keinen Zweck, das zu\r
89 leugnen, so zu tun, als ob diese physikalische Theorie\r
90 nur physikalische Auffassungen ändern konnte, und als\r
91 ob die philosophischen Wahrheiten von ihr unberührt in\r
92 alter Höhe thronten. Zwar stellt die Relativitätstheorie\r
93 nur Behauptungen über \emph{physikalische} Meßbarkeitsverhältnisse\r
94 und physikalische \emph{Größenbeziehungen} \erratum{auf\r
96 aber}{auf, aber} es muß durchaus zugegeben werden, daß diese\r
97 speziellen Behauptungen den allgemeinen \emph{philosophischen}\r
98 Grundbegriffen widerstreiten. Die philosophischen\r
99 Axiome waren von jeher, und auch in ihrer kritischen\r
100 Form, so gefaßt, daß sie zwar speziellen Ausdeutungen\r
101 gegenüber invariant blieben, aber immer eine bestimmte\r
102 Gruppe von physikalischen Aussagen definitiv ausschlossen;\r
103 und gerade solche ausgeschlossenen Möglichkeiten hat die\r
104 Relativitätstheorie hervorgesucht und zum Leitfaden ihrer\r
105 physikalischen Annahmen gemacht.\r
107 Schon die spezielle Relativitätstheorie stellte schwere\r
108 Anforderungen an die Toleranz eines kritischen Philosophen.\r
109 Sie nahm der Zeit den Charakter eines nicht\r
110 umkehrbaren Ablaufs und behauptete, daß es Geschehnisse\r
111 gäbe, deren zeitliche Aufeinanderfolge mit gleichem\r
112 Recht umgekehrt angenommen werden dürfte. Das ist\r
113 zweifellos ein Widerspruch zu der vorher geltenden Anschauung,\r
114 auch zu dem Zeitbegriff \name{Kants}. Man hat\r
115 \page{2}\r
116 diese Schwierigkeit gelegentlich beseitigen wollen, indem\r
117 man die \glqq{}physikalische Zeit\grqq{} von der \glqq{}phänomenologischen\r
118 Zeit\grqq{} unterschied und sich darauf bezog, daß die\r
119 \emph{Zeit als subjektives Erlebnis} immer die irreversible\r
120 Folge blieb. Aber in \name{Kants} Sinne ist diese Trennung\r
121 sicherlich nicht. Denn für \name{Kant} ist es gerade das Wesentliche\r
122 einer aprioren Erkenntnisform, daß sie eine \emph{Bedingung\r
123 der Naturerkenntnis} bildet, und nicht bloß\r
124 eine subjektive Qualität unserer Empfindungen. Wenn er\r
125 auch gelegentlich von der Art, wie die Dinge unsere Wahrnehmung\r
126 \glqq{}affizieren\grqq{}, spricht, so meint er doch immer,\r
127 daß diese subjektive Form gleichzeitig eine objektive Form\r
128 für die Erkenntnis ist, weil die subjektive Komponente\r
129 notwendig im Objektsbegriff enthalten ist; und er würde\r
130 nicht zugegeben haben, daß man für das physikalische\r
131 Geschehen mit einer anderen Zeitordnung arbeiten dürfte,\r
132 als eben dieser in der Natur des erkennenden Subjekts\r
133 angelegten Form. Darum war es nur folgerichtig, wenn\r
134 bereits gegen die spezielle Relativitätstheorie Einwände\r
135 aus philosophischen Kreisen erhoben wurden, sofern sie\r
136 %sic: No name-markup on the next line - verified from scan\r
137 aus dem Begriffskreis der Kantischen Philosophie herrührten.\r
139 Durch die allgemeine Relativitätstheorie hat sich diese\r
140 Lage aber noch vielfach verschärft. Denn in ihr wurde\r
141 nichts Geringeres behauptet, als \emph{daß die euklidische\r
142 Geometrie für die Physik nicht verwandt werden\r
143 dürfte}. Man mache sich den weitgehenden Inhalt dieser\r
144 Behauptung einmal ganz klar. Zwar waren schon seit\r
145 fast einem Jahrhundert Zweifel an der aprioren Stellung\r
146 der euklidischen Geometrie aufgetaucht. Die Aufstellung\r
147 nichteuklidischer Geometrieen hatte die Möglichkeit begrifflicher\r
148 Konstruktionen gezeigt, die den bekannten anschaulich\r
149 evidenten Axiomen \name{Euklids} widersprechen.\r
150 \page{3}\r
151 \name{Riemann} hatte eine allgemeine Mannigfaltigkeitslehre in\r
152 analytischer Form begründet, in der der \glqq{}ebene\grqq{} Raum\r
153 als Spezialfall erscheint. Man konnte, nachdem die begriffliche\r
154 Notwendigkeit der euklidischen Geometrie gefallen\r
155 war, ihre Sonderstellung nur dadurch begründen,\r
156 daß man sie als \emph{anschaulich evident} von den anderen\r
157 Mannigfaltigkeiten unterschied, und basierte auf diesen\r
158 Vorzug allein -- übrigens ganz im Sinne \name{Kants} -- die\r
159 Forderung, daß gerade diese Geometrie zur Beschreibung\r
160 der Wirklichkeit, also für die Physik, verwandt werden\r
161 müßte. So war der Widerspruch gegen die euklidische Geometrie\r
162 auf einen Einwand gegen ihre rein \emph{begriffliche}\r
163 Begründung zurückgeführt. Gleichzeitig tauchte von der\r
164 Seite der Empiristen erneuter Zweifel auf; man wollte\r
165 aus der Möglichkeit anderer Geometrieen folgern, daß die\r
166 Sätze der euklidischen Geometrie nur durch Erfahrung\r
167 und Gewöhnung ihren für unsere Anschauung zwingenden\r
168 Charakter erhalten hätten. Und drittens wurde von\r
169 mathematischer Seite geltend gemacht, daß es sich in der\r
170 Geometrie nur um konventionelle Festsetzungen, um ein\r
171 leeres Schema handelte, das selbst keine Aussagen über\r
172 die Wirklichkeit enthielte, sondern nur als ihre Form gewählt\r
173 sei, und das mit gleichem Recht durch ein nichteuklidisches\r
174 Schema ersetzt werden könnte\litref{1}. Gegenüber\r
175 diesen Einwänden stellt aber der Einspruch der allgemeinen\r
176 Relativitätstheorie einen ganz neuen Gedanken\r
177 dar. Diese Theorie stellt nämlich die ebenso einfache wie\r
178 klare Behauptung auf, daß die Sätze der euklidischen\r
179 Geometrie für die Wirklichkeit überhaupt \emph{falsch} wären.\r
180 Das ist in der Tat etwas wesentlich anderes als die genannten\r
181 drei Standpunkte, denen allen gemeinsam ist,\r
182 daß sie an der Geltung der euklidischen Axiome nicht\r
183 zweifeln, und die nur in der Begründung dieser Geltung\r
184 \page{4}\r
185 und ihrer erkenntnistheoretischen Deutung differieren.\r
186 Man erkennt, daß damit auch die kritische Philosophie\r
187 vor eine ganz neue Frage gestellt ist. Es ist gar kein\r
188 Zweifel, daß \name{Kants} transzendentale Ästhetik von der\r
189 unbedingten Geltung der euklidischen Axiome ausgeht;\r
190 und wenn man auch darüber streiten kann, ob er in ihrer\r
191 anschaulichen Evidenz den Beweisgrund seiner Theorie\r
192 des aprioren Raums, oder umgekehrt in der Apriorität\r
193 des Raumes den Beweisgrund ihrer Evidenz sieht, so\r
194 bleibt es doch ganz sicher, daß mit der \emph{Ungültigkeit}\r
195 dieser Axiome seine Theorie unvereinbar ist.\r
197 Darum gibt es nur zwei Möglichkeiten: entweder ist\r
198 die Relativitätstheorie falsch, oder die \name{Kant}ische Philosophie\r
199 bedarf in ihren \name{Einstein} widersprechenden Teilen\r
200 einer Änderung\litref{2}. Der Untersuchung dieser Frage ist die\r
201 vorliegende Arbeit gewidmet. Die erste Möglichkeit erscheint\r
202 nach den glänzenden Erfolgen der Relativitätstheorie,\r
203 ihrer wiederholten Bestätigung durch die Erfahrung\r
204 und ihrer Fruchtbarkeit für die theoretische Begriffsbildung\r
205 von vornherein unwahrscheinlich. Aber es\r
206 soll hier nicht eine physikalische Theorie bedingungslos\r
207 übernommen werden, zumal, da die erkenntnistheoretische\r
208 Deutung ihrer Aussagen noch so umstritten ist. Wir\r
209 wählen deshalb folgendes Arbeitsverfahren. Es muß zunächst\r
210 festgestellt werden, welches die Widersprüche sind,\r
211 die zwischen der Relativitätstheorie und der kritischen\r
212 Philosophie bestehen, und welches die Voraussetzungen\r
213 und Erfahrungsresultate sind, die die Relativitätstheorie\r
214 für ihre Behauptungen anführt\litref{3}. Danach untersuchen\r
215 wir, von einer Analyse des Erkenntnisbegriffs ausgehend,\r
216 welche Voraussetzungen die Erkenntnistheorie \name{Kants} einschließt,\r
217 und indem wir diese den Resultaten unserer\r
218 Analyse der Relativitätstheorie gegenüberstellen, entscheiden\r
219 \page{5}\r
220 wir, in welchem Sinne die Theorie \name{Kants} durch\r
221 die Erfahrung widerlegt worden ist. Wir werden sodann\r
222 eine solche Änderung des Begriffs \glqq{}apriori\grqq{} durchführen,\r
223 daß dieser Begriff mit der Relativitätstheorie nicht mehr\r
224 in Widerspruch tritt, daß vielmehr die Relativitätstheorie\r
225 durch die Gestaltung ihres Erkenntnisbegriffs als eine\r
226 Bestätigung seiner Bedeutung angesehen werden muß.\r
227 Die Methode dieser Untersuchung nennen wir die wissenschaftsanalytische\r
228 Methode.\r
233 \chapter{II. Die von der speziellen Relativitätstheorie\r
234 behaupteten Widersprüche.}\r
235 \page{6}\r
237 Wir werden in diesem und dem folgenden Abschnitt\r
238 das Wort apriori im Sinne \name{Kants} gebrauchen, also dasjenige\r
239 apriori nennen, was die Formen der Anschauung\r
240 oder der Begriff der Erkenntnis als evident fordern. Wir\r
241 tun dies nur in der Absicht, gerade auf diejenigen Widersprüche\r
242 geführt zu werden, die zu aprioren Prinzipien\r
243 eintreten, denn es treten natürlich auch Widersprüche\r
244 der Relativitätstheorie zu vielen anderen Prinzipien der\r
245 Physik auf. Irgendein Beweisgrund für die \emph{Geltung}\r
246 der Prinzipien soll aber mit der Kennzeichnung als apriori\r
247 nicht vorweggenommen sein\litref{4}.\r
249 In der speziellen Relativitätstheorie -- wir dürfen diese\r
250 Theorie auch heute noch als für \emph{homogene} Gravitationsfelder\r
251 gültig ansehen -- behauptet \name{Einstein}, daß das\r
252 \name{Newton-Galilei}sche Relativitätsprinzip der Mechanik\r
253 mit dem Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit\r
254 unvereinbar sei, wenn nicht neben der Transformation der\r
255 räumlichen Koordinaten auch eine Zeittransformation vorgenommen\r
256 wird, die dann zur Relativierung der Gleichzeitigkeit\r
257 und zur teilweisen Umkehrbarkeit der Zeit führt.\r
258 Dieser Widerspruch ist sicherlich richtig. Wir fragen:\r
259 Auf welche Voraussetzungen stützen sich \name{Einstein}s\r
260 Prinzipien?\r
262 Das \name{Galilei}sche Trägheitsprinzip ist gewiß ein\r
263 \page{7}\r
264 Erfahrungssatz. Es ist gar nicht einzusehen, warum ein\r
265 Körper, auf den keine Kraft wirkt, sich ständig bewegen\r
266 soll; würden wir uns nicht so an diesen Gedanken gewöhnt\r
267 haben, so würden wir wahrscheinlich zunächst das Gegenteil\r
268 behaupten. Allerdings läßt Galilei auch den Ruhezustand\r
269 als kräftefrei zu. Aber darin liegt seine weitgehende\r
270 Behauptung, daß die gleichförmige Bewegung\r
271 der Ruhe mechanisch völlig äquivalent sei. Durch physikalische\r
272 Relationen ist definiert, was eine Kraft ist. Aber\r
273 daß die Kraft nur bei Geschwindigkeits\emph{änderungen}\r
274 auftritt, daß also die Phänomene, die wir als Kraftwirkung\r
275 kennen, an das Auftreten einer \emph{Beschleunigung} geknüpft\r
276 sind, ist gewiß nicht evident im Sinne einer aprioren\r
277 Einsicht. In dieser Auffassung ist also das \name{Galilei}sche\r
278 Trägheitsprinzip zweifellos ein Erfahrungssatz.\r
280 Jedoch läßt sich diesem Prinzip eine andere Form\r
281 geben. Es besagt dann, daß eine gewisse Gruppe von\r
282 Koordinatensystemen, nämlich alle gegeneinander gleichförmig\r
283 bewegten, für die Beschreibung des mechanischen\r
284 Vorgangs äquivalent seien. Die Gesetze der Mechanik\r
285 ändern ihre Form nicht, wenn man von einem dieser\r
286 Systeme auf ein anderes transformiert. In dieser Form\r
287 ist die Aussage aber viel allgemeiner als in der ersten Form.\r
288 Das mechanische Gesetz kann seine Form auch dann behalten,\r
289 wenn sich die Größen der Kräfte ändern; für die\r
290 Erhaltung der Form wird nur verlangt, daß sich die Kräfte\r
291 im neuen System ebenso aus den Koordinaten ableiten,\r
292 wie im alten, daß also der \emph{Funktionalzusammenhang}\r
293 ungeändert bleibt. Diese Aussage ist aber viel prinzipieller\r
294 als die \name{Galilei}sche. Das Trägheitsprinzip, die Gleichberechtigung\r
295 gleichförmig bewegter Systeme, erscheint hier\r
296 nur als besonderer Fall, es gibt nämlich diejenigen Koordinatentransformationen\r
297 an, bei welchen die Erhaltung des\r
298 \page{8}\r
299 Funktionalzusammenhangs speziell durch die Erhaltung\r
300 der Kraft\emph{größen} herbeigeführt wird. Daß es solche\r
301 Transformationen gibt, und welche dies sind, kann allerdings\r
302 nur die Erfahrung lehren. Aber daß das physikalische\r
303 \emph{Gesetz}, und nicht nur die \emph{Kraft}, invariant gegen\r
304 Koordinatentransformationen sein soll, liegt viel tiefer\r
305 begründet. Dieses Prinzip verlangt nämlich, in anderen\r
306 Worten ausgedrückt, daß der Raum keine physikalischen\r
307 Eigenschaften haben soll, daß das Gesetz bestimmt ist\r
308 durch die Verteilung und die Natur der \emph{Dinge}, und die\r
309 Wahl des Bezugssystems keinen Einfluß auf den Vorgang\r
310 haben kann. Für den \name{Kant}ischen Standpunkt, auf dem\r
311 Raum und Zeit nur Formen der Einordnung sind, und\r
312 nicht Glieder der Wirklichkeit wie die Materie und die\r
313 Kräfte, ist das eigentlich selbstverständlich. Es muß befremden,\r
314 daß gegen die \name{Galilei-Newton}schen Gesetze\r
315 und auch gegen die spezielle Relativitätstheorie nicht von\r
316 philosophischer Seite schon lange der Einwand erhoben\r
317 wurde, daß die postulierte Invarianz noch keineswegs\r
318 ausreicht. Denn gerade die gleichförmige Translation auszuzeichnen,\r
319 liegt für den Philosophen kein Grund vor;\r
320 wenn einmal der Raum als Ordnungsschema und nichts\r
321 physikalisch Gegenständliches erkannt war, mußten auch\r
322 alle beliebig bewegten Koordinatensysteme für die Beschreibung\r
323 der Geschehnisse äquivalent sein. \name{Mach}\r
324 scheint der einzige gewesen zu sein, der diesen Gedanken\r
325 in aller Schärfe aussprach; aber er vermochte nicht, ihn\r
326 in eine physikalische Theorie umzusetzen. Und niemand\r
327 hat \name{Einstein} bei seiner Aufstellung der speziellen Relativitätstheorie\r
328 entgegengehalten, daß sie noch nicht radikal\r
329 genug sei. Erst \name{Einstein} selbst hat seiner Theorie diesen\r
330 Einwand gemacht, und hat dann den Weg gezeigt, eine\r
331 wirklich allgemeine Kovarianz durchzuführen. Die \name{Kant}ische\r
332 \page{9}\r
333 Philosophie mußte ihren Grundbegriffen entsprechend\r
334 schon immer die Relativität der Koordinaten fordern;\r
335 daß sie es nicht getan hat und die Konsequenzen nicht\r
336 ahnte, die in dieser Forderung implizit enthalten waren,\r
337 liegt darin begründet, daß erst die experimentelle Physik\r
338 zur Aufdeckung einer zweiten grundsätzlichen Forderung\r
339 führen mußte, die der spekulativen Betrachtung zu fern\r
340 lag, um von ihr erkannt werden zu können.\r
342 Die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit ist die physikalische\r
343 Form dieser zweiten Forderung. Durch empirische\r
344 Beobachtung hatten die Physiker sie entdeckt; aber als\r
345 \name{Einstein} sie in seiner berühmten ersten Abhandlung\litref{5} zur\r
346 Grundlage seiner speziellen Relativitätstheorie machte,\r
347 konnte er ihre Bedeutung schon in viel tieferem Zusammenhange\r
348 zeigen.\r
350 \name{Einstein} ging davon aus, daß man, um in einem\r
351 gewählten Koordinatensystem an jedem Punkt die\r
352 synchrone Zeit zu definieren, einen mit bestimmter\r
353 Geschwindigkeit sich ausbreitenden physikalischen Vorgang\r
354 braucht, der Uhren an verschiedenen Punkten zu\r
355 vergleichen gestattet. Über den Bewegungszustand dieses\r
356 Vorgangs gegen das Koordinatensystem muß man dann\r
357 eine Hypothese machen; von dieser Hypothese hängt die\r
358 Zeit des Koordinatensystems und die Gleichzeitigkeit an\r
359 getrennten Punkten ab. Darum ist es unmöglich, diesen\r
360 Bewegungszustand zu bestimmen; denn für die Bestimmung\r
361 müßte eine Zeitdefinition vorausgesetzt sein. Alle\r
362 Experimente darüber würden nur lehren, welche Zeitdefinition\r
363 man angewandt hat, oder sie würden zu Widersprüchen\r
364 mit den Konsequenzen der Hypothese führen,\r
365 also eine negative Auswahl treffen. In jeder \glqq{}Koordinatenzeit\grqq{}\r
366 ist daher eine gewisse Willkür enthalten. Man reduziert\r
367 diese Willkür auf ein Minimum, wenn man die\r
368 \page{10}\r
369 Ausbreitungsgeschwindigkeit des Vorgangs als konstant, von\r
370 der Richtung unabhängig und gleich für alle Koordinatensysteme\r
371 ansetzt.\r
373 Es ist keineswegs gesagt, daß diese \emph{einfachste} Annahme\r
374 auch \emph{physikalisch zulässig} ist. Sie führt z.\,B.,\r
375 wenn man an der zeitlichen Nichtumkehrbarkeit der\r
376 kausalen Abläufe festhält (Prinzip der irreversiblen Kausalität),\r
377 in ihren Konsequenzen dazu, daß es keine größere\r
378 Geschwindigkeit als die ausgewählte gibt; und mindestens\r
379 muß man deshalb unter allen bekannten Geschwindigkeiten\r
380 die größte auswählen, wenn sie zur Zeitdefinition\r
381 geeignet sein soll. Darum war die Lichtgeschwindigkeit\r
382 geeignet, die Rolle dieser ausgezeichneten Geschwindigkeit\r
383 zu übernehmen. Es mußte dann noch festgestellt\r
384 werden, ob die durch diese Geschwindigkeit definierte Zeit\r
385 zusammenfällt mit der bisher durch die mechanischen\r
386 Gesetze der Himmelskörper definierten Zeit, d.\,h. ob nicht\r
387 die in ihrer Einfachheit sicherlich tiefe Gesetze darstellenden\r
388 Formeln der Mechanik auf die Existenz einer noch\r
389 größeren unbekannten Geschwindigkeit hindeuteten. Als\r
390 Entscheidung darüber konnte der \name{Michelson}sche Versuch\r
391 betrachtet werden, der die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit\r
392 für alle Systeme bewiesen hatte. Trotzdem\r
393 blieb es noch offen, ob nicht eines Tages Erfahrungen auftauchen\r
394 würden, die eine so einfache Annahme als Grundlage\r
395 der Zeitdefinition wie die Konstanz einer Geschwindigkeit\r
396 unmöglich machten. Diese Erfahrungen sind in der Tat\r
397 aufgetaucht, allerdings erst nachdem die theoretische Überlegung\r
398 bereits die spezielle Relativitätstheorie wieder aufgegeben\r
399 hatte: die bei der letzten Sonnenfinsternis beobachtete\r
400 Lichtablenkung durch das Gravitationsfeld der\r
401 Sonne ist ein Beweis dafür, daß die genannte einfachste\r
402 Zeitdefinition allgemein nicht durchführbar ist. Die\r
403 \page{11}\r
404 spezielle Relativitätstheorie wurde damit auf den Spezialfall\r
405 eines homogenen Gravitationsfeldes zurückgeführt.\r
407 Man erkennt an diesen Überlegungen, was in der Zeitauffassung\r
408 der speziellen Relativitätstheorie die empirische\r
409 Grundlage ist. Aber über der Grundlage des Erfahrungsmaterials\r
410 erhebt sich der tiefe Gedanke \name{Einsteins}: \emph{daß\r
411 eine Zeitdefinition ohne eine physikalische Hypothese\r
412 über bestimmte Ausbreitungsgeschwindigkeiten\r
413 unmöglich ist}. Auch die alte Definition einer\r
414 absoluten Zeit erscheint nur als Spezialfall dieser Auffassung:\r
415 sie enthält die Hypothese, daß es eine mit unendlich\r
416 großer Geschwindigkeit sich ausbreitende Wirkung\r
417 gibt.\r
419 Man beachte gerade diesen Zusammenhang. Es ist\r
420 \name{Einstein} eingewandt worden, daß seine Überlegungen\r
421 nur zeigen, wie der Physiker mit seinen beschränkten Hilfsmitteln\r
422 niemals zu einer genauen \glqq{}absoluten\grqq{} Zeit kommen\r
423 kann; an der Idee einer solchen Zeit und ihrer fortschreitend\r
424 approximativen Messung müßte festgehalten\r
425 werden. Dieser Einwand ist falsch. Die \glqq{}absolute\grqq{} Zeit\r
426 fordert einen Vorgang, der sich mit unendlicher Geschwindigkeit\r
427 ausbreitet; ein solcher Vorgang würde aber unseren\r
428 Vorstellungen über die kausale Wirkungsübertragung\r
429 durchaus widersprechen. Es ist eine schon von vielen\r
430 Philosophen erhobene Forderung, daß Fernkräfte nicht\r
431 angenommen werden dürfen; aber diese bedeuten nichts\r
432 anderes als die unendlich rasche Wirkung zwischen zwei\r
433 entfernten Punkten. Schreibt man der Kraftübertragung\r
434 eine mit der Entfernung wachsende endliche Dauer zu,\r
435 so kann man sie sich immer als von Punkt zu Punkt\r
436 wandernd, also als Nahewirkung, vorstellen; ob man dabei\r
437 von einem Äthermedium spricht, ist dann mehr eine\r
438 Sache des sprachlichen Ausdrucks. Man kann das Prinzip\r
439 \page{12}\r
440 der Nahewirkung genau so gut ein apriores Prinzip nennen,\r
441 wie etwa \name{Kant} die Unzerstörbarkeit der Substanz\r
442 apriorisch genannt hat. Die genaue Bestimmung der absoluten\r
443 Zeit wird also durch ein apriores Prinzip auf jeden\r
444 Fall ausgeschlossen. Es hätte höchstens Sinn, eine stetige\r
445 Annäherung an die absolute Zeit als möglich festzuhalten.\r
446 Dann darf es aber für die physikalisch möglichen Geschwindigkeiten\r
447 eine obere Grenze nicht geben. Darüber\r
448 läßt sich nun apriori nichts aussagen, sondern das ist\r
449 eine rein physikalische Frage. Wenn etwa -- und gerade\r
450 das haben alle experimentellen Untersuchungen zur\r
451 Relativitätstheorie gelehrt -- schon für die Erzeugung\r
452 einer bestimmten endlichen Geschwindigkeit die Energie\r
453 unendlich werden sollte, so ist die Herstellung beliebiger\r
454 Geschwindigkeiten sicherlich physikalisch unmöglich. Zwar\r
455 geht das aus den alten Formeln nicht hervor, aber diese\r
456 Formeln sind empirisch gewonnen, und mit vollem Recht\r
457 konnte die Relativitätstheorie sie durch andere ersetzen,\r
458 in denen z.\,B. die kinetische Energie eines Massenpunktes\r
459 mit Annäherung an die Lichtgeschwindigkeit unendlich\r
460 wird. Ebensogut, wie es etwa physikalisch unmöglich ist,\r
461 die Energie eines abgeschlossenen Systems zu vermehren,\r
462 oder durch fortschreitende Abkühlung eine gewisse untere\r
463 Grenze der Temperatur zu unterschreiten\Footnote{a}\r
464 {Man wende nicht ein, daß eine untere Grenze für die Temperatur\r
465 anschaulich notwendig sei, weil die Bewegung der Moleküle einmal aufhören\r
466 müßte. Woher weiß ich denn, daß dieser Nullpunkt der kinetischen\r
467 Energie bereits bei einer endlichen negativen Temperatur erreicht wird,\r
468 und nicht erst bei negativ unendlicher Temperatur? Allein aus der Erfahrung.\r
469 Ebenso ist die Erfahrung möglich, daß die unendlich große kinetische\r
470 Energie bereits bei einer endlichen Geschwindigkeit erreicht wird.}, kann auch\r
471 die beliebige Steigerung der Geschwindigkeit physikalisch\r
472 unmöglich sein. Denkbar ist natürlich das eine wie das\r
473 \page{13}\r
474 andere, aber es handelt sich hier gerade um das \emph{physikalisch\r
475 Erreichbare}. Wenn ein physikalisches Gesetz\r
476 existiert, das den Geschwindigkeiten eine obere Grenze\r
477 vorschreibt, dann ist auch eine Annäherung an die \glqq{}absolute\grqq{}\r
478 Zeit unmöglich, nicht bloß die Erreichung des\r
479 Idealzustands. Dann hat es aber keinen Sinn mehr, von\r
480 einer \glqq{}idealen Zeit\grqq{} auszugehen, denn nur solche Idealmaßstäbe\r
481 dürfen wir aufstellen, die wenigstens durch\r
482 fortschreitende Approximation erreichbar sind und dadurch\r
483 ihren Sinn für die Wirklichkeit erhalten\litref{6}).\r
485 Wir fassen unsere Überlegungen zusammen. Das Prinzip\r
486 der Relativität aller Koordinatensysteme, auch nur\r
487 angewandt auf eine bestimmte Klasse von Koordinaten\r
488 (nämlich auf gegeneinander gleichförmig bewegte Systeme),\r
489 und das Prinzip der Nahewirkung lassen die absolute\r
490 Zeit nur dann zu, wenn eine obere Grenze für die physikalisch\r
491 erreichbaren Geschwindigkeiten nicht existiert. Beide\r
492 Prinzipien dürfen wir, in dem bisherigen Sinne des Wortes,\r
493 mit gutem Recht als apriori bezeichnen. Die Frage der\r
494 oberen Grenze für die physikalisch erreichbaren Geschwindigkeiten\r
495 ist aber eine empirische Angelegenheit\r
496 der Physik. Darum wird auch die Zeitdefinition von\r
497 empirischen Gründen mitbestimmt, sofern man an dem\r
498 Prinzip festhält, daß nur der durch Empirie approximierbare\r
499 Maßstab als Norm aufgestellt werden darf (Prinzip\r
500 des approximierbaren Ideals). Den verbindenden Gedanken\r
501 vollzieht dabei \name{Einsteins} Entdeckung, daß die\r
502 Zeit eines Koordinatensystems nur unter Zugrundelegung\r
503 eines physikalischen Ausbreitungsvorgangs definiert werden\r
504 kann.\r
506 Nennt man die Forderung der absoluten Zeit ebenfalls\r
507 ein apriores Prinzip, so wird hiermit der Widerstreit\r
508 mehrerer apriorer Prinzipien behauptet, genauer die\r
509 \page{14}\r
510 Unvereinbarkeit ihrer gemeinsamen Geltung mit der Erfahrung.\r
511 Denn die Annahme einer absoluten Zeit impliziert\r
512 immer, in welcher Form sie auch definiert wird, die Möglichkeit\r
513 beliebig großer, physikalisch herstellbarer Geschwindigkeiten.\r
514 Allerdings wird sich der experimentelle\r
515 Beweis für die Unüberschreitbarkeit der Lichtgeschwindigkeit\r
516 niemals exakt führen lassen. Aus gewissen Beobachtungen\r
517 an kleineren Geschwindigkeiten müssen wir\r
518 schließen, daß die Lichtgeschwindigkeit die obere Grenze\r
519 ist, z.\,B. beobachten wir an Elektronen, daß mit Annäherung\r
520 an die Lichtgeschwindigkeit die kinetische\r
521 Energie ins Unendliche wächst. Für die Lichtgeschwindigkeit\r
522 selbst können wir die Beobachtung nicht ausführen;\r
523 es handelt sich also stets um eine Extrapolation. Auch\r
524 der \name{Michelson}sche Versuch ist ein Beweis nur, wenn\r
525 man besonders ausgeklügelte Theorien zur Rettung des\r
526 alten Additionstheorems der Geschwindigkeiten zurückweist.\r
527 Die Extrapolation hat deshalb immer nur eine\r
528 gewisse Wahrscheinlichkeit für sich. Wir wollen den\r
529 Grundsatz, daß man für ein Erfahrungsmaterial die wahrscheinlichste\r
530 Extrapolation verwendet, das \emph{Prinzip der\r
531 normalen Induktion} nennen. Allerdings verbirgt sich\r
532 hinter dem Begriff \glqq{}\emph{wahrscheinlichste Extrapolation}\grqq{}\r
533 noch eine Unbestimmtheit. Man kann sich auf\r
534 den Standpunkt stellen, daß solche Extrapolationen, die\r
535 zum Widerspruch gegen gewisse allgemeine Voraussetzungen\r
536 führen, unmöglich sind, also bei der Auswahl\r
537 der wahrscheinlichsten überhaupt ausgeschieden werden\r
538 müssen. Es gibt aber Grenzfälle, in denen ein solches\r
539 Verfahren der Forderung der Evidenz widerspricht.\r
540 Denken wir uns z.\,B. die Werte der kinetischen Energie\r
541 des Elektrons für Geschwindigkeiten von 0--99\% der\r
542 Lichtgeschwindigkeit experimentell bestimmt und\r
543 \page{15}\r
544 graphisch aufgetragen, so daß sie eine Kurve ergeben, die\r
545 sich bei 100\% offensichtlich einer Asymptote anschmiegt.\r
546 Dann wird wohl niemand behaupten, daß die Kurve\r
547 zwischen 99\% und 100\% noch einen Knick macht,\r
548 so daß sie erst für unendlich große Geschwindigkeiten ins\r
549 Unendliche geht. In der Tat basiert die Konstanz der\r
550 Lichtgeschwindigkeit nach den bisherigen Erfahrungsdaten,\r
551 den \name{Michelson}schen Versuch eingerechnet, nicht\r
552 auf einer geringeren Wahrscheinlichkeit als der des geschilderten\r
553 Beispiels. Wir begnügen uns hier mit einer\r
554 bloßen Veranschaulichung des Prinzips der normalen Induktion,\r
555 um seinen aprioren Charakter im Sinne des\r
556 Evidenzkriteriums aufzuzeigen; und wir werden erst im\r
557 Abschnitt VI auf die erkenntnistheoretische Stellung\r
558 dieses Prinzips näher eingehen.\r
560 Wir behaupten also, nach der speziellen Relativitätstheorie,\r
561 daß die Prinzipien:\r
562 \begin{itemize}\r
563 \item Prinzip der Relativität gleichförmig bewegter Koordinaten\r
564 \item Prinzip der irreversiblen Kausalität\r
565 \item Prinzip der Nahewirkung\r
566 \item Prinzip des approximierbaren Ideals\r
567 \item Prinzip der normalen Induktion\r
568 \item Prinzip der absoluten Zeit\r
569 \end{itemize}\r
570 mit den experimentellen Beobachtungen gemeinsam unvereinbar\r
571 sind. Man kann alle diese Prinzipien mit\r
572 gleichem Recht \emph{apriore} Prinzipien nennen. Zwar sind\r
573 sie nicht alle von \name{Kant} selbst als apriori genannt. Aber\r
574 sie besitzen alle das Kriterium der Evidenz in hohem\r
575 Maße, und sie stellen grundsätzliche Voraussetzungen dar,\r
576 die von der Physik bisher immer gemacht wurden. Wir\r
577 erwähnen diese ihre Eigenschaft nur deshalb, weil damit\r
578 der behauptete Widerspruch von einem physikalischen\r
579 \page{16}\r
580 zu einem philosophischen Problem wird. Sollte aber unsere\r
581 Auffassung Widerspruch finden und die Evidenz für einige\r
582 dieser Prinzipien, z.\,B. das der Nahewirkung, bestritten\r
583 werden, so wird das den Beweisgang unserer Untersuchungen\r
584 nicht stören. Man mag diese einzelnen Prinzipien\r
585 dann als Erfahrungssätze betrachten; dann ist das\r
586 Prinzip der normalen Induktion, das wir in der Zusammenstellung\r
587 besonders aufführten, in ihnen nochmals\r
588 implizit enthalten.\r
590 Bemerkt sei noch, daß in den Annahmen der speziellen\r
591 Relativitätstheorie ein Widerspruch zum \emph{Kausalprinzip}\r
592 nicht enthalten ist. Im Gegenteil gewinnt hier die Kausalität\r
593 eine Auszeichnung: solche Zeitfolgen, die als kausale\r
594 Folgen anzusehen sind, sind nicht umkehrbar. Man kann\r
595 sagen, daß die Kausalität objektive Folgen in das Zeitschema\r
596 hineinträgt, während dieses selbst keinen absoluten\r
597 Charakter hat.\r
599 \name{Minkowski} hat den \name{Einstein}schen Gedanken eine\r
600 Formulierung gegeben, die es erlaubt, sie in viel übersichtlicherer\r
601 Form auszudrücken. Er definiert eine $x_{4}$-Koordinate\r
602 durch $x_{4} = i c t$ und leitet die Lorentztransformation\r
603 aus der Forderung ab, daß das Linienelement\r
604 der 4-dimensionalen Mannigfaltigkeit\r
605 \[\r
606 \diff{s}^{2} = \sum_{1}^{4} \diff{x_\nu}^{2}\r
607 \]\r
608 invariant sein soll, daß also die Transformationen diesen\r
609 einfachen Ausdruck für das Linienelement nicht zerstören\r
610 sollen. In dieser Behauptung ist dann sowohl das Prinzip\r
611 der Relativität aller gleichförmig bewegten Systeme als\r
612 auch das Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit\r
613 enthalten. Man kann daher beide Forderungen zusammenfassen\r
614 in die eine der \r
615 \page{17}\r
616 \emph{Relativität aller orthogonalen\r
617 Transformationen in der Minkowski-Welt}. Die\r
618 Konstanz der Lichtgeschwindigkeit kommt dann gleichsam\r
619 von selbst hinein. Diese Geschwindigkeit ist der\r
620 Maßeinheitsfaktor, mit dem man die in Sekunden gemessene\r
621 Zeit multiplizieren muß, damit sie den in Zentimetern\r
622 gemessenen räumlichen Achsen äquivalent wird\r
623 und mit ihnen zu einem symmetrischen Vierfachsystem\r
624 zusammengefaßt werden kann. Es würde der vierdimensionalen\r
625 Relativität widersprechen, wenn dieser Faktor für\r
626 die einzelnen Systeme verschieden wäre.\r
628 Man muß jedoch beachten, daß das \name{Minkowski}sche\r
629 Prinzip nichts anderes ist als eine elegante und fruchtbare\r
630 Formulierung der \name{Einstein}schen Gedanken. An deren\r
631 physikalisch-philosophischem Inhalt ändert sie nichts. Sie\r
632 fordert nicht etwa eine Abänderung unserer Raumanschauung,\r
633 denn die Einführung der vierten Koordinate\r
634 ist lediglich eine formale Angelegenheit. Und sie behauptet\r
635 auch nicht, wie es gelegentlich hingestellt wird, eine Vertauschbarkeit\r
636 von Raum und Zeit. Im Gegenteil sind\r
637 raumartige und zeitartige Vektoren in der \name{Minkowski}-Welt\r
638 grundsätzlich unterschieden und lassen sich durch keine physikalisch\r
639 mögliche Transformation ineinander überführen.\r
641 Es muß noch untersucht werden, wieweit die allgemeine\r
642 Relativitätstheorie die Annahmen der speziellen\r
643 geändert hat, und ob sich unsere bisherigen Formulierungen\r
644 auch noch aufrecht halten lassen, wenn man die Entdeckungen\r
645 der allgemeinen Theorie als bekannt voraussetzt.\r
646 Denn gerade das Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit,\r
647 das in unseren Überlegungen eine so\r
648 wichtige Rolle spielte, ist von der neuen Theorie aufgegeben\r
649 worden.\r
651 Nach \name{Einsteins} zweiter Theorie gilt die spezielle\r
652 Relativität nur für den Spezialfall eines homogenen\r
653 \page{18}\r
654 Gravitationsfeldes, und für alle anderen Felder, z.\,B. die\r
655 Zentralfelder unseres Planetensystems, läßt sich eine so\r
656 einfache Annahme wie die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit\r
657 nicht mehr durchführen. Damit ist die spezielle\r
658 Theorie auf sehr beschränkte Gebiete zurückgedrängt\r
659 worden, denn Felder, in denen die Feldstärke überall\r
660 gleich und gleichgerichtet ist, sind mit einiger Näherung\r
661 nur in kleinen Dimensionen verwirklicht und werden die\r
662 Sehweite des menschlichen Auges kaum überschreiten.\r
663 Will man in einem ausgedehnteren Koordinatensystem,\r
664 in dem sich zentrale Gravitationsfelder bemerkbar machen,\r
665 die Gleichzeitigkeit zweier Vorgänge definieren, so muß\r
666 man für die Ausbreitung des Lichtes eine kompliziertere\r
667 Annahme machen, nach der der Strahl eine krumme Bahn\r
668 zurücklegt, die in den einzelnen Teilstrecken mit verschiedener\r
669 Geschwindigkeit durchlaufen wird. Auch hier\r
670 wird die Gleichzeitigkeit von der Koordinatenwahl abhängen\r
671 und nur relative Bedeutung haben; dieser Widerspruch\r
672 zur alten Auffassung bleibt also bestehen. Aber\r
673 wenn man einmal für das Licht selbst größere Geschwindigkeiten\r
674 als $c = 3 \cdot 10^{10}$~cm~p.~sec. zuläßt, so entsteht die\r
675 Frage, ob damit nicht die Bedeutung dieser Geschwindigkeit\r
676 als einer oberen Grenze aufgegeben ist.\r
678 Das ist jedoch keineswegs der Fall. Auch im Gravitationsfeld\r
679 ist die Lichtgeschwindigkeit die obere Grenze,\r
680 wenn auch ihr Zahlwert anders ist. Physikalische Vorgänge\r
681 mit Überlichtgeschwindigkeit gibt es auch hier nicht.\r
682 Für jedes Volumelement des Raumes hat $c$ einen bestimmten\r
683 Zahlwert, der von keinem physikalischen Vorgang\r
684 überschritten werden kann. Dieser Zahlwert hat\r
685 alle Eigenschaften der früher benutzten Konstanten\r
686 $c = 3 \cdot 10^{10}$, wenn man für das Volumenelement das Inertialsystem\r
687 aufsucht. Wenn also auch die obere Grenze aller\r
688 \page{19}\r
689 Geschwindigkeiten ihren Zahlwert von Ort zu Ort ändert,\r
690 so behält sie doch immer ihre Eigenschaft als einer \emph{oberen\r
691 Grenze}. Für jedes Volumelement -- und nur für ein\r
692 solches läßt sich überhaupt noch eine Zeitdefinition nach\r
693 dem Muster der speziellen Relativitätstheorie durchführen -- gilt\r
694 also unsere vorher angewandte Betrachtung\r
695 und der behauptete Widerspruch apriorer Prinzipien.\r
697 Trotzdem läßt sich noch ein Einwand machen. Wesentlich\r
698 für unsere Überlegungen war, daß man auch nicht\r
699 von einer \emph{allmählichen Annäherung} an eine absolute\r
700 Zeit sprechen kann, daß man diesen Begriff auch nicht\r
701 im Sinne eines zwar unerfüllten, aber doch stetig approximierbaren\r
702 Ideals gelten lassen kann. Ist es nun, vom\r
703 Standpunkt der allgemeinen Theorie, nicht wenigstens\r
704 möglich, dem Volumelement eine beliebig große Zahl\r
705 $c > 3 \cdot 10^{10}$ zuzuordnen, so daß die Annäherung an die\r
706 absolute Zeit beliebig genau wird?\r
708 Nein, das ist nicht möglich. Denn die Zahl $c$ für das gewählte\r
709 Volumelement ist abhängig von der Massenverteilung\r
710 im Universum, und sie würde ihren Wert erst vergrößern,\r
711 wenn die gesamte Massenerfüllung des Kosmos\r
712 dichter würde. Wir sollen uns jedoch nicht darauf berufen,\r
713 daß eine solche Änderung außerhalb unserer experimentellen\r
714 Möglichkeiten läge. Das Wesentliche ist vielmehr, daß\r
715 bei dieser Änderung auch der Zustand des Volumelements\r
716 geändert würde, daß alle dort aufgestellten Uhren und\r
717 Maßstäbe eine nichteuklidische Deformation erfahren\r
718 würden, und daß deshalb die frühere Zeitmessung nicht\r
719 mit der späteren verglichen werden kann. Es hätte keinen\r
720 Sinn, selbst wenn wir eine solche Änderung der Massenverteilung\r
721 herbeiführen könnten, die Zeitmessung mit der\r
722 größeren Konstanten $c$ als eine Genauigkeitssteigerung\r
723 gegen die vorhergehende zu betrachten. Daß die\r
724 \page{20}\r
725 Konstante $c$ einen größeren Wert hat, bedeutet immer nur\r
726 eine Beziehung auf die Einheitsuhr; aber wenn diese selbst\r
727 durch die Änderung beeinflußt ist, hat der Vergleich mit\r
728 dem früheren Zustand seinen Sinn verloren. Zweckmäßig\r
729 erschiene es allein, den Wert von $c$ festzuhalten, etwa (wie es\r
730 vielfach geschieht) $c = 1$ zu setzen für alle Inertialsysteme,\r
731 und die Änderung der Uhren umgekehrt daran zu messen.\r
733 Wir bemerken den Unterschied dieser Zusammenhänge\r
734 gegenüber anderen physikalischen Betrachtungen. Wenn\r
735 man in irgend einer physikalischen Anordnung die Genauigkeit\r
736 steigert, so ist dies immer möglich, ohne die Anordnung\r
737 selbst prinzipiell zu ändern, indem nur einzelne\r
738 Teile eine Änderung erfahren. Benutzt man etwa eine\r
739 fliegende Flintenkugel zur Signalübertragung, so läßt sich\r
740 zum Zweck der Genauigkeitserhöhung ihre Geschwindigkeit\r
741 steigern, indem man die Pulverladung vergrößert;\r
742 diese Änderung hat keinen Einfluß auf den Zustand des\r
743 Raumes. Die Größe $c$ ist aber nicht eine Funktion bestimmter\r
744 Einzelvorgänge, sondern der Ausdruck eines\r
745 \emph{universalen Zustands}, und alle Meßmethoden sind\r
746 nur innerhalb dieses Zustands vergleichbar. Die Eigentümlichkeit,\r
747 daß innerhalb jedes Universalzustands eine\r
748 obere Grenze $c$ für jedes Volumelement existiert, bleibt\r
749 aber erhalten, und darum gilt der oben behauptete Widerspruch\r
750 der Prinzipien unverändert weiter, auch wenn man\r
751 die spezielle Relativitätstheorie als Spezialfall in die\r
752 allgemeine einordnet.\r
754 Wir geben diese zusätzlichen Erörterungen nur, um\r
755 zu zeigen, daß die allgemeine Theorie den erkenntnislogischen\r
756 Grundsatz der speziellen nicht aufgegeben hat. Die\r
757 \emph{Geltung} der allgemeinen Theorie aber ist ein besonderes\r
758 Problem und soll im folgenden Abschnitt analysiert werden.\r
763 \chapter{III. Die von der allgemeinen Relativitätstheorie\r
764 behaupteten Widersprüche.}\r
765 \page{21}\r
767 Wir gehen jetzt zur allgemeinen Relativitätstheorie\r
768 über. Sie behauptet, daß ein euklidischer Raum für die\r
769 physikalische Wirklichkeit nicht angenommen werden darf.\r
770 Wir fragen: welches sind die Prinzipien und Erfahrungen,\r
771 auf die sich die Theorie zur Begründung beruft? Warum\r
772 nennt sie die Annahme eines euklidischen Raumes falsch?\r
774 \name{Einstein} sagt in seiner grundlegenden Schrift: \glqq{}Es\r
775 kommt mir in dieser Abhandlung nicht darauf an, die\r
776 allgemeine Relativitätstheorie als ein möglichst einfaches\r
777 logisches System mit einem Minimum von Axiomen darzustellen.\r
778 Sondern es ist mein Hauptziel, diese Theorie\r
779 so zu entwickeln, daß der Leser die psychologische Natürlichkeit\r
780 des eingeschlagenen Weges empfindet und daß\r
781 die zugrunde gelegten Voraussetzungen durch die Erfahrung\r
782 möglichst gesichert erscheinen\litref{7}.\grqq{}\r
784 Diese Art der Begründung ist für den Physiker berechtigt,\r
785 denn ihm kommt es nicht auf die starre Aufrechterhaltung\r
786 philosophischer Prinzipien an, sondern auf eine\r
787 möglichst enge Anschmiegung seiner Gedankenbilder an\r
788 die Wirklichkeit. Der Philosoph aber muß Rechenschaft\r
789 fordern für eine Abweichung von so fundamentalen Prinzipien,\r
790 wie sie die euklidische Geometrie enthält. Indem\r
791 wir die Begründung der Theorie daraufhin ordnen, werden\r
792 wir finden, daß \name{Einsteins} Darstellung in Wahrheit eine\r
793 viel tiefere Begründung gibt, als er selbst in den begleitenden\r
794 Worten beansprucht.\r
795 \page{22}\r
797 Wir hatten schon in den Ausführungen zur speziellen\r
798 Relativitätstheorie betont, daß die allgemeine Relativität\r
799 aller Koordinatensysteme vom Standpunkt der kritischen\r
800 Philosophie nur selbstverständlich ist, und brauchen daher\r
801 auf diese Forderung nicht mehr einzugehen. Wir fragen\r
802 aber: Warum führt sie zur Aufgabe des euklidischen\r
803 Raumes?\r
805 Wir denken uns ein homogenes Gravitationsfeld von\r
806 großer Ausdehnung und darin ein Inertialsystem angenommen.\r
807 In diesem Koordinatensystem ist dann das\r
808 Gravitationsfeld überall gleich Null. Wir wissen, daß\r
809 dann das vierdimensionale Linienelement\r
810 \[\r
811 \diff{s}^2 = \sum_1^4 \diff{x_\nu}^2\r
812 \]\r
813 sich als Summe von Quadraten der Koordinatendifferentiale\r
814 ausdrückt. Führen wir jetzt neue Koordinaten durch\r
815 eine beliebige Substitution ein, etwa ein System, das sich\r
816 gegen das Inertialsystem beschleunigt bewegt, so wird\r
817 das Linienelement seine einfache Form nicht bewahren,\r
818 sondern in einen gemischt quadratischen Ausdruck übergehen:\r
819 \[\r
820 \diff{s}^2 = \sum_1^4 g_{\mu\nu} \diff{x_\mu} \diff{x_\nu}.\r
821 \]\r
823 Dieser Ausdruck ist nach \name{Gauß} und \name{Riemann}\r
824 charakteristisch für eine nichteuklidische Geometrie\Footnote{b}\r
825 {Wir gebrauchen hier das Wort \glqq{}euklidisch\grqq{} für die vierdimensionale\r
826 Mannigfaltigkeit im üblichen Sinne. Obgleich wir die folgenden Betrachtungen\r
827 für die vierdimensionale Raum-Zeit-Mannigfaltigkeit anstellen\r
828 werden, gelten sie ebenso für den durch diese definierten dreidimensionalen\r
829 Raum, denn wenn die erstere eine \name{Riemann}sche Krümmung aufweist,\r
830 ist auch der letzte notwendig gekrümmt, und wenn die erstere euklidisch\r
831 ist, läßt sich auch der letztere immer euklidisch wählen. Vgl. für die\r
832 Analogie dieser beiden Mannigfaltigkeiten \name{Erwin Freundlich}, Anmerkung\r
833 3, S. 29 ff.}.\r
834 \page{23}\r
835 Die darin auftretenden Koeffizienten $g_{\mu\nu}$ drücken sich\r
836 durch die Beschleunigung des zweiten Koordinatensystems\r
837 gegen das Inertialsystem aus, und da diese Beschleunigung\r
838 unmittelbar das für das zweite System bestehende Schwerefeld\r
839 charakterisiert, so dürfen wir sie als ein Maß für\r
840 dieses Schwerefeld bezeichnen. Wir sehen also: der Übergang\r
841 von einem schwerelosen Feld in ein Gravitationsfeld\r
842 ist mit einem Übergang zu nichteuklidischen Koordinaten\r
843 verknüpft, und die Metrik dieser Koordinaten ist ein Maß\r
844 für das Gravitationsfeld. Von hier aus hat \name{Einstein} den\r
845 Schluß gezogen, daß \emph{jedes} Gravitationsfeld, nicht bloß\r
846 das durch Transformation erzeugte, sich durch Abweichung\r
847 von der euklidischen Gestalt des Raumes ausdrücken muß.\r
849 Es handelt sich also um eine Extrapolation. Eine\r
850 solche ist aber immer auf verschiedenen Wegen möglich;\r
851 wir müssen fragen, welche Prinzipien gerade zu der\r
852 \name{Einstein}schen Extrapolation geführt haben.\r
854 Betrachten wir das geschilderte Gravitationsfeld noch\r
855 genauer. Daß wir durch die Forderung der allgemeinen\r
856 Relativität auf nichteuklidische Koordinaten geführt werden,\r
857 diese also als gleichberechtigt neben den euklidischen\r
858 zulassen müssen, wird durch das Beispiel hinreichend bewiesen.\r
859 Aber die dabei entstandene nichteuklidische Raum-Zeit-Mannigfaltigkeit\r
860 hat noch eine besondere Eigentümlichkeit:\r
861 es lassen sich in ihr Koordinaten so wählen, daß\r
862 das Linienelement an jedem Punkt euklidisch wird. Damit\r
863 ist aber für das nichteuklidische Koordinatensystem eine\r
864 weitgehende Einschränkung gegeben, es folgt z.\,B. daß\r
865 das \name{Riemann}sche Krümmungsmaß dieses Systems überall\r
866 gleich Null wird. Ein solcher Raum ist nur scheinbar\r
867 nichteuklidisch, in Wahrheit hat er keine andere Struktur\r
868 als der euklidische Raum. Auch der dreidimensionale\r
869 euklidische Raum läßt sich durch nichteuklidische\r
870 \page{24}\r
871 Koordinaten ausdrücken. Man braucht dazu nur irgendwelche\r
872 krummlinige schiefwinklige Koordinaten zu wählen, dann\r
873 wird das Linienelement zu einem gemischt quadratischen\r
874 Ausdruck. Bereits die gewöhnlichen Polarkoordinaten\r
875 liefern für das Linienelement eine von der reinen Quadratsumme\r
876 abweichende Form. Sieht man von ihrer anschaulichen\r
877 Bedeutung ab und betrachtet sie als eine dreiachsige\r
878 Mannigfaltigkeit, ähnlich den drei Achsen des\r
879 Raumes, so stellen sie also einen nichteuklidischen Raum\r
880 dar. Man kann die Darstellung des euklidischen Raumes\r
881 durch Polarkoordinaten als eine Abbildung auf einen nichteuklidischen\r
882 Raum auffassen. Das Krümmungsmaß aber\r
883 bleibt dabei gleich Null.\r
885 Das gewählte Beispiel zeigt daher nur die Gleichberechtigung\r
886 pseudo-nichteuklidischer Räume mit den euklidischen.\r
887 Wenn also die \name{Einstein}sche Theorie, indem sie von\r
888 homogenen Gravitationsfeldern zu beliebigen inhomogenen\r
889 Feldern übergeht, die Notwendigkeit echter nichteuklidischer\r
890 Koordinaten behauptet, so geht sie damit wesentlich\r
891 über den Gedanken des Beispiels hinaus. Sie behauptet\r
892 damit, daß es für den allgemeinen Fall nicht möglich ist,\r
893 den Koordinaten die euklidische Form zu geben. Wir\r
894 stehen also vor einer sehr weitgehenden Extrapolation.\r
895 Näher liegend erscheint eine solche Theorie, für die auch\r
896 im allgemeinen Falle die Transformation auf euklidische\r
897 Koordinaten möglich ist, in der also auch der massenerfüllte\r
898 Raum das Krümmungsmaß Null behält.\r
900 Auch das von \name{Einstein} angeführte Beispiel der rotierenden\r
901 Kreisscheibe\litref{8} kann eine so weitgehende Verallgemeinerung\r
902 nicht als notwendig beweisen. Es ist allerdings\r
903 richtig, daß ein auf der Scheibe befindlicher mitrotierender\r
904 Beobachter für den Quotienten aus Umfang\r
905 und Durchmesser der Scheibe eine größere Zahl als $\pi$\r
906 \page{25}\r
907 erhält, daß also für ihn und sein mitrotierendes Koordinatensystem\r
908 die euklidische Geometrie nicht gilt. Aber\r
909 der Beobachter würde sehr bald entdecken, daß die Meßresultate\r
910 wesentlich einfacher würden, wenn er ein (von\r
911 ihm aus gesehen) rotierendes System einführt -- das\r
912 nämlich der Scheibe entgegen mit gleicher Geschwindigkeit\r
913 rotiert, so daß es in der umgebenden Ebene ruht --\r
914 und daß er von diesem Bezugssystem aus alle Vorgänge\r
915 in euklidischer Geometrie beschreiben kann. Auch eine\r
916 synchrone Zeit kann er für dieses System definieren (was\r
917 für die Scheibe selbst bekanntlich nicht möglich ist).\r
918 Dieses Bezugssystem würde für ihn etwa die Rolle spielen,\r
919 wie das von den Astronomen gesuchte Inertialsystem des\r
920 Sonnensystems, das für die \name{Newton}schen Gleichungen\r
921 fingiert wird. Die Geometrie der rotierenden Kreisscheibe\r
922 ist also ebenfalls pseudo-nichteuklidisch; ihr Krümmungsmaß\r
923 ist gleich Null.\r
925 Wir fragen deshalb, ob nicht eine Gravitationstheorie\r
926 mit weniger weitgehender Extrapolation möglich ist als\r
927 die \name{Einstein}sche. Wir wollen folgende Forderungen an\r
928 sie stellen:\r
930 a) die Theorie soll für homogene Felder übergehen in\r
931 die spezielle Relativitätstheorie;\r
933 b) die Theorie soll in jedem Fall die Möglichkeit einer\r
934 euklidischen Koordinatenwahl zulassen.\r
936 In der Tat ist eine solche Theorie möglich; die beiden\r
937 Forderungen stehen also in keinem Widerspruch. Z.\,B.\r
938 könnte das nach Forderung b definierte Koordinatensystem\r
939 dadurch entstehen, daß man in jedem Punkt des\r
940 Feldes die Feldstärke mißt, den Mittelwert aller Feldstärken\r
941 bildet und dasjenige System bestimmt, in dem\r
942 dieser Mittelwert ein Minimum wird. Für konstante\r
943 \page{26}\r
944 Feldstärke, also homogenes Feld, wäre dann das Mittel gleich\r
945 der konstanten Feldstärke, also ein Minimum in demjenigen\r
946 System, in dem die Feldstärke gleich Null ist;\r
947 das wäre dann das Inertialsystem. So wäre der Anschluß\r
948 der allgemeinen Theorie an den Spezialfall des homogenen\r
949 Feldes und die spezielle Relativitätstheorie vollzogen.\r
950 Natürlich müßte die angenommene Hypothese für das\r
951 ausgezeichnete System noch mit der Erfahrung verglichen\r
952 werden. Bemerkt sei übrigens, daß diese Auszeichnung\r
953 eines Systems nicht etwa der Relativität der Koordinaten\r
954 widerspricht. Daß der Raum sich in verschiedenen Systemen\r
955 verschieden ausdrückt, ist selbstverständlich und\r
956 keine physikalische Bevorzugung. Auch das homogene\r
957 Gravitationsfeld kennt ja das ausgezeichnete euklidische\r
958 System.\r
960 Jedoch ist die Voraussetzung a nicht die von \name{Einstein}\r
961 gewählte. Zwar hält auch er an einem stetigen Übergang\r
962 seiner Theorie in die spezielle fest. Die Voraussetzung a\r
963 vollzieht diesen Übergang, indem sie bei \emph{festgehaltenem\r
964 Raumgebiet} die Feldstärken in den verschiedenen\r
965 Punkten einander gleich werden läßt. Es gibt aber noch\r
966 eine andere Form des Übergangs. Die Feldstärke muß\r
967 als stetige Funktion des Raums angenommen werden;\r
968 dann sind unendlich kleine Feldgebiete homogen. Wir\r
969 können also den Übergang zum homogenen Feld auch in\r
970 der Weise vollziehen, daß wir \emph{bei festgehaltener Feldstärke}\r
971 das Raumgebiet immer kleiner werden lassen.\r
972 Diesen Übergang können wir in jedem Punkte des Feldes\r
973 vornehmen, und wir wollen deshalb die folgende \name{Einstein}sche\r
974 Voraussetzung für die Extrapolation machen:\r
976 c) die Theorie soll in jedem Punkt des Feldes für unendlich\r
977 kleine Gebiete übergehen in die spezielle\r
978 Relativitätstheorie.\r
979 \page{27}\r
981 Wir fragen: Ist mit dieser Forderung c die Forderung b\r
982 vereinbar?\r
984 Wir denken uns in einem inhomogenen Gravitationsfeld\r
985 ein kleines Gebiet $G_1$ ausgesucht, das wir als hinreichend\r
986 homogen betrachten dürfen. Dort können wir\r
987 ein Inertialsystem $K_1$ wählen; in ihm verschwindet die\r
988 Feldstärke. Das System nach Forderung b, das in jedem\r
989 Punkte des Feldes euklidisch ist, muß also zu der Schar\r
990 der gegen $K_1$ gleichförmig translatorisch bewegten Systeme\r
991 gehören, denn sonst könnte es für $G_1$ nicht euklidisch sein.\r
992 Dieselbe Überlegung wende ich nun auf ein zweites, entferntes\r
993 Gebiet $G_2$ an, in dem die Feldstärke einen anderen\r
994 Wert hat als in $G_1$. Die Inertialsysteme $K_2$ in $G_2$ müssen\r
995 gegen $K_1$ eine beschleunigte Bewegung ausführen, gehören\r
996 also nicht zur Schar der Inertialsysteme in $G_1$. Damit\r
997 das System nach Forderung b in beiden Punkten euklidisch\r
998 wird, müßte es sowohl zur Schar $K_1$ wie zur Schar $K_2$\r
999 gehören, das ist ein Widerspruch. Also ist Forderung c\r
1000 mit Forderung b nicht vereinbar.\r
1002 Damit ist bewiesen, daß, wenn man aus der speziellen\r
1003 Relativitätstheorie nach der \name{Einstein}schen Forderung c\r
1004 durch Extrapolation zu einer allgemeinen Relativitätstheorie\r
1005 übergeht, der euklidische Charakter des Raumes\r
1006 aufgegeben werden muß. Es ist danach in einem beliebigen\r
1007 Gravitationsfeld durch keine Koordinatenwahl\r
1008 möglich, dem Linienelement in allen Punkten zugleich die\r
1009 euklidische Form zu geben; das Krümmungsmaß des\r
1010 massenerfüllten Raumes ist von Null verschieden.\r
1012 Die Forderung c beruht einerseits, wie wir bereits\r
1013 sagten, auf der Stetigkeit des Gravitationsfeldes. Da die\r
1014 Stetigkeit nicht bloß eine Eigenschaft der Gravitation\r
1015 ist, sondern allgemein für physikalische Größen vorausgesetzt\r
1016 wird, können wir von einem Prinzip der Stetigkeit\r
1017 \page{28}\r
1018 physikalischer Größen sprechen. Andererseits beruht die\r
1019 Forderung c auf der Tatsache, daß der Raum für kleine\r
1020 Gebiete keine anderen Eigenschaften zeigt als für große,\r
1021 daß also der \emph{Raum homogen} ist; denn nur unter dieser\r
1022 Voraussetzung dürfen wir fordern, daß für beliebig kleine\r
1023 Raumgebiete die spezielle Relativitätstheorie gilt, wenn\r
1024 nur die Feldstärke der Gravitation nahezu konstant wird.\r
1025 Würden wir die Homogenität des Raums nicht voraussetzen,\r
1026 so könnte der Fehler, der durch die Verkleinerung\r
1027 des Raumgebiets entsteht, den Einfluß der herabgesetzten\r
1028 Schwankung der Feldstärke in dem Gebiet gerade kompensieren,\r
1029 so daß doch keine Annäherung an die spezielle\r
1030 Relativitätstheorie zustande käme; dann dürften wir den\r
1031 Grenzübergang nur nach Forderung a vollziehen. Drittens\r
1032 beruht die Forderung c auf dem \name{Einstein}schen Äquivalenzprinzip,\r
1033 denn sie besagt, daß \emph{jedes} homogene Gravitationsfeld,\r
1034 das Schwerefeld ebenso wie das Trägheitsfeld,\r
1035 sich in ein kräftefreies Feld transformieren läßt. Hier\r
1036 liegt eine rein empirische Grundlage der Forderung c.\r
1037 Denn das Äquivalenzprinzip besagt weiter nichts als die\r
1038 Gleichheit von schwerer und träger Masse für \emph{jedes}\r
1039 Gravitationsfeld, und diese Tatsache läßt sich nur durch\r
1040 das Experiment feststellen. Allerdings konnte das Experiment\r
1041 bisher nur im Erdfeld vorgenommen werden.\r
1042 Aber es ist eine normale Induktion, von diesem Versuche\r
1043 auf die allgemeine Äquivalenz zu schließen.\r
1045 Man wird die Stetigkeit physikalischer Größen und\r
1046 die Homogenität des Raums evidente apriore Prinzipien\r
1047 im \name{Kant}ischen Sinne nennen können. Dann dürfen wir,\r
1048 den Zusammenhang umkehrend, sagen, daß diese beiden\r
1049 aprioren Prinzipien einen Verzicht auf die Forderung c\r
1050 nur dann zulassen, wenn die träge und die schwere Masse\r
1051 im allgemeinen nicht gleich sind; das würde verlangen, daß\r
1052 \page{29}\r
1053 man in der Deutung der bisherigen Beobachtungen auf\r
1054 diesem Gebiete von der normalen Induktion abweicht. Da\r
1055 nun die Forderung c zum Widerspruch gegen die Euklidizität\r
1056 des Raumes führt, so verlangt die Euklidizität umgekehrt,\r
1057 im Verein mit den anderen Prinzipien, den Verzicht auf die\r
1058 normale Induktion in der Äquivalenzfrage. Nennen wir noch\r
1059 die Forderung, daß die allgemeine Theorie für den speziellen\r
1060 Fall in die spezielle übergeht, die \emph{Stetigkeit der Gesetze},\r
1061 und verstehen wir unter dem Prinzip der speziellen\r
1062 Relativität den Gesamtinhalt der speziellen Relativitätstheorie\r
1063 als einer Theorie des kräftefreien Feldes, so dürfen\r
1064 wir jetzt behaupten, daß die allgemeine Relativitätstheorie\r
1065 folgende Prinzipien als \emph{gemeinsam unvereinbar mit\r
1066 der Erfahrung} nachgewiesen hat.\r
1068 \begin{itemize}\r
1069 \item Prinzip der speziellen Relativität\r
1070 \item Prinzip der normalen Induktion\r
1071 \item Prinzip der allgemeinen Kovarianz\r
1072 \item Prinzip der Stetigkeit der Gesetze\r
1073 \item Prinzip der Stetigkeit physikalischer Größen\r
1074 \item Prinzip der Homogenität des Raumes\r
1075 \item Prinzip der Euklidizität des Raumes.\r
1076 \end{itemize}\r
1078 Denn die Gesamtheit dieser Prinzipien ist unvereinbar\r
1079 mit der Erfahrungstatsache, daß im Erdfeld die träge und\r
1080 die schwere Masse gleich sind. Dabei sind alle diese Prinzipien,\r
1081 mit Ausnahme des ersten, apriori im \name{Kant}ischen\r
1082 Sinne; das erste aber ist gerade dasjenige Prinzip, welches\r
1083 den in der entsprechenden Zusammenstellung des vorhergehenden\r
1084 Abschnitts dargestellten Widerspruch löst.\r
1086 Wir haben damit die grundlegenden Gedanken für das\r
1087 Verlassen der euklidischen Raumanschauung aufgedeckt.\r
1088 Ehe wir jedoch diese Darlegung beschließen, müssen wir\r
1089 noch etwas über den speziellen Charakter sagen, den auch\r
1090 der \name{Einstein}sche Raum noch besitzt.\r
1091 \page{30}\r
1093 Es ist nicht richtig zu sagen, daß in der \name{Einstein}schen\r
1094 Lehre der euklidische Raum keine Vorzugsstellung mehr\r
1095 inne hätte. Eine Bevorzugung liegt immer noch darin,\r
1096 daß das unendlich kleine Raumgebiet als euklidisch angenommen\r
1097 wird. \name{Riemann} nennt diese Eigenschaft:\r
1098 \glqq{}Ebenheit in den kleinsten Teilen\grqq{}. Sie drückt sich analytisch\r
1099 in der gemischt quadratischen Form des Linienelements\r
1100 aus; aus dieser folgt, daß stets eine solche Koordinatenwahl\r
1101 möglich ist, daß in einem einzigen Punkt das\r
1102 Linienelement sich gerade als reine Quadratsumme darstellt.\r
1103 Man kann also ein Koordinatensystem immer so\r
1104 wählen, daß es für ein beliebig vorgegebenes Punktgebiet\r
1105 gerade euklidisch wird. Physikalisch bedeutet dies, daß\r
1106 man für ein unendlich kleines Gebiet das Gravitationsfeld\r
1107 immer \glqq{}wegtransformieren\grqq{} kann, wie auch das Feld\r
1108 sonst beschaffen sein möge, daß also kein Wesensunterschied\r
1109 zwischen den durch Transformation erzeugten und\r
1110 den statischen Gravitationsfeldern besteht. Das ist der\r
1111 Inhalt der \name{Einstein}schen Äquivalenzhypothese für die\r
1112 träge und die schwere Masse. Umgekehrt ist auch diese\r
1113 Hypothese der Grund für die quadratische Form des\r
1114 Linienelements, und die Ebenheit in den kleinsten Teilen\r
1115 hat danach ihren \emph{physikalischen} Grund. Würden die\r
1116 physikalischen Verhältnisse anders liegen, so müßte für\r
1117 das Linienelement ein anderer Differentialausdruck, etwa\r
1118 vom vierten Grade, gewählt werden, und damit würde\r
1119 auch die letzte Vorzugsstellung des euklidischen Raumes\r
1120 verschwinden.\r
1122 Man kann die Sonderstellung der gemischt quadratischen\r
1123 Form für das Linienelement auch folgendermaßen\r
1124 darstellen. Die die Metrik bestimmenden zehn Funktionen\r
1125 $g_{\mu\nu}$ sind nicht absolut festgelegt, sondern hängen von der\r
1126 Koordinatenwahl ab. Allerdings sind sie nicht unabhängig\r
1127 \page{31}\r
1128 voneinander, und wenn vier von ihnen vorgegeben sind,\r
1129 sind die Koordinaten und auch die anderen sechs Funktionen\r
1130 bestimmt. In dieser Abhängigkeit drückt sich der\r
1131 absolute Charakter der Raumkrümmung aus. Für die\r
1132 metrischen Funktionen $g_{\mu\nu}$ gilt also \emph{keine} Relativität,\r
1133 d.\,h. Beliebigkeit ihrer Wahl. Wohl aber kann man\r
1134 eine andere Relativität behaupten. Es seien beliebige zehn\r
1135 Zahlen vorgegeben, dann läßt sich ein Koordinatensystem\r
1136 immer so wählen, daß die metrischen Koeffizienten in\r
1137 einem beliebig vorgegebenen Punkt gerade gleich diesen\r
1138 zehn Zahlen werden. (In den anderen Punkten sind sie\r
1139 dann natürlich nicht mehr beliebig.) Man kann diese\r
1140 Eigenschaft \glqq{}Relativität der metrischen Koeffizienten\grqq{}\r
1141 nennen; sie besagt, daß für einen gegebenen Punkt die\r
1142 metrischen Koeffizienten keine absolute Bedeutung haben.\r
1143 Es läßt sich leicht zeigen, daß diese Relativität nur für\r
1144 das gemischt quadratische Linienelement gilt; für andere\r
1145 Formen, z.\,B. den Differentialausdruck vierten Grades,\r
1146 ist die beliebige Wahl der Zahlen nicht möglich. Mit der\r
1147 Relativität der metrischen Koeffizienten hat also die\r
1148 \name{Einstein}sche Theorie ein weiteres willkürliches Element in\r
1149 die Naturbeschreibung eingeführt; wir heben dies deshalb\r
1150 hervor, weil an diesem Relativitätsprinzip die empirische\r
1151 Grundlage, nämlich die Gleichheit von träger und schwerer\r
1152 Masse, besonders deutlich zu erkennen ist.\r
1157 \chapter{IV. Erkenntnis als Zuordnung.}\r
1158 \page{32}\r
1160 Ehe wir an eine Kritik der von der Relativitätstheorie\r
1161 aufgezeigten Widersprüche gehen, müssen wir eine Theorie\r
1162 des physikalischen Erkenntnisbegriffs entwickeln und versuchen,\r
1163 den Sinn des Apriori zu formulieren.\r
1165 Es ist das Kennzeichen der modernen \emph{Physik,} daß\r
1166 sie alle Vorgänge durch \emph{mathematische} Gleichungen\r
1167 darstellt; aber diese Berührung zweier Wissenschaften darf\r
1168 über deren grundsätzlichen Unterschied nicht hinwegtäuschen.\r
1169 Für den mathematischen Satz bedeutet \emph{Wahrheit}\r
1170 eine innere Beziehung seiner Glieder, für den physikalischen\r
1171 Satz aber heißt Wahrheit eine Beziehung auf etwas\r
1172 Äußeres, ein bestimmter Zusammenhang mit der Erfahrung.\r
1173 Man drückt diese Tatsache gewöhnlich in der\r
1174 Form aus, daß man dem mathematischen Satz eine absolute\r
1175 Geltung zuschreibt, dem physikalischen aber nur\r
1176 eine wahrscheinliche. Ihren inneren Grund hat diese\r
1177 Eigentümlichkeit in der Verschiedenheit des Objekts der\r
1178 beiden Wissenschaften.\r
1180 Der \emph{mathematische Gegenstand} ist durch die\r
1181 Axiome und die Definitionen der Mathematik vollständig\r
1182 definiert. Durch die Definitionen: denn sie geben an, wie\r
1183 sich der Gegenstand zu den bereits vorher definierten\r
1184 Gegenständen in Beziehung setzt; indem seine Unterschiede\r
1185 und Gleichheiten aufgedeckt werden, erhält er\r
1186 selbst erst seinen Sinn und Inhalt als Inbegriff dieser Abgrenzungen.\r
1187 Und durch die Axiome: denn sie geben die\r
1188 \page{33}\r
1189 Rechenregeln, nach denen die Abgrenzungen zu vollziehen\r
1190 sind. Auch die in den Axiomen auftretenden Grundbegriffe\r
1191 sind erst durch die damit aufgestellten Relationen\r
1192 definiert. Wenn \name{Hilbert}\litref{9} unter seine Axiome der\r
1193 Geometrie den Satz aufnimmt: \glqq{}unter irgend drei\r
1194 Punkten einer Geraden gibt es stets einen und nur einen,\r
1195 der zwischen den beiden andern liegt\grqq{}, so ist dies ebensowohl\r
1196 eine Definition für die Eigenschaften der Punkte\r
1197 wie für die Natur der Geraden oder wie für die Relation\r
1198 \glqq{}zwischen\grqq{}. Zwar ist dieser Satz noch keine \emph{erschöpfende}\r
1199 Definition. Aber die Definition wird vollständig\r
1200 durch die Gesamtheit der Axiome. Der \name{Hilbert}sche\r
1201 Punkt oder die Gerade ist nichts anderes, als etwas, was\r
1202 die in den Axiomen ausgesagten Eigenschaften besitzt.\r
1203 Man könnte genau so gut die Zeichen a, b, c \ldots{} an Stelle\r
1204 der Wortzeichen Punkt, Gerade, zwischen usw. setzen,\r
1205 die Geometrie würde dadurch nicht geändert. Am deutlichsten\r
1206 drückt sich das in der projektiven Geometrie aus,\r
1207 deren Sätze für die Ebene richtig bleiben, wenn man die\r
1208 Begriffe Punkt und Gerade vertauscht. Ihre axiomatisch\r
1209 definierten Relationen sind für diese beiden Begriffe symmetrisch,\r
1210 und obgleich unsere Anschauung mit beiden\r
1211 Begriffen einen ganz verschiedenen Inhalt verbindet und\r
1212 entsprechend auch die Axiome inhaltlich verschieden auffaßt,\r
1213 drückt sich die begriffliche Symmetrie in der Tatsache\r
1214 aus, daß der durch Vertauschung entstandene Satz\r
1215 ebenfalls richtig ist, auch für unsere Anschauung, obgleich\r
1216 sein anschaulicher Sinn geändert worden ist. Diese eigentümliche\r
1217 Wechselseitigkeit der mathematischen Definition,\r
1218 in der immer ein Begriff den anderen definiert, ohne daß\r
1219 eine Beziehung auf \glqq{}absolute Definitionen\grqq{} nötig wäre,\r
1220 ist von \name{Schlick}\litref{10} in der Lehre von den impliziten Definitionen\r
1221 sehr klar ausgeführt worden. Wir müssen diese\r
1222 \page{34}\r
1223 moderne Art der Definition der alten scholastischen mit\r
1224 ihrer Angabe von Klasse und Merkmal gegenüberstellen.\r
1226 Es ist unter diesen Umständen nicht weiter verwunderlich,\r
1227 daß der mathematische Satz absolute Geltung besitzt.\r
1228 Denn er bedeutet nichts als eine neue Art von Verflechtung\r
1229 der bekannten Begriffe nach den bekannten Regeln. Verwunderlich\r
1230 ist es höchstens, daß der menschliche Verstand,\r
1231 dieses sehr unvollkommene Werkzeug, die Schlußketten\r
1232 vollziehen kann. Aber das ist ein anderes Problem.\r
1233 \name{Schlick} hat dafür das schöne Beispiel von der Rechenmaschine\r
1234 erfunden, die auch logische Schlüsse vollzieht\r
1235 und selbst doch nur ein materieller Apparat mit allen\r
1236 empirischen Ungenauigkeiten ist.\r
1238 Für den \emph{physikalischen Gegenstand} aber ist eine\r
1239 derartige Definition unmöglich. Denn er ist ein Ding der\r
1240 Wirklichkeit, nicht jener konstruierten Welt der Mathematik.\r
1241 Zwar sieht es so aus, als ob die Darstellung des\r
1242 Geschehens durch Gleichungen einen Weg in der gleichen\r
1243 Richtung bedeute. Es ist Methode der Physik geworden,\r
1244 eine Größe durch andere zu definieren, indem man sie\r
1245 zu immer weiter zurückliegenden Größen in Beziehung\r
1246 setzt und schließlich ein System von Axiomen, Grundgleichungen\r
1247 der Physik, an die Spitze stellt. Aber was\r
1248 wir auf diese Weise erreichen, ist immer nur ein System\r
1249 von verflochtenen mathematischen Sätzen, und es fehlt\r
1250 innerhalb dieses Systems gerade diejenige Behauptung,\r
1251 die den Sinn der Physik ausmacht, die Behauptung, daß\r
1252 dies System von Gleichungen \emph{Geltung für die Wirklichkeit}\r
1253 hat. Das ist eine ganz andere Beziehung als\r
1254 die immanente Wahrheitsrelation der Mathematik. Wir\r
1255 können sie als eine Zuordnung auffassen: die wirklichen\r
1256 Dinge werden Gleichungen zugeordnet. Nicht nur die\r
1257 Gesamtheit der wirklichen Dinge ist der Gesamtheit des\r
1258 \page{35}\r
1259 Gleichungssystems zugeordnet, sondern auch die \emph{einzelnen}\r
1260 Dinge den \emph{einzelnen} Gleichungen. Dabei ist das\r
1261 Wirkliche immer nur durch irgendeine Wahrnehmung als\r
1262 gegeben zu betrachten. Nennen wir die Erde eine Kugel,\r
1263 so ist das eine Zuordnung der mathematischen Figur\r
1264 \glqq{}Kugel\grqq{} zu gewissen Wahrnehmungen unserer Augen und\r
1265 unseres Tastsinns, die wir, bereits eine primitivere Stufe\r
1266 der Zuordnung vollziehend, als \glqq{}Wahrnehmungsbilder der\r
1267 Erde\grqq{} bezeichnen. Sprechen wir von dem \name{Boile}schen\r
1268 Gasgesetz, so ordnen wir damit die Formel $p \cdot V = R \cdot T$\r
1269 gewissen Wahrnehmungen zu, die wir teils als direkte\r
1270 (z.\,B. das Hautgefühl bei bewegter Luft), teils als indirekte\r
1271 (z.\,B. Stand des Zeigers im Manometer) Wahrnehmungen\r
1272 der Gase bezeichnen. Daß die Sinnesorgane die Vermittlung\r
1273 der Begriffe mit der Wirklichkeit übernehmen, ist\r
1274 in der Natur des Menschen begründet und durch gar keine\r
1275 Metaphysik hinweg zu interpretieren.\r
1277 Die Zuordnung, die im physikalischen Satz vollzogen\r
1278 wird, ist aber von sehr merkwürdiger Natur. Sie unterscheidet\r
1279 sich durchaus von anderen Arten der Zuordnung.\r
1280 Sind etwa zwei Punktmengen gegeben, so ordnen wir sie\r
1281 einander dadurch zu, daß wir zu jedem Punkt der einen\r
1282 Menge einen Punkt der anderen Menge als zugehörig bestimmen.\r
1283 Dazu müssen aber die Elemente jeder der\r
1284 Mengen \emph{definiert} sein; d.\,h. es muß für jedes Element\r
1285 noch eine andere Bestimmung geben als die, welche die\r
1286 Zuordnung zur anderen Menge vollzieht. Gerade diese\r
1287 Definiertheit fehlt auf der einen Seite der erkenntnistheoretischen\r
1288 Zuordnung. Zwar sind die Gleichungen,\r
1289 die begriffliche Seite, hinreichend definierte Gebilde. Aber\r
1290 für das \glqq{}Wirkliche\grqq{} kann man das keineswegs behaupten.\r
1291 Im Gegenteil erhält es seine Definition im einzelnen erst\r
1292 durch die Zuordnung zu Gleichungen.\r
1293 \page{36}\r
1295 Man könnte diese Zuordnung dem mathematischen\r
1296 Fall vergleichen, wo eine diskrete Menge einer Untermenge\r
1297 des Kontinuums zugeordnet wird. Betrachten wir etwa\r
1298 als Beispiel die Zuordnung der rationalen Brüche zu\r
1299 Punkten einer geraden Linie. Wir bemerken zunächst\r
1300 auch hier, daß die Punkte der geraden Linie alle wohl\r
1301 definiert sind; wir können durchaus von jedem Punkt\r
1302 der Ebene angeben, ob er zu der Geraden gehört oder\r
1303 nicht. Mehr als das: die Punkte der Geraden sind außerdem\r
1304 geordnet; wir können von je zwei Punkten angeben,\r
1305 welcher von ihnen \glqq{}rechts\grqq{}, welcher \glqq{}links\grqq{} liegt. Aber\r
1306 es werden bei der Zuordnung nicht alle Punkte der Geraden\r
1307 getroffen. Eine unendliche Menge, die den irrationalen\r
1308 Zahlen entspricht, bleibt unberührt, und die Auswahl der\r
1309 den rationalen Brüchen entsprechenden Punkte wird erst\r
1310 durch die Zuordnung vollzogen. Wir können von einem\r
1311 Punkte der Geraden nicht ohne weiteres angeben, ob er\r
1312 zu der zugeordneten  Untermenge gehört; um das festzustellen,\r
1313 müssen wir erst nach einer Methode, die durch\r
1314 die Konstruktion der rationalen Brüche gegeben ist, eine\r
1315 Untersuchung anstellen. Insofern vollzieht die Zuordnung\r
1316 zu der andern Menge erst die Auswahl der Untermenge\r
1317 des Kontinuums. Aber wir bemerken auch, daß das\r
1318 Problem so noch nicht hinreichend definiert ist. Denn\r
1319 wir können die Zuordnung noch auf unendlich viel verschiedene\r
1320 Weisen vollziehen. Vergrößern wir etwa die\r
1321 als Einheit gewählte Strecke, so findet die geforderte Zuordnung\r
1322 ebensogut statt, aber einem bestimmten rationalen\r
1323 Bruch entspricht jetzt ein anderer Punkt der Geraden.\r
1324 Und mehr als das: Punkte, die vorher einer\r
1325 Irrationalzahl entsprachen, werden jetzt vielleicht einem\r
1326 rationalen Bruch zugeordnet, so daß die ausgewählte\r
1327 Untermenge sich jetzt aus ganz anderen Elementen\r
1328 \page{37}\r
1329 zusammensetzt. Noch ganz andere Zuordnungen ergeben\r
1330 sich, wenn man etwa die Gerade in Strecken einteilt, die\r
1331 den ganzen Zahlen entsprechen, und die Zuordnung innerhalb\r
1332 jedes Abschnitts von rückwärts vornimmt; man\r
1333 könnte auch beliebige endliche Stücke überhaupt von der\r
1334 Zuordnung ausschalten -- derartiger Möglichkeiten gibt\r
1335 es unbegrenzt viel. Man erkennt: die auszuwählende\r
1336 Untermenge ist erst definiert, wenn noch gewisse Nebenbedingungen\r
1337 angegeben sind. So kann man fordern, daß\r
1338 von zwei beliebigen Brüchen der größere immer dem weiter\r
1339 rechts gelegenen Punkt zugeordnet wird, daß ein doppelt\r
1340 so großer Bruch einem doppelt so weit rechts gelegenen\r
1341 Punkt zugeordnet wird usw. Man kann fragen, wann die\r
1342 Nebenbedingungen hinreichend sind, um die Zuordnung\r
1343 eindeutig zu machen. Erst wenn solche Bedingungen gefunden\r
1344 worden sind, ist durch die diskrete Menge und\r
1345 die Nebenbedingungen eine eindeutige Auswahl unter den\r
1346 Punkten des Kontinuums vollzogen. Ihre Durchführung\r
1347 ist dann immer noch ein mathematisches Problem, aber\r
1348 ein eindeutig lösbares: es lösen, heißt andere Relationen\r
1349 zu finden, die dann ebenfalls zwischen den Punkten bestehen\r
1350 und in den Nebenbedingungen nicht explizit gegeben\r
1351 sind.\r
1353 Aber auch dieses Beispiel unterscheidet sich immer\r
1354 noch von der Zuordnung, die im \emph{Erkenntnisprozeß}\r
1355 vollzogen wird. In dem Beispiel war für die \emph{Obermenge}\r
1356 jedes Element definiert, sogar noch ein Ordnungssinn gegeben.\r
1357 Die Nebenbedingungen mußten von dieser Eigenschaft\r
1358 Gebrauch machen, nicht nur von dem Ordnungssinn,\r
1359 sondern auch von der Definiertheit der Einzelelemente;\r
1360 von letzterer z.\,B. in der Forderung, daß dem\r
1361 doppelten Bruch die doppelte Strecke auf der Geraden\r
1362 entsprechen soll, denn das setzt voraus, daß man für\r
1363 \page{38}\r
1364 jeden Punkt eine Entfernung vom Nullpunkt angeben\r
1365 kann. Für die Zuordnung des Erkenntnisvorgangs aber\r
1366 versagen alle solche Bestimmungen. Die eine Seite ist\r
1367 völlig undefiniert. Sie ist nicht in Grenzen eingeschlossen,\r
1368 sie hat keinen Ordnungssinn, ja, es läßt sich nicht einmal\r
1369 angeben, was ein Einzelelement dieser Menge ist. Was\r
1370 ist die Länge eines physikalischen Stabes? Sie wird erst\r
1371 definiert durch eine Fülle von physikalischen Gleichungen,\r
1372 die aus den Ablesungen an den geodätischen Instrumenten\r
1373 eine Größe \glqq{}Länge\grqq{} herausinterpretieren. Wieder vollzieht\r
1374 erst die Zuordnung zu den Gleichungen die Definition.\r
1375 Und wir stehen vor der merkwürdigen Tatsache, daß wir\r
1376 in der Erkenntnis eine Zuordnung zweier Mengen vollziehen,\r
1377 deren eine durch die Zuordnung nicht bloß ihre\r
1378 Ordnung erhält, sondern \emph{in ihren Elementen erst\r
1379 durch die Zuordnung definiert wird}.\r
1381 Auch wenn man versucht, die einzelne Wahrnehmung\r
1382 als definiertes Element der Wirklichkeit zu betrachten,\r
1383 kommt man nicht durch. Denn der Inhalt jeder Wahrnehmung\r
1384 ist viel zu komplex, um als zuzuordnendes Element\r
1385 gelten zu können. Fassen wir etwa in dem oben\r
1386 erwähnten Beispiel die Wahrnehmung des Manometerzeigers\r
1387 als solches Element auf, so geraten wir deshalb\r
1388 in Schwierigkeiten, weil diese Wahrnehmung viel mehr\r
1389 enthält als die Zeigerstellung. Ist z.\,B. auf dem Manometer\r
1390 das Firmenschild des Fabrikanten befestigt, so geht dies\r
1391 ebenfalls in die Wahrnehmung ein. Zwei Wahrnehmungen,\r
1392 die sich in bezug auf das Firmenschild unterscheiden,\r
1393 können für die Zuordnung zur Boileschen Gleichung trotzdem\r
1394 äquivalent sein. Ehe wir die Wahrnehmung zuordnen,\r
1395 müssen wir in ihr eine Ordnung vollziehen, \glqq{}das Wesentliche\r
1396 vom Unwesentlichen scheiden\grqq{}; aber das ist bereits\r
1397 eine Zuordnung unter Zugrundelegung der Gleichungen\r
1398 \page{39}\r
1399 oder der in ihnen ausgedrückten Gesetze. Auch ein Ordnungssinn\r
1400 ist durch die Wahrnehmung nicht gegeben.\r
1401 Man könnte vermuten, daß etwa die \emph{zeitliche Aufeinanderfolge}\r
1402 der Wahrnehmungen für die Wirklichkeitsseite\r
1403 der Zuordnung einen Ordnungssinn bedeutet.\r
1404 Aber das ist keinesfalls richtig. Denn die in dem Erkenntnisurteil\r
1405 behauptete Zeitordnung kann der der Wahrnehmung\r
1406 durchaus widersprechen. Liest man etwa bei zwei Koinzidenzbeobachtungen\r
1407 die Stoppuhren in umgekehrter Reihenfolge\r
1408 ab, so bildet man unabhängig davon ein Urteil über\r
1409 den \glqq{}wirklichen\grqq{} Zeitverlauf. Dieses Urteil aber basiert\r
1410 bereits auf physikalischen Erkenntnissen, also Zuordnungen,\r
1411 z.\,B. muß die physikalische Natur der Uhren,\r
1412 etwa ihre Korrektion, bekannt sein. Die Zeitordnung der\r
1413 Wahrnehmungen ist für die im Erkenntnisurteil behauptete\r
1414 Zeitordnung irrelevant, sie liefert keinen für die Zuordnung\r
1415 brauchbaren Ordnungssinn.\r
1417 Die Wahrnehmung enthält nicht einmal ein hinreichendes\r
1418 Kriterium dafür, ob ein gegebenes Etwas zur Menge\r
1419 der  wirklichen Dinge gehört oder nicht. Die Sinnestäuschungen\r
1420 und Halluzinationen beweisen das. Erst ein\r
1421 Erkenntnisurteil, d.\,i. aber ein  Zuordnungsprozeß, kann\r
1422 die Entscheidung fällen, ob die Sinnesempfindung eines\r
1423 Baumes einem wirklichen Baum entspricht, oder nur dem\r
1424 Durstfieber des Wüstenwanderers ihr Dasein verdankt.\r
1425 Allerdings liegt in jeder Wahrnehmung, auch in der\r
1426 halluzinierten, ein Hinweis auf etwas Wirkliches -- die\r
1427 Halluzination läßt auf physiologische Veränderungen\r
1428 schließen -- und wir werden noch anzugeben haben, was\r
1429 diese Eigentümlichkeit bedeutet. Aber eine \emph{Definition}\r
1430 des Wirklichen leistet die Wahrnehmung nicht.\r
1432 Vergleichen wir diese Tatsache mit dem geschilderten\r
1433 Beispiel einer Zuordnung, so finden wir, da auch die\r
1434 \page{40}\r
1435 Wahrnehmung keine Definition für die Elemente der Obermenge\r
1436 darstellt, daß im Erkenntnisvorgang eine völlig undefinierte\r
1437 Menge auf der einen Seite vorliegt. So kommt es, daß\r
1438 erst das physikalische Gesetz die Einzeldinge und ihre\r
1439 Ordnung definiert. Die Zuordnung selbst schafft sich erst\r
1440 die eine Reihe der zuzuordnenden Elemente.\r
1442 Man könnte geneigt sein, diese Schwierigkeit mit einem\r
1443 raschen Entschluß aus dem Wege zu räumen: indem man\r
1444 erklärt, daß nur die geordnete der beiden Reihen \glqq{}wirklich\grqq{}\r
1445 sei, daß die undefinierte andere Seite fingiert, ein\r
1446 hypostasiertes Ding an sich sei. Vielleicht kann man so\r
1447 die Auffassung des \name{Berkeley}schen Solipsismus und in\r
1448 gewissem Sinne auch des modernen Positivismus interpretieren.\r
1449 Aber diese Auffassung ist bestimmt falsch.\r
1450 Denn das Merkwürdige bleibt, daß die definierte Seite ihre\r
1451 Rechtfertigung nicht in sich trägt, daß sie sich ihre Struktur\r
1452 von außen her vorschreiben lassen muß. Trotzdem es sich\r
1453 um eine Zuordnung zu undefinierten Elementen handelt,\r
1454 ist diese Zuordnung nur in einer ganz bestimmten Weise\r
1455 möglich, keineswegs beliebig; wir nennen das: Bestimmung\r
1456 der Erkenntnisse durch Erfahrung. Und wir konstatieren\r
1457 die Merkwürdigkeit, daß die definierte Seite die Einzeldinge\r
1458 der undefinierten Seite erst bestimmt, und daß umgekehrt\r
1459 die undefinierte Seite die Ordnung der definierten\r
1460 Seite vorschreibt. \emph{In dieser Wechselseitigkeit der\r
1461 Zuordnung drückt sich die Existenz des Wirklichen\r
1462 aus}. Es ist ganz gleichgültig, ob man dabei von\r
1463 einem Ding an sich spricht, oder ob man ein solches bestreitet.\r
1464 Daß das Wirkliche existiert, bedeutet jene\r
1465 Wechselseitigkeit der Zuordnung; dies ist sein für uns\r
1466 begrifflich erfaßbarer Sinn, und so vermögen wir ihn zu\r
1467 formulieren.\r
1469 Hier erhebt sich die Frage: Worin  besteht denn die\r
1470 \page{41}\r
1471 Auszeichnung der \glqq{}richtigen\grqq{} Zuordnung? Wodurch unterscheidet\r
1472 sie sich von der \glqq{}unrichtigen\grqq{}? Nun, dadurch,\r
1473 daß keine Widersprüche entstehen. Widersprüche werden\r
1474 aber erst konstatiert durch die experimentelle Beobachtung.\r
1475 Berechnet man etwa aus der \name{Einstein}schen Theorie\r
1476 eine Lichtablenkung von $1{,}7^{\prime\prime}$ an der Sonne, und würde\r
1477 man an Stelle dessen $10^{\prime\prime}$ finden, so ist das ein Widerspruch,\r
1478 und solche Widersprüche sind es allemal, die über\r
1479 die Geltung einer physikalischen Theorie entscheiden. Nun\r
1480 ist die Zahl $1{,}7^{\prime\prime}$ auf Grund von Gleichungen und Erfahrungen\r
1481 an anderem Material gewonnen; die Zahl $10^{\prime\prime}$\r
1482 aber im Prinzip nicht anders, denn sie wird keineswegs\r
1483 direkt abgelesen, sondern aus Ablesungsdaten mit Hilfe\r
1484 ziemlich komplizierter Theorien über die Meßinstrumente\r
1485 konstruiert. Man kann also sagen, daß die eine Überlegungs- und\r
1486 Erfahrungskette dem Wirklichkeitsereignis\r
1487 die Zahl 1{,}7 zuordnet, die andere die Zahl 10, und dies\r
1488 ist der Widerspruch. Diejenige Theorie, welche fortwährend\r
1489 zu widerspruchsfreien Zuordnungen führt, nennen\r
1490 wir \emph{wahr}. \name{Schlick} hat deshalb ganz recht, wenn er\r
1491 \emph{Wahrheit als Eindeutigkeit der Zuordnung definiert}\litref{11}.\r
1492 Immer wenn alle Überlegungsketten auf dieselbe\r
1493 Zahl für dieselbe Sache führen, nennen wir eine\r
1494 Theorie wahr. Dies ist unser einziges Kriterium der Wahrheit;\r
1495 es ist dasjenige, was seit der Entdeckung einer exakten\r
1496 Erfahrungswissenschaft durch \name{Galilei} und \name{Newton} und\r
1497 ihrer philosophischen Rechtfertigung durch \name{Kant} als unbedingter\r
1498 Richter gegolten hat. Und wir bemerken, daß\r
1499 hier die Stellung gezeigt ist, die der Wahrnehmung im\r
1500 Erkenntnisprozeß zukommt. \emph{Die Wahrnehmung liefert\r
1501 das Kriterium für die Eindeutigkeit der Zuordnung}.\r
1502 Wir hatten vorher gesehen, daß sie nicht imstande\r
1503 ist, die Elemente der Wirklichkeit zu definieren. Aber\r
1504 \page{42}\r
1505 die Entscheidung über Eindeutigkeit vermag sie immer\r
1506 zu leisten. Darin stehen die sogenannten Sinnestäuschungen\r
1507 nicht hinter der normalen Wahrnehmung zurück. Sie sind\r
1508 nämlich gar keine Täuschung der \emph{Sinne}, sondern der\r
1509 \emph{Interpretation}; daß auch in der Halluzination die\r
1510 empfundenen Eindrücke vorliegen, ist nicht zu bezweifeln,\r
1511 falsch ist nur der Schluß von diesen Eindrücken auf die\r
1512 äußeren Ursachen. Wenn ich mit dem Finger auf meinen\r
1513 Augennerv drücke, so sehe ich einen Lichtblitz; das ist\r
1514 ein Faktum, und falsch ist nur der Schluß, daß deshalb\r
1515 auch im Zimmer ein Lichtblitz stattgefunden hätte. Würde\r
1516 ich die Wahrnehmung mit anderen zusammen ordnen,\r
1517 etwa mit der Beobachtung einer gleichzeitig im Zimmer\r
1518 aufgestellten photographischen Platte, so entsteht ein\r
1519 Widerspruch, wenn ich die Wahrnehmung auf einen Lichtvorgang\r
1520 zurückführen will, denn ich beobachte auf der\r
1521 Platte keine Schwärzung. Ordne ich die Wahrnehmung\r
1522 aber in einen anderen Begriffszusammenhang, etwa in den\r
1523 einer physiologischen Theorie, so entsteht \emph{kein} Widerspruch,\r
1524 die Wahrnehmung des Lichtblitzes bedeutet vielmehr\r
1525 eine Bestätigung für die Annahmen über die Lage\r
1526 des Sehnerven. Man erkennt, daß die sogenannte Sinnestäuschung\r
1527 genau so gut wie jede normale Wahrnehmung\r
1528 ein Kriterium für die Eindeutigkeit der Zuordnung, also\r
1529 ein Wahrheitskriterium darstellt. Diese Eigenschaft\r
1530 kommt schlechthin jeder Wahrnehmung zu, und dies ist\r
1531 auch ihre einzige erkenntnistheoretische Bedeutung.\r
1533 Es muß jedoch beachtet werden, daß der hier benutzte\r
1534 Begriff der Eindeutigkeit durchaus verschieden ist von\r
1535 dem, was wir in den genannten mengentheoretischen Beispielen\r
1536 unter Eindeutigkeit verstanden. Wir nannten dort\r
1537 eine Zuordnung eindeutig, wenn sie jedem Element der\r
1538 einen Menge unabhängig von der Art, wie die verlangte\r
1539 \page{43}\r
1540 Zuordnung ausgeführt wird, immer nur ein und dasselbe\r
1541 identische Element der anderen Menge zuordnet. Dazu\r
1542 müssen aber die Elemente der anderen Menge ebenfalls\r
1543 definiert sein, es muß sich feststellen lassen, ob das getroffene\r
1544 Element dasselbe ist wie vorher oder nicht. Für\r
1545 die Wirklichkeit ist das keineswegs möglich. Das einzige,\r
1546 was wir konstatieren können, ist, ob zwei aus verschiedenen\r
1547 Messungen abgeleitete Zahlen gleich sind. Ob eine Zuordnung,\r
1548 die dies leistet, immer dieselben Elemente der\r
1549 Wirklichkeit trifft, darüber können wir nichts entscheiden.\r
1550 Diese Frage ist deshalb sinnlos; denn wenn nur die Gleichheit\r
1551 der Messungszahlen durchgängig erreicht wird, besitzt\r
1552 die Zuordnung diejenige Eigenschaft, die wir als Wahrheit\r
1553 oder objektive Geltung bezeichnen. Und wir definieren\r
1554 deshalb: \emph{Eindeutigkeit} heißt für die Erkenntniszuordnung,\r
1555 daß eine physikalische Zustandsgröße bei ihrer Bestimmung\r
1556 aus \emph{verschiedenen Erfahrungsdaten} durch\r
1557 \emph{dieselbe Messungszahl} wiedergegeben wird.\r
1559 Diese Definition behauptet nicht, daß die Zustandsgröße\r
1560 bei Gleichheit aller physikalischen Faktoren an\r
1561 jedem Raumzeitpunkt denselben Wert haben müßte. Die\r
1562 Annahme, daß die vier Koordinaten in den physikalischen\r
1563 Gleichungen nicht explizit auftreten, ist vielmehr erst eine\r
1564 Behauptung der Kausalität\Footnote{c}\r
1565 {Die Kausalität, die so oft als ein apriores Prinzip der Naturwissenschaft\r
1566 genannt wird, läßt sich bei genauerer Analyse nicht mehr als ein\r
1567 Prinzip, sondern nur noch als ein Komplex von Prinzipien auffassen,\r
1568 die einzeln bisher nicht scharf formuliert wurden. Eins von diesen scheint\r
1569 mir die Annahme zu sein, daß die Koordinaten in den Gleichungen nicht\r
1570 explizit auftreten, daß also gleiche Ursachen an einem anderen Raumzeitpunkt\r
1571 dieselbe Wirkung haben; ein anderes ist der oben erwähnte\r
1572 Satz von der Existenz zeitlich nicht umkehrbarer physikalischer Abläufe.\r
1573 Andererseits gehört auch die Eindeutigkeit der physikalischen Relation\r
1574 in diesen Komplex hinein. Es wäre besser, den Sammelnamen Kausalität\r
1575 überhaupt auszuschalten und durch die Einzelprinzipien zu ersetzen.}. Auch wenn sie nicht\r
1576 \page{44}\r
1577 erfüllt wäre, wäre immer noch Eindeutigkeit vorhanden;\r
1578 denn Eindeutigkeit besagt nichts über die Wiederholung\r
1579 von Vorgängen, sondern fordert nur, daß bei einem einmaligen\r
1580 Vorgang der Wert der Konstanten durch sämtliche Faktoren,\r
1581 gegebenenfalls einschließlich der Koordinaten,\r
1582 völlig bestimmt ist. Diese Bestimmtheit muß allerdings\r
1583 vorhanden sein, denn sonst läßt sich der Zahlwert\r
1584 der Zustandsgröße nicht durch eine Überlegungs- und\r
1585 Erfahrungskette berechnen. Aber ihren Ausdruck findet\r
1586 diese Bestimmtheit nicht nur in dem Vergleich zweier\r
1587 gleicher Ereignisse an verschiedenen Raumzeitpunkten,\r
1588 sondern ebensogut in der Beziehung ganz verschiedener\r
1589 Ereignisse aufeinander durch die verbindenden Gleichungen.\r
1591 Aber wie ist es möglich, solche Zuordnung durchgängig\r
1592 zu erreichen? Indem man diese Frage aufwirft, stellt man\r
1593 sich auf den Boden der kritischen Philosophie; denn sie\r
1594 bedeutet nichts anderes als die \name{Kant}ische Frage: Wie ist\r
1595 Erkenntnis der Natur möglich? Es wird unsere Aufgabe\r
1596 sein, die Antwort, die \name{Kant} auf diese Frage gab, mit den\r
1597 Resultaten der Relativitätstheorie zu vergleichen, und zu\r
1598 untersuchen, ob die \name{Kant}ische Antwort sich heute noch\r
1599 verteidigen läßt. Aber wir wollen hier sogleich betonen,\r
1600 daß die Frage auch unabhängig von jeder gegebenen Antwort\r
1601 ihren guten Sinn hat, und daß es keine Erkenntnistheorie\r
1602 geben kann, die an ihr vorbeigeht.\r
1604 Was bedeutet das Wort \glqq{}möglich\grqq{} in dieser Frage?\r
1605 Sicherlich soll es nicht bedeuten, daß der Einzelmensch\r
1606 eine solche Zuordnung zustande bringt. Denn das kann er\r
1607 gewiß nicht, und man darf den Erkenntnisbegriff nicht\r
1608 so definieren, daß er von der geistigen Potenz eines beliebigen\r
1609 Durchschnittsmenschen abhängt. Möglich ist hier\r
1610 nicht psycho-physisch gemeint, sondern logisch: es bedeutet\r
1611 die Frage nach den logischen Bedingungen der\r
1612 \page{45}\r
1613 Zuordnung. Wir haben an unserem Beispiel gesehen, daß\r
1614 Bedingungen da sein müssen, die die Zuordnung erst\r
1615 bestimmen; es sind Prinzipien allgemeiner Art, etwa über\r
1616 den Ordnungssinn, über metrische Verhältnisse usw. Analoge\r
1617 Prinzipien müssen auch für die Erkenntniszuordnung\r
1618 existieren; sie müssen nur die eine Eigenschaft besitzen,\r
1619 daß die durch sie definierte Zuordnung eindeutig im Sinne\r
1620 unseres Kriteriums wird. Darum dürfen wir der kritischen\r
1621 Frage diese Form geben: \emph{Mit welchen Prinzipien wird\r
1622 die Zuordnung von Gleichungen zur Wirklichkeit\r
1623 eindeutig?}\r
1625 Ehe wir auf die Beantwortung dieser Frage eingehen,\r
1626 müssen wir die erkenntnistheoretische Stellung der Zuordnungsprinzipien\r
1627 charakterisieren. Denn sie bedeuten\r
1628 nichts anderes als die synthetischen Urteile apriori \name{Kants}.\r
1633 \chapter{V. Zwei Bedeutungen des Apriori und die implizite\r
1634 Voraussetzung Kants.}\r
1635 \page{46}\r
1637 Der Begriff des Apriori hat bei \name{Kant} zwei verschiedene\r
1638 Bedeutungen. Einmal heißt er soviel wie \glqq{}apodiktisch\r
1639 gültig\grqq{}, \glqq{}für alle Zeiten gültig\grqq{}, und zweitens bedeutet\r
1640 er \glqq{}den Gegenstandsbegriff konstituierend\grqq{}.\r
1642 Wir müssen die zweite Bedeutung noch näher erläutern.\r
1643 Der Gegenstand der Erkenntnis, das Ding der Erscheinung,\r
1644 ist nach \name{Kant} nicht unmittelbar gegeben. Die Wahrnehmung\r
1645 gibt nicht den Gegenstand, sondern nur den\r
1646 Stoff, aus dem er geformt wird; diese Formung wird durch\r
1647 den Urteilsakt vollzogen. Das Urteil ist die Synthesis,\r
1648 die das Mannigfaltige der Wahrnehmung zum Objekt\r
1649 zusammenfaßt. Dazu muß im Urteil eine Einordnung in\r
1650 ein bestimmtes Schema vollzogen werden; je nach der\r
1651 Wahl des Schemas entsteht ein Ding oder ein bestimmter\r
1652 Typus von Relation. Die Anschauung ist die Form, in\r
1653 der die Wahrnehmung den Stoff darbietet, also gleichfalls\r
1654 ein synthetisches Moment. Aber erst das begriffliche\r
1655 Schema, die Kategorie, schafft das Objekt; der Gegenstand\r
1656 der Wissenschaft ist also nicht ein \glqq{}Ding an sich\grqq{},\r
1657 sondern ein durch Kategorien konstituiertes, auf Anschauung\r
1658 basiertes Bezugsgebilde.\r
1660 Unsere vorangegangenen Überlegungen können den\r
1661 Grundgedanken dieser Theorie nur bestätigen. Wir sahen,\r
1662 daß die Wahrnehmung das Wirkliche nicht definiert, daß\r
1663 erst die Zuordnung zu mathematischen Begriffen das Element\r
1664 der Wirklichkeit, den wirklichen Gegenstand,\r
1665 \page{47}\r
1666 bestimmt. Wir sahen auch, daß es gewisse Prinzipien der\r
1667 Zuordnung geben muß, weil sonst die Zuordnung nicht\r
1668 definiert ist. In der Tat müssen diese Prinzipien derart\r
1669 sein, daß sie bestimmen, wie die zugeordneten Begriffe\r
1670 sich zu Gebilden und Abläufen zusammenfügen; sie definieren\r
1671 also erst das wirkliche Ding und das wirkliche Geschehen.\r
1672 Wir dürfen sie als konstitutive Prinzipien der\r
1673 Erfahrung bezeichnen. \name{Kant} nennt als solche Schemata\r
1674 Raum, Zeit und die Kategorien; wir werden zu untersuchen\r
1675 haben, ob dies die geeigneten Nebenbedingungen\r
1676 für die eindeutige Zuordnung sind.\r
1678 Die zweite Bedeutung des Apriori-Begriffs ist jedenfalls\r
1679 die wichtigere. Denn sie verleiht diesem Begriff die\r
1680 zentrale Stellung, die er seit \name{Kant} in der Erkenntnistheorie\r
1681 inne hat. Es war die große Entdeckung \name{Kants},\r
1682 daß der Gegenstand der Erkenntnis nicht schlechthin\r
1683 gegeben, sondern konstruiert ist, daß er begriffliche Elemente\r
1684 enthält, die in der reinen Wahrnehmung nicht enthalten\r
1685 sind. Zwar ist dieser konstruierte Bezugspunkt\r
1686 nicht eine bloße Fiktion, denn sonst könnte seine Struktur\r
1687 nicht in so enger Form von außen, durch die wiederholte\r
1688 Wahrnehmung, vorgeschrieben werden; darum bezieht\r
1689 \name{Kant} ihn auf ein Ding an sich, das selbst nicht erkennbar\r
1690 doch darin zutage tritt, daß es das leere Schema der\r
1691 Kategorien mit positivem Inhalt füllt.\r
1693 Das ist natürlich alles sehr bildhaft gesprochen, und\r
1694 wir müssen, wollen wir gültige Resultate finden, zu\r
1695 exakteren Formulierungen zurückkehren; aber es ist nicht\r
1696 unzweckmäßig, sich die \name{Kant}ische Lehre in mehr anschaulicher\r
1697 Form zu vergegenwärtigen, weil man damit\r
1698 zu einer raschen Übersicht ihrer wesentlichen Gedanken\r
1699 kommt. Zum Teil liegt es auch darin begründet, daß\r
1700 die \name{Kant}ischen Begriffsbildungen einer mehr von\r
1701 \page{48}\r
1702 grammatischer als von mathematischer Präzision durchtränkten\r
1703 Zeit angehören, und daher nur der formale Aufbau dieser\r
1704 Begriffe, nicht ihr sachlicher Kern, sprachlich faßbar ist.\r
1705 Vielleicht wird einmal eine spätere Zeit auch unsere Begriffe\r
1706 bildhaft nennen.\r
1708 Die zugeordneten Kategorien sind natürlich nicht in\r
1709 dem Sinne Bestandteile des Gegenstands wie seine materiellen\r
1710 Teile. Der wirkliche Gegenstand ist das Ding, wie\r
1711 es vor uns steht; es hat  keinen  Sinn, dieses Sein noch\r
1712 näher definieren zu wollen, denn was \glqq{}wirklich\grqq{} bedeutet,\r
1713 kann nur erlebt werden, und alle Versuche der Schilderung\r
1714 bleiben Analogien oder sind  Darstellungen für den \emph{begrifflichen\r
1715 Ausdruck} dieses  Erlebnisses. Die Wirklichkeit\r
1716 der Dinge ist zu trennen von der Wirklichkeit\r
1717 der Begriffe, die, insofern man sie real nennen will, nur\r
1718 psychologische Existenz haben. Aber es bleibt eine eigentümliche\r
1719 Relation zwischen dem wirklichen Ding und dem\r
1720 Begriff, weil erst durch die Zuordnung des Begriffs definiert\r
1721 wird, was in dem \glqq{}Kontinuum\grqq{} der Wirklichkeit ein Einzelding\r
1722 ist, und weil auch erst der begriffliche Zusammenhang\r
1723 auf Grund von Wahrnehmungen entscheidet, ob ein gedachtes\r
1724 Einzelding \glqq{}in Wirklichkeit da ist\grqq{}.\r
1726 Wenn man die Menge der reellen Funktionen von zwei\r
1727 Variablen durch ein Koordinatenkreuz der Ebene zuordnet,\r
1728 so bestimmt jede Funktion eine Figur in dem\r
1729 Kontinuum der Ebene. Die einzelne Figur ist also erst\r
1730 durch die Funktion definiert. Allerdings läßt sie sich auch\r
1731 anders definieren, indem man etwa eine Kurve anschaulich\r
1732 zeichnet. Aber welche anschauliche Kurve der Ebene\r
1733 in dem genannten Beispiel gerade einer bestimmten Funktion\r
1734 zugeordnet wird, hängt von der Art ab, wie man\r
1735 das Koordinatenkreuz in die Ebene hineinlegt, wie man\r
1736 die Maßverhältnisse wählt usw. Wir müssen dabei zwei\r
1737 \page{49}\r
1738 Arten von Zuordnungsprinzipien unterscheiden: solche,\r
1739 die von der Definiertheit der Elemente auf \emph{beiden} Seiten\r
1740 Gebrauch machen, und solche, die nur die Elemente einer\r
1741 Seite benutzen. Die Festlegung des Koordinatenkreuzes\r
1742 ist von der ersten Art, denn sie vollzieht sich dadurch,\r
1743 daß man bestimmte anschaulich definierte Punkte den\r
1744 Koordinatenzahlen zuordnet; sie ist also selbst wieder\r
1745 eine Zuordnung. Eine Bedingung der zweiten Art wäre\r
1746 z.\,B. die folgende. Wollen wir eine Funktion $f(x, y, z) = 0$\r
1747 von drei Variablen der Ebene zuordnen, so geschieht dies\r
1748 durch eine einparametrige Kurvenschar. Welche Variablen\r
1749 dabei den Achsen entsprechen, ist durch die Festlegung\r
1750 des Koordinatenkreuzes bestimmt; denn diese sagt ja,\r
1751 daß die und die Punkte der Ebene den Werten x, und\r
1752 jene anderen Punkte der Ebene den Werten y entsprechen.\r
1753 So ist also auch festgelegt, welche Variable als Parameter\r
1754 auftritt. Trotzdem ist immer noch eine Willkür vorhanden.\r
1755 Im allgemeinen erhält man die Kurvenschar dadurch,\r
1756 daß man für jeden Wert $z = p = \mathrm{konst.}$ eine Kurve\r
1757 $f(x, y, p) = 0$ konstruiert. Man kann aber auch eine beliebige\r
1758 Funktion $\varphi (x, z) = p^\prime = \mathrm{konst.}$ annehmen und $p^\prime$ als Parameter\r
1759 wählen, dann erhält man eine Kurvenschar von\r
1760 ganz anderer Gestalt. Aber diese Kurvenschar ist ebensogut\r
1761 ein Bild der Funktion $f (x, y, z)$ wie die erste. Man\r
1762 kann nicht sagen, daß die eine Schar der Funktion besser\r
1763 angepaßt sei als die andere; die erste ist nur für unser\r
1764 Anschauungsvermögen durchsichtiger, unseren psychologischen\r
1765 Fähigkeiten besser angepaßt. Es hängt also\r
1766 ganz von der Wahl des Parameters ab, welche Menge der\r
1767 anschaulichen Kurven durch die Zuordnung zu $f (x, y, z)$\r
1768 ausgewählt wird. Trotzdem ist die Bestimmung des Parameters\r
1769 nur für die analytische Seite der Zuordnung eine\r
1770 Vorschrift, und benutzt zu ihrer Formulierung keinerlei\r
1771 \page{50}\r
1772 Eigenschaften der geometrischen Seite. Und wir bemerken,\r
1773 daß es Zuordnungsprinzipien gibt, die sich nur\r
1774 auf die \emph{eine} Seite der Zuordnung beziehen, und trotzdem\r
1775 auf die Auswahl der anderen Seite von entscheidendem\r
1776 Einfluß sind.\r
1778 Wir haben gesehen, daß die Definiertheit der Elemente\r
1779 auf der einen Seite der Erkenntniszuordnung fehlt; und\r
1780 darum kann es für die Erkenntnis keine Zuordnungsprinzipien\r
1781 der ersten Art geben, sondern nur solche, die\r
1782 sich auf die begriffliche Seite der Zuordnung beziehen\r
1783 und daher mit gleichem Recht Ordnungsprinzipien heißen\r
1784 können. Daß es möglich ist, allein mit der zweiten Art\r
1785 von Zuordnungsprinzipien auszukommen, ist eine große\r
1786 Merkwürdigkeit, und ich wüßte gar keine andern solchen\r
1787 Fälle neben dem Erkenntnisphänomen zu nennen. Aber\r
1788 sie ist nicht merkwürdiger als die Tatsache des Wirklichkeitserlebnisses\r
1789 überhaupt, und hängt damit zusammen,\r
1790 daß Eindeutigkeit für diese Zuordnung etwas anderes\r
1791 bedeutet als eine Beziehung auf \glqq{}dasselbe\grqq{} Element der\r
1792 Wirklichkeitsseite, daß sie durch ein von der Zuordnung\r
1793 unabhängiges Kriterium, die Wahrnehmung, konstatiert\r
1794 wird. Gerade deshalb haben die Zuordnungsprinzipien für\r
1795 den Erkenntnisprozeß eine viel tiefere Bedeutung als für\r
1796 jede andere Zuordnung. Denn indem sie die Zuordnung\r
1797 bestimmen, werden durch sie erst die Einzelelemente der\r
1798 Wirklichkeit definiert, und in diesem Sinne sind sie\r
1799 \emph{konstitutiv} für den wirklichen Gegenstand; in \name{Kants}\r
1800 Worten: \glqq{}weil nur vermittelst ihrer überhaupt irgendein\r
1801 Gegenstand der Erfahrung gedacht werden kann\grqq{}\litref{12}.\r
1803 Als Beispiel für Zuordnungsprinzipien sei das Wahrscheinlichkeitsprinzip\r
1804 genannt, welches definiert, wann\r
1805 eine Reihe von Messungszahlen als Werte derselben Konstanten\r
1806 anzusehen sind\litref{13}. (Man denke etwa an eine\r
1807 \page{51}\r
1808 Verteilung nach dem \name{Gauß}schen Fehlergesetz.) Dieses Prinzip\r
1809 bezieht sich allein auf die begriffliche Seite der Zuordnung,\r
1810 und ist dennoch vor anderen Sätzen der Physik dadurch\r
1811 ausgezeichnet, daß es unmittelbar der Definition des Wirklichen\r
1812 dient; es definiert die physikalische Konstante.\r
1813 Ein anderes Beispiel bildet das Genidentitätsprinzip\litref{14},\r
1814 welches aussagt, wie physikalische Begriffe zu Reihen\r
1815 zusammengefaßt werden müssen, damit sie dasselbe in\r
1816 der Zeit sich identisch bleibende Ding definieren. Auch\r
1817 Raum und Zeit sind solche Zuordnungsprinzipien, denn\r
1818 sie besagen z.\,B., daß vier Zahlen erst einen einzigen Wirklichkeitspunkt\r
1819 definieren. Für die alte Physik war auch\r
1820 die euklidische Metrik ein solches Zuordnungsprinzip, denn\r
1821 sie gab Relationen an, wie sich Raumpunkte ohne\r
1822 Unterschied ihrer physikalischen Qualität zu ausgedehnten\r
1823 Gebilden zusammenfügen; die Metrik definierte nicht, wie\r
1824 Temperatur oder Druck, einen physikalischen Zustand,\r
1825 sondern bildete einen Teil des Begriffs vom physikalischen\r
1826 Ding, das erst Träger aller Zustände ist. Obgleich diese\r
1827 Prinzipien Vorschriften für die begriffliche Seite der Zuordnung\r
1828 sind und ihr als \emph{Zuordnungsaxiome} vorangestellt\r
1829 werden können, unterscheiden sie sich von den\r
1830 sonst als Axiome der Physik bezeichneten Sätzen. Man\r
1831 kann die Einzelgesetze der Physik unter sich in ein deduktives\r
1832 System bringen, so daß sie alle als Folgerungen\r
1833 einiger weniger Grundgleichungen erscheinen. Diese Grundgleichungen\r
1834 enthalten aber immer noch spezielle mathematische\r
1835 Operationen; so geben die \name{Einstein}schen Gravitationsgleichungen\r
1836 an, in welcher speziellen mathematischen\r
1837 Beziehung die physikalische Größe $R_{ik}$ zu den\r
1838 physikalischen Größen $T_{ik}$ und $g_{ik}$ steht. Wir wollen sie\r
1839 deshalb \emph{Verknüpfungsaxiome} nennen\litref{15}. Die Zuordnungsaxiome\r
1840 unterscheiden sich von ihnen dadurch,\r
1841 \page{52}\r
1842 daß sie nicht bestimmte Zustandsgrößen mit andern verknüpfen,\r
1843 sondern allgemeine Regeln enthalten, nach denen\r
1844 überhaupt verknüpft wird. So sind in den Gravitationsgleichungen\r
1845 die Axiome der Arithmetik als Regeln der\r
1846 Verknüpfung vorausgesetzt, und diese sind daher Zuordnungsprinzipien\r
1847 der Physik.\r
1849 Obgleich die Zuordnung der Erkenntnis nur erlebnismäßig\r
1850 vollzogen und nicht durch begriffliche Relationen\r
1851 hinreichend charakterisiert werden kann, ist sie doch an\r
1852 die Anwendung jener Zuordnungsprinzipien in eigentümlicher\r
1853 Weise gebunden. Wenn wir z.\,B. ein bestimmtes\r
1854 mathematisches Symbol einer physikalischen Kraft zuordnen,\r
1855 so müssen wir, um die Kraft als Gegenstand\r
1856 denken zu können, ihr die Eigenschaften des mathematischen\r
1857 Vektors zuschreiben; hier sind also die auf Vektoroperationen\r
1858 bezüglichen Axiome der Arithmetik konstitutive\r
1859 Prinzipien, Kategorien eines physikalischen Begriffs\Footnote{d}\r
1860 {Daran liegt es auch, daß uns die Sätze vom Parallelogramm der\r
1861 Kräfte so selbstverständlich vorkommen und wir ihren empirischen\r
1862 Charakter gar nicht sehen. Sie sind auch selbstverständlich, wenn die\r
1863 Kraft ein Vektor ist, aber das ist gerade das Problem.}.\r
1864 Wenn wir von der Bahn eines Elektrons reden,\r
1865 so müssen wir das Elektron als sich selbst identisch\r
1866 bleibendes Ding denken, also das Genidentitätsprinzip als\r
1867 konstitutive Kategorie benutzen. Dieser Zusammenhang\r
1868 der begrifflichen Kategorie mit dem Zuordnungserlebnis\r
1869 bleibt als letzter, nicht analysierbarer Rest bestehen. Aber\r
1870 er grenzt deutlich eine Klasse von Prinzipien dadurch ab,\r
1871 daß er sie, die als begriffliche Formeln nur für die begriffliche\r
1872 Seite der Zuordnung gelten können, als Formen der\r
1873 Erkenntnis den allgemeinsten Verknüpfungsgesetzen noch\r
1874 voranstellt. Und diese Prinzipien sind deshalb von so\r
1875 tiefer Bedeutung, weil sie das sonst völlig undefinierte\r
1876 \page{53}\r
1877 Problem der Erkenntniszuordnung erst zu einem definierten\r
1878 machen.\r
1880 Wir müssen jetzt die beiden Bedeutungen des Apriori-Begriffs,\r
1881 die wir nannten, in einen Zusammenhang bringen.\r
1882 Definieren wir einmal \glqq{}apriori\grqq{} im Sinne der zweiten Bedeutung\r
1883 als \glqq{}Gegenstand konstituierend\grqq{}. Wie folgt\r
1884 daraus, daß die aprioren Prinzipien apodiktisch gelten,\r
1885 daß sie von aller Erfahrung ewig unberührt bleiben?\r
1887 \name{Kant} begründet diesen Schluß folgendermaßen: Die\r
1888 menschliche Vernunft, d.\,i. der Inbegriff von Verstand\r
1889 und Anschauung, trägt eine bestimmte Struktur in sich.\r
1890 Diese Struktur schreibt die allgemeinen Gesetze vor, nach\r
1891 denen das Wahrnehmungsmaterial geordnet wird, damit\r
1892 Erkenntnisse entstehen. Jede Erfahrungserkenntnis ist\r
1893 als Erkenntnis bereits durch eine solche Einordnung zustande\r
1894 gekommen, kann also niemals einen Gegenbeweis\r
1895 für die Ordnungsprinzipien darstellen. Darum haben diese\r
1896 apodiktische Gültigkeit.\r
1898 Sie gelten, solange die menschliche Vernunft sich nicht\r
1899 ändert, und in diesem Sinne ewig. Jedenfalls kann durch\r
1900 \emph{Erfahrungen} eine Änderung der menschlichen Vernunft\r
1901 nicht zustande kommen, weil Erfahrungen die Vernunft\r
1902 voraussetzen. Ob sich aber die Vernunft aus inneren\r
1903 Gründen einmal ändern wird, ist eine müßige Frage und\r
1904 für \name{Kant} irrelevant. Jedenfalls will er nicht bestreiten,\r
1905 daß andere Wesen existieren könnten, die andere konstitutive\r
1906 Prinzipien benutzen als wir\litref{16}; damit ist natürlich\r
1907 auch die Möglichkeit offen gelassen, daß es biologische\r
1908 Übergangsformen zwischen diesen Wesen und uns gibt,\r
1909 und daß eine biologische Entwicklung unserer Vernunft\r
1910 zu derartigen andersvernünftigen Wesen stattfindet. \name{Kant}\r
1911 spricht allerdings niemals von dieser Möglichkeit, aber sie\r
1912 würde seiner Theorie nicht widersprechen. Was seine\r
1913 \page{54}\r
1914 Theorie ausschließt, ist nur die Veränderung der Vernunft\r
1915 und ihrer Ordnungsprinzipien durch \emph{Erfahrungen}; in\r
1916 diesem Sinne ist das \glqq{}apodiktisch gültig\grqq{} zu verstehen.\r
1918 Übertragen wir diesen Gedankengang auf unsere bisherigen\r
1919 Formulierungen, so lautet er folgendermaßen:\r
1920 Wenn wir Wahrnehmungsdaten zur Erkenntnis zusammenordnen,\r
1921 so müssen Prinzipien da sein, die diese Zuordnung\r
1922 genauer definieren; wir nannten sie Zuordnungsprinzipien\r
1923 und erkannten in ihnen diejenigen Prinzipien, welche den\r
1924 Gegenstand der Erkenntnis erst definieren. Fragen wir,\r
1925 welches diese Prinzipien sind, so brauchen wir nur die\r
1926 Vernunft zu fragen, und nicht die Erfahrung; denn die\r
1927 Erfahrung wird ja erst durch sie konstituiert. \name{Kants}\r
1928 Verfahren zur Beantwortung der kritischen Frage besteht\r
1929 deshalb in der Analyse der Vernunft. Wir haben in den\r
1930 Abschnitten II und III eine Reihe von Prinzipien apriori\r
1931 genannt; wir wollen damit ausdrücken, daß sie sich nach\r
1932 dem \name{Kant}ischen Verfahren als Zuordnungsprinzipien ergeben\r
1933 würden. Wir durften dafür das Kriterium der\r
1934 Evidenz benutzen, denn dies wird auch von \name{Kant} als\r
1935 charakteristisch für seine Prinzipien eingeführt. Auch\r
1936 erscheint es selbstverständlich, daß diese Prinzipien, die\r
1937 ihren Grund nur in der Vernunft tragen, evident erscheinen\r
1938 müssen\litref{17}.\r
1940 Wir hatten aber festgestellt, daß die Zuordnungsprinzipien\r
1941 dadurch ausgezeichnet sein müssen, daß sie die eindeutige\r
1942 Zuordnung möglich machen; dahin hatte sich uns\r
1943 der Sinn der kritischen Frage dargestellt. Es ist aber nicht\r
1944 gesagt, daß diejenigen Prinzipien, die in der Vernunft\r
1945 veranlagt sind, auch diese Eigenschaft besitzen, denn das\r
1946 Kriterium der Eindeutigkeit, die Wahrnehmung, ist von\r
1947 der Vernunft ganz unabhängig. Es müßte vielmehr ein\r
1948 großer Zufall der Natur sein, wenn gerade die vernünftigen\r
1949 \page{55}\r
1950 Prinzipien auch die eindeutig bestimmenden wären. Nur\r
1951 eine Möglichkeit gibt es, dieses Zusammentreffen verständlich\r
1952 zu machen: wenn es für die Forderung der Eindeutigkeit\r
1953 auf die Prinzipien der Zuordnung gar nicht ankommt,\r
1954 wenn also für jedes beliebige System von Zuordnungsprinzipien\r
1955 eine eindeutige Zuordnung immer möglich ist.\r
1957 In den von uns bisher angezogenen Beispielen einer\r
1958 Zuordnung war diese Forderung keineswegs erfüllt. Es\r
1959 gibt dort nur eine Klasse von Bedingungssystemen, die\r
1960 eine eindeutige Zuordnung definieren. So führten wir an,\r
1961 daß die rationalen Brüche sich auf verschiedene Weise\r
1962 Punkten einer geraden Linie zuordnen lassen, je nach der\r
1963 Wahl der Nebenbedingungen. Allerdings führen nicht\r
1964 alle  verschiedenen Systeme von Nebenbedingungen auf\r
1965 eine verschiedene Zuordnung; vielmehr gibt es Systeme,\r
1966 die gegeneinander substituiert werden können, weil sie\r
1967 doch nur dieselbe Zuordnung definieren. Solche Systeme\r
1968 sollen schlechthin dieselben heißen; verschieden sollen nur\r
1969 solche Systeme heißen, die auch auf verschiedene Zuordnungen\r
1970 führen. Andererseits gibt es Systeme, die sich\r
1971 in ihren Forderungen direkt widersprechen. Man braucht\r
1972 dazu nur ein Prinzip und sein Gegenteil in einem System\r
1973 zu vereinigen. Solche explizit widerspruchsvollen Systeme\r
1974 sollen von vornherein ausgeschlossen sein. Für das Beispiel\r
1975 der rationalen Brüche können wir sagen, daß deren Zuordnung\r
1976 zu Punkten der geraden Linie durch verschiedene\r
1977 Systeme von Nebenbedingungen eindeutig gemacht wird.\r
1978 Aber es lassen sich natürlich leicht Systeme angeben, die\r
1979 das nicht erreichen. Man braucht nur in einem System\r
1980 der genannten Klasse ein wesentliches Prinzip wegzulassen,\r
1981 dann hat man ein unvollständiges System, das sicherlich\r
1982 die Eindeutigkeit nicht mehr erreicht.\r
1984 Für die Erkenntniszuordnung kann man das aber nicht\r
1985 \page{56}\r
1986 so einfach schließen. Wäre z.\,B. das  Prinzipiensystem\r
1987 ein unvollständiges, so wäre es leicht durch einige Erfahrungssätze\r
1988 so zu ergänzen, daß ein eindeutiges System\r
1989 entsteht. Vielleicht darf man dahin die Meinung der bisherigen\r
1990 Aprioritätsphilosophie (allerdings kaum die Meinung\r
1991 \name{Kants}) deuten, daß es sich in dem evidenten\r
1992 Prinzipiensystem um ein unvollständiges System handelt.\r
1993 Es ist aber bisher nicht der Versuch gemacht worden,\r
1994 das zu beweisen. Zwar steht fest, daß in diesem System\r
1995 keine expliziten Widersprüche enthalten sind. Aber dann\r
1996 kann das System immer noch zu der großen Klasse derjenigen\r
1997 Systeme gehören, die einen impliziten Widerspruch\r
1998 für die Zuordnung ergeben. Da das Kriterium der Eindeutigkeit,\r
1999 die Wahrnehmung, von dem System ganz\r
2000 unabhängig von außen bestimmt ist, so ist es sehr wohl\r
2001 möglich, daß die Widersprüche erst bemerkt werden, wenn\r
2002 das System bis zu einigem Umfang ausgebaut ist. Wir\r
2003 dürfen hier an die nichteuklidischen Geometrieen erinnern,\r
2004 in denen das Parallelenaxiom geändert wird, aber sonst\r
2005 das euklidische System übernommen wird; daß durch das\r
2006 so gewonnene  System kein Widerspruch entsteht, läßt\r
2007 sich erst durch den \emph{konsequenten Ausbau dieser\r
2008 Geometrie} feststellen. Freilich ist gerade das System\r
2009 der Erkenntnis kein mathematisches, und darum kann\r
2010 hier nur der \emph{Ausbau einer experimentellen Physik}\r
2011 entscheiden. Hier liegt der Grund, warum die Relativitätstheorie,\r
2012 die als rein physikalische Theorie entstanden ist,\r
2013 der Erkenntnistheorie so wichtig wird.\r
2015 Man hat in der bisherigen Diskussion die Frage gewöhnlich\r
2016 nur für einzelne Prinzipien gestellt. So glaubte\r
2017 man, daß das Kausalprinzip nie auf Widersprüche stoßen\r
2018 könnte, daß die Interpretation der Erfahrungen immer\r
2019 noch genügend Willkür enthielte, um dieses Prinzip\r
2020 \page{57}\r
2021 festzuhalten. Aber so ist die Frage falsch gestellt. Es handelt\r
2022 sich nicht darum, ob ein einzelnes Prinzip festgehalten\r
2023 werden kann, sondern ob das ganze System der Prinzipien\r
2024 sich immer festhalten läßt. Denn die Erkenntnis fordert\r
2025 ein \emph{System}, und kann mit einem einzelnen Prinzip nicht\r
2026 auskommen; und auch die \name{Kant}ische Philosophie hat\r
2027 ein System aufgestellt. Daß man mit einem einzelnen\r
2028 Prinzip immer durchkommen kann, erscheint wahrscheinlich,\r
2029 wenn auch noch keineswegs sicher. Denn ein Prinzip\r
2030 enthält unter Umständen einen \emph{Komplex} von Gedanken,\r
2031 und ist dann bereits einem System gleichwertig; es ließe\r
2032 sich schwer beweisen, daß ein Prinzip immer einem \emph{unvollständigen}\r
2033 System äquivalent ist.\r
2035 Auf jeden Fall müssen wir aber den Zufall ausschließen;\r
2036 denn daß zwischen Wirklichkeit und Vernunft eine\r
2037 prästabilierte Harmonie besteht, darf nicht Voraussetzung\r
2038 einer wissenschaftlichen Erkenntnistheorie werden. Wenn\r
2039 deshalb das Prinzipiensystem der Vernunft zur Klasse der\r
2040 eindeutig bestimmenden Systeme oder zu der der unvollständigen\r
2041 Systeme gehören soll, so darf es keine implizit\r
2042 widerspruchsvollen (überbestimmenden) Systeme für die\r
2043 Erkenntnis geben.\r
2045 Wir sind damit zu dem Resultat gekommen, daß wir\r
2046 die Geltung der \name{Kant}ischen Erkenntnislehre von der\r
2047 Geltung einer klar formulierten Hypothese abhängig\r
2048 machen können. \name{Kants} Theorie enthält die Hypothese,\r
2049 daß es \emph{keine implizit widerspruchsvollen Systeme\r
2050 von Zuordnungsprinzipien für die Erkenntnis der\r
2051 Wirklichkeit gibt}. Da diese Hypothese gleichbedeutend\r
2052 ist mit der Aussage, daß man mit jedem beliebigen, explizit\r
2053 widerspruchsfreien System von Zuordnungsprinzipien zu\r
2054 einer eindeutigen Zuordnung von Gleichungen zur Wirklichkeit\r
2055 kommen kann, wollen wir sie als \emph{Hypothese}\r
2056 \page{58}\r
2057 \emph{der Zuordnungswillkür} bezeichnen. Nur wenn sie\r
2058 richtig ist, sind die beiden Bedeutungen des Apriori-Begriffes\r
2059 miteinander vereinbar; denn nur dann sind die\r
2060 konstitutiven Prinzipien unabhängig von der Erfahrung\r
2061 und dürfen apodiktisch, für alle Zeiten gültig, genannt\r
2062 werden. Wir wollen untersuchen, welche Antwort die\r
2063 Relativitätstheorie auf diese Frage gibt.\r
2068 \chapter{VI. Widerlegung der Kantischen Voraussetzung\r
2069 durch die Relativitätstheorie.}\r
2070 \page{59}\r
2072 Wir greifen auf die Resultate der Abschnitte II und III\r
2073 zurück. Dort wurde behauptet, daß die Relativitätstheorie\r
2074 einen Widerspruch bisher apriorer Sätze mit der Erfahrung\r
2075 festgestellt hätte. In welchem Sinne ist dies möglich?\r
2076 Schließt nicht der \name{Kant}ische Beweis für die unbeschränkte\r
2077 Gültigkeit konstitutiver Prinzipien solchen Widerspruch\r
2078 aus?\r
2080 Wir haben die Prinzipien, deren Unvereinbarkeit mit\r
2081 der Erfahrung durch die spezielle Relativitätstheorie behauptet\r
2082 wird, auf S.~15 zusammengestellt. Wir haben\r
2083 dort auch bereits ausgeführt, in welchem Sinne die Unvereinbarkeit\r
2084 zu verstehen ist. Hält man an der absoluten\r
2085 Zeit fest, so muß man bei der Extrapolation des Erfahrungsmaterials\r
2086 von dem normalen Verfahren abweichen. Wegen\r
2087 der Dehnbarkeit des Begriffs \glqq{}normal\grqq{} ist das in gewissen\r
2088 Grenzen immer möglich; aber es gibt Fälle -- und solch\r
2089 einer ist hier verwirklicht -- wo die Extrapolation dadurch\r
2090 entschieden anomal wird. Man hat also die Wahl: Hält\r
2091 man an der absoluten Zeit fest, so muß man die normale\r
2092 Induktion verlassen, und umgekehrt. Nur in diesem Sinne\r
2093 kann ein Widerspruch mit der Erfahrung behauptet\r
2094 werden. Aber alle genannten Prinzipien sind apriori im\r
2095 Sinne \name{Kants}. Wir dürfen deshalb behaupten, daß die\r
2096 spezielle Relativitätstheorie die Unvereinbarkeit eines\r
2097 Systems apriorer Prinzipien mit der normalen induktiven\r
2098 Deutung des Beobachtungsmaterials nachgewiesen hat.\r
2099 \page{60}\r
2101 Für die allgemeine Relativitätstheorie liegen die Verhältnisse\r
2102 im wesentlichen ebenso. Die Prinzipien, die nach\r
2103 ihrer Aussage einen Widerspruch ergeben, sind auf S.~29\r
2104 zusammengestellt. Diese Zusammenstellung unterscheidet\r
2105 sich nur dadurch von der soeben genannten, daß in ihr\r
2106 außer aprioren Prinzipien noch ein nicht evidentes Prinzip\r
2107 auftritt, das Prinzip der speziellen Relativität. Aber dieses\r
2108 Prinzip ist in sich widerspruchsfrei, und auch ohne expliziten\r
2109 Widerspruch zu den danebengestellten Prinzipien,\r
2110 so daß damit ein explizit widerspruchsfreies System aufgestellt\r
2111 ist, welches mit der normalen induktiven Deutung\r
2112 des Beobachtungsmaterials nicht vereinbar ist. Es kommt\r
2113 aber noch eine Besonderheit hinzu. Das nicht evidente\r
2114 Prinzip ist gerade dasjenige, welches den Vorzug hat, den\r
2115 Widerspruch der genannten ersten Zusammenstellung zu\r
2116 lösen. Es ist also ebenfalls ein ausgezeichnetes System,\r
2117 dessen Widerspruch zur Erfahrung behauptet wird.\r
2119 Mit diesen Zusammenstellungen ist die Antwort auf\r
2120 die Hypothese der Zuordnungswillkür, von der wir die\r
2121 Geltung der \name{Kant}ischen Erkenntnislehre abhängig machten,\r
2122 zurückgeschoben auf das Problem der normalen Induktion.\r
2123 Es muß deshalb die Bedeutung dieses Prinzips\r
2124 für die Erkenntnis untersucht werden.\r
2126 Es ist auch sehr verständlich, daß hier das Induktionsproblem\r
2127 hineinkommen muß. Denn der induktive Schluß\r
2128 ist vor allen anderen durch die Unsicherheit und Dehnbarkeit\r
2129 seiner Resultate ausgezeichnet. Die Hypothese der\r
2130 Zuordnungswillkür erscheint von vornherein sehr unwahrscheinlich;\r
2131 und wenn sie gerechtfertigt werden soll, muß\r
2132 sie auf die Unbestimmtheit in der Wirklichkeitsseite der\r
2133 Zuordnung zurückgehen. Aber diese Unbestimmtheit ist\r
2134 ja gerade der Kernpunkt des Induktionsproblems. Im\r
2135 Induktionsschluß wird eine Aussage gemacht, die über\r
2136 \page{61}\r
2137 die unmittelbaren Daten der Erfahrung hinausgeht; sie\r
2138 muß gemacht werden, weil die Erfahrung immer nur\r
2139 Daten gibt, und keine Relationen, weil sie nur ein Kriterium\r
2140 für die Eindeutigkeit der Zuordnung liefert, und nicht die\r
2141 Zuordnung selbst. Wir sprachen von der normalen Induktion.\r
2142 Aber ist nicht eine Induktion erst dann normal,\r
2143 wenn sie solche Deutungen von vornherein ausschließt,\r
2144 die den Zuordnungsprinzipien widersprechen? Auf diesem\r
2145 Gedanken beruht der \name{Kant}ische Beweis für die Unabhängigkeit\r
2146 der Zuordnungsprinzipien von der Erfahrung.\r
2147 Wir halten uns deshalb für die Untersuchung dieser Frage\r
2148 unmittelbar an diesen Beweis.\r
2150 \name{Kants} Beweisgang verläuft folgendermaßen. Jede Erfahrung\r
2151 setzt die Geltung der konstitutiven Prinzipien\r
2152 voraus. Wenn deshalb von Erfahrungsdaten auf Gesetze\r
2153 geschlossen werden soll, so müssen solche Deutungen der\r
2154 Erfahrungsdaten, die den vorausgesetzten Prinzipien widersprechen,\r
2155 von vornherein ausgeschlossen werden. Eine\r
2156 Induktion kann nur dann als normal gelten, wenn ihr\r
2157 dieser Ausschluß vorausgegangen ist. Darum kann kein\r
2158 Erfahrungsresultat die konstitutiven Prinzipien widerlegen.\r
2160 Die Analyse dieses Beweises läßt sich auf die Beantwortung\r
2161 zweier Fragen zurückführen.\r
2163 Ist es logisch \emph{widersinnig}, solche induktiven Deutungen\r
2164 des Erfahrungsmaterials vorzunehmen, die einen\r
2165 Widerspruch zu den Zuordnungsprinzipien darstellen?\r
2167 Ist es logisch \emph{zulässig}, vor der induktiven Deutung\r
2168 des Erfahrungsmaterials solche Deutungen auszuschließen,\r
2169 die einem Zuordnungsprinzip widersprechen?\r
2171 Es sei, um die Terminologie zu fixieren, vorausgeschickt,\r
2172 daß wir in den folgenden Ausführungen unter dem normalen\r
2173 Induktionsverfahren nicht das in jenem Beweisgang\r
2174 \page{62}\r
2175 entwickelte Verfahren, sondern das allgemein übliche Verfahren\r
2176 der Physik, wie wir es im Abschnitt II geschildert\r
2177 haben, verstehen werden.\r
2179 Wir beantworten die erste Frage. Warum soll denn\r
2180 solch ein Verfahren logisch widersinnig sein? Indem man\r
2181 feststellt, ob man mit der fortgesetzten Anwendung eines\r
2182 Prinzips und normalem Induktionsverfahren zu einer eindeutigen\r
2183 Zuordnung kommt oder nicht, prüft man das\r
2184 implizierte Prinzip. Das ist ein vielbenutztes Verfahren\r
2185 der Physik: man entwirft eine Theorie, deutet nach ihr\r
2186 die Erfahrungsresultate, und sieht nach, ob man zur Eindeutigkeit\r
2187 kommt. Ist das nicht der Fall, so gibt man\r
2188 die Theorie auf. Dieses Verfahren läßt sich für Zuordnungsprinzipien\r
2189 genau so durchführen. Es schadet gar nichts,\r
2190 daß das zu prüfende Prinzip bereits in \emph{sämtlichen} zur\r
2191 Induktion verwandten Erfahrungen vorausgesetzt wird.\r
2192 Es ist keineswegs widersinnig, einen Widerspruch des\r
2193 Zuordnungssystems mit der Erfahrung zu behaupten.\r
2195 Die zweite Frage beantwortet sich schwieriger. Wir\r
2196 wollen aber beweisen, daß ihre Bejahung zum Verzicht\r
2197 auf die Eindeutigkeit der Zuordnung führt.\r
2199 Wir wollen zunächst zeigen, daß das in der Frage\r
2200 charakterisierte Verfahren, angewandt auf irgend ein\r
2201 Einzelgesetz, der Zuordnung die Eindeutigkeit nimmt. Es\r
2202 seien etwa Messungen zum \name{Boile}schen Gesetz ausgeführt,\r
2203 und für das Produkt von Druck und Volumen eine Reihe\r
2204 von Messungsdaten gegeben, die für verschiedene Werte\r
2205 der beiden Veränderlichen aufgenommen sind. Wir wollen\r
2206 fordern, daß eine solche Beurteilung der Messungszahlen\r
2207 stattfindet, die mit einer fingierten Formel $p V^2 = \mathrm{konst.}$\r
2208 nicht in Widerspruch kommt, und gleichzeitig auch\r
2209 die für die Aufstellung der Messungsdaten benutzten speziellen\r
2210 physikalischen Gesetze nicht verletzt, also z.\,B. die\r
2211 \page{63}\r
2212 Relationen zwischen Druck und Quecksilberhöhe nicht zerstört\Footnote{e}\r
2213 {Eine solche Bestimmung muß hinzutreten, weil sonst die konsequente\r
2214 Verfolgung der Forderung zu einer Definition des Volumens führen\r
2215 würde, die unter Volumen die Quadratwurzel aus dem sonst benutzten\r
2216 Wert versteht. Das wäre keine Änderung der Gesetze, sondern nur der\r
2217 Bezeichnungsweise.}.\r
2218 Diese Interpretation der Messungszahlen ist deshalb\r
2219 möglich, weil die Zahlen wegen der Messungsfehler\r
2220 nicht genau gleich sind, und weil sie aus den unendlich\r
2221 vielen verschiedenen möglichen Werten der Variablen\r
2222 immer nur eine Auswahl bedeuten. Das normale Verfahren\r
2223 ist dabei derart, daß man die Zahlen, wenn ihre\r
2224 Abweichungen gering sind, als die durch Messungsfehler\r
2225 leicht variierten Werte einer Konstanten deutet, und daß\r
2226 man für die nicht gemessenen Zwischenwerte und auch\r
2227 noch für ein Stück über die Enden der Messungsreihe\r
2228 hinaus denselben Wert der Konstanten annimmt. Das ist\r
2229 die normale Induktion. Hält man aber an der Formel\r
2230 $p V^2 = \mathrm{konst.}$ dogmatisch fest und schließt jede widersprechende\r
2231 Induktion aus, so wird man die Messungszahlen\r
2232 anders deuten. Man nimmt etwa an, daß für die\r
2233 gemessenen Werte gerade Störungen in der Apparatur\r
2234 eingetreten sind, und indem man besonders widersprechende\r
2235 Werte einfach wegläßt, interpoliert und extrapoliert man\r
2236 die übrigen derart, daß eine mit steigendem Volumen\r
2237 fallende Kurve entsteht. Ein solches Verfahren ist allerdings\r
2238 \emph{möglich}, wenn es auch der üblichen wissenschaftlichen\r
2239 Methode widerspricht. Es führt nur nicht zu einer\r
2240 eindeutigen Zuordnung. Denn um eine Zuordnung als eindeutig\r
2241 zu konstatieren, muß wegen der stets auftretenden\r
2242 Messungsfehler eine Hypothese über die Streuung der Zahlwerte\r
2243 gemacht werden, und diese Hypothese fordert, daß\r
2244 man eine mittlere stetige Kurve durch die Messungszahlen\r
2245 \page{64}\r
2246 legt. Wenn also von einer eindeutigen Zuordnung bei der\r
2247 Ungenauigkeit jeder Meßapparatur überhaupt die Rede\r
2248 sein soll, muß an dem Prinzip der normalen Induktion\r
2249 festgehalten werden\litref{18}.\r
2251 Diese Verhältnisse werden aber nicht anders, wenn\r
2252 man die Untersuchung auf ein Zuordnungsprinzip erstreckt.\r
2253 Ist ein solches Erfahrungsmaterial zusammengetragen,\r
2254 daß seine induktive Deutung einem Zuordnungsprinzip\r
2255 widerspricht, so darf man deshalb nicht von der\r
2256 normalen Induktion abweichen. Auch in diesem Falle\r
2257 würde man damit die Eindeutigkeit der Zuordnung aufgeben,\r
2258 denn wenn diese Eindeutigkeit überhaupt konstatierbar\r
2259 sein soll, muß die wahrscheinlichkeitstheoretische\r
2260 Annahme über die Messungszahlen gemacht werden.\r
2261 Das Prinzip der normalen Induktion ist vor allen anderen\r
2262 Zuordnungsprinzipien dadurch ausgezeichnet, daß es selbst\r
2263 erst die Eindeutigkeit der Zuordnung definiert. Wenn\r
2264 also an der Eindeutigkeit festgehalten werden soll, so\r
2265 müssen eher alle anderen Zuordnungsprinzipien fallen als\r
2266 das Induktionsprinzip.\r
2268 Der \name{Kant}ische Beweis ist also falsch. Es ist durchaus\r
2269 möglich, einen Widerspruch der konstitutiven Prinzipien\r
2270 mit der Erfahrung festzustellen. Und da die Relativitätstheorie\r
2271 diesen Widerspruch mit aller Sicherheit der empirischen\r
2272 Physik nachgewiesen hat, dürfen wir ihre Antwort\r
2273 auf die \name{Kant}ische Hypothese der Zuordnungswillkür in\r
2274 folgenden Satz zusammenfassen: \emph{Es gibt Systeme von\r
2275 Zuordnungsprinzipien, die die Eindeutigkeit der\r
2276 Zuordnung unmöglich machen, also implizit\r
2277 widerspruchsvolle Systeme.} Wir bemerken nochmals,\r
2278 daß dieses Resultat nicht selbstverständlich ist,\r
2279 sondern erst durch den konsequenten Ausbau einer empirischen\r
2280 Physik möglich wurde. Hat man kein solches\r
2281 \page{65}\r
2282 Wissenschaftssystem, so ist die Willkür in der Deutung\r
2283 der wenigen unmittelbaren Erfahrungsresultate viel zu\r
2284 groß, als daß von einem Widerspruch zum Induktionsprinzip\r
2285 gesprochen werden könnte.\r
2287 Aber die Antwort der Relativitätstheorie hat noch eine\r
2288 ganz besondere Bedeutung. Diese Theorie hat nämlich\r
2289 gezeigt, daß gerade dasjenige Zuordnungssystem, welches\r
2290 durch \emph{Evidenz} ausgezeichnet ist, einen Widerspruch ergibt;\r
2291 und daß, wenn man diesen Widerspruch durch Verzicht\r
2292 auf eines der evidenten Prinzipien löst, sogleich durch\r
2293 Hinzutreten weiterer evidenter Prinzipien ein zweiter noch\r
2294 tieferer Widerspruch entsteht. Und das hat eine sehr\r
2295 weitgehende Konsequenz. Alle bisherigen Resultate der\r
2296 Physik sind mit dem evidenten System gewonnen. Wir\r
2297 fanden, daß dies den Widerspruch nicht ausschließt, daß\r
2298 er also mit Recht konstatiert werden kann -- aber wie\r
2299 sollen wir zu einem neuen System gelangen? Bei Einzelgesetzen\r
2300 ist das sehr leicht, denn man braucht dazu nur\r
2301 diejenigen Voraussetzungen zu ändern, in denen dieses\r
2302 Einzelgesetz enthalten war. Aber wir haben gesehen, daß\r
2303 Zuordnungsprinzipien in \emph{jedem} Gesetz enthalten sind,\r
2304 und wenn wir neue Zuordnungsprinzipien induktiv prüfen\r
2305 wollen, müßten wir also zuvor jedes benutzte physikalische\r
2306 Gesetz ändern. Denn das wäre in der Tat ein Widersinn,\r
2307 wenn wir neue Prinzipien mit Erfahrungen prüfen wollten,\r
2308 in denen die alten Prinzipien noch vorausgesetzt sind.\r
2309 Wollte man z.\,B. versuchsweise den Raum als vierdimensional\r
2310 annehmen, so müßte man bei der Prüfung dieser\r
2311 Theorie alle bisher benutzten Methoden der Längenmessung\r
2312 aufgeben, und sie durch eine mit der Vierdimensionalität\r
2313 vereinbare Messung ersetzen. Auch alle\r
2314 Gesetze über das Verhalten des benutzten Materials in\r
2315 der Meßapparatur, über die Geschwindigkeit des Lichts\r
2316 \page{66}\r
2317 usw. müßten aufgegeben werden. Ein solches Verfahren\r
2318 wäre aber \emph{technisch unmöglich}. Denn wir können\r
2319 die Physik heute nicht mehr von vorn anfangen.\r
2321 Wir sind also in einer Zwangslage. Wir geben zu, daß\r
2322 die bisherigen Prinzipien zu einem Widerspruch geführt\r
2323 haben, aber wir sehen uns nicht in der Lage, sie durch\r
2324 neue zu ersetzen.\r
2326 In dieser Zwangslage zeigt abermals die Relativitätstheorie\r
2327 den Weg. Denn sie hat nicht nur das alte Zuordnungssystem\r
2328 widerlegt, sondern auch ein neues aufgestellt;\r
2329 und das Verfahren, welches \name{Einstein} dabei benutzt hat,\r
2330 ist in der Tat eine glänzende Lösung dieses Problems.\r
2332 Der Widerspruch, der entsteht, wenn man mit dem\r
2333 alten Zuordnungsprinzip Erfahrungen gewinnt und damit\r
2334 ein neues Zuordnungsprinzip beweisen will, fällt unter\r
2335 einer Bedingung fort: wenn das alte Prinzip als eine\r
2336 Näherung für gewisse einfache Fälle angesehen werden\r
2337 kann. Da die Erfahrungen doch nur Näherungsgesetze\r
2338 sind, so dürfen sie mit Hilfe der alten Prinzipien aufgestellt\r
2339 werden; dies schließt nicht aus, daß die Gesamtheit\r
2340 der Erfahrungen induktiv ein allgemeineres Prinzip beweist.\r
2341 \emph{Es ist also logisch zulässig und technisch möglich,\r
2342 solche neuen Zuordnungsprinzipien auf induktivem\r
2343 Wege zu finden, die eine stetige Erweiterung\r
2344 der bisher benutzten Prinzipien darstellen.}\r
2345 Stetig nennen wir diese Verallgemeinerung, weil\r
2346 das neue Prinzip für gewisse näherungsweise verwirklichte\r
2347 Fälle mit einer der Näherung entsprechenden Genauigkeit\r
2348 in das alte Prinzip übergehen soll. Wir wollen dieses\r
2349 induktive Verfahren als \emph{Verfahren der stetigen Erweiterung\r
2350 bezeichnen}.\r
2352 Wir bemerken, daß dies der Weg ist, den die Relativitätstheorie\r
2353 ging. Als \name{Eötvös} die Gleichheit von\r
2354 \page{67}\r
2355 träger und schwerer Masse experimentell bestätigte, mußte\r
2356 er für die Auswertung seiner Beobachtungen die Geltung\r
2357 der euklidischen Geometrie in den Dimensionen seiner\r
2358 Drehwage voraussetzen. Trotzdem konnte das Resultat\r
2359 seiner Induktionen ein Beweis für die Gültigkeit der\r
2360 \name{Riemann}schen Geometrie in den Dimensionen der Himmelskörper\r
2361 werden. Die Korrektionen der Relativitätstheorie\r
2362 an der Längen- und Zeitmessung sind alle so bemessen,\r
2363 daß sie für die gewöhnlichen Experimentierbedingungen\r
2364 vernachlässigt werden können. Wenn z.\,B.\r
2365 der Astronom eine Uhr, mit der er Sternbeobachtungen\r
2366 aufnimmt, von einem Tisch auf den anderen legt, so\r
2367 braucht er deswegen noch nicht die \name{Einstein}sche Zeitkorrektion\r
2368 für bewegte Uhren einzuführen, und kann trotzdem\r
2369 mit dieser Uhr einen Standort des Merkurs feststellen,\r
2370 der eine Verschiebung des Perihels und damit einen Beweis\r
2371 für die Relativitätstheorie bedeutet. Wenn die Relativitätstheorie\r
2372 eine Krümmung der Lichtstrahlen im Gravitationsfeld\r
2373 der Sonne behauptet, so kann die Auswertung\r
2374 der Sternaufnahmen trotzdem die Lichtstrecke innerhalb\r
2375 des Fernrohrs als geradlinig voraussetzen und die Aberrationskorrektion\r
2376 nach der üblichen Methode berechnen.\r
2377 Und das gilt nicht nur für den Schluß von kleinen auf\r
2378 große Dimensionen. Wenn etwa die fortschreitende Theorie\r
2379 dazu kommt, für das Elektron eine starke Raumkrümmung\r
2380 innerhalb seines Kraftfelds zu behaupten, so ließe sich\r
2381 diese Krümmung indirekt mit Apparaten konstatieren,\r
2382 deren Abmessungen innerhalb der gewöhnlichen Größenordnungen\r
2383 liegen und darum als euklidisch angenommen\r
2384 werden können.\r
2386 Mir scheint, daß dieses Verfahren der stetigen Erweiterung\r
2387 den Kernpunkt für die Widerlegung der \name{Kant}ischen\r
2388 Aprioritätslehre darstellt. Denn es zeigt nicht nur\r
2389 \page{68}\r
2390 einen Weg, die alten Prinzipien zu widerlegen, sondern\r
2391 auch einen Weg, neue als berechtigt aufzustellen; und\r
2392 darum ist dieses Verfahren geeignet, nicht nur alle theoretischen,\r
2393 sondern auch alle praktischen Bedenken zu zerstreuen.\r
2395 Es muß in diesem Zusammenhange bemerkt werden,\r
2396 daß die von uns formulierte Hypothese der Zuordnungswillkür\r
2397 und ihre Widerlegung durch die Erfahrung \name{Kants}\r
2398 eigenen Gedanken nicht so fremd ist, wie es zuerst scheinen\r
2399 mag. \name{Kant} hatte seine Lehre vom Apriori auf die Möglichkeit\r
2400 der Erkenntnis basiert; aber er war sich wohl\r
2401 bewußt, daß er einen \emph{Beweis für diese Möglichkeit}\r
2402 nicht geben konnte. Er hielt es nicht für ausgeschlossen,\r
2403 daß \emph{Erkenntnis unmöglich} wäre, und sah es für einen\r
2404 großen Zufall an, daß die Natur gerade eine solche Einfachheit\r
2405 und Regelmäßigkeit besitzt, daß sie nach den\r
2406 Grundsätzen der menschlichen Vernunft geordnet werden\r
2407 kann. Die begrifflichen Schwierigkeiten, die ihm hier\r
2408 erwuchsen, hat er in der Kritik der Urteilskraft zum\r
2409 Gegenstand der Untersuchung gemacht. \glqq{}Der Verstand\r
2410 ist zwar apriori im Besitze allgemeiner Gesetze der Natur,\r
2411 ohne welche sie gar kein Gegenstand einer Erfahrung sein\r
2412 könnte, aber er bedarf doch auch überdem noch einer\r
2413 gewissen Ordnung der Natur \ldots{} Diese Zusammenstimmung\r
2414 der Natur zu unserem Erkenntnisvermögen wird\r
2415 von der Urteilskraft \ldots{} apriori vorausgesetzt, indem sie\r
2416 der \emph{Verstand zugleich objektiv als zufällig anerkennt}.\r
2417 \ldots{} Denn es läßt sich wohl denken, daß es für\r
2418 unseren Verstand unmöglich wäre, in der Natur eine faßliche\r
2419 Ordnung zu entdecken\litref{19}.\grqq{} Es erscheint befremdend,\r
2420 daß \name{Kant}, nach einer so klaren Einsicht in die Zufälligkeit\r
2421 der Anpassung von Natur und Vernunft, dennoch an\r
2422 seiner starren Theorie des Apriori festgehalten hat. Der\r
2423 \page{69}\r
2424 Fall, den er hier vorausgesehen hat, daß es nämlich dem\r
2425 Verstand unmöglich wird, mit seinem mitgebrachten\r
2426 System eine faßliche Ordnung in der Natur herzustellen,\r
2427 ist in der Tat eingetreten: die Relativitätstheorie hat den\r
2428 Nachweis erbracht, daß mit dem evidenten System der\r
2429 Vernunft eine eindeutige Ordnung der Erfahrung nicht\r
2430 mehr möglich ist. Aber während die Relativitätstheorie\r
2431 daraus den Schluß gezogen hat, daß man die konstitutiven\r
2432 Prinzipien ändern muß, glaubte \name{Kant}, daß damit jede\r
2433 Erkenntnis überhaupt aufhören würde; er hielt eine solche\r
2434 Änderung für unmöglich, weil wir nur soweit, als jene\r
2435 Zusammenstimmung von Natur und Vernunft stattfindet,\r
2436 \glqq{}mit dem Gebrauche unseres Verstandes in der Erfahrung\r
2437 fortkommen und Erkenntnis erwerben können\grqq{}. Erst das\r
2438 \name{Kant} noch unbekannte Verfahren der stetigen Erweiterung\r
2439 überwindet diese Schwierigkeit, und darum konnte sein\r
2440 starres Apriori erst mit der Entdeckung dieses Verfahrens\r
2441 durch die Physik widerlegt werden.\r
2443 Wir müssen dieser Auflösung der \name{Kant}ischen Aprioritätslehre\r
2444 noch einige allgemeine Bemerkungen hinzufügen.\r
2445 Es scheint uns der Fehler \name{Kants} zu sein, daß er, der mit\r
2446 der kritischen Frage den tiefsten Sinn aller Erkenntnistheorie\r
2447 aufgezeigt hatte, in ihrer Beantwortung zwei Absichten\r
2448 miteinander verwechselte. Wenn er die Bedingungen\r
2449 der Erkenntnis suchte, so mußte er die \emph{Erkenntnis}\r
2450 analysieren; aber was er analysierte, war die \emph{Vernunft}.\r
2451 Er mußte \emph{Axiome} suchen, anstatt \emph{Kategorien}. Es ist\r
2452 ja richtig, daß die Art der Erkenntnis durch die Vernunft\r
2453 bestimmt ist; aber worin der Einfluß der Vernunft besteht,\r
2454 kann sich immer nur wieder in der Erkenntnis ausdrücken,\r
2455 nicht in der Vernunft. Es kann auch gar keine\r
2456 logische Analyse der Vernunft geben, denn die Vernunft\r
2457 ist kein System fertiger Sätze, sondern ein Vermögen, das\r
2458 \page{70}\r
2459 erst in der Anwendung auf konkrete Probleme fruchtbar\r
2460 wird. So wird er durch seine Methode immer wieder auf\r
2461 das Kriterium der Evidenz zurückgewiesen. In seiner\r
2462 Raumphilosophie macht er davon Gebrauch und beruft\r
2463 sich auf die Evidenz der geometrischen Axiome; aber auch\r
2464 für die Geltung der Kategorien hat er im wesentlichen\r
2465 keine anderen Argumente. Zwar versucht er sie als notwendig\r
2466 für die Erkenntnis hinzustellen. Aber daß gerade\r
2467 die von ihm genannten Kategorien notwendig sind, kann\r
2468 er nur dadurch begründen, daß er sie als in unserem\r
2469 vernünftigen Denken enthalten aufweist, daß er sie durch\r
2470 eine Art Anschauung der Begriffe konstatiert. Denn die\r
2471 logische Gliederung der Urteile, der die Kategorientafel\r
2472 entstammt, ist nicht in unmittelbarer Berührung mit dem\r
2473 Erkenntnisvorgang entstanden, sondern bedeutet ein\r
2474 spekulatives Ordnungsschema des Verstandes, das kraft\r
2475 seiner Evidenz für den Erkenntnisvorgang übernommen\r
2476 wird. So erreicht er mit der Aufstellung seiner aprioren\r
2477 Prinzipien im Grunde nichts anderes als eine Heiligsprechung\r
2478 des \glqq{}gesunden Menschenverstandes\grqq{}, jener\r
2479 naiven Form der Vernunftbejahung, die er selbst gelegentlich\r
2480 mit so nüchtern-geistvollen Worten abzutun weiß.\r
2482 In diesem Verfahren \name{Kants} scheint uns sein methodischer\r
2483 Fehler zu liegen, der es bewirkt hat, daß das großartig\r
2484 angelegte System der kritischen Philosophie nicht\r
2485 zu Resultaten geführt hat, die vor der vorwärtseilenden\r
2486 Naturwissenschaft Bestand haben. So leuchtend die\r
2487 kritische Frage: Wie ist Erkenntnis möglich? vor aller\r
2488 Erkenntnistheorie steht -- sie kann nicht eher zu gültigen\r
2489 Antworten führen, als bis die Methode ihrer Beantwortung\r
2490 von der Enge einer psychologisch-spekulativen Einsicht\r
2491 befreit ist.\r
2496 \chapter{VII. Beantwortung der kritischen Frage durch die\r
2497 wissenschaftsanalytische Methode.}\r
2498 \page{71}\r
2500 Die Widerlegung des positiven Teils der \name{Kant}ischen\r
2501 Erkenntnistheorie enthebt uns nicht der Verpflichtung,\r
2502 den kritischen Teil dieser Lehre in seiner grundsätzlichen\r
2503 Gestalt wieder aufzunehmen. Denn wir hatten gefunden,\r
2504 daß die Frage: Wie ist Erkenntnis möglich? unabhängig\r
2505 von der \name{Kant}ischen Antwort ihren guten Sinn hat, und\r
2506 wir konnten ihr innerhalb unseres Begriffskreises eine\r
2507 präzise Form geben. Es ist nach der Ablehnung der\r
2508 \name{Kant}ischen Antwort jetzt unsere Aufgabe, den Weg zur\r
2509 Beantwortung der kritischen Frage aufzuzeigen: Mit\r
2510 welchen Zuordnungsprinzipien ist eine eindeutige Zuordnung\r
2511 von Gleichungen zur Wirklichkeit möglich?\r
2513 Wir sehen diesen Weg in der Einführung der \emph{wissenschaftsanalytischen\r
2514 Methode} in die Erkenntnistheorie.\r
2515 Die von den positiven Wissenschaften in stetem\r
2516 Zusammenhang mit der Erfahrung gefundenen Resultate\r
2517 setzen Prinzipien voraus, deren Aufdeckung durch logische\r
2518 Analyse eine Aufgabe der Philosophie ist. Durch den Ausbau\r
2519 der Axiomatik, die seit \name{Hilberts} Axiomen der Geometrie\r
2520 den Weg zur Verwendung der modernen mathematisch-logischen\r
2521 Begriffe gefunden hat, ist hier schon wesentliche\r
2522 Arbeit geleistet worden. Und man muß sich darüber klar\r
2523 werden, daß es auch für die Erkenntnistheorie kein anderes\r
2524 Verfahren gibt, \emph{als festzustellen, welches die in der\r
2525 Erkenntnis tatsächlich angewandten Prinzipien\r
2526 \page{72}\r
2527 sind}. Der Versuch \name{Kants}, diese Prinzipien aus der Vernunft\r
2528 zu entnehmen, muß als gescheitert betrachtet\r
2529 werden; an Stelle seiner deduktiven Methode muß eine\r
2530 induktive Methode treten. Induktiv ist sie insofern, als\r
2531 sie sich lediglich an das positiv vorliegende Erkenntnismaterial\r
2532 hält; aber ihre analysierende Methode ist natürlich\r
2533 nicht mit dem Induktionsschluß zu vergleichen. Um\r
2534 Verwechslungen zu vermeiden, wählen wir deshalb den\r
2535 Namen: wissenschaftsanalytische Methode.\r
2537 Für ein Spezialgebiet der Physik, für die Wahrscheinlichkeitsrechnung,\r
2538 konnte eine derartige Analyse vom Verfasser\r
2539 bereits durchgeführt werden\litref{20}. Sie führte zur Aufdeckung\r
2540 eines Axioms, das grundsätzliche Bedeutung für\r
2541 die physikalische Erkenntnis besitzt, und als Prinzip der\r
2542 Verteilung neben das Kausalitätsgesetz als Prinzip der\r
2543 Verknüpfung gesetzt wurde. Für die Relativitätstheorie\r
2544 ist diese Arbeit im wesentlichen bereits von ihrem Schöpfer\r
2545 geleistet worden. Denn \name{Einstein} hat bei allen seinen\r
2546 Arbeiten die Prinzipien an die Spitze gestellt, aus denen\r
2547 er seine Theorie deduziert. Allerdings ist der Gesichtspunkt,\r
2548 unter dem der Physiker seine Prinzipien aufstellt,\r
2549 noch verschieden von dem Gesichtspunkt des Philosophen.\r
2550 Der Physiker will möglichst einfache und umfassende Annahmen\r
2551 an die Spitze stellen, der Philosoph aber will\r
2552 diese Annahmen ordnen und gliedern in spezielle und\r
2553 allgemeine, in Verknüpfungs- und Zuordnungsprinzipien.\r
2554 Insofern ist auch für die Relativitätstheorie noch eine\r
2555 Arbeit zu leisten; als ein Beitrag dazu mögen die Abschnitte\r
2556 II und III dieser Untersuchung aufgefaßt werden.\r
2558 Besonders zu beachten ist hier aber der Unterschied\r
2559 zwischen Physik und Mathematik. Der Mathematik ist\r
2560 die Anwendbarkeit ihrer Sätze auf Dinge der Wirklichkeit\r
2561 gleichgültig, und ihre Axiome enthalten lediglich ein\r
2562 \page{73}\r
2563 System von Regeln nach dem ihre Begriffe unter sich\r
2564 verknüpft werden. Die rein mathematische Axiomatik\r
2565 führt überhaupt nicht auf Prinzipien einer Theorie der\r
2566 \emph{Naturerkenntnis}. Darum konnte auch die Axiomatik\r
2567 der Geometrie gar nichts über das erkenntnistheoretische\r
2568 Raumproblem aussagen. Erst eine physikalische Theorie\r
2569 konnte die Geltungsfrage des euklidischen Raumes beantworten,\r
2570 und gleichzeitig die dem Raum der Naturdinge\r
2571 zugrunde liegenden erkenntnistheoretischen Prinzipien aufdecken.\r
2572 Ganz falsch ist es aber, wenn man daraus, wie\r
2573 z.\,B. \name{Weyl} und auch \name{Haas}\litref{21}, wieder den Schluß ziehen\r
2574 will, daß Mathematik und Physik zu einer einzigen Disziplin\r
2575 zusammenwachsen. Die Frage der \emph{Geltung} von Axiomen\r
2576 für die Wirklichkeit und die Frage nach den möglichen\r
2577 Axiomen sind absolut zu trennen. Das ist ja gerade das\r
2578 Verdienst der Relativitätstheorie, daß sie die Frage der\r
2579 \emph{Geltung} der Geometrie aus der Mathematik fortgenommen\r
2580 und der Physik überwiesen hat. Wenn man jetzt\r
2581 aus einer allgemeinen Geometrie wieder Sätze aufstellt\r
2582 und behauptet, daß sie Grundlage der Physik sein müßten,\r
2583 so begeht man nur den alten Fehler von neuem. Dieser\r
2584 Einwand muß der \name{Weyl}schen Verallgemeinerung der\r
2585 Relativitätstheorie\litref{22} entgegengehalten werden, bei der\r
2586 der Begriff einer feststehenden Länge für einen unendlich\r
2587 kleinen Maßstab überhaupt aufgegeben wird. Allerdings\r
2588 ist eine solche Verallgemeinerung möglich, aber ob sie mit\r
2589 der Wirklichkeit verträglich ist, hängt nicht von ihrer\r
2590 Bedeutung für eine allgemeine Nahegeometrie ab. Darum\r
2591 muß die \name{Weyl}sche Verallgemeinerung vom Standpunkt\r
2592 einer physikalischen Theorie betrachtet werden, und ihre\r
2593 Kritik erfährt sie allein durch die Erfahrung. Die Physik\r
2594 ist eben keine \glqq{}geometrische Notwendigkeit\grqq{}; wer das\r
2595 behauptet, kehrt auf den vorkantischen Standpunkt\r
2596 \page{74}\r
2597 zurück, wo sie eine vernunftgegebene Notwendigkeit war.\r
2598 Und die Prinzipien der Physik kann ebensowenig eine\r
2599 allgemein-geometrische Überlegung lehren, wie sie die\r
2600 \name{Kant}ische Analyse der Vernunft lehren konnte, sondern\r
2601 das kann allein eine Analyse der physikalischen Erkenntnis.\r
2603 Der \emph{Begriff des Apriori} erfährt durch unsere\r
2604 Überlegungen eine tiefgehende Wandlung. Seine eine Bedeutung,\r
2605 daß der apriorische Satz unabhängig von jeder\r
2606 Erfahrung ewig gelten soll, können wir nach der Ablehnung\r
2607 der \name{Kant}ischen Vernunftanalyse nicht mehr aufrecht erhalten.\r
2608 Um so wichtiger wird dafür seine andere Bedeutung:\r
2609 daß die aprioren Prinzipien die Erfahrungswelt erst\r
2610 konstituieren. In der Tat kann es kein einziges physikalisches\r
2611 Urteil geben, das über den Stand der bloßen Wahrnehmung\r
2612 hinausgeht, wenn nicht gewisse Voraussetzungen\r
2613 über die Darstellbarkeit des Gegenstandes durch eine\r
2614 Raum-Zeit-Mannigfaltigkeit und seinen funktionellen Zusammenhang\r
2615 mit anderen Gegenständen gemacht werden.\r
2616 Aber daraus darf nicht geschlossen werden, daß die Form\r
2617 dieser Prinzipien von vornherein feststeht und von der\r
2618 Erfahrung unabhängig sei. Unsere Antwort auf die kritische\r
2619 Frage lautet daher: allerdings gibt es apriore Prinzipien,\r
2620 welche die Zuordnung des Erkenntnisvorgangs erst\r
2621 eindeutig machen. Aber es ist uns versagt, diese Prinzipien\r
2622 aus einem immanenten Schema zu deduzieren. Es bleibt\r
2623 uns nichts, als sie in allmählicher wissenschaftsanalytischer\r
2624 Arbeit aufzudecken, und auf die Frage, wie lange\r
2625 ihre spezielle Form Geltung besitzt, zu verzichten.\r
2627 Denn eine spezielle Formulierung ist es immer nur,\r
2628 was wir auf diese Weise gewinnen. Wir können sofort,\r
2629 wenn wir ein physikalisch benutztes Zuordnungsprinzip\r
2630 aufgedeckt haben, ein allgemeineres angeben, von dem es\r
2631 nur einen Spezialfall bedeutet. Zwar könnte man den\r
2632 \page{75}\r
2633 Versuch machen, nun das allgemeinere Prinzip apriori im alten\r
2634 Sinne zu nennen und wenigstens von ihm ewige Geltung\r
2635 zu behaupten. Aber das scheitert daran, daß auch für das\r
2636 allgemeinere Prinzip wieder ein übergeordnetes angegeben\r
2637 werden kann, und daß diese Reihe nach oben keine Grenze\r
2638 besitzt. Wir bemerken hier eine Gefahr, der die Erkenntnistheorie\r
2639 leicht verfällt. Als man die dem \name{Kant}ischen\r
2640 Substanzerhaltungsprinzip widersprechende Veränderung\r
2641 der Masse mit der Geschwindigkeit entdeckt hatte, war\r
2642 es leicht zu sagen: die Masse war eben noch nicht die\r
2643 richtige Substanz, und man muß das Prinzip festhalten\r
2644 und eine neue Konstante suchen. Das war eine Verallgemeinerung,\r
2645 denn \name{Kant} hatte gewiß mit der Substanz\r
2646 die Masse gemeint\litref{23}. Aber man ist damit keineswegs\r
2647 sicher, daß man nicht eines Tages auch dieses Prinzip\r
2648 wieder aufgeben muß. Stellt sich etwa heraus, daß es\r
2649 eine im ursprünglichen Sinne als das identische Ding\r
2650 gemeinte Substanz nicht gibt, die sich erhält -- und man\r
2651 ist heute im Begriffe, die Bewegung eines Masseteilchens\r
2652 als Wanderung eines Energieknotens ähnlich der Wanderung\r
2653 einer Wasserwelle aufzufassen, so daß man überhaupt\r
2654 nicht von einem substanziell identischen Masseteilchen\r
2655 reden kann -- so flüchtet man sich in die noch allgemeinere\r
2656 Behauptung: es muß für jeden Vorgang eine Zahl geben,\r
2657 die konstant bleibt. Damit ist allerdings die Behauptung\r
2658 schon ziemlich leer geworden, denn daß die physikalischen\r
2659 Gleichungen Konstanten enthalten, hat mit dem alten\r
2660 \name{Kant}ischen Substanzprinzip nur noch sehr wenig zu tun.\r
2661 Trotzdem ist man auch mit dieser Formulierung vor\r
2662 weiteren widersprechenden Erfahrungen nicht sicher. Denn\r
2663 wenn z.\,B. die sämtlichen Konstanten gegenüber Transformationen\r
2664 der Koordinaten nicht invariant sind, muß\r
2665 man den Gedanken schon wieder verallgemeinern. Man\r
2666 \page{76}\r
2667 erkennt, daß man mit diesem Verfahren nicht zu präzisierten\r
2668 klaren Prinzipien kommt; will man mit dem Prinzip\r
2669 auch einen Inhalt verbinden, so muß man sich \emph{mit der\r
2670 jeweilig hinreichend allgemeinsten Formulierung\r
2671 begnügen}. So wollen wir, nach der Niederlage der \name{Kant}ischen\r
2672 Raumtheorie vor der fortschreitenden Physik, nicht\r
2673 auf die Warte der nächsten Verallgemeinerung steigen und\r
2674 etwa behaupten, daß jede physikalische Raumanschauung\r
2675 unter allen Umständen wenigstens die \name{Riemann}sche\r
2676 Ebenheit in den kleinsten Teilen behalten muß, und daß\r
2677 dies nun eine wirklich ewig gültige Aussage sei. Nichts\r
2678 könnte unsere Enkel davor schützen, daß sie eines Tags\r
2679 vor einer Physik stehen, die zu einem Linienelement vom\r
2680 vierten Grade übergegangen ist. Die \name{Weyl}sche Theorie\r
2681 stellt bereits eine mögliche Erweiterung der \name{Einstein}schen\r
2682 Raumanschauung dar, die, wenn auch physikalisch\r
2683 noch nicht bewiesen, doch auch keineswegs unmöglich ist.\r
2684 Aber auch diese Erweiterung stellt nicht etwa die denkbar\r
2685 allgemeinste Nahegeometrie dar. Man kann hier die Stufenfolge\r
2686 der Erweiterungen sehr schön verfolgen. In der\r
2687 euklidischen Geometrie läßt sich ein Vektor längs einer\r
2688 geschlossenen Kurve parallel mit sich verschieben, so daß\r
2689 er bei der Rückkehr in den Anfangspunkt gleiche Richtung\r
2690 und gleiche Länge hat. In der \name{Einstein-Riemann}schen\r
2691 Geometrie hat er nach der Rückkehr nur noch gleiche\r
2692 Länge, aber nicht mehr die alte Richtung. In der \name{Weyl}schen\r
2693 Theorie hat er dann auch nicht mehr die alte Länge.\r
2694 Man kann aber diese Verallgemeinerung fortsetzen. Reduziert\r
2695 man die geschlossene Kurve auf einen unendlich\r
2696 kleinen Kreis, so verschwinden die Änderungen. Die\r
2697 nächste Stufe der Verallgemeinerung wäre die, daß auch\r
2698 bei der Drehung um sich selbst der Vektor bereits seine Länge\r
2699 geändert hat. Es gibt eben keine allgemeinste Geometrie.\r
2700 \page{77}\r
2702 Auch für das Kausalprinzip können wir keine ewige\r
2703 Gültigkeit voraussagen. Wir hatten oben als einen wesentlichen\r
2704 Inhalt dieses Prinzips genannt, daß die Koordinaten\r
2705 in den physikalischen Gleichungen nicht explizit auftreten,\r
2706 daß also gleiche Ursachen an einem anderen Raum-Zeitpunkt\r
2707 dieselbe Wirkung erzeugen. Obgleich diese\r
2708 Eigentümlichkeit durch die Relativitätstheorie um so gesicherter\r
2709 erscheint, weil diese Theorie den Koordinaten\r
2710 allen physikalischen Charakter als realer Dinge genommen\r
2711 hat, ist es möglich, daß eine allgemeinere Relativitätstheorie\r
2712 sie wieder aufgibt. Z.\,B. ist in der \name{Weyl}schen\r
2713 Verallgemeinerung die räumliche Länge und die zeitliche\r
2714 Dauer explizit von den Koordinaten abhängig. Trotzdem\r
2715 ließe sich auch hier ein Weg angeben, diese Abhängigkeit\r
2716 nach dem Verfahren der stetigen Erweiterung zu konstatieren.\r
2717 Nach der \name{Weyl}schen Theorie ist die Frequenz\r
2718 einer Uhr von ihrer Vorgeschichte abhängig. Nimmt man\r
2719 aber im Sinne einer Wahrscheinlichkeitshypothese an, daß\r
2720 sich diese Einflüsse im Durchschnitt ausgleichen, so lassen\r
2721 sich die bisherigen Erfahrungen, nach denen z.\,B. die\r
2722 Frequenz einer Spektrallinie bei sonst gleichen Umständen\r
2723 auf allen Himmelskörpern gleich ist, als Näherungen\r
2724 erklären. Umgekehrt ließen sich mit Hilfe dieses Näherungsgesetzes\r
2725 solche Fälle nachweisen, wo die \name{Weyl}sche\r
2726 Theorie einen deutlich bemerkbaren Unterschied erzeugt.\r
2728 Auch für das vom Verfasser aufgedeckte Prinzip der\r
2729 Wahrscheinlichkeitsfunktion ließe sich eine Verallgemeinerung\r
2730 denken, in der dieses Prinzip als Näherung erscheint.\r
2731 Das Prinzip sagt, daß die Schwankungen einer physikalischen\r
2732 Größe, die durch den Einfluß der stets vorhandenen\r
2733 kleinen störenden Ursachen entstehen, so verteilt sind,\r
2734 daß die Größenwerte sich einer \emph{stetigen} Häufigkeitsfunktion\r
2735 einfügen. Würde man aber z.\,B. die\r
2736 \page{78}\r
2737 Quantentheorie soweit ausbilden, daß man sagt, jede physikalische\r
2738 Größe kann nur Werte annehmen, die ein ganzes Vielfaches\r
2739 einer elementaren Einheit sind, so würde, falls diese\r
2740 Einheit nur klein ist, die stetige Verteilung der Größenwerte\r
2741 für die Dimensionen unserer Meßinstrumente immer\r
2742 noch mit großer Näherung gelten\litref{24}. Wir wollen uns aber\r
2743 hüten, diese Verallgemeinerung hier vorschnell als zutreffend\r
2744 anzunehmen. Die fortschreitende Wissenschaft\r
2745 wird allein zeigen können, in welcher \emph{Richtung} sich die\r
2746 Verallgemeinerung zu bewegen hat, und erst dadurch das\r
2747 allgemeinere Prinzip vor der Leerheit schützen. Für alle\r
2748 denkbaren Zuordnungsprinzipien gilt der Satz: Zu jedem\r
2749 Prinzip, wie es auch formuliert sein möge, läßt sich ein\r
2750 allgemeineres angeben, für welches das erste einen Spezialfall\r
2751 bedeutet. Dann ist aber nach dem früher geschilderten\r
2752 Verfahren der stetigen Erweiterung, wobei die speziellere\r
2753 Formulierung als Näherung vorausgesetzt wird, eine\r
2754 Prüfung durch die Erfahrung möglich; und über den Ausfall\r
2755 dieser Prüfung läßt sich nichts vorher sagen.\r
2757 Man könnte noch folgenden Weg zur Rettung einer\r
2758 Aprioritätstheorie im alten Sinne versuchen. Da jede\r
2759 spezielle Formulierung der Zuordnungsprinzipien durch die\r
2760 Erfahrungswissenschaft überholt werden kann, verzichten\r
2761 wir auf den Versuch einer allgemeinsten Formulierung.\r
2762 Aber \emph{daß} es Prinzipien geben muß, die die eindeutige\r
2763 Zuordnung erst definieren, bleibt doch eine Tatsache, und\r
2764 diese Tatsache wird ewig gelten und könnte apriori im\r
2765 alten Sinne heißen. Ist dies nicht etwa der tiefste Sinn der\r
2766 \name{Kant}ischen Philosophie?\r
2768 Wir haben, wenn wir dies behaupten, bereits wieder\r
2769 eine Voraussetzung gemacht, die wir gar nicht beweisen\r
2770 können: nämlich daß die \emph{eindeutige} Zuordnung immer\r
2771 möglich sein wird. Woher stammt denn die Definition\r
2772 \page{79}\r
2773 der Erkenntnis als \emph{eindeutiger} Zuordnung? Aus einer\r
2774 Analyse der bisherigen Erkenntnis. Aber gar nichts kann\r
2775 uns davor bewahren, daß wir eines Tags vor Erfahrungen\r
2776 stehen, die die eindeutige Zuordnung unmöglich machen;\r
2777 genau so, wie uns heute Erfahrungen zeigen, daß wir mit\r
2778 dem euklidischen Raum nicht mehr durchkommen. Die\r
2779 Eindeutigkeitsforderung hat einen ganz bestimmten physikalischen\r
2780 Sinn. Sie besagt nämlich, daß es Konstanten\r
2781 in der Natur gibt; indem wir diese auf mehrere Weisen\r
2782 messen, konstatieren wir die Eindeutigkeit. Jede physikalische\r
2783 Zustandsgröße können wir als Konstante für eine\r
2784 Klasse von Fällen betrachten, und jede Konstante als eine\r
2785 variable Zustandsgröße für eine andere Klasse\litref{25}. Aber\r
2786 woher wissen wir, daß es Konstanten gibt? Zwar ist es\r
2787 sehr bequem, mit Gleichungen zu rechnen, in denen gewisse\r
2788 Größen als Konstanten betrachtet werden dürfen, und\r
2789 dieses Verfahren hängt sicherlich mit der Eigenart der\r
2790 menschlichen Vernunft zusammen, die dadurch zu einem\r
2791 geregelten System kommt. Aber aus all dem folgt nicht,\r
2792 daß es immer so gehen wird. Setzen wir etwa, daß jede\r
2793 physikalische Konstante die Form hat: $C + k \alpha$, wo $\alpha$\r
2794 sehr klein und $k$ eine ganze Zahl ist; fügen wir dem noch\r
2795 die Wahrscheinlichkeitshypothese hinzu, daß $k$ meistens\r
2796 klein ist, vielleicht zwischen 1 und 10 liegt. Für Konstanten\r
2797 der gewöhnlichen Größenordnung wäre dann das Zusatzglied\r
2798 sehr klein, und die bisherige Auffassung bliebe eine\r
2799 gute Näherung; aber für sehr kleine Konstanten, z.\,B.\r
2800 in der Größenordnung der Elektronen, könnten wir die\r
2801 Eindeutigkeit nicht mehr behaupten. Konstatieren ließe\r
2802 sich diese Mehrdeutigkeit trotzdem, und zwar nach dem\r
2803 Verfahren der stetigen Erweiterung; denn man brauchte\r
2804 dazu nur Messungen zu benutzen, die mit Konstanten der\r
2805 gewöhnlichen Größenordnung ausgeführt sind, in denen\r
2806 \page{80}\r
2807 also das alte Gesetz näherungsweise gilt. Bei einer solchen\r
2808 Sachlage könnte man von einer durchgängigen Eindeutigkeit\r
2809 der Zuordnung nicht mehr reden, nur noch von einer\r
2810 näherungsweisen Eindeutigkeit für gewisse Fälle. Auch\r
2811 dadurch, daß man den neuen Ausdruck $C + k \alpha$ einführt,\r
2812 wird die Eindeutigkeit nicht wieder hergestellt. Denn wir\r
2813 hatten oben (Abschnitt IV) als Sinn der Eindeutigkeitsforderung\r
2814 angegeben, daß bei Bestimmung aus verschiedenen\r
2815 Erfahrungsdaten die untersuchte Größe denselben\r
2816 Wert haben muß; anders konnten wir die Eindeutigkeit\r
2817 nicht definieren, weil dies die einzige Form ist, in der\r
2818 sie konstatiert werden kann. In dem Ausdruck $C + k \alpha$\r
2819 ist aber die Größe $k$ ganz unabhängig von physikalischen\r
2820 Faktoren. Darum können wir die Größe $C + k \alpha$ niemals\r
2821 aus theoretischen Überlegungen und anderen Erfahrungsdaten\r
2822 vorher berechnen, wir können sie nur für jeden\r
2823 Einzelfall nachträglich aus der Beobachtung bestimmen.\r
2824 Da sie also nie als Schnittpunkt zweier Überlegungsketten\r
2825 erscheint, ist damit der Sinn der Eindeutigkeit aufgegeben.\r
2826 Wir hätten, da $k$ auch von den Koordinaten unabhängig\r
2827 sein soll, den Fall vor uns, daß für zwei in allen physikalischen\r
2828 Faktoren gleiche Vorgänge an demselben Orte zu\r
2829 derselben Zeit (dies ist durch kleine Raum-Zeit-Abstände\r
2830 näherungsweise zu verwirklichen), die physikalische Größe\r
2831 $C + k \alpha$ ganz verschiedene Werte annimmt. Unsere Annahme\r
2832 bedeutet also nicht etwa die Einführung einer\r
2833 \glqq{}individuellen Kausalität\grqq{}, wie wir sie oben beschrieben\r
2834 haben und wie sie z.\,B. \name{Schlick}\litref{26} als möglich annimmt,\r
2835 bei der die gleiche Ursache an einem andern Raum-Zeitpunkt\r
2836 eine andere Wirkung auslöst, sondern einen wirklichen\r
2837 Verzicht auf die Eindeutigkeit der Zuordnung. Trotzdem\r
2838 ist dies immer noch eine Zuordnung, die durchgeführt\r
2839 werden kann. Sie stellt die nächste Erweiterungsstufe des\r
2840 \page{81}\r
2841 Begriffs der eindeutigen Zuordnung dar, verhält sich zu\r
2842 dieser etwa wie der \name{Riemann}sche Raum zum euklidischen;\r
2843 und darum ist ihre Einführung in den Erkenntnisbegriff\r
2844 nach dem Verfahren der stetigen Erweiterung\r
2845 durchaus möglich. Erkenntnis heißt dann eben nicht mehr\r
2846 eindeutige Zuordnung, sondern etwas Allgemeineres. Sie\r
2847 verliert auch ihren praktischen Wert nicht, denn wenn\r
2848 z.\,B. derartige mehrdeutige Konstanten nur bei Einzelgrößen\r
2849 in statistischen Vorgängen auftreten, lassen sich damit\r
2850 sehr exakte Gesetze für den Gesamtvorgang aufstellen.\r
2851 Auch braucht uns die Rücksicht auf praktische Möglichkeiten\r
2852 bei diesen theoretischen Erörterungen nicht zu\r
2853 stören, denn wenn die Resultate erst einmal theoretisch\r
2854 sichergestellt sind, werden sich immer Wege zu ihrer\r
2855 praktischen Verwertung finden lassen.\r
2857 \tb\r
2859 Vielleicht stehen wir einer derartigen Erweiterung gar\r
2860 nicht so fern, wie es scheinen mag. Wir haben schon\r
2861 früher erwähnt, daß die Eindeutigkeit der Zuordnung gar\r
2862 nicht \emph{konstatiert} werden kann; sie ist selbst eine begriffliche\r
2863 Fiktion, die nur näherungsweise realisiert wird.\r
2864 Es muß eine Wahrscheinlichkeitshypothese als Zuordnungsprinzip\r
2865 hinzutreten; diese definiert erst, wann die Messungszahlen\r
2866 als Werte derselben Größe anzusehen sind, bestimmt\r
2867 also erst das, was physikalisch als Eindeutigkeit benutzt\r
2868 wird. Wenn aber doch schon eine Wahrscheinlichkeitshypothese\r
2869 dazu benutzt werden muß, dann kann sie auch\r
2870 eine andere Form haben, als gerade die Eindeutigkeit zu\r
2871 definieren. Wir mußten deshalb für die geschilderte Erweiterung\r
2872 des Konstantenbegriffs eine Wahrscheinlichkeitsannahme\r
2873 hinzunehmen; diese trägt an Stelle des Eindeutigkeitsbegriffs\r
2874 die Bestimmtheit in die Definition\r
2875 hinein. Vielleicht liegen in gewissen Annahmen der\r
2876 \page{82}\r
2877 Quantentheorie bereits die Ansätze zu einer solchen Erweiterung\r
2878 des Zuordnungsbegriffs\litref{27}.\r
2880 Wir haben für den Beweisgang, der zur Ablehnung der\r
2881 \name{Kant}ischen Hypothese der Zuordnungswillkür führte,\r
2882 den Begriff der eindeutigen Zuordnung benutzen müssen.\r
2883 Aber wenn wir ihn jetzt selbst in Frage stellen, so verlieren\r
2884 deshalb unsere Überlegungen noch nicht die Gültigkeit.\r
2885 Denn vorläufig \emph{gilt} dieser  Begriff, und wir können\r
2886 nichts anderes tun, als die Prinzipien der bisherigen Erkenntnis\r
2887 benutzen. Auch fürchten wir uns nicht vor der\r
2888 nächsten Erweiterung dieses Begriffs, denn wir wissen,\r
2889 daß diese \emph{stetig} erfolgen muß, und darum wird der alte\r
2890 Begriff als Näherung weiter gelten und einen hinreichenden\r
2891 Beweis unserer Ansichten immer noch vollziehen. Außerdem\r
2892 haben wir für unseren Beweis nicht unmittelbar den\r
2893 Eindeutigkeitsbegriff, sondern bereits seine Definiertheit\r
2894 durch eine Wahrscheinlichkeitsfunktion benutzt; es ist\r
2895 leicht einzusehen, daß sich unser Beweis mit einer materiell\r
2896 anderen Wahrscheinlichkeitsannahme ebenso führen ließe.\r
2897 Freilich kann die Methode der stetigen Erweiterung schließlich\r
2898 zu recht entfernten Prinzipien führen und die näherungsweise\r
2899 Geltung unseres Beweises in Frage ziehen --\r
2900 aber wir sind auch weit davon entfernt, zu behaupten,\r
2901 daß \emph{unsere} Resultate \emph{nun ewig} gelten sollen, nachdem\r
2902 wir soeben alle erkenntnistheoretischen Aussagen als induktiv\r
2903 nachgewiesen haben.\r
2905 Geben wir also die Eindeutigkeit als absolute Forderung\r
2906 auf und nennen sie ebenso ein Zuordnungsprinzip wie\r
2907 alle anderen, das durch die Analyse des Erkenntnisbegriffs\r
2908 gewonnen und durch die Möglichkeit der Erkenntnis\r
2909 induktiv bestätigt wird. Dann bleibt noch die Frage: Ist\r
2910 nicht der Begriff der \emph{Zuordnung} überhaupt jenes allgemeinste\r
2911 Prinzip, das von der Erfahrung unberührt vor\r
2912 aller Erkenntnis steht?\r
2913 \page{83}\r
2915 Diese Frage verschiebt das Problem nur von den\r
2916 mathematisch klaren Begriffen in die weniger deutlichen.\r
2917 Es liegt in der Begrenztheit unseres Sprachschatzes begründet,\r
2918 daß wir zur Schilderung des Erkenntnisvorgangs\r
2919 den Begriff der Zuordnung einführten; wir benutzten damit\r
2920 eine mengentheoretische Analogie. Vorläufig scheint uns\r
2921 Zuordnung der allgemeinste Begriff zu sein, der das Verhältnis\r
2922 zwischen Begriffen und Wirklichkeit beschreibt.\r
2923 Es ist aber durchaus möglich, daß eines Tags für dies\r
2924 Verhältnis ein allgemeinerer Begriff gefunden wird, für den\r
2925 unser Zuordnungsbegriff nur eine Spezialisierung bedeutet.\r
2926 \emph{Es gibt keine allgemeinsten Begriffe}.\r
2928 Man muß sich daran gewöhnen, daß erkenntnistheoretische\r
2929 Aussagen auch dann einen guten Sinn haben, wenn\r
2930 sie keine Prophezeihungen für die Ewigkeit bedeuten. Alle\r
2931 Aussagen über eine Zeitdauer tragen induktiven Charakter.\r
2932 Allerdings will jeder wissenschaftliche Satz eine Geltung\r
2933 nicht nur für die Gegenwart, sondern auch noch für die\r
2934 zukünftigen Erfahrungen beanspruchen. Aber das ist\r
2935 nur in dem Sinne möglich, wie man eine Kurve über das\r
2936 Ende einer gemessenen Punktreihe hinaus extrapoliert.\r
2937 Die Geltung ins Endlose zu verlängern, wäre sinnlos.\r
2939 Wir müssen hier eine grundsätzliche Bemerkung zu\r
2940 unserer Auffassung der Erkenntnistheorie machen. Es soll,\r
2941 wenn wir die \name{Kant}ische Analyse der Vernunft ablehnen,\r
2942 nicht bestritten werden, daß die Erfahrung vernunftmäßige\r
2943 Elemente enthält. Vielmehr sind gerade die Zuordnungsprinzipien\r
2944 durch die Natur der Vernunft bestimmt, die\r
2945 Erfahrung vollzieht nur die Auswahl unter allen denkbaren\r
2946 Prinzipien. Es soll nur bestritten werden, daß sich\r
2947 die Vernunftkomponente der Erkenntnis unabhängig von\r
2948 der Erfahrung \emph{erhält}. Die Zuordnungsprinzipien bedeuten\r
2949 die Vernunftkomponente der Erfahrungswissenschaft\r
2950 \page{84}\r
2951 in ihrem jeweiligen Stand. Darin liegt ihre grundsätzliche\r
2952 Bedeutung, und darin unterscheiden sie sich von\r
2953 jedem Einzelgesetz, auch dem allgemeinsten. Denn das\r
2954 Einzelgesetz stellt nur eine Anwendung derjenigen begrifflichen\r
2955 Methoden dar, die im Zuordnungsprinzip festgelegt\r
2956 sind; durch die prinzipiellen Methoden allein wird definiert,\r
2957 wie sich Erkenntnis eines Gegenstandes begrifflich vollzieht.\r
2958 Jede Änderung in den Zuordnungsprinzipien bringt\r
2959 deshalb eine Änderung des Begriffs vom Ding und Geschehen,\r
2960 vom Gegenstand der Erkenntnis, mit sich. Während\r
2961 eine Änderung in den Einzelgesetzen nur eine Änderung\r
2962 in den Relationen der Einzeldinge erzeugt, bedeutet\r
2963 die fortschreitende Verallgemeinerung der Zuordnungsprinzipien\r
2964 eine Entwicklung des \emph{Gegenstandsbegriffs}\r
2965 in der Physik. Und darin unterscheidet sich unsere Auffassung\r
2966 von der \name{Kant}ischen: während bei \name{Kant} nur die\r
2967 Bestimmung des \emph{Einzelbegriffs} eine unendliche Aufgabe\r
2968 ist, soll hier die Ansicht vertreten werden, \emph{daß auch\r
2969 unsere Begriffe vom Gegenstand der Wissenschaft\r
2970 überhaupt, vom Realen und seiner Bestimmbarkeit,\r
2971 nur einer allmählich fortschreitenden Präzisierung\r
2972 entgegengehen können}.\r
2974 Es soll im folgenden Abschnitt der Versuch gemacht\r
2975 werden, zu zeigen, wie die Relativitätstheorie diese Begriffe\r
2976 verschoben hat, denn sie ist eine Theorie der veränderten\r
2977 Zuordnungsprinzipien, und sie hat in der Tat\r
2978 zu einem neuen Gegenstandsbegriff geführt. Aber wir\r
2979 können aus dieser physikalischen Theorie noch eine andere\r
2980 Lehre für die Erkenntnistheorie ziehen. Wenn das Zuordnungssystem\r
2981 in seinen begrifflichen Relationen durch\r
2982 die Vernunft, in der Auswahl seiner Zusammensetzung\r
2983 aber durch die Erfahrung bestimmt ist, so drückt sich in\r
2984 seiner Gesamtheit ebensosehr die Natur der Vernunft wie\r
2985 \page{85}\r
2986 die Natur des Realen aus; und darum ist auch der Begriff\r
2987 des physikalischen Gegenstandes ebensosehr durch die Vernunft\r
2988 wie durch das Reale bestimmt, das er begrifflich\r
2989 formulieren will. Man kann deshalb nicht, wie \name{Kant}\r
2990 glaubte, im Gegenstandsbegriff eine Komponente abtrennen,\r
2991 die von der Vernunft als notwendig hingestellt\r
2992 wird; denn welche Elemente notwendig sind, entscheidet\r
2993 gerade die Erfahrung. Daß der Gegenstandsbegriff seinen\r
2994 einen Ursprung in der Vernunft hat, kann vielmehr nur\r
2995 darin zur Geltung kommen, daß Elemente in ihm enthalten\r
2996 sind, für die \emph{keine} Auswahl vorgeschrieben ist,\r
2997 die also von der Natur des Realen unabhängig sind; in\r
2998 der Beliebigkeit dieser Elemente zeigt sich, daß sie lediglich\r
2999 der Natur der Vernunft ihr Auftreten im Erkenntnisbegriff\r
3000 verdanken. \emph{Nicht darin drückt sich der Anteil der\r
3001 Vernunft aus, daß es unveränderte Elemente des\r
3002 Zuordnungssystems gibt, sondern darin, daß willkürliche\r
3003 Elemente im System auftreten.} Damit\r
3004 ändert sich allerdings die Formulierung dieses Vernunftanteils\r
3005 wesentlich gegenüber der \name{Kant}ischen; aber gerade\r
3006 dafür hat die Relativitätstheorie eine Darstellungsweise\r
3007 gefunden.\r
3009 Wir hatten oben die Hypothese der Zuordnungswillkür\r
3010 formuliert, und die Antwort gefunden, daß es implizit\r
3011 widerspruchsvolle Systeme gibt; aber das soll nicht heißen,\r
3012 daß nur ein einziges System von Zuordnungsprinzipien da\r
3013 ist, welches die Zuordnung eindeutig macht. Vielmehr gibt\r
3014 es mehrere Systeme. Die Tatsache der Gleichberechtigung\r
3015 drückt sich dabei in der Existenz von Transformationsformeln\r
3016 aus, die den Übergang von einem System aufs\r
3017 andere vollziehen; man kann da nicht sagen, daß ein\r
3018 System dadurch ausgezeichnet sei, daß es der Wirklichkeit\r
3019 im besonderen Maße angepaßt wäre, denn das einzige\r
3020 \page{86}\r
3021 Kriterium dieser Anpassung, die Eindeutigkeit der Zuordnung,\r
3022 besitzen sie ja alle. Für die Transformation muß\r
3023 angegeben werden, welche Prinzipien beliebig wählbar sind,\r
3024 also die unabhängigen Variablen darstellen, und welche\r
3025 sich, den abhängigen Variablen entsprechend, dabei nach\r
3026 den Transformationsformeln ändern. So lehrt die Relativitätstheorie,\r
3027 daß die vier Raum-Zeit-Koordinaten beliebig\r
3028 wählbar sind, daß aber die zehn metrischen Funktionen\r
3029 $g_{\mu\nu}$ nicht beliebig angenommen werden dürfen,\r
3030 sondern für jede Koordinatenwahl ganz bestimmte Werte\r
3031 haben. Durch dieses Verfahren werden die subjektiven\r
3032 Elemente der Erkenntnis ausgeschaltet, und ihr objektiver\r
3033 Sinn wird unabhängig von den speziellen Zuordnungsprinzipien\r
3034 formuliert. Aber wie die Invarianz gegenüber den\r
3035 Transformationen den objektiven Gehalt der Wirklichkeit\r
3036 charakterisiert, drückt sich in der Beliebigkeit der zulässigen\r
3037 Systeme die Struktur der Vernunft aus. So ist\r
3038 es offenbar nicht in dem Charakter der Wirklichkeit begründet,\r
3039 daß wir sie durch Koordinaten beschreiben,\r
3040 sondern dies ist die subjektive Form, die es unserer Vernunft\r
3041 erst möglich macht, die Beschreibung zu vollziehen.\r
3042 Andererseits liegt aber den metrischen Verhältnissen in der\r
3043 Natur eine Eigenschaft zugrunde, die unseren Aussagen\r
3044 hierüber bestimmte Grenzen vorschreibt. Was \name{Kant} in\r
3045 der Idealität von Raum und Zeit behauptete, ist durch\r
3046 die Relativität der Koordinaten erst exakt formuliert\r
3047 worden. Aber wir bemerken auch, daß er damit zuviel\r
3048 behauptet hatte, denn die von der menschlichen Anschauung\r
3049 vorgegebene Metrik des Raums gehört gerade nicht zu\r
3050 den zulässigen Systemen. Wäre die Metrik eine rein subjektive\r
3051 Angelegenheit, so müßte sich auch die euklidische\r
3052 Metrik für die Physik eignen; dann müßten alle zehn\r
3053 Funktionen $g_{\mu\nu}$ beliebig wählbar sein. Aber die\r
3054 \page{87}\r
3055 Relativitätstheorie lehrt, daß sie es nur insofern ist, als sie\r
3056 von der Beliebigkeit der Koordinatenwahl abhängt, und\r
3057 daß sie von diesen unabhängig eine objektive Eigenschaft\r
3058 der Wirklichkeit beschreibt. Was an der Metrik subjektiv\r
3059 ist, drückt sich in der Relativität der metrischen Koeffizienten\r
3060 für das Punktgebiet aus, und diese ist erst die\r
3061 Folge der empirisch beobachteten Gleichheit von träger\r
3062 und schwerer Masse. Es war eben der Fehler der \name{Kant}ischen\r
3063 Methode, über die subjektiven Elemente der Physik\r
3064 Aussagen zu machen, die an der Erfahrung nicht geprüft\r
3065 waren. Erst jetzt, nachdem die empirische Physik die\r
3066 Relativität der Koordinaten bestätigt hat, dürfen wir die\r
3067 Idealität des Raumes und der Zeit, insofern sie sich als\r
3068 Beliebigkeit der Koordinatenwahl ausdrückt, als bewiesen\r
3069 ansehen. Allerdings ist diese Frage noch keineswegs abgeschlossen.\r
3070 Wenn sich z.\,B. die \name{Weyl}sche Verallgemeinerung\r
3071 als richtig herausstellen sollte, so ist wieder\r
3072 ein neues subjektives Element in der Metrik aufgewiesen.\r
3073 Dann enthält auch der Vergleich zweier kleiner Maßstäbe\r
3074 an verschiedenen Punkten des Raumes keine objektive\r
3075 Relation mehr, die er bei \name{Einstein} trotz der Abhängigkeit\r
3076 des gemessenen Verhältnisses von der Koordinatenwahl\r
3077 immer noch enthält, sondern er ist nur noch eine subjektive\r
3078 Form der Beschreibungsweise, der Stellung der Koordinaten\r
3079 vergleichbar. Und wir bemerken, daß es ganz entsprechend\r
3080 der Veränderlichkeit des Gegenstandsbegriffs\r
3081 ein abschließendes Urteil über den Anteil der Vernunft\r
3082 an der Erkenntnis nicht gibt, sondern nur eine stufenweise\r
3083 fortschreitende Bestimmung, und daß die Formulierung\r
3084 der Erkenntnisse darüber nicht in so unbestimmten Aussagen\r
3085 wie Idealität des Raumes vollzogen werden kann,\r
3086 sondern nur in der Aufstellung mathematischer Prinzipien.\r
3088 Das Verfahren, durch Transformationsformeln den\r
3089 \page{88}\r
3090 objektiven Sinn einer physikalischen Aussage von der subjektiven\r
3091 Form der Beschreibung zu eliminieren, ist, indem\r
3092 es indirekt diese subjektive Form charakterisiert, an Stelle\r
3093 der \name{Kant}ischen Analyse der Vernunft getreten. Es ist\r
3094 allerdings ein sehr viel komplizierteres Verfahren als \name{Kants}\r
3095 Versuch einer direkten Formulierung, und die \name{Kant}ische\r
3096 Kategorientafel muß neben dem modernen invariantentheoretischen\r
3097 Verfahren primitiv erscheinen. Aber indem\r
3098 es die Erkenntnis von der Struktur der Vernunft befreit,\r
3099 lehrt es, diese zu schildern; das ist der einzige Weg, der\r
3100 uns Einblicke in die Erkenntnisfunktion unserer eignen\r
3101 Vernunft gestattet.\r
3106 \chapter{VIII. Der Erkenntnisbegriff der Relativitätstheorie\r
3107 als Beispiel der Entwicklung des Gegenstandsbegriffes.}\r
3108 \page{89}\r
3110 Wenn wir zu dem Resultat kommen, daß die aprioren\r
3111 Prinzipien der Erkenntnis nur auf induktivem Wege\r
3112 bestimmbar sind, und jederzeit durch Erfahrungen bestätigt\r
3113 oder widerlegt werden können, so bedeutet das\r
3114 allerdings einen Bruch mit der bisherigen kritischen Philosophie.\r
3115 Aber wir wollen zeigen, daß sich diese Auffassung\r
3116 ebensosehr von der empiristischen Philosophie unterscheidet,\r
3117 die glaubt, alle wissenschaftlichen Sätze in einerlei\r
3118 Weise mit der Bemerkung \glqq{}alles ist Erfahrung\grqq{} abtun\r
3119 zu können. Diese Philosophie hat den großen Unterschied\r
3120 nicht gesehen, der zwischen physikalischen Einzelgesetzen\r
3121 und Zuordnungsprinzipien besteht, und sie ahnt nicht,\r
3122 daß die letzteren für den \emph{logischen Aufbau} der Erkenntnis\r
3123 eine ganz andere Stellung haben als die ersteren.\r
3124 In diese Erkenntnis hat sich die Lehre vom Apriori verwandelt:\r
3125 daß der logische Aufbau der Erkenntnis durch\r
3126 eine besondere Klasse von Prinzipien bestimmt wird, und\r
3127 daß eben diese logische Funktion der Klasse eine Sonderstellung\r
3128 gibt, deren Bedeutung mit der Art der Entdeckung\r
3129 dieser Prinzipien und ihrer Geltungsdauer nichts zu tun hat.\r
3131 Wir sehen keinen besseren Weg, diese Sonderstellung\r
3132 zu veranschaulichen, als indem wir die Veränderung des\r
3133 \emph{Gegenstandsbegriffs} beschreiben, die mit der Änderung\r
3134 der Zuordnungsprinzipien durch die Relativitätstheorie\r
3135 vollzogen wurde.\r
3136 \page{90}\r
3138 Die Physik gelangt zu quantitativen Aussagen, indem\r
3139 sie den Einfluß physikalischer Faktoren auf Längen- und\r
3140 Zeitbestimmungen untersucht; die Messung von Längen\r
3141 und Zeiten ist der Ausgangspunkt aller ihrer Quantitätsbestimmungen.\r
3142 So konstatiert sie das Auftreten von\r
3143 Gravitationskräften an der Zeit, die ein frei fallender\r
3144 Körper für das Durchlaufen einzelner Wegstrecken braucht,\r
3145 oder sie mißt eine Temperaturerhöhung durch die veränderte\r
3146 Länge eines Quecksilberfadens. Dazu muß definiert\r
3147 sein, was eine Längen- oder Zeitstrecke ist; die\r
3148 Physik versteht darunter die Verhältniszahl, welche die\r
3149 zu messende Strecke mit einer als Einheit festgesetzten\r
3150 gleichartigen Strecke verbindet. Jedoch benutzte die alte\r
3151 Physik dabei noch eine wesentliche Voraussetzung: daß\r
3152 Längen und Zeiten voneinander unabhängig sind, daß die\r
3153 für ein System definierte synchrone Zeit keinerlei Einfluß\r
3154 hat auf die Ergebnisse der Längenmessung. Um von den\r
3155 gemessenen Längen zu verbindenden Relationen zu\r
3156 kommen, muß ferner noch ein System von Regeln für die\r
3157 Verbindung von Längen gegeben sein; dazu dienten in\r
3158 der alten Physik die Sätze der euklidischen Geometrie.\r
3159 Denken wir uns etwa eine rotierende Kugel; sie erfährt\r
3160 nach der \name{Newton}schen Theorie eine Abplattung. Der\r
3161 Einfluß der Rotation, also einer physikalischen Ursache,\r
3162 macht sich in der Änderung der geometrischen Dimensionen\r
3163 geltend. Trotzdem wird dadurch an den Regeln\r
3164 der Verbindung der Längen nichts geändert; so gilt auch\r
3165 auf der abgeplatteten Kugel der Satz, daß das Verhältnis\r
3166 aus Umfang und Durchmesser eines Kreises (z.\,B. eines\r
3167 Breitenkreises) gleich $\pi$ ist, oder der Satz, daß bei genügender\r
3168 Kleinheit ein Bogenstück zu den Koordinatendifferentialen\r
3169 in der pythagoräischen Beziehung steht (und\r
3170 zwar bei ganz beliebig gewählten orthogonalen Koordinaten\r
3171 \page{91}\r
3172 für \emph{alle} kleinen Bogenstücke). Derartige Voraussetzungen\r
3173 mußte die Physik machen, wenn sie überhaupt Änderungen\r
3174 von Längen und Zeiten messen wollte. Es war eine notwendige\r
3175 Eigenschaft des physikalischen Körpers, daß er\r
3176 sich diesen allgemeinen Relationen fügte; nur unter dieser\r
3177 Voraussetzung konnte ein Etwas als physikalisches Ding\r
3178 gedacht werden, und quantitative Erkenntnis gewinnen,\r
3179 hieß weiter nichts, als diese allgemeinen Regeln auf die\r
3180 Wirklichkeit anwenden und nach ihnen die Messungszahlen\r
3181 in ein System ordnen. Diese Regeln gehörten zum \emph{Gegenstandsbegriff\r
3182 der Physik}.\r
3184 Als die Relativitätstheorie diese Auffassung änderte,\r
3185 entstanden ernste begriffliche Schwierigkeiten. Denn diese\r
3186 Theorie lehrte, daß die gemessenen Längen und Zeiten\r
3187 keine absolute Geltung besitzen, sondern noch ein akzidentelles\r
3188 Moment enthalten: das gewählte Bezugssystem, und\r
3189 daß ein bewegter Körper gegenüber dem ruhenden eine\r
3190 Verkürzung erfährt. Man sah darin einen Widerspruch\r
3191 zum Kausalitätsprinzip, denn man konnte keine Ursache\r
3192 für diese Verkürzung angeben; man stand plötzlich vor\r
3193 einer physikalischen Veränderung, für deren Verursachung\r
3194 alle Vorstellungen von durch die Bewegung erzeugten\r
3195 Kräften versagten. Noch in allerletzter Zeit hat \name{Helge\r
3196 Holst}\litref{28} den Versuch gemacht, das Kausalprinzip dadurch\r
3197 zu retten, daß er entgegen der \name{Einstein}schen Relativität\r
3198 ein bevorzugtes Koordinatensystem aufzeigt, in dem die\r
3199 gemessenen Größen allein einen objektiven Sinn haben\r
3200 sollen, während die Lorentzverkürzung als verursacht durch\r
3201 die Bewegung relativ zu diesem System erscheint. Die\r
3202 \name{Einstein}sche Relativität erscheint dabei als eine elegante\r
3203 Transformationsmöglichkeit, die auf einem großen Zufall\r
3204 der Natur beruht.\r
3206 Wir müssen bemerken, daß die scheinbare\r
3207 \page{92}\r
3208 Schwierigkeit nicht durch die Aufrechterhaltung der Kausalforderung\r
3209 entsteht, sondern durch die Aufrechterhaltung eines\r
3210 Gegenstandsbegriffs, den die Relativitätstheorie bereits\r
3211 überwunden hatte. Für die Längenverkürzung ist eine\r
3212 konstatierbare Ursache vorhanden: die Relativbewegung\r
3213 der beiden Körper. Allerdings kann man, je nachdem\r
3214 man das Bezugssystem mit dem einen oder dem anderen\r
3215 Körper ruhen läßt, sowohl den einen wie den anderen als\r
3216 kürzer bezeichnen. Wenn man aber darin einen Widerspruch\r
3217 zum Kausalprinzip sieht, weil dieses fordern müßte,\r
3218 welcher der Körper die Verkürzung \glqq{}wirklich\grqq{} erfährt,\r
3219 so setzt man damit voraus, daß die Länge eine absolute\r
3220 Eigenschaft des Körpers ist; aber \name{Einstein} hatte gerade\r
3221 gezeigt, daß die Länge nur in bezug auf ein bestimmtes\r
3222 Koordinatensystem überhaupt eine definierte Größe ist.\r
3223 Zwischen einem bewegten Körper und einem Maßstab\r
3224 (der natürlich ebenfalls als Körper gedacht werden muß)\r
3225 besteht eine Relation, aber diese drückt sich je nach dem\r
3226 gewählten Bezugssystem bald als Ruhlänge, bald als\r
3227 Lorentzverkürzung oder -verlängerung aus. Das, was wir\r
3228 als Länge messen, ist nicht die Relation zwischen den\r
3229 Körpern, sondern nur ihre Projektion in ein Koordinatensystem.\r
3230 Allerdings können wir sie \emph{formulieren} nur in\r
3231 der Sprache eines Koordinatensystems, aber indem wir\r
3232 gleichzeitig die Transformationsformeln auf jedes andere\r
3233 System angeben, erhält unsere Aussage einen unabhängigen\r
3234 Sinn. Darin besteht die neue Methode der Relativitätstheorie:\r
3235 daß sie durch die Angabe der Transformationsformeln\r
3236 den subjektiven Aussagen einen objektiven Sinn\r
3237 verleiht. Damit verschiebt sie den Begriff der realen\r
3238 Relation. Konstatierbar, und darum auch objektiv zu\r
3239 nennen, ist immer nur die in irgend einem System gemessene\r
3240 Länge. Aber sie ist nur \emph{ein} Ausdruck der realen Relation.\r
3241 \page{93}\r
3242 Das, was früher als geometrische Länge angesehen wurde,\r
3243 ist keine absolute Eigenschaft des Körpers, sondern gleichsam\r
3244 nur eine Spiegelung der zugrundeliegenden Eigenschaft\r
3245 in die Darstellung eines einzigen Koordinatensystems.\r
3246 Das soll keine Versetzung des Realen in ein\r
3247 Ding an sich bedeuten, denn wir können ja die reale\r
3248 Relation eindeutig formulieren, indem wir die Länge in\r
3249 \emph{einem} Koordinatensystem und außerdem die Transformationsformeln\r
3250 angeben; aber wir müssen uns daran\r
3251 gewöhnen, daß man die reale Relation nicht einfach als\r
3252 eine Verhältniszahl formulieren kann.\r
3254 \tb\r
3256 Wir bemerken die Veränderung des Gegenstandsbegriffs:\r
3257 was früher eine Eigenschaft des \emph{Dinges} war,\r
3258 wird jetzt zu einer Resultierenden aus Ding und Bezugssystem;\r
3259 nur indem wir die Transformationsformeln angeben,\r
3260 eliminieren wir den Einfluß des Bezugssystems,\r
3261 und allein auf diesem Wege kommen wir zu einer Bestimmung\r
3262 des Realen.\r
3264 \tb\r
3266 Bedeutet insofern der \name{Einstein}sche Längenbegriff\r
3267 eine Verengerung, weil er nur eine Seite der zugrundeliegenden\r
3268 realen Relation formuliert, so erhält er doch im\r
3269 anderen Sinne durch die Relativitätstheorie eine wesentliche\r
3270 Erweiterung. Denn weil der Bewegungszustand der\r
3271 Körper ihre reale Länge ändert, wird die Länge umgekehrt\r
3272 zu einem Ausdruck dieses Bewegungszustandes. Anstatt\r
3273 zu sagen: die zwei Körper bewegen sich gegeneinander,\r
3274 kann ich auch sagen: der eine erfährt, vom anderen gesehen,\r
3275 eine Lorentzverkürzung. Beide Aussagen sind nur ein\r
3276 verschiedener Ausdruck für ein und dieselbe zugrundeliegende\r
3277 Tatsache. Und wir bemerken wieder, daß sich\r
3278 eine physikalische Tatsache nicht immer durch eine einfache\r
3279 kinematische Aussage ausdrücken läßt, sondern erst\r
3280 \page{94}\r
3281 durch zwei verschiedene Aussagen und ihre Transformation\r
3282 ineinander hinreichend beschrieben wird.\r
3284 Diese erweiterte Funktion der Metrik, die sie zur\r
3285 Charakterisierung eines \emph{physikalischen Zustandes}\r
3286 macht, ist in der \emph{allgemeinen} Relativitätstheorie in noch\r
3287 viel höherem Grade ausgebildet worden. Nach dieser Theorie\r
3288 führt nicht nur die gleichförmige, sondern auch die beschleunigte\r
3289 Bewegung zur Änderung der metrischen Verhältnisse,\r
3290 und deshalb läßt sich umgekehrt auch der Zustand\r
3291 der beschleunigten Bewegung durch metrische Aussagen\r
3292 charakterisieren. Aber das führt zu Konsequenzen,\r
3293 die die spezielle Relativitätstheorie noch nicht ahnen ließ.\r
3294 Denn die beschleunigte Bewegung ist mit dem Auftreten\r
3295 von Gravitationskräften verbunden, und deshalb wird\r
3296 nach dieser Erweiterung auch das Auftreten physikalischer\r
3297 Kräfte durch eine metrische Aussage ausgedrückt. Der\r
3298 Begriff der Kraft, der der alten Physik so viel logische\r
3299 Schwierigkeiten gemacht hatte, erscheint plötzlich in ganz\r
3300 neuem Licht: er ist nur die eine anthropomorphe Seite\r
3301 eines realen Zustands, dessen andere Seite eine spezielle\r
3302 Form der Metrik ist. Allerdings läßt sich bei einer solchen\r
3303 Erweiterung der metrischen Funktion ihre einfache euklidische\r
3304 Form nicht mehr aufrecht erhalten, und nur die\r
3305 \name{Riemann}sche analytische Metrik ist imstande, solchen\r
3306 Umfang der Bedeutung in sich aufzunehmen. Anstatt zu\r
3307 sagen: ein Himmelskörper nähert sich einem Gravitationsfeld,\r
3308 kann ich auch sagen: die metrischen Dimensionen\r
3309 dieses Körpers werden krumm. Wir sind gewöhnt, das\r
3310 Auftreten von Kräften an dem Widerstande zu spüren,\r
3311 den sie der Bewegung entgegensetzen. Wir können ebensogut\r
3312 sagen: das Reale, was wir auch Kraftfeld nennen,\r
3313 drückt sich in der Tatsache aus, daß die geradlinige Bewegung\r
3314 unmöglich ist. Denn das ist ja der Sinn der\r
3315 \page{95}\r
3316 \name{Einstein-Riemann}schen Raumkrümmung, daß sie die\r
3317 Existenz von geraden Linien unmöglich macht. Das \glqq{}unmöglich\grqq{}\r
3318 ist hier nicht \emph{technisch} aufzufassen, etwa so,\r
3319 als ob nur jede technische Realisierung einer geraden Linie\r
3320 durch physikalische Stäbe unmöglich wäre, sondern \emph{begrifflich};\r
3321 auch die \emph{gedachte} gerade Linie ist im \name{Riemann}schen\r
3322 Raum unmöglich. In seiner Anwendung auf\r
3323 die Physik bedeutet dies, daß es keinen Sinn hat, nach\r
3324 der Annäherung einer geraden Linie durch physikalische\r
3325 Stäbe zu suchen; auch die \emph{Annäherung} ist unmöglich.\r
3326 Auch die alte Physik führt zu dem Resultat, daß ein\r
3327 Himmelskörper, der in ein Gravitationsfeld eintritt, eine\r
3328 krummlinige Bahn annimmt. Aber die Relativitätstheorie\r
3329 behauptet vielmehr: daß es \emph{überhaupt keinen Sinn}\r
3330 hat, in einem Gravitationsfeld von geraden Bahnen zu\r
3331 sprechen. Ihre Aussage ist physikalisch von der alten\r
3332 Auffassung durchaus verschieden. Die Bahn der \name{Einstein}schen\r
3333 Theorie verhält sich zur \name{Newton}schen Bahn\r
3334 wie eine Raumkurve zu einer ebenen Kurve, die \name{Einstein}sche\r
3335 Krümmung ist von höherer Ordnung als die \name{Newton}sche.\r
3336 Daß eine so tiefe Änderung der Metrik erfolgen\r
3337 mußte, hängt mit der Erweiterung ihrer Bedeutung zusammen,\r
3338 die sie zum Ausdruck eines physikalischen Zustands\r
3339 macht.\r
3341 Die alte Auffassung, daß die metrischen Verhältnisse\r
3342 eines Körpers -- die Art, wie sich seine Größe und Länge,\r
3343 der Winkel seiner Kanten, die Krümmung seiner Flächen\r
3344 aus Messungsdaten berechnen -- von der Natur unabhängig\r
3345 seien, läßt sich nicht mehr aufrecht erhalten. Diese\r
3346 metrischen Regeln sind abhängig geworden von der gesamten\r
3347 umgebenden Körperwelt. Was man früher ein\r
3348 Rechenverfahren der Vernunft genannt hatte, ist jetzt eine\r
3349 spezielle Eigenschaft des Dinges und seiner Einbettung in\r
3350 \page{96}\r
3351 die Gesamtheit der Körper. \emph{Die Metrik ist kein Zuordnungsaxiom\r
3352 mehr, sondern ein Verknüpfungsaxiom\r
3353 geworden.} Darin liegt eine noch viel tiefere Verschiebung\r
3354 des Begriffs vom Realen, als sie die spezielle\r
3355 Relativitätstheorie gelehrt hatte. Wir sind gewöhnt, die\r
3356 Materie aufzufassen als etwas Hartes, Festes, das wir mit\r
3357 dem Tastsinn als Widerstand fühlen. Auf diesem Begriff\r
3358 der Materie beruhen alle Theorien einer mechanischen\r
3359 Welterklärung, und es ist bezeichnend, daß in ihnen immer\r
3360 wieder der Versuch gemacht wurde, den Zusammenstoß\r
3361 fester Körper als Urbild jeder Kraftwirkung durchzuführen.\r
3362 Man muß mit diesem Vorbild endgültig gebrochen haben,\r
3363 wenn man den Sinn der Relativitätstheorie erfassen will.\r
3364 Was der Physiker seinen Beobachtungen zugrunde legt,\r
3365 sind Messungen von Längen und Zeiten, und keine Tastwiderstände.\r
3366 Darum kann sich auch nur in der Längen- und\r
3367 Zeitmessung die Anwesenheit von Materie ausdrücken.\r
3368 Daß etwas Reales, eine Substanz, da ist, drückt sich\r
3369 physikalisch in der speziellen Form der Verbindung dieser\r
3370 Längen und Zeiten, in der Metrik aus; real ist das, was\r
3371 durch die Raumkrümmung beschrieben wird. Und wir\r
3372 bemerken abermals eine neue Methode der Beschreibung:\r
3373 das Reale wird nicht mehr durch ein \emph{Ding} beschrieben,\r
3374 sondern durch eine Reihe von Relationen zwischen den\r
3375 geometrischen Dimensionen. Gewiß enthält die Metrik\r
3376 noch ein subjektives Element, und je nach der Wahl des\r
3377 Bezugssystems werden auch die metrischen Koeffizienten\r
3378 verschieden sein; diese Unbestimmtheit gilt auch noch\r
3379 im Gravitationsfeld. Aber es bestehen Abhängigkeitsrelationen\r
3380 zwischen den metrischen Koeffizienten, und\r
3381 wenn man 4 von ihnen für den ganzen Raum beliebig\r
3382 vorgibt, sind die anderen 6 durch Transformationsformeln\r
3383 bestimmt. In dieser einschränkenden Bedingung drückt\r
3384 \page{97}\r
3385 sich die Anwesenheit von Materie aus; dies ist die begriffliche\r
3386 Form, das materiell Seiende zu definieren. Im leeren\r
3387 Raum würden die einschränkenden Bedingungen fortfallen;\r
3388 aber damit wird auch die Metrik unbestimmt; es hat keinen\r
3389 Sinn, von Längenbeziehungen im leeren Raum zu reden.\r
3390 Nur die Körper haben Längen und Breiten und Höhen --\r
3391 aber dann muß sich in den metrischen Verhältnissen auch\r
3392 der Zustand der Körper ausdrücken.\r
3394 \tb\r
3396 Damit ist der alte auch noch von \name{Kant} benutzte\r
3397 Begriff der Substanz aufgegeben, nach dem die Substanz\r
3398 ein metaphysischer Urgrund der Dinge war, von dem man\r
3399 immer nur die Veränderungen beobachten konnte. Zwischen\r
3400 dem Ausspruch des \name{Thales von Milet}, daß das Wasser\r
3401 der Urgrund aller Dinge sei, und diesem alten Substanzbegriff\r
3402 besteht erkenntnistheoretisch genommen gar kein\r
3403 Unterschied, nur daß an Stelle des Wassers eine spätere\r
3404 Physik den Wasserstoff oder das Heliumatom oder das\r
3405 Elektron setzte. Die fortschreitenden physikalischen Entdeckungen\r
3406 konnten nicht den erkenntnistheoretischen Begriff,\r
3407 nur seine spezielle Ausfüllung ändern. Erst die\r
3408 \name{Einstein}sche Änderung der \emph{Zuordnungsprinzipien}\r
3409 ging auf den \emph{Begriff} des Seienden. An diese Theorie\r
3410 darf man nicht mit der Frage herantreten: Welches ist\r
3411 denn nun eigentlich das Seiende? Ist es das Elektron?\r
3412 Ist es die Strahlung? Diese Fragestellung schließt den\r
3413 alten Substanzbegriff ein, und erwartet nur seine neue\r
3414 Ausfüllung. Daß etwas \emph{ist}, drückt sich in den Abhängigkeitsrelationen\r
3415 zwischen den metrischen Koeffizienten aus;\r
3416 da wir diese durch Messung feststellen können -- und \emph{nur}\r
3417 deswegen -- ist das Seiende für uns konstatierbar. Daß\r
3418 die Metrik viel mehr ist als eine mathematische Ausmessung\r
3419 der Körper, daß sie die Form ist, den Körper als Element\r
3420 \page{98}\r
3421 in der materiellen Welt zu beschreiben -- das ist der Sinn\r
3422 der allgemeinen Relativitätstheorie\Footnote{f}\r
3423 {Es ist kein Widerspruch hierzu, wenn in der physikalischen Praxis\r
3424 immer noch der alte Substanzbegriff benutzt wird. Neuerdings hat\r
3425 \name{Rutherford} eine Theorie entwickelt, in der er über den Zerfall des\r
3426 positiven Stickstoffkerns in Wasserstoff- und Heliumkerne berichtet.\r
3427 Diese überaus fruchtbare physikalische Entdeckung darf den alten Substanzbegriff\r
3428 voraussetzen, weil dieser sich mit hinreichender Näherung\r
3429 für die Beschreibung der Wirklichkeit eignet, und \name{Rutherfords} Arbeiten\r
3430 schließen nicht aus, daß man sich den inneren Aufbau der Elektronen\r
3431 im \name{Einstein}schen Sinne denkt. Diese Fortdauer alter Begriffe für die\r
3432 wissenschaftliche Praxis dürfen wir einem bekannten Fall der Astronomie\r
3433 vergleichen: Obwohl man seit Kopernikus weiß, daß die Erde nicht im\r
3434 Mittelpunkt des kugelförmig und rotierend gedachten Himmelsgewölbes\r
3435 steht, dient diese Auffassung heute noch als Grundlage der astronomischen\r
3436 Meßtechnik.}.\r
3438 Es ist nur eine Konsequenz dieser Auffassung, wenn\r
3439 die Grenzen zwischen materiellem Körper und Umgebung\r
3440 nicht scharf definiert sind. Der Raum ist ausgefüllt von\r
3441 dem Feld, das seine Metrik bestimmt; es sind nur Verdichtungen\r
3442 dieses Feldes, was wir bisher als Materie bezeichneten.\r
3443 Es hat keinen Sinn, von einer Wanderung\r
3444 materieller Teile als einem Transport von Dingen zu reden;\r
3445 was stattfindet, ist ein fortschreitender Verdichtungsprozeß,\r
3446 der eher der Wanderung einer Wasserwelle verglichen\r
3447 werden muß\Footnote{g}\r
3448 {Allerdings nur als eine grobe Analogie. Denn man pflegt sonst\r
3449 umgekehrt den \glqq{}scheinbaren\grqq{} Lauf einer Wasserwelle auf die \glqq{}wirkliche\grqq{}\r
3450 Hin- und Herbewegung der Wasserteilchen zurückzuführen. Einzelne\r
3451 Teilchen als Träger des Feldzustandes gibt es aber nicht. Vgl. für diese\r
3452 Auffassung der Materie auch die in diesem Punkt erkenntnislogisch sehr\r
3453 tiefgehenden Ausführungen bei \name{Weyl}, Anmerkung 21, S.~162.}.\r
3454 Der Begriff des Einzeldings verliert\r
3455 jede Bestimmtheit. Man kann beliebig abgegrenzte Gebiete\r
3456 des Feldes herausgreifend betrachten, aber sie sind nicht\r
3457 anders zu charakterisieren als durch die speziellen Werte\r
3458 \page{99}\r
3459 allgemeiner Raum-Zeit-Funktionen in diesem Gebiet. Wie\r
3460 ein Differentialgebiet einer analytischen Funktion im\r
3461 komplexen Bereich den Verlauf der Funktion für den\r
3462 ganzen unendlichen Bereich charakterisiert, so charakterisiert\r
3463 auch jedes Teilgebiet das gesamte Feld, und man\r
3464 kann seine metrischen Bestimmungen nicht angeben, ohne\r
3465 zugleich das gesamte Feld mit zu beschreiben. So löst\r
3466 sich das Einzelding in den Begriff des Feldes auf, und mit\r
3467 ihm verschwinden die Kräfte zwischen den Dingen; an\r
3468 Stelle der \emph{Physik der Kräfte und Dinge} tritt die\r
3469 \emph{Physik der Feldzustände}.\r
3471 Wir geben diese Schilderung des Gegenstandsbegriffs\r
3472 der Relativitätstheorie -- die keineswegs den Anspruch\r
3473 macht, den erkenntnislogischen Gehalt dieser Theorie zu\r
3474 erschöpfen -- um die Bedeutung konstitutiver Prinzipien\r
3475 zu zeigen. Im Gegensatz zu den Einzelgesetzen sagen sie\r
3476 nicht, \emph{was} im einzelnen Fall erkannt wird, sondern \emph{wie}\r
3477 erkannt wird, sie definieren das Erkennbare, sie sagen,\r
3478 was Erkenntnis ihrem logischen Sinne nach bedeutet.\r
3479 Insofern sind sie die Antwort auf die kritische Frage: wie\r
3480 ist Erkenntnis möglich? Denn indem sie definieren, was\r
3481 Erkenntnis ist, zeigen sie die Ordnungsregeln, nach denen\r
3482 sich der Erkenntnisvorgang vollzieht, und nennen die\r
3483 Bedingungen, deren logische Befolgung zu Erkenntnissen\r
3484 führt; in diesem logischen Sinne ist das \glqq{}möglich\grqq{} jener\r
3485 Frage zu verstehen. Und wir begreifen, daß die heutigen\r
3486 Bedingungen der Erkenntnis nicht mehr dieselben sein\r
3487 können wie bei \name{Kant}: \emph{weil sich der Begriff der Erkenntnis\r
3488 geändert hat, und der veränderte Gegenstand\r
3489 der physikalischen Erkenntnis auch andere\r
3490 logische Bedingungen voraussetzt}. Diese Änderung\r
3491 konnte nur in Berührung mit der Erfahrung erfolgen, und\r
3492 daher sind auch die Prinzipien der Erkenntnis durch die\r
3493 \page{100}\r
3494 Erfahrung bestimmt. Aber ihre Geltung beruht nicht nur\r
3495 auf dem Urteil einzelner Erfahrungen, sondern auf der\r
3496 Möglichkeit des ganzen Systems der Erkenntnis: das ist\r
3497 der Sinn des Apriori. Daß wir die Wirklichkeit durch\r
3498 metrische Relationen zwischen vier Koordinaten beschreiben\r
3499 können, ist so gewiss wie die Geltung der gesamten\r
3500 Physik; nur die spezielle Gestalt dieser Regeln\r
3501 ist zu einem Problem der empirischen Physik geworden.\r
3502 Dieses Prinzip bildet die Basis für die begriffliche Auffassung\r
3503 der physikalischen Wirklichkeit. Jede bisherige\r
3504 physikalische Erfahrung, die überhaupt gemacht wurde,\r
3505 hat das Prinzip bestätigt. Aber das schließt nicht aus,\r
3506 daß sich eines Tags Erfahrungen einstellen, die wieder\r
3507 zu einer stetigen Erweiterung zwingen -- dann wird die\r
3508 Physik abermals ihren Gegenstandsbegriff ändern müssen,\r
3509 und der Erkenntnis neue Prinzipien voranstellen. Apriori\r
3510 bedeutet: vor der Erkenntnis, aber nicht: für alle Zeit,\r
3511 und nicht: unabhängig von der Erfahrung.\r
3513 \begin{center}\r
3514 * \quad * \quad *\r
3515 \end{center}\r
3517 Wir wollen diese Untersuchung nicht beschließen, ohne\r
3518 dasjenige Problem gestreift zu haben, das gewöhnlich in\r
3519 den Brennpunkt der Relativitätsdiskussion gestellt wird:\r
3520 die Vorstellbarkeit des \name{Riemann}schen Raums. Wir\r
3521 müssen allerdings betonen, daß die Frage der \emph{Evidenz}\r
3522 apriorer Prinzipien in die Psychologie gehört, und es ist\r
3523 sicherlich ein psychologisches Problem, weshalb der euklidische\r
3524 Raum jene eigentümliche Evidenz besitzt, die zu\r
3525 einer anschaulichen Selbstverständlichkeit seiner sämtlichen\r
3526 Axiome führt. Mit dem Schlagwort \glqq{}Gewöhnung\grqq{}\r
3527 läßt sich dies nicht abtun, denn es handelt sich hier gar\r
3528 \page{101}\r
3529 nicht um ausgefahrene Assoziationsketten, sondern um\r
3530 eine ganz besondere psychische Funktion, und gerade weil\r
3531 der Sehraum Verhältnisse aufweist, die von den euklidischen\r
3532 abweichen, ist jene Evidenz um so merkwürdiger, die uns\r
3533 etwa die Gerade als kürzeste Verbindung zweier Punkte\r
3534 erkennen läßt. Dieses psychologische Phänomen ist noch\r
3535 vollkommen unerklärt.\r
3537 Aber wir können, ausgehend von dem entwickelten\r
3538 Erkenntnisbegriff, einige grundsätzliche Bemerkungen zu\r
3539 dem Problem machen. Wir konnten nachweisen, daß nach\r
3540 diesem Erkenntnisbegriff der Metrik eine ganz andere\r
3541 Funktion zukommt als bisher, daß sie nicht Abbilder der\r
3542 Körper liefert im Sinne einer geometrischen Ähnlichkeit,\r
3543 sondern der Ausdruck ihres physikalischen Zustands ist.\r
3544 Es scheint mir psychologisch einleuchtend zu sein, daß wir\r
3545 für diesen viel tiefergehenden Zweck die in uns liegenden\r
3546 geometrischen Bilder nicht verwenden können. Was uns\r
3547 an die euklidische Geometrie so fesselt, und sie so zwingend\r
3548 erscheinen läßt, ist die Vorstellung, daß wir mit dieser\r
3549 Geometrie zu Bildern der wirklichen Dinge kommen\r
3550 können. Wenn es aber klar geworden ist, daß Erkenntnis\r
3551 etwas völlig anderes ist, als die Herstellung solcher Bilder,\r
3552 daß die metrische Relation einen ganz anderen Sinn hat,\r
3553 als die Abbildung in ähnliche Figuren, dann werden wir\r
3554 auch nicht mehr den Versuch machen, die euklidische\r
3555 Geometrie auf die Wirklichkeit als notwendige Form anzuwenden.\r
3557 Als im 15. Jahrhundert die Ansicht sich durchsetzte,\r
3558 daß die Erde eine Kugel sei, stieß sie zuerst auf großen\r
3559 Widerspruch, und gewiß ist ihr der Einwand gemacht\r
3560 worden: es ist anschaulich unvorstellbar. Auch brauchte\r
3561 man sich ja nur in der räumlichen Umgebung umzusehen,\r
3562 um festzustellen, daß die Erde \emph{keine} Kugel sei. Später\r
3563 \page{102}\r
3564 hat man diesen Einwand aufgegeben, und heute ist es\r
3565 jedem Schulkind selbstverständlich, daß die Erde eine\r
3566 Kugel ist. Dabei war der Einwand in Wahrheit vollkommen\r
3567 richtig. Es ist auch gar nicht \emph{vorstellbar}, daß\r
3568 die Erde eine Kugel ist. Wenn wir den Versuch machen,\r
3569 diese Vorstellung zu vollziehen, so denken wir uns sogleich\r
3570 eine kleine Kugel, und darauf, mit den Füßen an der Oberfläche,\r
3571 mit dem Kopf hinausragend, einen Menschen. Aber\r
3572 in den Dimensionen der Erde können wir diese Vorstellung\r
3573 gar nicht vollziehen; jene Merkwürdigkeit, daß die Kugel\r
3574 gleichzeitig für Gebiete unserer Sehweite einer Ebene\r
3575 gleichwertig ist, die doch erst die sämtlichen beobachteten\r
3576 Erscheinungen auf der Erde erklärt, können wir nicht\r
3577 vorstellen. Eine Kugel von der geringen Krümmung der\r
3578 Erdoberfläche liegt außerhalb unserer Vorstellungsmöglichkeit.\r
3579 Wir können diese Kugel nur durch eine Reihe sehr\r
3580 kümmerlicher Analogien irgendwie begreiflich machen.\r
3581 Wenn wir jetzt behaupten, wir konnten die Erde als Kugel\r
3582 vorstellen, so heißt das in Wahrheit: wir haben uns daran\r
3583 gewöhnt, auf die anschauliche Vorstellbarkeit zu verzichten,\r
3584 und uns mit einer Reihe von Analogien zu begnügen.\r
3586 Genau so, glaube ich, steht es mit dem \name{Riemann}schen\r
3587 Raum. Es wird von der Relativitätstheorie gar nicht\r
3588 behauptet, daß das, was früher das geometrische Bild der\r
3589 Dinge war, nun plötzlich im \name{Riemann}schen Sinne krumm\r
3590 ist. Vielmehr wird behauptet, daß es ein solches Abbild\r
3591 \emph{nicht gibt}, und daß mit den Relationen der Metrik etwas\r
3592 ganz anderes ausgedrückt wird, als eine Wiederholung des\r
3593 Gegenstandes. Daß für die Charakterisierung eines physikalischen\r
3594 Zustandes die in uns liegenden geometrischen\r
3595 Bilder nicht ausreichen, erscheint eigentlich selbstverständlich.\r
3596 Wir brauchen uns nur daran zu gewöhnen,\r
3597 \page{103}\r
3598 nicht daß die Bilder falsch seien, aber daß sie auf die\r
3599 wirklichen Dinge nicht angewandt werden können -- dann\r
3600 haben wir das gleiche vollzogen, wie bei der sogenannten\r
3601 Vorstellbarkeit der Erdkugel, nämlich auf die anschauliche\r
3602 Vorstellbarkeit endgültig verzichtet. Dann werden wir uns\r
3603 mit Analogien begnügen, wie der sehr schönen Analogie\r
3604 von dem zweidimensional denkenden Wesen auf der Kugelfläche,\r
3605 und glauben, daß sie die Physik vorstellbar machen.\r
3607 Es muß Aufgabe der Psychologie bleiben, zu erklären,\r
3608 warum wir die Bilder und Analogien für die Erkenntnis\r
3609 so nötig haben, daß wir ohne sie das begriffliche Erfassen\r
3610 gar nicht vollziehen können. Aufgabe der Erkenntnistheorie\r
3611 ist es, zu erklären, worin die Erkenntnis besteht;\r
3612 daß wir dies durch eine Analyse der positiven Erkenntnisse\r
3613 tun müssen, ohne Rücksicht auf die Bilder und Analogien,\r
3614 glaubt die vorliegende Untersuchung aufgezeigt zu haben.\r
3618 %\begin{thebibliography}{99}\r
3619 \chapter{Literarische Anmerkungen.}\r
3620 \page{104}\r
3621 \litanm{1}{S. 3. \name{Poincaré} hat diese Ansicht vertreten. Vgl. Wissenschaft und\r
3622 Hypothese, Teubner 1906, S. 49--52. Es ist bezeichnend, daß er für\r
3623 seine Äquivalenzbeweise die \name{Riemann}sche Geometrie von vornherein\r
3624 ausschließt, weil sie die Verschiebung eines Körpers ohne Formänderung\r
3625 nicht gestattet. Hätte er geahnt, daß gerade diese Geometrie von der\r
3626 Physik einmal aufgegriffen würde, so hätte er die Willkürlichkeit der\r
3627 Geometrie nicht behaupten können.}\r
3629 \litanm{2}{S. 4. Ich hatte es nicht für nötig gehalten, auf die gelegentlich\r
3630 auftauchenden Ansichten, daß die \name{Einstein}sche Raumlehre sich mit der\r
3631 \name{Kant}ischen vereinen ließe, näher einzugehen; denn unabhängig davon,\r
3632 ob man \name{Kant} oder \name{Einstein} recht gibt, läßt sich der \emph{Widerspruch}\r
3633 ihrer Lehren deutlich feststellen; aber ich finde zu meiner großen Verwunderung,\r
3634 daß auch heute noch aus den Kreisen der Kantgesellschaft\r
3635 die Behauptung aufgestellt wird, die Relativitätstheorie ließe die\r
3636 \name{Kant}ische Raumlehre völlig unberührt. E. \name{Sellien} schreibt in \glqq{}Die\r
3637 erkenntnistheoretische Bedeutung der Relativitätstheorie\grqq{}, Kantstudien,\r
3638 Ergänzungsheft 48, 1919: \glqq{}Da die Geometrie sich ihrer Natur nach auf\r
3639 die \glqq{}reine\grqq{} Anschauung des Raums bezieht, so kann die Erfahrung sie\r
3640 überhaupt nicht beeinflussen. Umgekehrt, die Erfahrung wird erst\r
3641 möglich durch die Geometrie. Damit aber wird der Relativitätstheorie\r
3642 die Berechtigung genommen zu behaupten, die \glqq{}wahre\grqq{} Geometrie ist\r
3643 die nichteuklidische. Sie darf höchstens sagen: Die Naturgesetze können\r
3644 bequem in sehr allgemeiner Form ausgesprochen werden, wenn wir nichteuklidische\r
3645 Maßbestimmungen zugrunde legen.\grqq{} Leider übersieht \name{Sellien}\r
3646 nur eines: wenn der Raum nichteuklidisch im \name{Einstein}schen\r
3647 Sinne ist, dann ist es durch keine Koordinatentransformation möglich,\r
3648 ihn euklidisch darzustellen. Der Übergang zur euklidischen Geometrie\r
3649 würde den Übergang zu einer andern Physik bedeuten, die physikalischen\r
3650 Gesetze würden dann materiell anders lauten, und \emph{eine} Physik kann\r
3651 nur richtig sein. Es gibt hier also nur ein entweder - oder, und man\r
3652 \page{105}\r
3653 versteht nicht, warum \name{Sellien} nicht die Relativitätstheorie als \emph{falsch}\r
3654 bezeichnet, wenn er doch an \name{Kant} festhält. Befremdend erscheint auch\r
3655 die Ansicht, daß die Relativitätstheorie aus Bequemlichkeitsgründen\r
3656 von den Physikern erfunden worden sei; ich finde, daß die alte \name{Newton}sche\r
3657 Theorie viel bequemer war. Wenn \name{Sellien} aber weiterhin\r
3658 behauptet, der \name{Einstein}sche Raum sei ein anderer als der von \name{Kant}\r
3659 gemeinte, so stellt er sich damit in Widerspruch zu \name{Kant}. Freilich läßt\r
3660 es sich durch keine Erfahrung beweisen, daß ein Raum, den ich mir als\r
3661 bloß fingiertes Gebilde euklidisch vorstelle, nichteuklidisch sei. Aber\r
3662 \name{Kants} Raum ist gerade wie \name{Einsteins} Raum derjenige, in dem die\r
3663 Dinge der Erfahrung, das sind die Gegenstände der \emph{Physik}, lokalisiert\r
3664 werden. Darin liegt die erkenntnistheoretische Bedeutung der \name{Kant}ischen\r
3665 Lehre, und ihre Unterscheidung von metaphysischer Spekulation\r
3666 über anschauliche Hirngespinste.}\r
3668 \litanm{3}{S. 4. Es liegt bisher keine Darstellung der Relativitätstheorie vor,\r
3669 in der diese Zusammenhänge mit hinreichender Schärfe formuliert sind;\r
3670 denn allen bisherigen Darstellungen kommt es mehr darauf an, zu überzeugen,\r
3671 als zu axiomatisieren. Am nächsten kommt diesem Ziel, in einer\r
3672 glücklichen Verbindung von Systematik des Aufbaus und Anschaulichkeit\r
3673 der Prinzipien, die Darstellung von \name{Erwin Freundlich} (Die Grundlagen\r
3674 der \name{Einstein}schen Gravitationstheorie, Verlag von Julius Springer\r
3675 1920. 4.~Aufl.). In dieser Schrift wird mit großer Klarheit die Unterscheidung\r
3676 von prinzipiellen Forderungen und speziellen Erfahrungen\r
3677 durchgeführt. Es kann deshalb für die physikalische Begründung der\r
3678 Abschnitte II und III dieser Untersuchung auf die Schrift \name{Freundlichs},\r
3679 besonders auch auf die Anmerkungen darin, hingewiesen werden.\r
3681 Als eine gute Veranschaulichung des physikalischen Inhalts der\r
3682 Theorie sei auch die Schrift von \name{Moritz Schlick}, Raum und Zeit in der\r
3683 gegenwärtigen Physik, 3.~Aufl., Verlag von Julius Springer 1920, genannt.}\r
3685 \litanm{4}{S. 6. Vgl. zu dieser Auffassung des Apriori-Begriffes Anmerkung\r
3686 17.}\r
3688 \litanm{5}{S. 9. A. \name{Einstein}. Zur Elektrodynamik bewegter Körper,\r
3689 Ann. d. Phys. 17, 1905, S.~891.}\r
3691 \litanm{6}{S. 13. Wir müssen diesen Einwand auch der \name{Natorp}schen Deutung\r
3692 der speziellen Relativitätstheorie machen, die er in den \glqq{}Logischen Grundlagen\r
3693 der exakten Wissenschaften\grqq{}, Teubner 1910, S.~402, gibt. Er hat\r
3694 nicht bemerkt, daß die Relativitätstheorie die Lichtgeschwindigkeit als\r
3695 prinzipielle Grenze festsetzt, und glaubt, daß sie diese Geschwindigkeit\r
3696 \page{106}\r
3697 nur als vorläufig erreichbaren Höchstwert ansieht. Darum kann auch\r
3698 \name{Natorps} Versuch, die absolute Zeit zu retten und die Widersprüche\r
3699 auf die Unmöglichkeit ihrer \glqq{}empirischen Erfüllung\grqq{} zu schieben, nicht\r
3700 als gelungen betrachtet werden.}\r
3702 \litanm{7}{S. 21. \name{A. Einstein}, Die Grundlage der allgemeinen Relativitätstheorie.\r
3703 Ann. d. Phys. 1916, S.~777.}\r
3705 \litanm{8}{S. 24. \name{Einstein}, a.~a.~O. S.~774. Vgl. auch die sehr geschickte Darstellung\r
3706 dieses Beispiels bei \name{Bloch}, Einführung in die Relativitätstheorie,\r
3707 Teubner 1918, S.~95.}\r
3709 \litanm{9}{S. 33. \name{David Hilbert}, Grundlagen der Geometrie, Teubner 1913, S.~5.}\r
3711 \litanm{10}{S. 33. \name{Moritz Schlick}, Allgemeine Erkenntnislehre. Springer\r
3712 1918, S.~30.}\r
3714 \litanm{11}{S. 41. \name{Schlick}. a.~a.~O. S.~55.}\r
3716 \litanm{12}{S. 50. \name{Kant}, Kritik der reinen Vernunft. 2.~Aufl. §~14, S.~126\r
3717 der Originalausgabe.}\r
3719 \litanm{13}{S. 50. Eine Begründung dieses Prinzips geben meine in Anmerkung\r
3720 20 genannten Arbeiten.}\r
3722 \litanm{14}{S. 51. Dieses Prinzip ist von \name{Kurt Lewin} analysiert worden.\r
3723 Vgl. seine in Anmerkung 20 genannten Arbeiten.}\r
3725 \litanm{15}{S. 51. Eine gute Übersicht über die Entwicklung der physikalischen\r
3726 Verknüpfungsaxiome gibt \name{Haas}, Naturwissenschaften 7, 1919, S.~744.\r
3727 Freilich glaubt \name{Haas}, hier sämtliche Axiome der Physik vor sich zu\r
3728 haben, da er die Notwendigkeit physikalischer Zuordnungsaxiome nicht\r
3729 sieht.}\r
3731 \litanm{16}{S. 53. Kritik der reinen Vernunft. 2.~Aufl. S.~43. Es ist nicht recht\r
3732 einzusehen, warum \name{Kant} glaubt, daß diese anderen Wesen nur in der\r
3733 Anschauung von uns differieren können und nicht auch in den Kategorien.\r
3734 Seine Theorie würde auch durch diese Möglichkeit nicht gestört.}\r
3736 \litanm{17}{S. 54. Man wird mir vielleicht den Einwand machen, daß \name{Kant} niemals\r
3737 das Wort Evidenz zur Charakterisierung apriorer Prinzipien benutzt\r
3738 hat. Es läßt sich aber leicht zeigen, daß die von \name{Kant} behauptete \emph{Einsicht\r
3739 in die notwendige Geltung} apriorer Sätze nichts anderes ist,\r
3740 als was wir hier und oben als Evidenz bezeichnet haben. Ich gebe zu,\r
3741 daß das Verfahren \name{Kants}, von der Existenz evidenter apriorer Sätze\r
3742 als einem Faktum auszugehen und nur ihre Stellung im Erkenntnisbegriff\r
3743 zu analysieren, von manchen Neukantianern aufgegeben worden\r
3744 ist -- wenn mir auch scheint, daß damit ein tiefes Prinzip der\r
3745 \page{107}\r
3746 \name{Kant}ischen Lehre verloren ging, an dessen Stelle bisher kein besseres gesetzt\r
3747 wurde -- aber ich will mich in dieser Untersuchung allein auf eine Auseinandersetzung\r
3748 mit der Lehre \name{Kants} in ihrer ursprünglichen Form\r
3749 beschränken. Denn ich glaube, daß diese Lehre in bisher unerreichter\r
3750 Höhe über aller andern Philosophie steht, und daß nur sie selbst in ihrem\r
3751 exakt ausgeführten System der \name{Einstein}schen Lehre äquivalent in dem\r
3752 Sinne ist, daß eine Diskussion fruchtbar wird. Zur Begründung meiner\r
3753 Auffassung von \name{Kants} Aprioritätsbegriff nenne ich folgende Stellen aus\r
3754 der Kritik der reinen Vernunft (2.~Aufl., Seiten nach der Originalausgabe):\r
3755 \glqq{}Es kommt hier auf ein Merkmal an, woran wir sicher ein reines Erkenntnis\r
3756 von empirischen unterscheiden können. Erfahrung lehrt uns zwar, daß\r
3757 etwas so oder so beschaffen sei, aber nicht, daß es nicht anders sein\r
3758 könne. Findet sich also erstlich ein Satz, \emph{der zugleich mit seiner\r
3759 Notwendigkeit gedacht wird}, so ist er ein Urteil apriori (S.~3). Wo\r
3760 dagegen strenge Allgemeingültigkeit zu einem Urteile wesentlich gehört,\r
3761 da zeigt diese auf einen besonderen Erkenntnisquell desselben, nämlich\r
3762 ein Vermögen des Erkenntnisses apriori (S.~4). Daß es nun dergleichen\r
3763 notwendige und im strengsten Sinne allgemeine, mithin reine Urteile\r
3764 apriori im menschlichen Erkenntnis wirklich gebe, ist leicht zu zeigen.\r
3765 Will man ein Beispiel aus Wissenschaften, so darf man nur auf alle Sätze\r
3766 der Mathematik hinaussehen; will man ein solches aus dem gemeinsten\r
3767 Verstandesgebrauche, so kann der Satz, daß alle Veränderung eine Ursache\r
3768 haben müsse, dazu dienen; ja in dem letzteren enthält selbst der Begriff\r
3769 einer Ursache so \emph{offenbar den Begriff einer Notwendigkeit} der\r
3770 Verknüpfung mit einer Wirkung und einer strengen Allgemeinheit der\r
3771 Regel, daß er gänzlich verloren gehen würde, wenn man ihn \ldots{} von\r
3772 einer Gewohnheit, Vorstellungen zu verknüpfen, ableiten wollte\grqq{}\r
3773 (S.~4--5).\r
3775 \glqq{}Naturwissenschaft enthält synthetische Urteile apriori als Prinzipien\r
3776 in sich. Ich will nur ein paar Sätze zum Beispiel anführen, als den Satz,\r
3777 daß in allen Veränderungen der körperlichen Welt die Quantität der\r
3778 Materie unverändert bleibe, oder daß in aller Mitteilung der Bewegung\r
3779 Wirkung und Gegenwirkung jederzeit einander gleich sein müssen. An\r
3780 beiden ist nicht allein die \emph{Notwendigkeit, mithin ihr Ursprung\r
3781 apriori}, sondern auch daß sie synthetische Sätze sind, klar\grqq{} (S.~17).\r
3783 Und von der reinen Mathematik und der reinen Naturwissenschaft,\r
3784 dem Inbegriff der aprioren Sätze dieser Wissenschaften, heißt es: \glqq{}Von\r
3785 diesen Wissenschaften, da sie wirklich gegeben sind, läßt sich nun wohl\r
3786 geziemend fragen, \emph{wie} sie möglich sind, denn \emph{daß} sie möglich sein\r
3787 \page{108}\r
3788 müssen, wird durch ihre Wirklichkeit bewiesen\grqq{} (S.~20). Und Prolegomena,\r
3789 S.~275 und 276 der Akademieausgabe: \glqq{}Es trifft sich aber\r
3790 glücklicherweise, \ldots{} daß gewisse reine synthetische Erkenntnis apriori\r
3791 wirklich und gegeben sei, nämlich reine Mathematik und reine Naturwissenschaft;\r
3792 denn beide enthalten Sätze, die teils apodiktisch gewiß\r
3793 durch bloße Vernunft, teils durch die allgemeine Einstimmung aus der\r
3794 Erfahrung, und dennoch als von Erfahrung unabhängig durchgängig\r
3795 anerkannt werden. \ldots{} Wir dürfen aber die Möglichkeit solcher\r
3796 Sätze hier nicht zuerst suchen, d.\,i. fragen, ob sie möglich seien. Denn es\r
3797 sind deren genug, und zwar mit unstreitiger Gewißheit, wirklich gegeben.\grqq{}\r
3799 Für die zweite Bedeutung des Apriori-Begriffes, die wohl nicht\r
3800 bestritten werden wird, brauche ich keine Zitate anzuführen. Ich verweise\r
3801 dafür vor allem auf die transzendentale Deduktion in der Kritik\r
3802 der reinen Vernunft.}\r
3804 \litanm{18}{S. 64. Für eine genaue Begründung dieser wahrscheinlichkeitstheoretischen\r
3805 Hypothese muß auf die in Anmerkung 20 genannten Arbeiten\r
3806 des Verfassers hingewiesen werden.}\r
3808 \litanm{19}{S. 68. Kritik der Urteilskraft. Einleitung, Abschnitt~V.}\r
3810 \litanm{20}{S. 72. \name{Reichenbach}. Der Begriff der Wahrscheinlichkeit für die\r
3811 mathematische Darstellung der Wirklichkeit. Dissertation Erlangen 1915\r
3812 und Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Bd.~161,\r
3813 Barth 1917. -- Die physikalischen Voraussetzungen der Wahrscheinlichkeitsrechnung,\r
3814 Naturwiss. 8, 3, S.~46--55. -- Philosophische Kritik der\r
3815 Wahrscheinlichkeitsrechnung, Naturwiss. 8, 8, S.~146--153, Springer 1920, --\r
3816 Über die physikalischen Voraussetzungen der Wahrscheinlichkeitsrechnung.\r
3817 Zeitschrift für Physik 1920, Bd.~2. Heft 2, S.~150--171.\r
3819 Die gleiche Arbeitsrichtung verfolgen die wissenschaftstheoretischen\r
3820 Arbeiten von \name{Kurt Lewin}: Die Verwandtschaftsbegriffe in Biologie und\r
3821 Physik und die Darstellung vollständiger Stammbäume, Bornträger,\r
3822 Berlin 1920, und: Der Ordnungstypus der genetischen Reihen in Physik,\r
3823 organismischer Biologie und Entwicklungsgeschichte, Bornträger, Berlin\r
3824 1920.\r
3826 Über die erkenntnistheoretische Bedeutung der Relativitätstheorie\r
3827 liegt neuerdings eine Arbeit von \name{Ernst Cassirer} vor (Zur \name{Einstein}schen\r
3828 Relativitätstheorie, erkenntnistheoretische Betrachtungen, Berlin 1920,\r
3829 B. \name{Cassirer}), in der zum ersten Male von einem hervorragenden Vertreter\r
3830 der neukantischen Richtung eine Auseinandersetzung mit der allgemeinen\r
3831 Relativitätstheorie versucht wird. Die Arbeit will für die Diskussion\r
3832 \page{109}\r
3833 zwischen Physikern und Philosophen eine Grundlage geben. In der Tat\r
3834 erscheint von neukantischer Seite niemand zur Einleitung der Diskussion\r
3835 berufener als \name{Cassirer}, dessen kritische Auflösung physikalischer\r
3836 Begriffe von jeher eine Richtung einschlug, die der Relativitätstheorie\r
3837 nicht fremd ist. Besonders gilt das für den Substanzbegriff. (Vgl. E. \name{Cassirer},\r
3838 Substanzbegriff und Funktionsbegriff, Berlin 1910. B. \name{Cassirer}).\r
3839 Leider war es mir nicht möglich, auf \name{Cassirers} Arbeit einzugehen, da\r
3840 ich sie erst nach Drucklegung meiner Schrift lesen konnte.}\r
3842 \litanm{21}{S. 73. \name{Hermann Weyl}, Raum-Zeit-Materie. Verlag von Julius\r
3843 Springer 1918, S.~227. \name{Arthur Haas}, Die Physik als geometrische\r
3844 Notwendigkeit. Naturwiss. 8, 7, S.~121--140. Springer 1920.}\r
3846 \litanm{22}{S. 73 \name{Hermann Weyl}, Gravitation und Elektrizität. Sitz.-Ber.\r
3847 der Berliner Akademie. 1918, S.~465--480.}\r
3849 \litanm{23}{S. 75. Vgl. z.\,B. Kritik der reinen Vernunft. 2.~Aufl. S.~228. \glqq{}Ein\r
3850 Philosoph wurde gefragt: Wieviel wiegt der Rauch? Er antwortete: Ziehe\r
3851 von dem Gewichte des verbrannten Holzes das Gewicht der übrig bleibenden\r
3852 Asche ab, so hast du das Gewicht des Rauches. Er setzte also als\r
3853 unwidersprechlich voraus, daß selbst im Feuer die Materie (Substanz)\r
3854 nicht vergehe, sondern nur die Form derselben eine Abänderung erleide.\grqq{}\r
3855 Dieses Beispiel ist zwar chemisch falsch, zeigt aber deutlich, wie konkret\r
3856 sich \name{Kant} die Substanz als wägbare Materie vorstellt.}\r
3858 \litanm{24}{S. 78. In diesem Sinne muß ich die in meinen früheren Arbeiten\r
3859 (vgl. Anm. 20) aufgestellte Behauptung, daß dieses Prinzip durch Erfahrungen\r
3860 nicht widerlegt werden könne, jetzt berichtigen. Eine Widerlegung\r
3861 in dem Sinne einer begrifflichen Verallgemeinerung ist nach dem Verfahren\r
3862 der stetigen Erweiterung allerdings möglich; aber natürlich hat eine so\r
3863 primitive Prüfung keinen Sinn, wie sie durch Auszählen einfacher Wahrscheinlichkeitsverteilungen\r
3864 gelegentlich versucht wird.}\r
3866 \litanm{25}{S. 79. Vgl. hierzu meine in Anmerkung 20 genannte erste Arbeit,\r
3867 S. 229.}\r
3869 \litanm{26}{S. 80. Vgl. die in Anmerkung 10 genannte Arbeit, S. 323.}\r
3871 \litanm{27}{S. 82. Es ist auffallend, daß \name{Schlick}, der den Begriff der eindeutigen\r
3872 Zuordnung in den Mittelpunkt seiner Untersuchungen stellt und\r
3873 um den Nachweis der Bedeutung dieses Begriffs ein großes Verdienst\r
3874 hat, die Möglichkeit einer solchen Verallgemeinerung gar nicht gesehen\r
3875 hat. Ihm ist es selbstverständlich, daß die Zuordnung eindeutig sein\r
3876 muß; er hält es für eine notwendige menschliche Veranlagung, auf diese\r
3877 Weise zu erkennen, und meint, daß die Erkenntnis vor einem non possumus\r
3878 \page{110}\r
3879 stände, wenn sie einmal mit der eindeutigen Zuordnung nicht mehr\r
3880 weiter käme (Anmerkung 10, S.~344). Aber etwas anderes hatte \name{Kant}\r
3881 auch nicht behauptet, als er seine Kategorien aufstellte. Es ist bezeichnend\r
3882 für \name{Schlicks} psychologisierende Methode, daß er den richtigen Teil der\r
3883 \name{Kant}ischen Lehre, nämlich die konstitutive Bedeutung der Zuordnungsprinzipien,\r
3884 mit vielen Beweisen zu widerlegen glaubt und den fehlerhaften\r
3885 Teil übernimmt, ohne es zu bemerken; die Charakterisierung der Erkenntnis\r
3886 als eindeutige Zuordnung ist \name{Schlicks} Analyse der Vernunft,\r
3887 und die Eindeutigkeit sein synthetisches Urteil apriori.}\r
3889 \litanm{28}{S. 91. \name{Helge Holst}, Die kausale Relativitätsforderung und\r
3890 \name{Einsteins} Relativitätstheorie, Det Kgl. Danske Vidensk. Selskab\r
3891 Math.-fys. Medd. II, 11, Kopenhagen, 1919.}\r
3892 %\end{thebibliography}\r
3893 \end{document}\r