War of the Worlds: Fixes after reading
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12 \raggedbottom
13 \begin{center}
14 \textbf{\huge\textsf{Das Herz, der Schlund und das Blut}}
16 \medskip
17 Tedine Sanss
19 \end{center}
21 \bigskip
23 \begin{flushleft}
24 Dieser Text wurde erstmals veröffentlicht in:
25 \begin{center}
26 Die Steampunk-Chroniken\\
27 Band I -- Æthergarn
28 \end{center}
30 \bigskip
32 Der ganze Band steht unter einer
33 \href{http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.0/de/}{Creative-Commons-Lizenz.} \\
34 (CC BY-NC-ND)
36 \bigskip
38 Spenden werden auf der
39 \href{http://steampunk-chroniken.de/download}{Downloadseite}
40 des Projekts gerne entgegen genommen.
41 \end{flushleft}
43 \newpage
45 »Extrablatt!« Der kleine, abenteuerlich verdreckte Zeitungsjunge,
46 dem die Schirmmütze immer wieder auf die Nase rutschte, schwenkte
47 die \textit{Times} hoch durch die Luft.
49 »Extrablatt! Die \textit{King Charles} greift erneut nach dem purpurnen
50 Band! \textit{King Charles} läuft heute noch zum Ganymed aus! Extra \ldots{}
51 Danke, Sir!« Er nahm den Schilling und kramte mit der anderen Hand
52 in seiner Umhängetasche, um das Wechselgeld herauszugeben.
54 \bigpar
56 »Es stimmt so, mein Sohn.« Algernon Holland hatte gute Laune. »Kauf
57 dir einen Becher Bier dafür und trink ihn auf mein Wohl. Von mir
58 werden deine Leser erfahren, ob die \textit{King Charles} tatsächlich in der
59 Lage ist, den Geschwindigkeitsrekord zu brechen.«
61 Der Junge machte große Augen und hob salutierend zwei Finger an die
62 Mütze, die dadurch erneut abstürzte.
64 »Danke, Mister Holland, Sir! Wenn Sie erlauben, nehme ich statt des
65 Biers einen Krug Milch für meine kleine Schwester, Sir. Sie sind
66 mein großes Vorbild. Ich will zur Zeitung gehen und Reisen machen
67 und Berichte darüber schreiben wie Sie.«
69 Lachend zog Algernon die Schirmmütze des Jungen wieder gerade und
70 klopfte ihm auf die Schulter. »Wenn ich wieder zurück bin, dann
71 melde dich doch bei der Daily. Mal sehen, ob ich etwas für dich tun
72 kann. Und hier hast du noch ein paar Pence. Kauf deiner kleinen
73 Schwester auch ein Püppchen.«
75 »Ja, Mister Holland, Sir, danke, Sir. Extrablatt!«
77 \bigpar
79 Algernon ging weiter und musterte nachdenklich seine Hand. Ob der
80 Junge Läuse hatte? Er musste sich bei der nächsten Gelegenheit
81 waschen und sein Hemd wechseln. Cremefarbene Seide war so
82 empfindlich, und der Staub in den Hafengassen schien beinahe
83 magnetisch davon angezogen zu werden.
85 Seit zwei Jahrzehnten hatte er nun schon die lukrative Aufgabe, auf
86 den schnellsten und luxuriösesten Ætherklippern die Strecke zum
87 Ganymed und zurück zu befahren. Jede entgegenkommende
88 Handelsschaluppe nahm einen seiner Berichte mit, die von seinen
89 Gesprächen mit den Gästen im Rauchersalon handelten, seinen
90 Beobachtungen auf den Kapitänsbällen und seinen Beschreibungen der
91 feinen Gesellschaft und ihrer Lebensweise auf der Erde und dem
92 erdähnlichsten der Jupitermonde, dem Ganymed. Regelmäßig lieferte
93 er seinen Lesern dabei eine Fülle von mythologischen Anspielungen
94 und die ätzenden Bonmots und klugen Sentenzen, für die er berühmt
95 war. Mit Genugtuung hatte er vernommen, dass seine Art zu schreiben
96 in Mode gekommen war und als »Hollandismus« bezeichnet wurde.
97 Weiter konnte man es wohl nicht bringen.
99 \bigpar
101 Die Zeitung unter den Arm geklemmt, wo sie vermutlich
102 Druckerschwärzeflecken hinterließ und das Hemd vollends ruinierte,
103 schritt er beschwingt zum Kai.
105 \bigpar
107 Die \textit{King Charles} war zu groß, um am Steg zu ankern. Sie lag ein
108 Stück weiter draußen im Hafenbecken. Als Algernon zu ihr hinaus
109 schaute, sträubten sich wie immer seine Nackenhaare. Sie war so
110 riesig. Selbst jetzt, da ihre Segel gerefft waren und die Masten
111 kahl in den Himmel ragten wie das Skelett eines Giganten – er zog
112 sein berühmtes blaues Heft hervor und notierte die Wendung –
113 vermittelte sie den Eindruck überwältigender Größe. Ihr
114 kupferbeschlagener Rumpf gleißte in der Sonne, er schien das Licht
115 beinahe auszustrahlen, anstatt es nur zu reflektieren. Wie ein
116 lebendiges, geschmeidiges Wasserwesen schaukelte sie ungeduldig auf
117 den Wellen, von den schweren Ankerketten nur mühsam gehalten. Der
118 Kessel, der das Schaufelrad am Heck antrieb, war schon vorgeheizt,
119 und aus dem schmalen Schornstein zwischen Hauptmast und Besanmast
120 kräuselte sich Rauch. Kleine Boote umkreisten sie wie Monde einen
121 Planeten, sie lieferten Wasserfässer, Tröge mit dem entsetzlichen
122 gepökelten Fleisch, das die Æthermänner als Hauptnahrungsmittel zu
123 betrachten schienen, Ballen mit Segeltuch, lebende Kühe, Schweine,
124 Ziegen und Hühner, die muhend, grunzend, blökend und gackernd auf
125 den wackligen Planken an Bord balancierten und eilig unter Deck
126 geschafft wurden, sowie eine Fülle weiterer Waren in Fässern,
127 Körben, Tragen, Säcken und Kisten. Es erschien ihm unglaubwürdig,
128 wie der Ætherklipper dies alles in sich hineinfraß und doch so
129 schlank blieb – ihm gelang so etwas nicht.
131 Erneut zückte er das blaue Heft, in dem er alle Hollandismen
132 festhielt. Dann winkte er einem der Bootsleute und dirigierte seine
133 eigene Habe, die Koffer, Schachteln, Taschen und schließlich sich
134 selbst an Bord.
136 \bigpar
138 Der Start, so aufregend er für die Æthermänner und Schaulustigen am
139 Kai auch war, wurde von den Gästen der Erste-Klasse-Kabinen
140 traditionell ignoriert. Sie wussten, dass auf dem Klipper unter
141 lauten Rufen die Segel gesetzt und die Anker gelichtet wurden, dass
142 der fauchende Kessel das Schaufelrad in Bewegung brachte, ohne
143 dessen zusätzliche Energie auch der prächtigste Klipper die
144 Atmosphäre nicht hätte überwinden können. Sie bemerkten auch, dass
145 das schlanke Gefährt immer schnellere Fahrt aufnahm und dann,
146 technisch zwar begründbar, aber für sie als Laien beinahe wie
147 Zauberei, in den Himmel aufstieg, durch die Wolkendecke stieß,
148 immer noch beschleunigte und sich schließlich in den Æther
149 aufmachte. Das war durchaus spektakulär, aber mit offenem Maul zu
150 staunen schickte sich nicht, und gescheit klingende Kommentare
151 trauten sie sich klugerweise nicht zu. Sie blieben also, wo sie
152 waren, schikanierten die Diener, verwendeten eine unglaubliche Zeit
153 auf die Wahl des richtigen Anzugs oder ließen sich von der Zofe zum
154 zehnten Mal das Haar hochstecken. Danach schritten sie zum
155 Dinnersaal. Erst dort, inmitten ihresgleichen, fühlten sie sich
156 wieder behaglich.
158 \bigpar
160 Algernon hatte das cremefarbene Seidenhemd gegen ein schneeweißes
161 ausgetauscht und dazu einen Smoking angezogen, dezent und
162 zurückhaltend für den ersten Abend, wie er befand. Dann war er
163 raschen Schrittes in den Saal geeilt und hatte sich in einer Ecke
164 platziert, um die übrigen Gäste beim Eintreten beobachten zu
165 können.
167 Vorläufig waren es nur sechs Stühle, die um einen Tisch aufgestellt
168 waren. Die weiteren Gäste der ersten Klasse würden erst bei der
169 Zwischenlandung im Mondhafen zusteigen.
171 \bigpar
173 Die erste die hereinkam, offensichtlich von Hunger getrieben, war
174 die hagere Baronin Hohenschön. Algernon war ihr trotz all seiner
175 zahllosen Reisen entgegen aller Wahrscheinlichkeit noch niemals
176 persönlich begegnet, aber die Geschichten über sie kannte er gut.
177 Von Jahr zu Jahr liefen neben den offiziellen Wetten auf die
178 Geschwindigkeit der Ætherklipper auch Nebenwetten darauf, ob die
179 Baronin dieses Mal wieder lebendig ihr Ziel erreichen, oder auf
180 halber Strecke zu Staub zerfallen würde. Bisher hatte noch immer
181 diejenigen gewonnen, die darauf setzten, dass die Dame viel zu gut
182 in Gin konserviert sei, um jemals zu modern.
184 In der linken Hand hielt sie einen Fächer, in der Armbeuge
185 balancierte sie einen winzigen Hund, der über den Spitzenbesatz des
186 Ärmels hinweg die Zähne bleckte, und mit der Rechten stützte sie
187 sich schwer auf eine blutjunge Gesellschafterin. Diese wurde von
188 Jahr zu Jahr ersetzt, und ein besonders bissiges Gerücht besagte,
189 die Baronin sauge die Lebenskraft ihrer Gesellschafterinnen aus und
190 halte sich nur dadurch am Leben. Natürlich war das Unfug. Sie
191 saugte darüber hinaus einige Nichten und Großnichten aus, bei denen
192 sie sich zwischen ihren Reisen einquartierte, des weiteren eine
193 Reihe von Anwaltsbüros, die die Vermögen ihrer diversen
194 verstorbenen Ehemänner verwalteten, und schließlich noch den
195 Verstand eines jeden, der sich mit ihr auf ein Rededuell einließ.
197 Algernon lächelte. Er war sicher, dass die Baronin auf dieser Fahrt
198 in ihm ihren Meister finden würde.
200 \bigpar
202 Nach ihr betrat Bert van Guellen den Saal, ein reicher Bankier, der
203 auf dem Höhepunkt seiner Macht den Fehler begangen hatte, eine
204 Schauspielerin zu heiraten. Blass und anämisch hing sie jetzt an
205 seinem Arm, als müsse sie demonstrieren, welch eine Last sie für
206 ihn war. Gesellschaftlich ohnehin in einer angreifbaren Position,
207 hatte er sich durch diese Mesalliance sämtliche Türen verschlossen,
208 die er nicht durch sein Scheckbuch offen halten konnte, und auch
209 sein Eheglück erschien Algernon fraglich, denn er ging gebeugt,
210 sein Gesicht war grau und eingefallen wie das eines Mannes, der vor
211 Kurzem sehr viel Gewicht verloren hatte.
213 \bigpar
215 Ihnen folgte John Shallow-Bargepole, ein Gentleman, was sich vor
216 allem darin zeigte, dass niemand genau hätte sagen können, womit er
217 sich beschäftigte. Gelegentlich wettete er auf Pferde, allerdings
218 mit wenig Glück, und meist lag er anderen Menschen auf der Tasche.
219 Mit langen Schritten überholte er die anderen und ließ sich auf den
220 einzigen Stuhl plumpsen, der mit dem Rücken zum Fenster stand.
222 \bigpar
224 Die Baronin verhielt den Schritt. Missbilligend stieg ihre rechte
225 Augenbraue in die Höhe. Algernon hätte schwören können, dass ihr
226 Gesicht dabei knisterte, als bestehe es aus brechendem Pergament.
228 Shallow-Bargepole grinste entschuldigend, was ihm nicht stand, denn
229 es ließ sein jugendlich-verlebtes Gesicht knittern wie ein billiges
230 Hemd. »Vertrage den Ausblick nicht. Das Auf und Ab. Muss davon
231 speien, wenn Sie verstehen, was ich meine.« Jetzt hatte er Algernon
232 entdeckt und ließ ihm einen gelangweilten Blick durch sein Lorgnon
233 zukommen. »Sie auch hier? Aussichten auf das purpurne Band, was
234 meinen Sie?«
236 »Auch Ihnen einen guten Abend«, erwiderte Algernon mit betonter
237 Höflichkeit. »Baronin, ich hoffe, Sie hatten eine gute Anreise?«
239 Sie musterte ihn eisig. »Ich glaube nicht, dass wir einander
240 vorgestellt wurden.«
242 »Algernon Holland, der Journalist«, warf Shallow-Bargepole
243 nachlässig ein, und es gelang ihm, dem Wort »Journalist« einen
244 Klang zu verleihen, als handele es sich um eine Art ansteckenden
245 Ausschlags.
247 »Sind Sie sicher, dass hier für Sie gedeckt ist?« Die Baronin
248 wandte sich ab. Mit dem Fächer versetzte sie ihrer
249 Gesellschafterin, einer gehetzten blassen Frau, einen gezielten
250 Hieb auf das Handgelenk und veranlasste sie damit, einen Stuhl
251 zurechtzurücken. Leise raschelnd setzte sie sich darauf nieder,
252 während der Hund, der um sein Gleichgewicht rang, einen enervierend
253 hohen Kläfflaut ausstieß. »Ruhig, Precious!«, befahl sie.
255 Achselzuckend begab sich Algernon auf die andere Seite des Tisches
256 und rutschte auf den freien Platz neben der Bankiersgattin.
257 Vergebens kramte er in seinem Gedächtnis nach ihrem Namen und
258 nickte ihr nur vage zu. Dann beschloss er, die Eröffnungsrunde
259 verloren zu geben und sich zunächst dem Essen zu widmen.
261 \bigpar
263 Als der erste Gang aufgetragen wurde, hatte seine Tischnachbarin
264 bereits das zweite Glas Wein geleert und schnippte ungeduldig mit
265 dem Finger, um das dritte in Angriff nehmen zu können.
267 \bigpar
269 »Cora, mein Liebling \ldots{}«, murmelte der Bankier.
271 Cora – jetzt fiel es ihm wieder ein. Cora Hock, für eine Saison der
272 Star des Londoner Westends. Er musterte sie verstohlen von der
273 Seite. Noch war sie schön, aber ihre klaren Züge hatten bereits
274 begonnen, schwammig zu werden. Kleine Fältchen sammelten sich in
275 ihren Mundwinkeln, ihre Kinnlinie verlor an Kontur.
277 Sie spürte seinen Blick und wandte sich um, seine Aufmerksamkeit
278 absichtlich missverstehend. Ihr Kleid war zu rot, ihr Ausschnitt zu
279 tief, ihr Schmuck ein wenig zu prunkvoll, um echt zu sein. »Gewiss
280 erinnern Sie sich an meinen Auftritt als Rosamunde im Adelphi?«,
281 fragte sie mit einem Augenaufschlag, der seelenvoll wirken sollte.
283 »Niemals wurde sie anmutiger verkörpert«, erwiderte Algernon ohne
284 zu zögern, obwohl er sicher war, sie nie auf der Bühne gesehen zu
285 haben.
287 »Reizend von Ihnen, dass Sie sich noch so genau entsinnen können.
288 Mein Kleid war \ldots{} Wissen Sie noch, welche Farbe es hatte?«
290 »Es passte genau zu Ihren Augen«, entgegnete er.
292 Shallow-Bargepole, der ihnen gegenüber saß, hatte seinen Trick
293 durchschaut und lachte garstig.
295 Verbittert griff Cora van Guellen nach ihrem Glas und leerte es in
296 einem Zug.
298 »Cora, mein Liebling \ldots{}«, drängte ihr Gatte.
300 Sie machte eine großartige Geste mit dem Arm, und es gelang
301 Algernon mit knapper Not, sein Gedeck in Sicherheit zu schieben.
302 Das Porzellan schepperte.
304 »Ich \ldots{} bin \ldots{} leer!«, begann sie mit Grabesstimme.
306 Bert van Guellen legte die Hand über die Augen, als habe er diesen
307 Monolog schon einmal zu oft vernommen.
309 »Ich bin nur mehr ein hohles Gefäß! Man hat mir mein Publikum
310 genommen, ich bin zur Sprachlosigkeit verurteilt. Ein Vogel in
311 einem goldenen Käfig hat es besser als ich, denn er darf doch
312 immerhin noch singen, und man hört ihm zu. Aber schauen Sie mich
313 an! Ohne die Bühne bin ich ein Nichts! Verstummt, verloren,
314 verstümmelt. Ein Schatten, das ist es, was ich bin.«
316 »Um Himmels willen, hören Sie auf zu prahlen!«, fuhr die Baronin
317 dazwischen. »Auf der Bühne haben Sie nicht getaugt, und hier taugen
318 Sie noch viel weniger. Nehmen Sie eine Valium und legen Sie sich
319 hin, dann richten Sie zumindest kein Unheil an.«
321 \bigpar
323 Mit einem Aufschrei sprang Cora van Guellen auf die Füße.
325 »Cora, mein Liebling \ldots{}«, flehte der Bankier, aber da stand sie
326 schon wie eine flammende Anklage vor der Baronin, den Zeigefinger
327 ausgestreckt.
329 »Was \ldots{} wissen \ldots{} Sie \ldots{}«
331 »Schluss damit!«, fauchte die Greisin. »Ich hatte zwar nicht das
332 zweifelhafte Vergnügen, Sie auf der Bühne agieren zu sehen, aber
333 ich erkenne eine drittklassige Mimin, wenn sie vor mir steht. Seien
334 Sie froh, dass Sie im gemachten Nest sitzen und halten Sie Ruhe!«
336 Der Hund, der ihre Erregung spürte, stellte die Ohren auf und
337 kläffte. Sie warf ihn ihrer Gesellschafterin zu, die sich bemühte,
338 die kleine Schnauze zuzuhalten und gleichzeitig den um sich
339 schlagenden Pfoten auszuweichen.
341 Cora stand wie erstarrt. Eine schwächere Frau, dachte Algernon,
342 wäre an ihrer Stelle schluchzend zusammengebrochen. Aber Cora war
343 nicht schwach. Erst jetzt, vollkommen isoliert und in die Enge
344 getrieben, entfaltete sie ihre eigentliche Stärke.
346 »Im gemachten Nest«, begann sie leise, aber mit klangvoller Stimme,
347 »da sitzen auch Sie. Sie haben Ihr Leben lang nichts weiter getan
348 als sich systematisch hochzuheiraten, von der unbedeutenden kleinen
349 Modistin zur Baronin. Ich habe immerhin auf der Bühne gestanden,
350 ich habe selbst etwas dargestellt, wenn auch nur für eine Saison.
351 Also wagen Sie es nicht, auf mich herabzusehen. Nicht auf mich, und
352 nicht auf meinen Mann!«
354 Sie warf den Kopf zurück und marschierte, wenn auch schwankend,
355 durch die Tür. Ihr Mann sprang auf und eilte hinter ihr her.
357 »Cora!«, hörten sie ihn durch den Gang rufen.
359 \bigpar
361 Shallow-Bargepole applaudierte. «Was für ein Abgang! Möchte
362 vielleicht noch einer der Herrschaften vor dem Hauptgang das Weite
363 suchen? In diesem Fall würde die dürre Ente nämlich für die
364 Verbleibenden ausreichen.«
366 »Bedienen Sie sich ruhig«, sagte die Gesellschafterin. »Ich hatte
367 ohnehin vor, nur von dem Gemüse zu nehmen.«
369 »Kein Wunder, dass Sie so saftlos sind, Mabel, bei dieser
370 Ernährung!«, schnappte die Baronin und zog sich die Ente heran.
371 »Mister Holland, nicht wahr? Sie sind doch hoffentlich keiner
372 dieser schmierigen Klatschreporter, die ihren einzigen Lebenszweck
373 darin sehen, auf der Vergangenheit anderer Leute herumzureiten \ldots{}
374 ihre Herkunft auszuposaunen, ihre Wurzeln aufzudecken, oder wie man
375 so etwas in Ihren Kreisen nennt.«
377 Sie sprach so schroff, dass der Hund erneut zu kläffen begann, aber
378 Algernon hörte die unterschwellige Panik in ihrer Stimme.
380 »Mir ist eher daran gelegen«, begann er vorsichtig, »in der
381 Gegenwart Freundschaft zu halten.«
383 Die Baronin begann auf die Entenbrust einzuhacken, als duelliere
384 sie sich mit einem Kontrahenten. »Und was verstehen Sie unter
385 Freundschaft?«
387 Algernon erblickte die Gelegenheit, einen seiner Hollandismen
388 unterzubringen. »Ach, wissen Sie \ldots{} eine Freundschaft unter
389 Literaten hält meist nur so lange, wie das Mischen des
390 Schierlingsbechers dauert.«
392 Mabel warf ihm einen bewundernden Blick zu, und Shallow-Bargepole
393 musterte betont gleichgültig seine Fingernägel, aber die Baronin
394 stieß nur ein kurzes, papiernes Lachen aus. »Oscar Wilde. Sie
395 vergessen, mein Lieber, dass ich vor ein paar Monaten wieder einmal
396 die Gelegenheit hatte, meinen hundertsten Geburtstag zu feiern. Als
397 junges Mädchen in London war ich mit der Familie befreundet.«
399 Algernons Lächeln blieb unverändert. »Freundschaften pflegen zu
400 können erscheint mir als die nobelste Tugend.«
402 »Es waren sehr gewöhnliche Leute, allesamt. In meinem Alter ist es
403 eher von Vorteil, Feindschaften zu pflegen. Es geht nichts über die
404 Genugtuung, die Todesanzeige einer alten Feindin zu lesen und zu
405 wissen, dass man das letzte Wort behalten hat. Und nun reichen Sie
406 mir das Salz.«
408 »Das ist das Mindeste«, spöttelte Shallow-Bargepole, »da er Ihnen
409 schon nicht das Wasser reichen kann \ldots{}«
411 Algernon drehte sich zu ihm um, eine schlagfertige Antwort auf den
412 Lippen. Dabei entglitt ihm der Salzstreuer, rutschte über den Tisch
413 und traf den Hund. Der sprang mit einem schrillen Laut vom Schoß
414 der Gesellschafterin, die von der plötzlichen Reaktion des Tieres
415 viel zu überrascht war, um es halten zu können, und rannte mit
416 eingekniffenem Schwanz durch die offengebliebene Tür.
418 »Schauen Sie nur, was Sie angerichtet haben!«, kreischte die
419 Baronin in einem Ton, nicht unähnlich dem Schreckensschrei ihres
420 Hundes. »Precious, komm zurück! Precious, zu Frauchen! Mabel, Sie
421 nutzloses Ding, nun laufen Sie schon hinter ihm her und bringen Sie
422 ihn zurück!«
424 Mabel sprang auf und wandte sich kopflos zuerst in die eine, dann
425 in die andere Richtung. Ritterlich eilte Algernon an ihre Seite.
427 »Lassen Sie nur, es ist ja meine Schuld, dass der Hund in Panik
428 geraten ist. Ich werde ihn suchen. Bleiben Sie hier und kümmern Sie
429 sich um die Baronin.«
431 Sie nickte erleichtert und kehrte zu ihrem Platz zurück.
433 \bigpar
435 Algernon stürmte aus der Tür, sah einen kleinen Schatten um die
436 Ecke verschwinden und setzte ihm nach, auf den Hauptgang zu den
437 Kajüten. Suchend blickte er sich um. Erneut schien etwas Kleines
438 hinter einer Biegung zu verschwinden. Er hetzte hinterher, in einen
439 Nebengang hinein, konnte von dem Hund aber nichts entdecken. Die
440 Wege verzweigten sich, er eilte zuerst den einen, dann den anderen
441 entlang, folgte diesem bis zum Ende und fand sich schließlich in
442 einem spärlich erleuchteten weiteren Gang wieder.
444 \bigpar
446 »Precious?«, rief er versuchsweise.
448 Von weither glaubte er ein Kläffen zu hören, das sich in der Ferne
449 verlor. Er lief dem Geräusch nach, bis der Gang unvermittelt an
450 einer steilen Treppe endete.
452 »Precious? Komm zurück!«
454 Noch während ihm klar wurde, dass der Hund unmöglich die schmalen
455 Stufen überwunden haben konnte, klang es erneut in seinen Ohren.
456 War das Tier vielleicht in seiner Panik gestürzt und lag dort
457 unten?
459 Behutsam kletterte Algernon rückwärts hinunter, tastete mit den
460 Füßen nach dem kleinen Körper. Als unter seinem Tritt etwas Weiches
461 aufquietschte, riss er das Bein hoch, strauchelte fast, klammerte
462 sich an das Geländer. Zischelnd, schnatternd huschte es davon. Eine
463 Ratte.
465 Algernon schluchzte auf, er wusste selbst nicht, ob vor
466 Erleichterung oder Enttäuschung.
468 »Precious, bist du hier unten?«
470 Der Gang, in den er nun geriet, war enger und dunkler als der
471 erste. Er zog den Kopf ein und horchte.
473 Das Geräusch hatte sich vervielfältigt. Aus mehreren Richtungen
474 zugleich quiekte, schabte, kläffte es. Verwirrt drehte er sich im
475 Kreis.
477 »Precious, möchtest du einen Knochen? Ich will nicht geizig sein,
478 ich serviere dir die ganze Baronin, wenn du brav herkommst.«
480 Der Weg teilte sich wieder. Nach kurzem Zögern wählte Algernon den
481 linken Gang. Gab es nicht einen Merksatz, mit dem man aus jedem
482 Labyrinth wieder herausfand? Wenn man in einer festen Reihenfolge
483 nach rechts und links abbog, konnte man nicht verloren gehen.
484 Sollte er die schmalen Durchgänge mitzählen? Ein weiteres Mal stand
485 er vor Stufen. Hinauf oder hinunter? Er hätte eine Münze geworfen,
486 hätte er nicht befürchtet, dass er sie auf dem dunklen Boden
487 niemals wiederfinden würde.
489 »Hinunter!«, entschied er. »Wenn der Hund nicht auf magische Weise
490 Flügel bekommen hat, ist es wahrscheinlicher, dass er auf dem Weg
491 in die Tiefe ist.«
493 Wieder kletterte er rückwärts die steile Stiege hinab, gab
494 zischende Geräusche von sich, um Ratten zu vertreiben, rief und
495 lockte, um den Hund zu einer Antwort zu bewegen, lief erneut einen
496 niedrigen Gang entlang, der sich teilte und verzweigte, hielt
497 schließlich inne und musste eingestehen, dass er sich hoffnungslos
498 im Bauch des Schiffes verirrt hatte.
500 »Precious? Irgendjemand?«
502 Es roch nach ängstlichen Tieren. Er entsann sich der Menagerie, die
503 an Bord gebracht worden war. Irgendwo hier unten mussten ihre
504 Ställe sein, dunkel, eng und erschreckend. Außerdem roch es nach Öl
505 und heißem Metall, nach verschwitzter Kleidung und zu vielen
506 Menschen am selben Ort. Die Luft war feuchtwarm und abgestanden, er
507 spürte, wie ihm das Hemd am Körper klebte.
509 Eine Vielzahl von Geräuschen umgab ihn, ein Schnauben und Grunzen,
510 das hoffentlich von den Tieren herrührte, ein Pfeifen und Stampfen,
511 das zum Schiff selbst gehören mochte, darüber schwebten kurze,
512 abgehackte Rufe.
514 Menschen, immerhin. Wesen, mit denen er sich verständigen konnte
515 und die ihm den Weg zurück zum Dinnersaal zeigen würden. Tief nach
516 vorn gebeugt, um nicht an die niedrige Decke zu stoßen, schritt er
517 in die Richtung, aus der die Rufe zu ihm drangen.
519 \bigpar
521 »Wahrschau!« Eine kräftige Faust packte ihn und riss ihn zur Seite.
522 Er starrte in das Gesicht eines vierschrötigen Æthermannes,
523 verschwitzt, mit Öl und Ruß verschmiert. Da, wo er eben noch
524 gestanden hatte, rasselte eine schwere Kette vorbei, an deren Ende
525 ein metallener Kasten hing.
527 Keuchend holte er Atem.
529 »Das«, brachte er schließlich heraus, »wäre möglicherweise knapp
530 geworden.«
532 Der Æthermann zuckte die Achseln und strich bedauernd über
533 Algernons Smokingärmel, auf dem sich eine hässliche Ölspur zeigte.
535 »Der feine schwarze Anzug!«
537 »Ja, er ist schwarz, nicht wahr?« Algernon lächelte schwach. »Als
538 ich ihn in Auftrag gab, habe ich extra vermerkt, er solle die Farbe
539 einer mondlosen Nacht über einem einsamen Bergsee haben, aber
540 herausgekommen ist dabei ordinäres Schwarz.«
542 Der Æthermann bedachte das Problem. »Möglicherweise gab’s die Farbe
543 die Sie wollten nicht im Stoffmusterkatalog«, schlug er dann vor.
545 Algernon nickte. »Ja, das wäre in der Tat eine Erklärung. Aber um
546 den Anzug, da er nun einfach nur ordinär schwarz ist, anstatt den
547 Farbton aufzuweisen, der mir vorschwebte, ist es nicht schade.
548 Statt dessen drücken mich zwei andere Probleme. Das eine ist klein,
549 laut und haarig, ein Hund namens Precious, der aus dem Dinnersaal
550 entlaufen ist, weil ihm die Ente zu mager war.«
552 Der Æthermann zuckte erneut die Achseln. »Wenn er hier unten ist,
553 kommt’s drauf an, ob er zäher ist als die Ratten.«
555 »Sofern es stimmt, dass Hunde auf die Dauer gewisse Eigenschaften
556 ihrer Eigentümer übernehmen«, sinnierte Algernon, »ist dieser Hund
557 zäher als das gepökelte Rind an Bord des Fliegenden Holländers.«
559 »Dann schafft er die Ratten«, konstatierte der Æthermann. »Und das
560 zweite Problem?«
562 »Bin sozusagen ich selbst. Ich bin diesem Hund nachgesetzt, ohne
563 auf den Weg zu achten, und befinde mich nun vermutlich sehr weit
564 von besagtem Dinnersaal entfernt. Würden Sie den Vergil machen, der
565 mich durch alle sieben Kreise der Hölle und sämtliche Abteilungen
566 des Fegefeuers zurück an die Oberfläche führt?«
568 Diesmal brauchte der Æthermann eine Weile, bis er Algernons Satz
569 durchschaut hatte. Dann leuchteten seine Augen auf, und er strahlte
570 über das ganze Gesicht.
572 »Ist mir eine Freude, Ihnen das Schiff zu zeigen, Sir! Meine
573 Freiwache hat ohnehin gerade begonnen. Mit dem Pfiff, der Sie
574 vorhin hergelockt hat, Sir. Simon Ross ist der Name, ich bin
575 Bootsmann hier auf der \textit{Charlie}.
577 »Algernon Holland«, stellte Algernon sich selbst vor und ergriff
578 herzlich die dargebotene Hand. Als keine Reaktion erfolgte, setzte
579 er hinzu: »Der Journalist. Ich schreibe die Berichte über die
580 Reisen der Klipper. Die Jagd nach dem purpurnen Band.«
582 Ross blies die Backen auf und machte Anstalten, auf den Boden zu
583 spucken, unterließ es aber nach einem raschen Seitenblick auf
584 Algernon.
586 »Diese Berichte \ldots{} hm.«
588 »Sie schätzen sie nicht besonders?«
590 »Na ja. Sie bringen meine Frau zum Lachen. Das ist nett, was Sie da
591 schreiben. Aber ich glaube, von den Ætherklippern, davon verstehen
592 Sie nicht viel, oder? Waren Sie schon mal hier unten?«
594 »Nein«, gab Algernon zu, und zu seinem eigenen Erstaunen röteten
595 sich seine Wangen.
597 »Haben Sie schon mal gesehen, wie so ein Klipper startet?«,
598 forschte der Æthermann weiter.
600 »Bisher noch nicht«, räumte Algernon ein. »Während des Ablegens,
601 wissen Sie, gibt es immer so viel vorzubereiten. Die Kajüten müssen
602 bezogen werden, dann will gut überlegt sein, in welcher Kleidung
603 man sich zum ersten gemeinsamen Dinner präsentiert – der Anzug in
604 seiner ordinär schwarzen Färbung zum Beispiel war eine fatal
605 falsche Entscheidung. Ich glaube nicht, dass ich in diesem Moment
606 hinter einer kleinen Bestie namens Precious her wäre, wenn ich mich
607 für das moosgrüne Jackett entschieden hätte.«
609 »Na, dann«, entschied Simon Ross und stopfte die Hände in die
610 Taschen seiner weiten Hose, »fangen wir doch am besten direkt im
611 Maschinenraum an. Hier entlang, Mister Holland.«
613 Der Bootsmann schlüpfte durch einen Durchgang, den Algernon
614 überhaupt nicht wahrgenommen hatte, duckte sich unter einem Balken
615 hindurch und stieg gewandt über ein Fallgitter. Algernon folgte ihm
616 schnaufend.
618 Unvermittelt war das Dröhnen und Stampfen viel lauter geworden, bei
619 jedem der rhythmischen Geräusche empfand er einen Druck auf den
620 Ohren, als presse ihm jemand die Hände darauf. Er wollte Ross
621 danach fragen, befürchtete aber, dass seine Stimme in dem Getöse
622 untergehen würde.
624 Der sah sich nach ihm um, packte den ohnehin ruinierten
625 Smokingärmel und zog ihn hinter sich her, zwischen zwei
626 gigantischen Behältern hindurch. Und plötzlich standen sie direkt
627 vor der Maschine.
629 \bigpar
631 Algernon verschlug es den Atem.
633 Sie reckte sich bis zur Decke des Raumes, stieß an beiden Seiten
634 an, schien mit jeder Bewegung wachsen und sich noch weiter
635 ausdehnen zu wollen. Ein mächtiges Fundament verband sie mit dem
636 Boden, darüber erhob sich ein Dickicht aus Röhren und Stangen.
637 Alles war in Bewegung und blieb doch am selben Platz, bäumte sich
638 auf, schnaubte, grollte, als kämpfe ein riesiges gefesseltes Tier
639 vergebens gegen seine Ketten. Eine glühende Hitze ging von diesem
640 Wesen aus – und eine ungeheure Kraft.
642 Er trat näher und streckte ihm die Hände entgegen.
644 Da öffnete sich ganz oben eines der Überdruckventile und stieß
645 kreischend Dampf aus.
647 Mit einem Aufschrei fuhr er zurück.
649 Beide Hände als Schalltrichter um die Lippen gelegt, wandte er sich
650 an Ross. »Ist dies der tiefste Kreis der Hölle?«
652 »Das Herz der \textit{Charlie}!«, schrie dieser zurück. »Hier herüber!«
654 Sie schlängelten sich an der Maschine vorbei, so dicht, dass
655 Algernon spürte, wie ihr Atem sein Nackenhaar versengte.
657 Ross öffnete eine schwere Tür, zog ihn hindurch und ließ sie hinter
658 ihnen wieder ins Schloss fallen. Unvermittelt war es ruhig.
659 Algernon klopfte ein paar Mal auf seine Ohren, bis der Druck
660 nachgelassen hatte.
662 »Das Herz der \textit{Charlie}?«, fragte er dann.
664 Ross lächelte fein. »Was glauben Sie«, begann er gemächlich, »wie
665 es die Ætherschiffe fertig bringen, in den Himmel aufzusteigen?«
667 Algernon zuckte die Achseln. »Bisher dachte ich, sie täten es
668 einfach. Wenn der Wind günstig steht.«
670 »Kein Wind brächte das fertig«, konstatierte der Bootsmann. »Ein
671 guter Wind und eine günstige Strömung können einen Klipper über den
672 Ozean treiben. Die Sonnenwinde und die Ætherströmungen treiben ihn
673 von einem Planeten zum nächsten. Aber um aufzusteigen, vom Meer
674 über die Wolken und in den Æther hinein, braucht man viel größere
675 Kräfte. Natürlich haben die Menschen auch vor der Erfindung der
676 Dampfmaschinen davon geträumt, zu den Sternen zu fliegen. Aber die
677 Kraft hat nicht ausgereicht. Und sehen Sie, hier kommt die Maschine
678 ins Spiel. Sicherlich ist Ihnen das Schaufelrad am Heck
679 aufgefallen?«
681 Algernon nickte eifrig.
683 »Wenn das Schiff gut im achterlichen Wind liegt, alle Segel
684 gesetzt, die Rahsegel, die Stagsegel und die Leesegel an den
685 Rahspieren, dann wird das Schaufelrad in Gang gesetzt. Erst das
686 gibt die zusätzliche Kraft für den Aufstieg, und der Klipper hebt
687 ab. Ohne die Dampfmaschine wäre die \textit{Charlie} nur ein Ozeanklipper,
688 und deswegen ist sie das Herz. Verstanden? Dann geht es jetzt
689 weiter zum Schlund.«
691 »Zum Schlund? Den hat Ihr Schiff auch?«
693 »Aber gewiss!«, entgegnete der Bootsmann und ging voraus. »Das
694 wissen Sie doch selbst: Wenn das Herz schlagen soll, braucht der
695 Körper Nahrung. Schauen Sie hier herein, aber treten Sie nicht zu
696 nahe.«
698 Er riss eine weitere Tür auf, anscheinend noch schwerer als die
699 erste. Algernon warf einen Blick direkt ins Höllenfeuer.
700 Rauchschwarze Seelen hantierten mit Schaufeln, warfen in einem
701 rasenden Tanz glänzende Kohlestücke in einen gewaltigen Ofen. Die
702 Hitze nahm ihm den Atem, und doch konnte er nicht anders als nur
703 immer weiter in die Flammen starren, bis ihn Ross schließlich sacht
704 zurückzog.
706 »Lassen Sie die Leute ihre Arbeit tun«, mahnte er. »Und jetzt, wo
707 Sie das Herz und den Schlund gesehen haben, können Sie mir sicher
708 auch sagen, was das Blut der \textit{Charlie} ist?«
710 »Sie alle!«, erwiderte Algernon ohne zu zögern. »Die Æthermänner,
711 die die \textit{Charlie} mit allem versorgen, was sie braucht. Aber Mister
712 Ross, an Ihnen ist ja ein Poet verlorengegangen!«
714 Der Bootsmann spuckte auf den Boden. »Jetzt geht’s wieder nach
715 oben. Kommen Sie, damit Sie den letzten Gang in Ihrem Dinnersaal
716 nicht verpassen.«
718 \bigpar
720 Sie kletterten eine der steilen Stiegen empor. Es war deutlich
721 kühler und weiter hier oben. Algernon streckte die Glieder.
723 »Von der Hölle ins Fegefeuer. Haben Sie Dank, Mister Ross. Aber was
724 ist das dort hinten?«
726 Durch eine Luke konnte man auf das Deck des Schiffes sehen. Darüber
727 erhoben sich die Masten, an denen sich die riesigen Segel blähten,
728 vierfach übereinander aufgetürmt und breit gefächert wie die
729 Schnupftücher einer Riesenfamilie mit Influenza. Wie Spinnweben
730 führten die Takelagen bis ganz nach oben zu den höchsten Rahen, und
731 dort, an den äußersten Spitzen, krabbelte und wimmelte es von
732 Æthermännern. Sie trugen silbrige Schutzanzüge, hatten ihre Füße
733 mit Tauen an die Masten gebunden und stürzten sich immer wieder in
734 den Æther.
736 »Mister Ross, was tun diese Leute dort?«
738 Der Bootsmann wand sich. »Sie \ldots{} springen.«
740 »Das sehe ich. Sie lassen sich halsbrecherisch von den Rahen fallen
741 und greifen nach irgendetwas. Warum? Was geht da vor?«
743 »Wir durchqueren gerade den Asteroidengürtel. Die Männer greifen
744 nach Spacium. Es kommt nur hier vor, auf kleineren Gesteinsbrocken,
745 es ist wertvoll, und wir brauchen es unbedingt.«
747 Algernon schüttelte verständnislos den Kopf. »Was die Männer dort
748 tun, sieht gefährlich aus. Wozu wird das Spacium benötigt?«
750 \bigpar
752 Ross wandte sich ab, als ergreife ihn eine leichte Übelkeit.
754 »Wozu, Mister Ross?«, beharrte Algernon. »Ich habe heute mehr über
755 die Ætherklipper erfahren als in all den Jahren zuvor. Sie haben
756 mir Herz, Schlund und Blut der \textit{Charlie} gezeigt. Seien Sie
757 versichert, dass ich mir alles gut gemerkt habe und meinen Lesern
758 davon erzählen werde. Von dem, was wichtig ist. Nicht von den
759 Gesprächen im Dinnersaal. Nun verraten Sie mir auch das letzte
760 Geheimnis. Was geht dort draußen vor?«
762 »Was glauben Sie, Sir«, begann der Æthermann leise, »weshalb Jahr
763 für Jahr ein neuer Rekord auf der Jagd nach dem purpurnen Band
764 aufgestellt wird?«
766 »Ich nehme an, die Klipper werden immer besser.«
768 »Oh, die Klipper sind immer gleich gut. Aber sie können nicht so
769 schnell fahren, wie es die Maschinen und die Besegelung zuließen.
770 Ihre Geschwindigkeit wird von äußeren Umständen begrenzt. Die
771 Reibung ist es, die ein guter Kapitän beachten muss.«
773 »Die Reibung also. Was tut sie?«
775 »Die Reibung, Sir, erzeugt Hitze. Wenn das Schiff mit voller Kraft
776 unterwegs ist, wird sein Rumpf so heiß, dass er Feuer fängt. Aber
777 es ist möglich, die Reibung zu vermindern, wenn man den Rumpf gut
778 schmiert. Mit Spacium. Dazu wird es benötigt. Aber es ist
779 gefährlich. Schauen Sie nur: Wenn einer der Männer zu kurz springt,
780 kracht er gegen die Masten. Oder es trifft ihn einer der größeren
781 Asteroiden. Damit Sie und Ihresgleichen, Sir, über immer neue
782 Rekorde berichten können, riskieren die Männer dort draußen ihr
783 Leben. Mitunter verlieren sie es. Zwei meiner Söhne, Sir \ldots{}«
785 Er sprach nicht weiter.
787 »Ich erkenne die Treppe wieder«, sagte Algernon sanft. »Bemühen Sie
788 sich nicht weiter, ich finde allein zurück. Ich danke Ihnen, Mister
789 Ross. Für alles.«
791 Damit wandte er sich ab und stieg hinauf, schritt den spärlich
792 erleuchteten Gang entlang, betrat an dessen Ende den helleren
793 Nebengang, erreichte den breiten Hauptgang und stand wieder vor der
794 Tür zum Dinnersaal.
796 Mit einem tiefen Atemzug, als müsse er unter Wasser tauchen, stieß
797 er sie auf und trat ein.
801 »Wo waren Sie denn nur?«, keifte ihm die Baronin entgegen.
802 »Precious ist längst wieder zurück, er hat den direkten Weg zur
803 Küche genommen und den Koch gebissen, eine kluge Wahl, wenn Sie
804 mich fragen, denn er war definitiv besser genährt als die Ente,
805 aber nun verlangt der Mann Schadensersatz, und diese nutzlose
806 Person« – sie hackte mit ihrem Fächer nach Mabel, die verängstigt
807 auf ihrem Stuhl kauerte – »ist auch noch geneigt, ihm Recht zu
808 geben und mir in den Rücken zu fallen.«
810 »Die Baronin würde sie auf der Stelle entlassen«, warf
811 Shallow-Bargepole mit träger Stimme ein, »aber dann hätte sie
812 niemanden mehr, den sie heruntermachen könnte, und das ginge über
813 ihre Kräfte. Holland, so wie es aussieht, werden Sie diese
814 Meinungsverschiedenheit schlichten müssen.«
816 \bigpar
818 Algernon lächelte.
820 \bigpar
822 »So wie es aussieht«, sagte er heiter, »habe ich zu tun.«
824 Er zog sein berühmtes blaues Heft hervor, schlug eine neue Seite
825 auf.
827 »Die wahnwitzige Jagd nach dem purpurnen Band«, schrieb er. »Von
828 Ihrem Korrespondenten Algernon Holland. Wer auf einem Ætherklipper
829 unterwegs ist, der nach einem neuen Rekord zu greifen versucht,
830 macht sich nur selten Gedanken darüber, dass diese Rekorde mit Blut
831 erkauft werden. Nicht mit dem der Reisenden, die behaglich im
832 Dinnersaal sitzen, sondern allein mit dem Blut derer, die auf den
833 Schiffen leben und arbeiten \ldots{}«
836 \section{Tedine Sanss}
838 Tedine Sanss ist das Alter Ego einer westfälischen Autorin und kam
839 als solches erst vor ein paar Monaten auf die Welt. Sie schreibt
840 Science Fiction und Steampunk. Dies ist ihre erste
841 Veröffentlichung.
842 \end{document}