War of the Worlds: Fixes after reading
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13 \begin{document}
14 \raggedbottom
15 \begin{center}
16 \textbf{\huge\textsf{Ruf der Sterne}}
18 \bigskip
19 Tanja Meurer
20 \end{center}
22 \bigskip
24 \begin{flushleft}
25 Dieser Text wurde erstmals veröffentlicht in:
26 \begin{center}
27 Die Steampunk-Chroniken\\
28 Band I -- Æthergarn
29 \end{center}
31 \bigskip
33 Der ganze Band steht unter einer
34 \href{http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.0/de/}{Creative-Commons-Lizenz.} \\
35 (CC BY-NC-ND)
37 \bigskip
39 Spenden werden auf der
40 \href{http://steampunk-chroniken.de/download}{Downloadseite}
41 des Projekts gerne entgegen genommen.
43 \vfill
45 Tanja Meurer, geboren 1973 in Wiesbaden, ist gelernte
46 Bau-zeichnerin aus dem Hochbau, arbeitet seit 2001 in bauverwandten
47 Berufen und ist seit 2004 bei einem französischen Großkonzern als
48 Dokumentationsassistenz beschäftigt.
50 Nebenberuflich verdingt sie sich als Autorin und Illustratorin für
51 verschiedene Verlage.
53 \texttt{http://www.tanja-meurer.de/}
54 \texttt{http://www.nights-end.de/}
56 \end{flushleft}
59 \section{Ruf der Sterne}
61 Die mächtigen Glasfenster der Fertigungshalle wurden von einer
62 Druckwelle aus den Rahmen gesprengt. Ein Feuerball breitete sich im
63 Zentrum des Backsteingebäudes aus. Flammenspeere fauchten in die
64 mittägliche Sommerhitze. Durch die schiere Urgewalt dieser
65 Explosion hob sich das Dach. Gewaltige Metallplatten schleuderten
66 glühend durch die Luft. Einen Herzschlag später erschütterte eine
67 zweite Detonation das Werk. Die dicken Backsteinmauern brachen nach
68 außen. Ziegel wurden zu tödlichen Geschossen, die Tore, Fenster und
69 Türen der umstehenden Lager und Verwaltungsgebäude durchschlugen.
71 Die dritte Explosion riss die letzten Mauern ein. Gewaltige
72 Gesteinsbrocken wurden aus dem Erdreich in die Luft geschleudert.
73 Ein massives Stahlgerüst, das den Korpus eines schlanken Schiffes
74 trug, brach in sich zusammen, als würde es aus Streichhölzern
75 bestehen. Glühende Funken stoben in die flirrende Luft. Eine Wolke
76 aus Staub und Ruß wogte über dem Werksgelände. Leise klirrend
77 regneten feine Glassplitter auf das Kopfsteinpflaster nieder.
79 Die darauf folgende Stille wurde lediglich von dem leisen Knacken
80 überhitzten Metalls und brennenden Holzes durchbrochen.
82 \tb
84 Feuerwehr, Lazarettkutschen, Journalisten und Schaulustige
85 versperrten die Straße zu der Werkshalle. Über alle Köpfe hinweg
86 sah Anabelle den gen Himmel ragenden Rammsporn des Schiffes. Ruß
87 überzog seine Außenhaut. Der Leib des Schiffes lag vermutlich
88 zertrümmert auf dem Boden der Werkshalle.
90 Ein Schauer rann ihr über den Rücken. Ihr Maschinenkörper konnte
91 weder Hitze noch Kälte wahrnehmen. Dennoch sendete ihre menschliche
92 Seele diesen Impuls durch ihre Glieder. Instinktiv zog sie die
93 Schultern hoch und rieb sich die Arme.
95 Eine Hand berührte ihren Arm.
97 »Miss Talleyrand, Mr. Hailey erwartet Sie bereits.«
99 Anabelle sah zurück. Ihr Blick begegnete dem Sergeant Masters’.
100 Blankes Entsetzen stand in die Züge des blassen Mannes geschrieben.
101 Sie senkte den Kopf und nickte.
103 »Ist Madame Zaida schon anwesend?«, fragte Anabelle, während sie
104 ihm folgte.
106 Masters deutete ein Nicken an. Er führte Anabelle zu einem
107 prunkvollen Gebäude, dessen Front zur Themse zeigte. Die Schäden an
108 den verputzten Außenwänden zeugten von der Gewalt der Explosion.
109 Anabelles Blick glitt an dem imposanten Bau hinauf. Ein
110 Schmiedeeisenbalkon im ersten Stock überkragte, von wuchtigen
111 Säulen getragen, die gesamte Front. Die breite Freitreppe führte zu
112 kunstvoll bleiverglasten Türen. Auf einem Marmorschild konnte man
113 das Firmenlogo erkennen. Hier saß die Verwaltung der
114 Luftschiffwerft Erhardt \& Vock. Wortlos erklomm Anabelle die
115 Stufen. Unter ihren Stiefeln knirschten Glas und Steinsplitter.
116 Eine Krankenschwester in dunklem Kleid und Häubchen kümmerte sich
117 im Foyer um verwundete Personen. Anabelle schenkte ihnen wenig
118 Aufmerksamkeit. Ihr Hauptaugenmerk galt den gerahmten Werbeplakaten
119 der Werft. Die Druckwelle hatte viele von den Wänden gefegt. Auf
120 dem Boden lagen Bilder des neuen Schiffstyps. Anabelle blieb stehen
121 und kniete nieder. Neugierig hob sie zwei Plakate auf und
122 betrachtete den verzierten, schlanken Rumpf der neuen Ætherschiffe.
123 Bisher beschränkte sich die Werft lediglich auf heliumbetriebene
124 Starrluftschiffe. Seit sie zum ersten Mal von dem Konzept des
125 Himmelsseglers in der Zeitung gelesen hatte, grübelte sie über die
126 Technik hinter diesem Wunderwerk. Anhand der im Vorfeld
127 veröffentlichten Skizzen, baute sie in theoretischen Schritten
128 daran mit. Die Forschung an der neuen, eher historischen
129 Gestaltgebung irritierte und faszinierte Anabelle zutiefst. Mit
130 einer Art metallenem Wikingerschiff in die Luft zu schweben
131 erschien ihr unmöglich. Die Vorstellung, damit die Wolken zu den
132 Sternen zu durchbrechen, wirke noch weniger real. Ihr ausgeprägter
133 Verstand reichte nicht aus, sich dazu logisch herleitbare Techniken
134 einfallen zu lassen.
136 Sie rollte die Plakate ein und tippte sich nachdenklich mit dem
137 Rand gegen die Stirn.
139 »Mademoiselle Talleyrand?«, fragte Masters dicht hinter ihr. Nervös
140 fuhr er sich mit den Fingern durch das rote Haar. Sie erhob sich.
142 »Monsieur Masters«, flüsterte sie, darauf bedacht keinen zufälligen
143 Zuhörer auf sich aufmerksam zu machen. »Haben Sie sich nie die
144 Frage gestellt, wie dieses Prinzip funktioniert und ob es für solch
145 revolutionäre Technik nicht reichlich Neider gibt?«
147 Sie strich sich mit einer Hand den Rock glatt und klopfte den Staub
148 und die Splitter aus Saum und Schleppe.
150 »Doch, durchaus«, erklärte der Sergeant. »Wollen Sie andeuten, dass
151 Erhardt \& Vock möglicherweise ihrer Technik beraubt und damit aus
152 dem Wettbewerb ausgebootet wurden?«
154 Anabelle sah an ihm vorbei, aus der geborstenen Eingangstür.
155 Gendarmen trieben die Schaulustigen auseinander, um die
156 Leichenwagen durchzulassen.
158 »Es wäre in jedem Fall eine einzukalkulierende Möglichkeit,
159 Sergeant«, entgegnete sie.
161 »Inspektor Hailey vermutet ähnliches, einen Anschlag, keinen
162 Unfall«, erklärte Masters. »Aber wie skrupellos müsste man sein,
163 dafür ein Werk zu sprengen und hunderte Arbeiter zu töten?«
165 Anabelle reichte dem Sergeant ihre Hand. Masters ließ gern zu, dass
166 sie sich bei ihm unterhakte.
168 »Sind wir nicht zur Klärung hier, Sergeant Masters?«
172 »Monsieur le Inspecteur«, begrüßte Anabelle den stiernackigen
173 Hailey. Seine massige Boxerstatur hob sich neben der zierlichen
174 Gestalt einer älteren Dame in bieder hellgrauem Kostüm nahezu
175 ungeheuerlich ab. Der Inspektor sah kurz von dem Tisch vor sich
176 auf.
178 »Miss Talleyrand!«, rief er. Offenbar blieb es bei dieser etwas
179 mageren Begrüßung. Anabelle hob eine Braue.
181 »Es freut mich, Sie wiederzusehen«, gab sie betont pikiert zurück.
182 Die Spitze prallte an Haileys dickfelliger Ost-Londoner Natur ab.
184 »Milly Havelock ist mein Name.« Die Dame trat auf Anabelle zu.
185 Allerdings standen ihr Tränen in den Augen. »Ich bin Mr. Erhardts
186 Sekretärin.« Allein die Erwähnung dieses Namens ließ sie
187 aufschluchzen.
189 Anabelle ergriff ihre Hand und drückte sie leicht. Die emotionale
190 Art irritierte die Wissenschaftlerin.
192 »Anabelle de Talleyrand«, stellte sie sich knapp vor.
194 Rasch wandte sich Miss Havelock ab und presste das Taschentuch
195 gegen ihre dünnen Lippen. Verunsichert durch dieses Verhalten blieb
196 Anabelle in dem überladenen Büroraum stehen und beobachtete sie.
198 Masters löste sich von Anabelles Arm und trat zu der alten Dame
199 hinüber. Langsam geleitete er sie zu einem schweren Ledersessel.
201 »Mr. Masters …«, flüsterte sie mit tränenerstickter Stimme. »Was
202 soll nun aus uns allen werden? Mr. Erhardt ist tot und Mr. Vock …
203 seit Tagen im Ausland.« Sie schluchzte und vergrub ihr Gesicht in
204 den Händen.
206 Anabelle wusste, wie unhöflich und kalt ihr Verhalten auf diese
207 Frau wirken musste, konnte aber nichts daran ändern. Bereits jetzt
208 zog sie Schlüsse aus den Reaktionen Mrs. Havelocks. Die Beziehung
209 zwischen Mr. Erhardt und seiner Sekretärin schien nicht vollkommen
210 einwandfrei zu sein. \gedanke{Erhardt tot}?, Anabelle legte die Stirn in
211 Falten. Zu ihm und Vock wollte sie gerade eine Frage stellen als
212 der Inspektor sie zu sich winkte.
214 »Anabelle, das ist Ihr Gebiet«, rief Hailey.
216 Sie wendete sich dem Inspektor zu. Dieser stand über einen
217 ausladenden Tisch gebeugt, und stützte sich mit seinen gewaltigen
218 Fäusten auf der dunklen Platte ab. Vor ihm lagen unzählige,
219 auseinander gerollte Pläne und Bauanleitungen für das Schiff, sowie
220 in Leder gefasste Schriftstücke.
222 Anabelle ergriff eines jener Bücher, und schlug es an willkürlicher
223 Stelle auf. Inhaltlich fanden sich statische Berechnungen für den
224 Rumpf des Schiffes. Neugierig überflog sie einige Zeilen. Die
225 Belastung, mit der Erhard und sein Partner zu rechnen schienen,
226 entsprach der Statik eines Güterdampfers. Irritiert runzelte
227 Anabelle die Stirn. Sollte das Schiff nicht ausschließlich
228 Passagiere transportieren? Nach den Berechnungen des Skeletts würde
229 der Luftsegler mit hoher Wahrscheinlichkeit auch schwere Last
230 transportieren können.
232 »Haben Sie etwas gefunden?«, fragte Hailey.
234 Anabelle wiegte den Kopf. »Ich weiß nicht genau«, murmelte sie.
235 Nachdenklich legte sie das Buch ab, um in den Risszeichnungen zu
236 blättern. Laut Plänen und Grundrissen sollte es drei Passagierdecks
237 und ein Aussichtsdeck geben. Die einfachen Kabinen besaßen mehr
238 Platz als eine Hotelsuite. Dieser Komfort fehlte den gängigen
239 Luftschiffen. Ebenso gab es Appartements mit Salons, großen Bädern
240 und Ankleidezimmern. Wozu solch eine Verschwendung?
242 Sie griff nach dem nächsten Buch und blätterte es durch.
244 »Anleitungen zur Herstellung von Leichtmetalllegierungen, die hoher
245 Reibungshitze widerstehen können«, murmelte sie. Ein Stahlskelett,
246 die Außenhaut aus leichtem Metall und die statischen Berechnungen
247 für ein Schlachtschiff passten nicht zueinander. Einige
248 Eintragungen erschienen ihr fundiert, andere sinnlos.
250 »Gibt es eine Angebotssammlung oder ein Auftragsbuch für die
251 Innenausstattung?«, fragte sie mit einem Seitenblick auf Hailey.
252 Der Inspektor nickte. Mit einer Hand hob er einen Katalog auf, der
253 neben dem Tisch auf dem Boden stand. »Das hier, denke ich«, sagte
256 Anabelle schlug die ersten Seiten auf. Mit einem Finger fuhr sie
257 über das Register der einzubauenden Möbel, Lampen und
258 Sanitäranlagen.
260 »Haben wir das auch für die technischen Einbauten? Die müssten
261 ebenfalls als Katalog aufgenommen worden sein.«
263 Hailey hob die Schultern. »Da kann ich Ihnen nicht helfen.«
265 Anabelle nickte. »Mrs. Havelock?«, wendete sie sich an die
266 Sekretärin.
268 Die alte Dame saß zusammengesunken in ihrem Sessel. Erschrocken hob
269 sie den Blick. Erst als sie Anabelle ihre ungeteilte Aufmerksamkeit
270 schenkte, sprach die junge Wissenschafterin weiter. »Gibt es in
271 Ihren Unterlagen Kataloge über die bereits eingebauten
272 Sonderherstellungen?«, fragte sie.
274 Die alte Dame erwiderte Anabelles Blick mit vollkommenem
275 Unverständnis.
277 »Ich rede von Belüftungssystemen, Verrohrungen, Sanitäranlagen,
278 Gasleitungen, Luftumwälzern, Heizungen, Wasserwiederaufbereitung
279 und ähnlichem.«
281 Mrs. Havelock schlug die Augen nieder. »Ich glaube diese Bücher
282 befanden sich zum Zeitpunkt des Unglücks in der Maschinenhalle.«
284 Trotz der vorgeblichen Ahnungslosigkeit der alten Dame, fiel es
285 Anabelle schwer, ihr glauben zu schenken. \gedanke{Wie praktisch!}, dachte
286 sie. Ihrer Ansicht nach war ein solcher Fall schier unmöglich.
287 Diese Bücher dienten lediglich der Ablage. Die Techniker arbeiteten
288 mit Duplikaten und Wasserpausen. Vorerst verschwieg sie ihre
289 Gedanken.
291 »Sehr bedauerlich«, sagte sie.
293 Nach der Mimik Haileys zu urteilen ließ ihr schauspielerisches
294 Talent zu wünschen übrig.
296 »Ich brauche mehr Zeit, um all diese Unterlagen gebührend zu
297 prüfen. Deshalb würde ich mich gerne über Nacht hier einquartieren
298 und arbeiten«, erklärte Anabelle.
300 Hailey warf Mrs. Havelock einen kurzen Blick zu.
302 Die Mimik der alten Dame gefror.
304 »Weshalb?!«, verlangte sie zu wissen.
306 »Miss Talleyrand ist wissenschaftliche Beraterin Schottland Yards,
307 Madam«, erklärte er steif. »Ihre Prüfung deckt möglicherweise mehr
308 als einen Unfall auf.«
310 Die alte Dame zögerte.
312 »Ich kann es befehlen lassen«, vertraute Hailey ihr wenig
313 freundlich an. Anabelle beobachtete die Sekretärin. Hölzern nickte
314 sie. »Also gut, wie Sie wollen.«
316 Steif erhob sich Mrs. Havelock und schritt zu der Bürotür. »Sie
317 gestatten, dass ich Mr. Vock telegraphisch informiere?!«
319 »Sicher«, bestätigte Hailey. Die Sekretärin verließ das Zimmer.
320 Anabelle wies hinaus. »Wissen Sie, wo sich Madame Zaida befindet?«
324 Journalisten bedrängten die Polizei mit ihren Fragen, während
325 Fotographen ihre unhandlichen Apparate abbauten.
327 Auch Anabelle wollte sich ein Bild über das Ausmaß der Zerstörung
328 machen. Mit raschen Schritten eilte sie in das Zentrum der
329 Explosion. Der Anblick ließ sie erneut schaudern. Riesige Teile des
330 Steinbodens fehlten. Geschmolzenes Metall verband sich mit Holz und
331 Ziegeln. Ketten, Zahnräder und große Platten der Dachabdeckung
332 lagen auf der Erde verstreut. Das Skelett des Schiffes glühte noch
333 immer. Die darunter begrabenen Arbeiter mussten ein grauenhaftes
334 Ende genommen haben. Noch immer wurden Leichen geborgen. Anabelle
335 bezweifelte, dass irgendeine Person so nah des Explosionsherdes
336 überlebt haben konnte. Die Ausmaße der Zerstörung lagen jenseits
337 jeder Vorstellungskraft.
339 Anabelle schritt langsam voran. Vorsichtig, bedacht auf das immense
340 Gewicht ihres Maschinenkörpers, umging sie instabilere Stellen des
341 Bodens. Sie suchte Zaida. Mit einer Hand raffte sie die Schleppe
342 ihres Kleides, um in den Krater unter dem Wrack zu klettern.
344 Geröll und Schutt knirschte unter ihren Absätzen. Ein Polizist hob
345 kurz den Blick, wandte sich aber wieder ab, als er sie erkannte.
346 Wenige Schritte entfernt stand die schlanke, hochgewachsene
347 Angolanerin. Sie hielt in ihrer unbehandschuhten Hand ihren Stock
348 mit dem silbernen Rabenkopf. Behutsam rieb sie über das Metall.
349 Langsam drehte sie sich um ihre Achse. Es schien, als wolle sie
350 sich einen Überblick verschaffen. Zaida sah durch die Schleier der
351 Wirklichkeit und den Filter der Magie.
353 Vorsichtig trat Anabelle an ihre Seite und wartete geduldig, bis
354 sich die Aufmerksamkeit ihrer Freundin auf sie richtete.
356 »Wie viel weißt du von Hailey?«, fragte die Zauberin leise.
358 »Pläne und Berichte habe ich mir angesehen und Mrs. Havelock kennen
359 gelernt«, entgegnete Anabelle.
361 »Deine Meinung?« Zaidas Mimik verriet nichts von ihren persönlichen
362 Eindrücken.
364 »Sie ist dem Seniorpartner sehr ergeben«, murmelte Anabelle. »Ihr
365 missfällt die Prüfung der Unterlagen.«
367 »Wir sind Fremde, die unangenehme Fragen stellen und den Ruf
368 Erhardts beflecken könnten«, entgegnete Zaida.
370 »In jedem Fall.« Anabelle straffte sich. »Anhand der Unterlagen und
371 dem Fehlen einzelner Dokumente möchte ich die ehrbaren Absichten
372 Mr. Erhardts ebenso in Frage stellen wie die von Mr. Vock.«
374 Zaida streifte ihren Handschuh über und umklammerte den Stock
375 fester. »Was hast du gefunden?«
377 Kommentarlos entrollte Anabelle die Plakate, die sie aus der
378 Eingangshalle mitgenommen hatte. Das silbrige Wikingerschiff
379 schnitt auf einer Illustration durch die Wolkendecke zu den
380 Sternen. Auf der anderen präsentierte es sich seriös als Luxusliner
381 der Lüfte. Mit einer knappen Kopfbewegung deutete sie zu dem Sporn,
382 der über Ihnen in den Krampen hing.
384 »Anhand der Statik und der Inneneinrichtung würde diese
385 Konstruktion nicht starten können«, erklärte Anabelle ruhig. Sie
386 sah den leisen Zweifel in dem Blick ihrer Freundin. »Die Forschung
387 ist hierfür nicht weit genug. Zurzeit brauchen wir Heliumballons
388 und Rotoren. Dieses Schiff hat Segel. Wenn sich im Bauch nicht
389 außergewöhnlich viel Gas für den Antrieb befinden sollte, wird es
390 nicht starten. Davon abgesehen fehlen ihm die relevanten Rotoren,
391 die es davor bewahren ins Trudeln zu kommen.«
393 »Dieses Schiff wird seit Monaten beworben«, murmelte Zaida tonlos.
394 »Laut der Times sollte morgen das erste Mal einen Testflug
395 stattfinden.«
397 »\textit{Unser Weg zu den Sternen}«, zitierte Anabelle. Ihre Stimme troff
398 vor Ironie. »Nein. Dieses Schiff ist Betrug.«
400 Zaida senkte den Blick. »Kannst du diese Theorie beweisen?«
402 »Gib mir Zeit, Pläne und Berichte zu studieren, um sie anschließend
403 mit dem Wrack zu vergleichen.«
407 Der Verdacht des Betruges und der Veruntreuung von
408 Forschungsgeldern verdichtete sich für Anabelle, als Hailey von
409 einem Besuch bei der Rothschild-Bank zurückkehrte. »Anabelle!« rief
410 er schon auf die Entfernung. »Sie hatten offenbar den richtigen
411 Riecher!«
413 \bigpar
415 Anabelle hob den Blick. Sie kniete auf dem Boden, in ihren Händen
416 ein Kupferzylinder und Reste einer winzigen Kupferspule aus einer
417 Taschenuhr. Sie trug unterdessen den groben Hosenanzug eines
418 Arbeiters und Handschuhe. Sergeant Masters assistierte ihr. Er
419 stand an einem Tisch und katalogisierte, was Anabelle an
420 Einzelteilen fand und sofort zuweisen konnte. Sie legte den
421 Zylinder ab und nickte dem jungen Mann zu. »Notieren Sie,
422 Masters?«, bat sie ihn.
424 »Sicher, Mademoiselle!«
426 »Was haben Sie erfahren?«, wendete sie sich an den Inspektor, der
427 atemlos neben dem Tisch innehielt.
429 »Die Konten sind eingefroren worden. Aber die Einlage war
430 ungewöhnlich gering«, keuchte er. »Allerdings wurden laut den
431 Rothschilds große Beträge an eine Firma in Indien transferiert. Bei
432 allen anderen Unterlieferanten für dieses Projekt sind wiederum nur
433 geringe Anzahlungen geleistet worden.« Er tupfte sich mit einem
434 Taschentuch den Schweiß von der Stirn. »Was konnten Sie in der Zeit
435 finden?«
437 Anabelle deutete auf den Tisch und die Bücher hinter sich. »Dieses
438 Schiff sollte einen Verbrennungsmotor auf Basis von Diethylether
439 erhalten. Diese Idee ist gut. Die Energie, die aus diesem
440 hochexplosiven Stoff gewonnene wird, ist immens. Diese
441 Zusammensetzung entzündet sich bei 95° F.« Sie strich sich eine
442 Strähne aus dem Gesicht. »Diethylether ist hoch brennbar und
443 schwerer als Luft. Man kann sich ausrechnen, dass ein Leck in einem
444 der Versorgungstanks in Kombination mit einem Zündfunkengeber
445 tödlich endet.«
447 Hailey fuhr sich mit dem Handrücken über die schweißnasse Stirn.
448 Nachdenklich rieb er sich den Nasenrücken. Er überlegte. Anabelle
449 gewährte ihm die Zeit, seine eigenen Schlüsse zu ziehen. »Das ist
450 hier passiert?«
452 Sie nickte.
454 »Wie gut lassen sich die Tanks manipulieren?«, fragte er nach
455 einigen Sekunden.
457 Anabelle deutete auf die Kupferzylinder auf dem Tisch. »Diese
458 kleinen Spielzeuge hier hatten einen Zünder. Dafür dienten
459 wahrscheinlich billige Taschenuhren. Aus dem Schutthaufen habe ich
460 kleine Bestandteile eines Uhrwerks herausfiltern können. Ein
461 Zeiger, ein verschmortes Uhrblatt und eingeschmolzene Rädchen.
462 Diese zündeten das hier …« Sie hob das Kupferrohr an. »Sie dienten
463 als bewegliches Auflager unter den Gastanks im Keller.«
465 Sie wendete sich einem gewaltigen Krater im Boden zu. »Kommen
466 Sie!«
468 Mit raschen Schritten erreichte sie ihn und sprang hinein. Hailey
469 blieb nichts anderes, als ihr zu folgen. Dicht hinter Anabelle
470 federte er in den schlecht beleuchteten Gewölbekeller.
472 »Licht kann man keines machen, nehme ich an«, murmelte der
473 Inspektor. Anabelle nickte. »Der süße Geruch lässt auf einen Rest
474 Äther schließen, Monsieur Hailey«, erklärte sie. »Halten Sie sich
475 also besser ein Taschentuch vor Ihr Gesicht.«
477 Der Inspektor presste beide Hände gegen Mund und Nase. Anabelle
478 betrachtete ihn spöttisch.
480 »Kommen Sie.«
482 Mit gebührender Vorsicht schritt Anabelle vor ihm über Schutt und
483 verkohlte Reste von Kisten.
485 »Warum sind Sie sich so sicher, dass die Fabrik keinem neidischen
486 Konkurrenten zum Opfer fiel?«, fragte er.
488 »Die Pläne sind undurchführbar. Seit ich von dem Konzept gelesen
489 habe, Monsieur, überlege ich mir, wie ich ein Schiff dieser Art
490 bauen würde.«
492 Sie blieb vor einem weiteren schwarz verbrannten Krater stehen.
494 »Anabelle, Sie sind nicht das Maß aller Dinge!«, zischte Hailey
495 ärgerlich.
497 Sie hob den Blick. Die Beleidigung prallte an ihr ab.
499 »Das weiß ich durchaus. Allerdings ist mir auch bewusst, dass die
500 Menschen an Bord Luft zum Atmen und Wasser brauchen.« Sie hob beide
501 Hände. »Dazu würde ich die Außenhülle vollständig schließen und
502 eine Wasser- und Luftwiederaufbereitungsanlage einbauen.« Sie
503 lachte auf. »Davon abgesehen, wohin sollten die Menschen fliegen?
504 Zum Mond?«, fragte sie spöttisch.
506 Hailey schwieg.
508 »Wenn Sie sich den Mond in der Sternwarte betrachten, so können Sie
509 nicht mehr erwarten, als eine Ansammlung von Staub und Steinen.
510 Wissen wir, ob wir dort atmen oder leben können?« Sie wartete seine
511 Antwort nicht ab. »Nein!« Nach einer Sekunde Zögerns schüttelte sie
512 den Kopf. »Die Idee ist reizvoll, ein Traum für jeden Ingenieur,
513 Pionier und Abenteurer, nicht für reiche Menschen, die es leid
514 sind, um die Welt zu segeln.«
516 Die Konsequenz aus Anabelles Worten erschütterte Hailey zutiefst.
518 »Dann starben all diese Menschen für nichts«, flüsterte er tonlos.
520 »Wahrscheinlich.« Anabelle wies auf einen deformierten, zerplatzten
521 Tank, unter dem verkohltes Holz lag. »Alle Brennbarkeit und
522 Explosivität wäre nicht so verheerend gewesen, wenn nicht
523 zusätzliches Brandmaterial hier gelagert worden wäre.«
525 Hailey schluckte hart. »Grauenhaft!«
527 »Zaida und Masters haben hier unten den vollkommen zerfetzten Leib
528 eines Menschen gefunden.«
530 »Der Initiator?«, vermutete Hailey.
532 »Oder das Opfer«, überlegte Anabelle. »Mrs. Havelock sprach von Mr.
533 Erhardt, der offenbar starb.«
535 »Laut ihrer Aussage ging er jeden Tag für mehrere Stunden in die
536 Fertigung, um selbst die Arbeiten zu überwachen«, führte er aus
537 »Erhardt war der leitende Ingenieur und vertraute offenbar nicht
538 einmal seinem jüngeren Partner die Geheimnisse dieser Erfindung
539 an.«
541 »Er musste fürchten, dass Vock seine Konstruktion als Lüge
542 enttarnt.« Anabelle räusperte sich. »Wo ist Mr. Vock über-haupt?«
544 »Die Havelock konnte mir nur sagen, dass er bereits seit einer
545 Woche auf Geschäftsreise ist … in Delhi.«
547 »Sicher?«, fragte Anabelle misstrauisch nach. »Haben Ihre Männer
548 diese Spur schon überprüfen lassen?«
550 »Ja, aber sie verliert sich bereits in London«, gestand Hailey.
552 »Vielleicht ist der Tote Monsieur Vock.« Nachdenklich wiegte
553 Anabelle den Kopf. »Warten wir bis heute Nacht. Sicher wird Mrs.
554 Havelock weitergeben, dass ich hier bleibe. Ich rechne in jedem
555 Fall mit Besuch.«
557 »Kommen Sie allein klar?«, fragte Hailey. Sorge klang in seinen
558 Worten mit.
560 Mit einem Grinsen nickte Anabelle. »Sie wissen doch: ich bin eine
561 Maschine.«
565 Noch immer ragte der Sporn über ihr auf. Seit mehreren Stunden war
566 sie – bis auf wenige Bobbies, die darauf achteten, dass kein
567 Unbefugter das Gelände betrat – allein.
569 Im Licht von Karbidlampen und Fackeln las sie sich die Unterlagen
570 durch. Einige bemerkenswerte Punkte fielen ihr auf. Es gab geringe
571 Unterschiede im Strich von den technischen Rissen, den Details für
572 den Drechsler und den Darstellungen der Motoren, zu der Ausstattung
573 der Kabinen. Für Anabelle stand fest, dass an diesen Plänen
574 unterschiedliche Personen gearbeitet haben mussten. Stammte die
575 Grundidee von Vock – oder einer anderen Person? Vielleicht einem
576 unbedeutenden Ingenieur, der die Arbeit an dem Projekt aufgab?
578 Jemand räusperte sich hinter ihr. Ohne sich umzudrehen oder den
579 Blick von den Plänen zu nehmen fragte sie: »Monsieur Erhardt, wie
580 ich annehme?«
582 »Ja«, entgegnete der alte Mann knapp. Anabelle drehte sich zu ihm
583 um. Außerhalb des Lichtkreises erhob sich ein fast konturloser
584 Schatten. Lediglich der Lauf eines Gewehres hob sich schwach ab.
586 »Warum sind Sie zurück gekehrt?«, fragte sie ruhig.
588 »Ich kann Ihnen meinen Schatz nicht ausliefern«, entgegnete er.
589 Seine Tonlage klang androgyn und weich, aber auch alt. »Sie wissen
590 diese Pläne nicht zu würdigen, Mademoiselle Talleyrand.« Ein
591 gefährlicher Unterton schlich sich in seine Stimme. Die Schärfe
592 darin umriss ein Quäntchen Wahnsinn.
594 »Was glaubten Sie, mit diesen Dokumenten zu erreichen, Monsieur?«,
595 fragte Anabelle leise. »Sie wissen, dass diese Unterlagen ein
596 Luftschloss beschreiben …«
598 »Woher kommt nur diese französische Überheblichkeit?«, fragte er.
600 »Ich habe Wissen, keine Überheblichkeit«, entgegnete Anabelle
601 verärgert.
603 »Wissen?!«, zischte er. »Dieses Schiff ist ein Meisterwerk. Die
604 vorangegangenen Luftschiffe sind nichts im Vergleich hierzu!«
606 »Die bisherigen Bautypen sind in der Lage zu fliegen, sie bringen
607 Ihnen und Vock Ruhm und Geld ein …«
609 »Schweigen Sie!«, donnerte er.
611 Anabelle wusste, dass sie mit einem Verrückten sprach. Trotz allem
612 konnte sie nicht schweigen. »Warum? Weshalb haben Sie ein Projekt
613 verfolgt, dass zum Scheitern verurteilt war?«
615 Erhardt schoss. Die Kugel fetzte Erdreich und Stein aus dem Boden
616 vor Anabelles Füßen. Erschrocken wich sie zurück, bis sie gegen
617 ihren Tisch stieß. Auf Einschüsse in ihrer Kautschukhaut konnte sie
618 gut verzichten. »Monsieur …«, begann sie, wurde aber von seinem
619 unartikulierten Aufschrei unterbrochen. Die Wachen wurden sicher
620 gleich auf ihn aufmerksam!
622 »Schweigen Sie!«, brüllte er. »Die Pläne meines Sohnes waren
623 perfekt!«
625 Irritiert blinzelte Anabelle. Sohn? Wie hatte sie die menschliche
626 Seite aus ihrer Kalkulation heraus lassen können?! Es ging Erhardt
627 scheinbar nicht um Geld von Investoren.
629 »Die Differenzen in den Plänen«, murmelte sie. »Monsieur, Sie haben
630 die Arbeit ihres Sohnes fortgeführt?«
632 Die Milde in ihrer Stimme beruhigte Erhardt etwas. »Ja«, flüsterte
633 er. »Seine Idee war so brillant! Aber Vock wollte das Design
634 bestimmen. Es sollte prachtvoller sein als alle Schiffe, die je
635 gebaut wurden.« Er verstummte. Sein heiseres Schluchzen brach durch
636 die Stille zwischen ihnen. »Mein Sohn … Millys Sohn …« Wieder
637 versagte seine Stimme. »Vock hat sein Konzept ad absurdum geführt.
638 Dieses Schiff ist flugunfähig.«
640 Anabelle nickte. »Vock wollte Subventionen und schnellen Profit.
641 Vermutlich ist er mit dem Geld geflohen.«
643 Stein knirschte unter Erhardts Schuhen. Er trat in den Lichtkreis.
644 Sein eingefallenes, fahles Gesicht sprach von Entbehrung und Leid.
645 Wirr hingen seine grauen Haare in die Stirn. Offenbar trug er seit
646 Tagen den gleichen Anzug und fand keine Zeit sich zu rasieren.
647 Anabelles Seele zog sich zusammen. Sie empfand Mitleid.
649 »Mein Sohn wurde – Dank Vocks Habgier – während eines Unfalls im
650 Werk zu einem Krüppel. Wochen danach starb er an den Folgen. Ein
651 Leben für ein Leben!«
653 »Die zerfetzte Leiche war Vock«, vermutete Anabelle.
655 »Ja«, bestätigte Erhardt. Der Ingenieur sank ein Stück weit in sich
656 zusammen. Das Mitleid in Anabelle wuchs. Sie wusste, dass es für
657 den alten Mann keine Zukunft gab. Er war der Mörder von
658 einhundertfünfzig Arbeitern und seines Partners. Aber wie groß wäre
659 das Ausmaß der Katastrophe geworden, hätte dieses Schiff je
660 abgehoben. Ein Absturz, eine Explosion, gleichgültig welches
661 Szenario sie sich dafür ausmalte, hätte weitaus mehr Opfer
662 gefordert. Das Interesse an der Forschung und die Diskussion über
663 Sinn und Unsinn der Raumfahrt würde ohnehin neu angefacht werden,
664 ausgelöst durch das Fiasko des gestrigen Tages. Doch irgendwann
665 gelänge es den Menschen. Der Weg in das All war ihnen sicher.
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669 »Ihr Sohn wird seine Ehre und Anerkennung bekommen«, flüsterte
670 Anabelle. »Auf Basis seiner Technik können andere Wissenschaftler
671 sein Werk fortführen. Seine Idee wird nicht ungehört bleiben. Er
672 teilt den Traum nach den Sternen mit uns allen. Wenn die Zeit reif
673 ist ein Sternenschiff zu bauen, wird auch er diese letzte Grenze
674 durchbrechen.«
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