War of the Worlds: Fixes after reading
[ccbib.git] / content / Kurd_Laszwitz / Auf_zwei_Planeten.tex
blob219afcb97d3aa1635680a1841e9182dde8f4cef0
1 \usepackage[german,ngerman]{babel}
2 \usepackage[T1]{fontenc}
3 \input{common/hyp-de}
5 % Diese Datei verwendet das \modernize Makro. Kommentarzeichen löschen
6 % für moderne/überarbeitete Darstellung.
7 %\renewcommand{\modernize}[2]{#2}
9 %\setlength{\emergencystretch}{1ex}
11 %\renewcommand*{\tb}[1]{\begin{center}#1\end{center}}
13 \hyphenation{Kreu-ther}
15 \begin{document}
16 \raggedbottom
18 \author{Kurd Laßwitz}
19 \title{Auf zwei Planeten}
20 \subtitle{Roman in zwei Büchern}
21 \date{Die Erstausgabe erschien 1897}
22 \maketitle
24 \part{Erstes Buch}
26 \section{1 - Am Nordpol}
28 Eine Schlange jagt über das Eis. In riesiger Länge ausgestreckt
29 schleppt sie ihren dünnen Leib wie rasend dahin. Mit
30 Schnellzugsgeschwindigkeit springt sie von Scholle zu Scholle, die
31 gähnende Spalte hält sie nicht auf, jetzt schwimmt sie über das
32 offene Wasser eines Meeresarms und schlüpft gewandt über die hier
33 und da sich schaukelnden Eisberge. Sie gleitet auf das Ufer,
34 unaufhaltsam in gerader Richtung, direkt nach Norden, dem Gebirge
35 entgegen, das am Horizont sich hebt. Es geht über die Gletscher hin
36 nach dem dunklen Felsgestein, das mit weiten Flecken bräunlicher
37 Flechten bedeckt mitten unter den Eismassen sich emporbäumt. Wieder
38 schießt die Schlange in ein Tal hinab. Zwischen den Felsbrocken
39 sproßt es grün und gelblich, Sauerampfer und Saxifragen schmücken
40 den Boden, die spärlichen Blätter eines Weidenbuschs zerstieben
41 unter dem Schlag des mit rasender Geschwindigkeit hindurchfahrenden
42 Schlangenleibes. Eilend entflieht eine einsame Schneeammer,
43 erschrocken und brummend erhebt sich aus seinem Schlummer der
44 Eisbär, dem soeben die Schlange das zottige Fell gestreift hat.
46 Die Schlange kümmert sich nicht darum; während ihr Schweif über die
47 nordische Sommerlandschaft hinjagt, hebt sie ihr Haupt hoch empor
48 in die Luft, der Sonne entgegen. Es ist kurz nach Mitternacht, eben
49 hat der neunzehnte August begonnen.
51 Schräg fallen die Strahlen des Sonnenballs auf die Abhänge des
52 Gebirges, das unter der Einwirkung des schon monatelang dauernden
53 Tages sich mit reichlichem Pflanzenwuchs bedeckt hat. Hinter jenen
54 Höhen liegt der Nordpol des Erdballs. Ihm entgegen stürmt die
55 Schlange. Wo aber ist der Kopf des eilenden Ungetüms? Man sieht ihn
56 nicht. Ihr dünner Leib verfließt in der Luft, die klar und
57 durchsichtig über der Polarlandschaft liegt. Doch welch seltsame
58 Erscheinung? Der Schlange stets voran schwebt, von der Sonne
59 vergoldet, ein rundlicher Körper. Es ist ein großer Ballon. Straff
60 schwillt die feine Seide unter dem Druck des Wasserstoffgases, das
61 sie erfüllt. In der Höhe von dreihundert Meter über dem Boden
62 treibt ein starker, gleichmäßig wehender Südwind den Ballon dem
63 Norden zu. Die Schlange aber ist das Schlepptau dieses Luftballons,
64 der in günstiger Fahrt dem langersehnten Ziel menschlicher
65 Wißbegier sich nähert, dem Nordpol der Erde. Auf dem Boden
66 nachschleppend reguliert es den Flug des Ballons. Wenn er höher
67 steigt, hemmt es ihn durch sein Gewicht, das er mit aufheben muß;
68 wenn er sinkt, erleichtert es ihn, indem es in größerer Länge auf
69 der Erde sich ausstreckt. Seine Reibung auf dem Boden bietet einen
70 Widerstand und ermöglicht es damit den Luftschiffern, durch
71 Stellung eines Segels bis zu einem gewissen Grade von der
72 Windrichtung abzuweichen.
74 Aber das Segel ist jetzt eingezogen. Der Wind weht so günstig
75 unmittelbar von Süden her, wie es die kühnen Nordpolfahrer nur
76 wünschen können. Lange hatten sie an der Nordküste von Spitzbergen
77 auf das Eintreten des Südwinds gewartet. Schon neigte sich der
78 Polarsommer seinem Ende zu, und sie fürchteten unverrichteter Sache
79 umkehren zu müssen, wie der kühne Schwede Andrée bei seinem ersten
80 Versuche. Da endlich, am 17. August, setzte der Südwind ein. Der
81 gefüllte Ballon erhob sich in die Lüfte; binnen zwei Tagen hatten
82 sie tausend Kilometer in direkt nördlicher Richtung zurückgelegt.
83 Der von Nansen entdeckte nordische Ozean war überflogen und neues
84 Land erreicht, das sich ganz gegen Erwartung der Geographen hier
85 vorfand. Schon entschwand das Supan-Kap auf Andrée-Land im Süden
86 ihren Blicken. Bald mußte es sich entscheiden, ob die beiden
87 Expeditionen, die eine im Ballon, die andere mit Schlitten
88 unternommen, wirklich, wie ihre Führer meinten, den Pol selbst
89 erreicht hätten. Bei der Unsicherheit der Ortsbestimmung in diesen
90 Breiten waren Zweifel darüber entstanden, die Aussicht vom Ballon
91 war durch Nebel getrübt gewesen, der Schlittenexpedition fehlte ein
92 weiterer Überblick. Jetzt war durch die Mittel eines reichen
93 Privatmanns, des Astronomen Friedrich Ell, eine deutsche Expedition
94 ausgerüstet worden, die noch einmal mittels des Ballons den Pol
95 untersuchen sollte.
97 Natürlich hatte man sich die Erfahrungen der früheren Expeditionen
98 zunutze gemacht. Durch die internationale Vereinigung für
99 Polarforschung war eine eigene Abteilung für wissenschaftliche
100 Luftschiffahrt ins Leben gerufen worden. Namentlich hatte man die
101 Benutzung des Schleppseils ausgebildet und damit für die Leitung
102 des Ballons wenigstens annähernd ein Mittel zur Lenkung gefunden,
103 wie es das Segelschiff im Widerstand des Wassers besitzt. Man hatte
104 Metallzylinder konstruiert, in denen man bis auf 250 Atmosphären
105 Druck zusammengepreßten Wasserstoff mit sich führte, um bei
106 Dauerfahrten einen eingetretenen Gasverlust zu ersetzen. Man hatte
107 dem Korb eine Form gegeben, die es gestattete, ihn nach Bedarf
108 gegen die äußere Luft abzuschließen. Der neue Ballon ›Pol‹ war mit
109 allen diesen fortgeschrittenen Einrichtungen ausgerüstet. Außerdem
110 hing unterhalb des Korbes zur Rettung im äußersten Notfall ein
111 großer Fallschirm. Unter einer Art Sattel, der einen sicheren Sitz
112 gewährte, war an demselben für alle Fälle ein Proviantkorb
113 befestigt.
115 Der Direktor der Abteilung für wissenschaftliche Luftschiffahrt,
116 Hugo Torm, hatte selbst die Leitung der Expedition unternommen. Ihn
117 begleiteten der Astronom Grunthe und der Naturforscher Josef
118 Saltner. Saltner warf einen Blick auf Uhr und Barometer, drückte
119 auf den Momentverschluß des photographischen Apparats und notierte
120 die Zeit und den Luftdruck.
122 „Diese Gegend hätten wir glücklich in der Tasche“, murmelte er.
123 Dann streckte er die in hohen Filzstiefeln steckenden Füße so weit
124 aus, als es der beschränkte Raum des Korbes zuließ, zwinkerte mit
125 den lustigen Augen und sagte: „Meine Herren, ich bin schauderhaft
126 müde. Könnte man nicht jetzt ein kleines Schläfchen machen? Was
127 meinen Sie, Kapitän?“
129 „Tun Sie das“, antwortete Torm, „Sie sind an der Reihe. Aber
130 beeilen Sie sich. Wenn wir diesen Wind noch drei Stunden behalten
131 –“
133 Er unterbrach sich, um die nötigen Ablesungen zu machen.
135 „Wecken Sie mich gefälligst, sobald wir – am Pol sind –“
137 Saltner sprach mit geschlossenen Augen, und beim letzten Wort war
138 er schon sanft entschlummert.
140 „Es ist ein unheimliches Glück, das wir haben“, begann Torm. „Wir
141 fliegen im wahren Sinn des Worts auf das Ziel zu. Ich habe für die
142 letzten fünf Minuten wieder 3,9 Kilometer notiert. Könnten Sie eine
143 genauere Bestimmung versuchen, wo wir sind?“
145 „Es wird sich machen lassen“, antwortete Grunthe, indem er nach dem
146 Sextanten griff. „Der Ballon geht sehr ruhig, und wir haben die
147 Ortszeit ziemlich sicher. Wir hatten den tiefsten Sonnenstand vor
148 einer Stunde und 26 Minuten.“ Er nahm die Sonnenhöhe mit größter
149 Sorgfalt. Dann rechnete er einige Zeit lang.
151 In vollkommener Stille lag die Landschaft, über welche die
152 Luftschiffer eilten. Ein weites Hochplateau, mit Moos und Flechten
153 bedeckt, hier und da von Wasserlachen durchsetzt, bildete den Fuß
154 des Gebirges, dem sich der Ballon schnell näherte. Man hörte nichts
155 als das Ticken der Uhrwerke, von Zeit zu Zeit das regelmäßige
156 Abschnurren des Aspirationsthermometers, dazwischen die behaglichen
157 Atemzüge des schlummernden Saltner. Es war freilich eine
158 angenehmere Polarfahrt, als mit halbverhungerten Hunden die
159 langsamen Schlitten über die Eistrümmer zu schleppen. Grunthe sah
160 von seiner Rechnung auf.
162 „Welche Breite haben Sie aus der Berechnung des zurückgelegten
163 Weges?“ fragte er Torm.
165 „Achtundachtzig Grad fünfzig – einundfünfzig Minuten“, erwiderte
166 dieser.
168 „Wir sind weiter.“
170 Grunthe machte eine Pause, indem er noch einmal kurz die Rechnung
171 prüfte. Dann sagte er bedachtsam, aber mit derselben
172 Gleichmäßigkeit der Stimme:
174 „Neunundachtzig Grad 12 Minuten.“
176 „Nicht möglich!“
178 „Ganz sicher“, erwiderte Grunthe ruhig und zog die Lippen ein, so
179 daß sein Mund unter dem dünnen Schnurrbart wie ein Gedankenstrich
180 erschien. Das war das Zeichen, daß keine Gewalt mehr imstande sei,
181 an Grunthes unerschütterlichem Ausspruch etwas zu ändern.
183 „Dann haben wir keine 90 Kilometer mehr bis zum Pol“, rief Torm
184 lebhaft.
186 „Neunundachtzigeinhalb“, sprach Grunthe.
188 „Dann sind wir in zwei Stunden dort.“
190 „In einer Stunde und 52 Minuten“, verbesserte Grunthe
191 unerschütterlich, „wenn nämlich der Wind mit derselben
192 Geschwindigkeit anhält.“
194 „Ja – wenn“, so rief Torm lebhaft. „Nur noch zwei Stunden, Gott
195 gebe es!“
197 „Sobald wir über jenen Bergrücken sind, werden wir den Pol sehen.“
199 „Sie haben recht, Doktor! Sehen werden wir den Pol – ob auch
200 erreichen?“
202 „Warum nicht?“ fragte Grunthe.
204 „Hinter den Bergen, der Himmel gefällt mir nicht – auf der
205 Nordseite liegt jetzt seit Stunden die Sonne, es ist dort ein
206 aufsteigender Luftstrom vorhanden –“
208 „Wir müssen abwarten.“
210 „Da – da – sehen Sie – den herrlichen Absturz des Gletschers “,
211 rief Torm.
213 „Wir fliegen gerade auf ihn zu; müssen wir nicht steigen?“ fragte
214 Grunthe.
216 „Gewiß, dort müssen wir hinüber. Aufgepaßt! Schneiden Sie ab!“
218 Zwei Säcke Ballast klappten herab. Der Ballon schoß in die Höhe.
220 „Wie die Entfernung täuscht“, sagte Torm. „Ich hätte die Wand für
221 entfernter gehalten – es reicht noch nicht. Wir müssen noch mehr
222 opfern.“
224 Er schnitt noch einen Sack ab.
226 „Wir dürfen nicht in die Schlucht geraten“, erklärte er, „kein
227 Mensch weiß, in was für Wirbel wir da kommen. Aber was ist das? Der
228 Ballon steigt nicht? Es hilft nichts – noch mehr hinaus!“
230 Eine schwarze Felswand, welche den Gletscher in zwei Teile
231 spaltete, erhob sich unmittelbar vor ihnen. Der Ballon schwebte in
232 unheimlicher Nähe. Mit ängstlicher Erwartung verfolgten die beiden
233 Männer den Flug ihres Aërostaten. Der Südwind war jetzt, zu ihrem
234 Glück, hier in der unmittelbaren Nähe der Berge schwächer, sonst
235 wären sie schon an die Felsen geschleudert worden. Der Ballon
236 befand sich nunmehr im Schatten der Berge; das Gas kühlte sich ab.
237 Die Temperatur sank schnell tief unter den Gefrierpunkt. Torm
238 überlegte, ob er noch mehr Ballast auswerfen dürfe. Was er jetzt an
239 Ballast verlor, das mußte er dann an Gas aufopfern, um den Ballon
240 wieder zum Sinken zu bringen, und das Gas war sein größter Schatz,
241 das Mittel, das ihn wieder aus dem Bereich des furchtbaren Nordens
242 bringen sollte. Er wußte ja nicht, was ihn hinter den Bergen
243 erwarte. Aber der Ballon stieg zu langsam. Da – eine seitliche
244 Strömung bewegt ihn – die Strahlen der Sonne, welche über den
245 Sattel des Gletschers herüberlugt, treffen ihn wieder – das Gas
246 dehnt sich aus, der Ballon steigt – tiefer und tiefer sinken die
247 Eismassen unter ihm. –
249 „Hurrah!“ rufen die beiden Luftschiffer wie aus einem Munde.
251 „Was gibt’s?“ fährt Saltner aus seinem Schlummer empor. „Sind wir
252 da?“
254 „Wollen Sie den Nordpol sehen?“
256 „Wo? Wo?“ Im Augenblick war Saltner in die Höhe gefahren.
258 „Sakri, das ist kalt“, rief er.
260 „Wir sind über 500 Meter gestiegen“, antwortete Torm.
262 Saltner hüllte sich in seinen Pelz, was die andern schon vorher
263 getan hatten.
265 „Wir sind jetzt fast in gleicher Höhe mit dem Kamm des Gebirges.
266 Sobald wir darüber hinwegsehen können, muß vor uns, etwa 50
267 Kilometer nach Norden, die Stelle liegen –“
269 „Wo die Erdachse geschmiert wird!“ rief Saltner. „Ich bin
270 verteufelt neugierig. Na, den Champagner brauchen wir nicht erst
271 kalt zu stellen.“
273 Die drei Männer standen, am Tauwerk sich haltend, in der Gondel.
274 Mit gespannten Blicken schauten sie jeden Augenblick, den ihnen die
275 Bedienung des Ballons und die Beobachtung der Instrumente freiließ,
276 durch ihre Feldstecher nach Norden, der Sonne entgegen, die erst
277 wenig nach Osten hin beiseite getreten war. Allmählich versanken
278 die Berggipfel unter ihnen – noch ein breiterer Rücken hemmte ihnen
279 die Aussicht – der Ballon glitt jetzt wieder in der Höhe des Kammes
280 dahin, das Schlepptau schleifte –, noch eine breite Mulde war zu
281 überfliegen, dann mußte das ersehnte Ziel vor ihnen liegen. Der
282 Ballon befand sich etwa in der Mitte der Mulde, höchstens 100 Meter
283 über ihrem Boden, und die gegenüberliegende Talwand verdeckte noch
284 die Aussicht. Der Wind war etwas weniger lebhaft, aber immer noch
285 südlich, und der Ballon stieg an der flachen Erhebung des Eisfeldes
286 hinan.
288 Jetzt wurden einzelne weiße Bergkuppen in großer Entfernung hinter
289 dem nahen Horizont der gegenüberliegenden Eiswand sichtbar, die
290 Luftschiffer befanden sich in gleicher Höhe mit dem letzten
291 Hindernis, das ihren Blick beschränkte. Die Gipfel mehrten sich,
292 sie bildeten eine Bergkette.
294 „Diese Berge liegen schon hinter dem Pol“, sagte Grunthe, und
295 diesmal bebte seine Stimme doch ein wenig vor Aufregung. Fest
296 preßte er seine Lippen zur geraden Linie zusammen.
298 Weiter stieg der Ballon – dunkel gefärbte Bergzüge erschienen unter
299 den Schneegipfeln, rötlich und bräunlich schimmernd – jetzt
300 erreichte der Ballon die Höhe und schwebte über einem tiefen
301 Abgrund – das Schleppseil schnellte hinab, und der Ballon sank
302 sofort einige hundert Meter tief – dann pendelte er noch einmal auf
303 und ab – diese plötzliche Schwankung des Ballons hatte die
304 Aufmerksamkeit der Luftschiffer voll in Anspruch genommen – sie
305 sahen unter sich, tief unten ein wildes Gewirr von Klippen,
306 Felstrümmern und Eisblöcken, hinter sich die steil abgebrochene
307 Wand, an welcher der verzerrte Schatten des Ballons auf- und
308 niederschwankte – die Instrumente mußten beobachtet werden, und
309 erst jetzt konnten sie den Blick nach vorwärts lenken, vorwärts und
310 nordwärts – oder war es vielleicht schon südwärts?
312 Saltner war der erste, der nach vorn blickte. Aber er sprach
313 nichts, in einem langgedehnten Pfiff blies er den Atem aus seinen
314 gespitzten Lippen.
316 „Das Meer!“ rief Torm.
318 „Grüß Gott!“ sagte jetzt Saltner. „Da hat halt der alte Petermann
319 doch recht behalten, aber bloß ein bissel. Ein offenes Polarmeer
320 ist es schon, man muß sich nur nicht zuviel drauf einbilden.“
322 „Ein Binnenmeer, ein Bassin, immerhin, gegen tausend
323 Quadratkilometer schätze ich“, sagte Grunthe. „Etwa so groß wie der
324 Bodensee. Aber wer kann wissen, was sich dort hinten noch an Fjords
325 und Kanälen abzweigt. Und auch das Bassin selbst ist durch
326 verschiedene Inseln in Arme geteilt.“
328 „Wer da unten zu Fuß oder zu Schiff ankommt, muß Mühe haben zu
329 entscheiden, ob das Meer im Land liegt oder das Land im Meer“,
330 sagte Saltner. „Gut, daß wir’s bequemer haben.“
332 „Gewiß“, meinte Torm, „es ist möglich, daß wir ein Stück des
333 offenen Meeres vor uns haben, obwohl es von hier den Anschein hat,
334 als schlössen die Berge das Wasser von allen Seiten ein. Wir werden
335 ja sehen. Aber vor allen Dingen, was sollen wir tun? Wir haben
336 wider Erwarten so hoch steigen müssen, daß wir jetzt sehr viel Gas
337 verlieren würden, wenn wir hinabwollten, und andrerseits werden wir
338 wieder drüben über die Berge hinaufmüssen. Es ist eine schwierige
339 Frage. Aber wir haben noch Zeit, darüber nachzudenken, denn der
340 Ballon bewegt sich jetzt nur langsam.“
342 „Und diese Gelegenheit wollen wir benutzen, um dem Nordpol unsern
343 wohlverdienten Gruß zu bringen“, rief Saltner. Mit diesen Worten
344 zog er ein Futteral hervor, aus welchem drei Flaschen Champagner
345 ihre silbernen Hälse einladend hervorstreckten.
347 „Davon weiß ich ja gar nichts“, sagte Torm fragend.
349 „Das ist eine Stiftung von Frau Isma. Sehen Sie, es steht darauf:
350 ›Am Pol zu öffnen. Gewicht vier Kilogramm.‹“
352 Torm lachte. „Dachte ich mir doch“, sagte er, „daß meine Frau
353 irgend etwas einschmuggeln würde, was das Expeditionsreglement
354 durchbricht.“
356 „Es ist doch aber auch ein herrlicher Gedanke von Ihrer Frau, sich
357 am Nordpol in Champagner hochleben zu lassen“, erwiderte Saltner.
358 „Erstens für sich selbst, denn das ist etwas, was noch nicht
359 dagewesen ist; das müssen Sie zugeben, Damen sind hier noch niemals
360 leben gelassen worden. Und zweitens für uns, das müssen Sie auch
361 zugeben; es ist sehr wonnig, in dieser Kälte den Schaumwein zu
362 trinken auf das Wohl unserer Kommandeuse. Und drittens, ist es
363 nicht einfach bejauchzbar, das tragische Antlitz unseres Astronomen
364 zu sehen? Denn Champagner trinkt er prinzipiell nicht, und auf
365 weibliche Wesen stößt er prinzipiell nicht an; da er aber auf dem
366 Nordpol prinzipiell in ein Hoch einstimmen muß und will, so findet
367 er sich in einem Widerstreit der Prinzipien, aus dem herauszukommen
368 ihm verteufelt schwerfallen wird.“
370 „Darauf könnte ich sehr viel erwidern“, sagte Grunthe. „Zum
371 Beispiel, daß wir noch gar nicht wissen, wo der Nordpol eigentlich
372 liegt.“
374 „Schon wahr“, unterbrach ihn Torm, „aber eben darum müssen wir den
375 Moment feiern, in welchem wir sicher sind, ihn zum erstenmal in
376 unserm Gesichtsfeld zu haben. Das werden Sie zugeben?“
378 „Hm, ja“, sagte Grunthe, und ein leichtes Schmunzeln glitt über
379 seine Züge. „Ich nehme an, wir wären am Pol. So kann ich mit Ihnen
380 anstoßen, oder auch nicht, ganz wie ich will, ohne mit
381 irgendwelchen Prinzipien in Widerspruch zu geraten.“
383 „Wieso?“ fragte Saltner.
385 „Der Pol ist ein Unstetigkeitspunkt. Prinzipien sind Grundsätze,
386 die unter der Voraussetzung gelten, daß die Bedingungen bestehen,
387 für welche sie aufgestellt sind, vor allem die Stetigkeit der Raum-
388 und Zeitbestimmungen. Am Pol sind alle Bedingungen aufgehoben. Hier
389 gibt es keine Himmelsrichtungen mehr, jede Richtung kann als Nord,
390 Süd, Ost oder West bezeichnet werden. Hier gibt es auch keine
391 Tageszeit; alle Zeiten, Nacht, Morgen, Mittag und Abend, sind
392 gleichzeitig vorhanden. Hier gelten also auch alle Grundsätze
393 zusammen oder gar keine. Es ist der vollständige Indifferenzpunkt
394 aller Bestimmungen erreicht, das Ideal der Parteilosigkeit.“
396 „Bravo“, rief Saltner, der inzwischen die Trinkbecher von Aluminium
397 mit dem perlenden Wein gefüllt hatte. „Es lebe Frau Isma Torm,
398 unsere gnädige Spenderin!“
400 Saltner und Torm erhoben ihre Becher. Grunthe kniff die Lippen
401 zusammen und hielt, geradeaus starrend, sein Trinkgefäß unbeweglich
402 vor sich hin, indem er es passiv geschehen ließ, daß die andern mit
403 ihren Bechern daran stießen. Nun rief Torm:
405 „Es lebe der Nordpol!“
407 Da stieß auch Grunthe seinen Becher lebhaft mit den andern zusammen
408 und setzte hinzu:
410 „Es lebe die Menschheit!“
412 Sie tranken und Saltner rief:
414 „Grunthes Toast ist so allgemein, daß ein Becher nicht reichen
415 kann.“ Und er schenkte noch einmal ein.
417 Inzwischen war der Ballon langsam dem Binnenmeer entgegengetrieben,
418 das sich nun immer deutlicher den staunenden Blicken der Reisenden
419 enthüllte. Vom Fuß der steil abfallenden Felsenwand des Gebirges ab
420 senkte sich das Gelände allmählich, wohl noch eine Strecke von
421 einigen zwanzig Kilometern weit, nach dem Ufer hin. Aber die
422 Landschaft zeigte jetzt ein vollständig anderes Gepräge. Die wilde
423 Gletschernatur war verschwunden, grüne Matten zogen sich, nur noch
424 mit einzelnen Gesteinstrümmern hier und da bedeckt, in sanfter
425 Senkung dem Wasser zu. Man glaubte in ein herrliches Alpental zu
426 schauen, in dessen Mitte ein blauer Bergsee sich ausbreitete. An
427 dem jenseitigen, entfernten Ufer, das freilich in undeutlichem
428 Dämmer verschwamm, schien dagegen wieder ein Steilabfall von Fels
429 und Eis zu herrschen, doch zog sich über den Bergen dort eine
430 Wolkenwand empor. Das Auffallendste in der ganzen Szenerie aber bot
431 der Anblick einer der Inseln, die zahlreich und in unregelmäßiger
432 Gestaltung in dem Bassin lagen, bis an dessen Ufer der Ballon jetzt
433 herangeschwebt war. Sie war kleiner als die Mehrzahl der übrigen
434 Inseln. Aber ihre Formen waren so vollkommen regelmäßig, daß es
435 zweifelhaft schien, ob man eine Gestaltung der Natur vor sich habe.
436 Die mit Flechten bekleideten Felstrümmer, welche die andern Inseln
437 bedeckten, fehlten hier vollständig.
439 Die Forscher mochten sich etwa noch zwölf Kilometer von der
440 rätselhaften Insel entfernt befinden, die sie mit ihren Ferngläsern
441 musterten, als Torm sich an Grunthe wandte.
443 „Sagen Sie uns, bitte, Ihre Meinung. Können wir eigentlich
444 bestimmen, wo wir uns befinden? Ich muß gestehen, daß ich beim
445 Überschreiten des Gebirges und dem raschen Höhenwechsel nicht mehr
446 imstande war, die einzelnen Landmarken zu verfolgen.“
448 „Ich habe“, erwiderte Grunthe, „einige Peilungen gemacht, aber zu
449 einer sicheren Bestimmung reichen sie nicht mehr aus. Auch die
450 Methode aus der Messung der Sonnenhöhe ist jetzt nicht anwendbar,
451 da wir nicht mehr imstande sind, die Tageszeit auch nur mit einiger
452 Sicherheit anzugeben. Wir haben die Himmelsrichtung vollständig
453 verloren. Der Kompaß ist ja hier im Norden sehr unzuverlässig. Auf
454 alle Fälle sind wir ganz nahe am Pol, wo alle Meridiane so nah
455 zusammenlaufen, daß eine Abweichung von einem Kilometer nach rechts
456 oder links einen Zeitunterschied von einer Stunde oder mehr
457 ausmacht. Wenn unser Ballon aus der Nord-Süd-Richtung vielleicht
458 seit der Überschreitung des Gebirges um fünf oder sechs Kilometer
459 abgewichen ist, was sehr leicht sein kann, so haben wir jetzt
460 nicht, wie wir vermuten, drei Uhr morgens am 19. August, sondern
461 vielleicht schon Mittag, oder, wenn wir nach Westen abgewichen
462 sind, so sind wir sogar in den gestrigen Tag zurückgeraten und
463 haben vielleicht erst den 18. August abends.“
465 „Das wäre der Teufel“, rief Saltner. „Das kommt von diesem ewigen
466 Sonnenschein am Pol! Nun kann ich an meinem Abreißkalender das
467 Blatt von gestern wieder ankleben.“
469 „Schon möglich!“ lächelte Grunthe. „Nehmen Sie an, Sie machen einen
470 Spaziergang um den Nordpol in der Entfernung von hundert Metern vom
471 Pol, so sind Sie in fünf Minuten bequem um den Pol herumgegangen
472 und haben sämtliche 360 Meridiane überschritten; Sie haben also in
473 fünf Minuten alle Tageszeiten abgelaufen. Gehen Sie nach Westen
474 herum, und wollen Sie die richtige Zeit jedes Meridians haben, so
475 müßten Sie auf jedem Meridian Ihre Uhr um 4 Minuten zurückstellen,
476 so daß Sie nach besagten fünf Minuten um einen vollen Tag zurück
477 sind, und wenn Sie in dieser Art eine Stunde lang um den Pol
478 herumgegangen sind, so muß Ihre Uhr, wenn sie einen Datumzeiger
479 besitzt, den 7. August anzeigen.“
481 „Da muß ich mir halt einen Anklebekalender anschaffen“, meinte
482 Saltner.
484 „Ja, aber wenn Sie nach Osten herumgehen, kommen Sie um ebensoviel
485 in der Zeit voran, Sie hätten dann nach zwölfmaligem Spaziergang um
486 den Pol den 31. August erreicht, wenn Sie bei jedem Umgehen des
487 Pols ein Blatt in ihrem Kalender abrissen. In beiden Fällen würden
488 sie sich indessen tatsächlich noch am 19. August befinden. Sie
489 müßten also, wie die Seefahrer beim Überschreiten des 180.
490 Meridians, ihren Datumzeiger entsprechend regulieren.“
492 „Und wenn wir nun gerade über den Pol wegfliegen?“
494 „Dann springen wir in einem Moment um zwölf Stunden in der Zeit.
495 Der Pol ist eben ein Unstetigkeitspunkt.“
497 „Sackerment, da weiß man ja gar nicht, wo man ist.“
499 „Ja“, sagte Torm, „das ist eben das Fatale. Wir haben uns von
500 Anfang an darauf verlassen müssen, daß wir unsere Lage aus dem
501 zurückgelegten Wege bestimmen. Läßt sich denn gar nichts tun?“
503 „Nur wenn wir landen und unsere Instrumente so fest aufstellen, daß
504 wir einige Sterne anvisieren können.“
506 „Daran können wir auf keinen Fall eher denken, bis wir den See
507 überflogen haben und das jenseitige Gebirge überschauen. Hier
508 zwischen den Inseln dürfen wir uns nicht hinabwagen. Wir sind also
509 wirklich nicht besser daran als unsere Vorgänger, und der wahre Pol
510 bleibt wieder unbestimmt.“
512 „Zu verflixt“, brummte Saltner, „da sind wir vielleicht gerade am
513 Nordpol und wissen es nicht.“
515 \section{2 - Das Geheimnis des Pols}
517 Langsam zog der Ballon weiter, doch bewegte er sich nicht direkt
518 auf die auffallende kleine Insel zu, sondern sie blieb rechts von
519 seiner Fahrtrichtung liegen.
521 Während Grunthe die Landmarken aufnahm und Torm die Instrumente
522 ablas, suchte Saltner, dem die photographische Festhaltung des
523 Terrains oblag, die Gegend mit seinem vorzüglichen Abbéschen
524 Relieffernrohr ab. Dasselbe gab eine sechzehnfache Vergrößerung und
525 ließ, da es die Augendistanz verzehnfachte, die Gegenstände in
526 stereoskopischer Körperlichkeit erscheinen. Sie hatten sich jetzt
527 der Insel soweit genähert, daß es möglich gewesen wäre, Menschen,
528 falls sich solche dort hätten befinden können, mit Hilfe des
529 Fernrohrs wahrzunehmen.
531 Saltner schüttelte den Kopf, sah wieder durch das Fernrohr, setzte
532 es ab und schüttelte wieder den Kopf.
534 „Meine Herren“, sagte er jetzt, „entweder ist mir der Champagner in
535 den Kopf gestiegen –“
537 „Die zwei Glas, Ihnen?“ fragte Torm lächelnd.
539 „Ich glaub es auch nicht, also – oder –“
541 „Oder? Was sehen Sie denn?“
543 „Es sind schon andere vor uns hier gewesen.“
545 „Unmöglich!“ riefen Torm und Grunthe wie aus einem Munde.
547 „Die bisherigen Berichte wissen nichts von einer derartigen Insel –
548 unsere Vorgänger sind offenbar gar nicht über das Gebirge
549 gekommen“, fügte Torm hinzu.
551 „Sehen Sie selbst“, sagte Saltner und gab das Fernrohr an Torm. Er
552 selbst und Grunthe benutzten ihre kleineren Feldstecher. Torm
553 blickte gespannt nach der Insel, dann wollte er etwas sagen, zuckte
554 aber nur mit den Lippen und blieb völlig stumm.
556 Saltner begann wieder: „Die Insel ist genau kreisförmig – das haben
557 wir schon bemerkt. Aber jetzt sehen Sie, daß gerade im Zentrum sich
558 wieder ein dunkler Kreis von – sagen wir – vielleicht hundert
559 Metern Durchmesser befindet.“
561 „Allerdings“, sagte Grunthe, „aber es ist nicht nur ein Kreis,
562 sondern eine zylindrische Öffnung, wie man jetzt deutlich sehen
563 kann. Und um den Rand derselben führt eine Art Brüstung.“
565 „Und nun suchen Sie einmal den Rand der Insel ab. Was sehen Sie?“
567 „Mein Glas ist zu schwach, um Einzelheiten zu erkennen.“
569 „Ich habe gesehen, was Sie wahrscheinlich meinen“, sagte Torm.
571 „Aber was ist das“, unterbrach er sich, „der Ballon ändert seine
572 Richtung?“
574 Er gab das Glas an Grunthe und wandte seine Aufmerksamkeit dem
575 Ballon zu. Dieser wich nach rechts von seinem bisherigen Kurse ab.
576 Er bewegte sich parallel mit dem Ufer der Insel, diese in sich
577 gleichbleibender Entfernung umkreisend.
579 „Wir wollen uns überzeugen, daß wir dasselbe meinen“, sagte
580 Grunthe. „Rings um die Insel zieht sich ein Kreis von pfeiler- oder
581 säulenartigen Erhöhungen in gleichen Abständen.“
583 „Es stimmt“, sagten die andern.
585 „Ich habe sie gezählt“, bemerkte Torm, „es sind zwölf große,
586 dazwischen je elf kleinere, im ganzen hundertvierundvierzig.“
588 „Und der seltsame Reflex über der ganzen Insel?“
590 „Wissen Sie, es sieht aus, als wäre die ganze Insel mit einem Netz
591 von spiegelnden metallischen Drähten oder Schienen überzogen, die
592 wie die Speichen eines Rades vom Zentrum nach der Peripherie
593 laufen.“
595 „Ja“, sagte Torm, indem er sich einen Augenblick erschöpft
596 niedersetzte, „und Sie werden gleich noch mehr sehen, wenn Sie
597 länger hinschauen. Ich will es Ihnen sagen.“ Seine Stimme klang
598 rauh und heiser. „Was Sie dort sehen, ist der Nordpol der Erde –
599 aber, wir haben ihn nicht entdeckt.“
601 „Das fehlte gerade“, fuhr Saltner auf. „Dafür sollten wir uns in
602 diesen pendelnden Frierkasten gesetzt haben? Nein, Kapitän,
603 entdeckt haben wir ihn, und was wir da sehen, ist kein
604 Menschenwerk. So verrückt wäre doch kein Mensch, hier Drähte zu
605 spannen! Eher will ich glauben, daß die Erdachse in ein großes
606 Velozipedrad ausläuft, und daß wir wahrhaftig berufen sind, sie zu
607 schmieren! Nur nicht den Mut verlieren!“
609 „Wenn es nicht Menschen sind“, sagte Torm tonlos, „und ich weiß
610 auch nicht, wie Menschen dergleichen machen sollten, und warum, und
611 wo sie herkämen – das hätte man doch erfahren – so – eine Täuschung
612 ist es doch nicht – so steht mir der Verstand still.“
614 „Na“, sagte Saltner, „Eisbären werden’s nicht gemacht haben,
615 obgleich ich mich jetzt über nichts mehr wundern würde, und wenn
616 gleich ein geflügelter Seehund käme und ›Station Nordpol‹ ausriefe.
617 Aber es könnte doch vielleicht eine Naturerscheinung sein, ein
618 merkwürdiger Kristallisationsprozeß – – Sakri! Jetzt hab ich’s. Das
619 ist ein Geysir! Ein riesiger Geysir!“
621 „Nein, Saltner“, erwiderte Torm, „das habe ich auch schon gedacht –
622 ein Schlammvulkan könnte etwa eine ähnliche Bildung zeigen. Aber –
623 Sie haben wohl das Eigentliche, die Hauptsache, das – Unerklärliche
624 noch nicht gesehen –“
626 „Was meinen Sie?“
628 „Ich hab’ es gesehen“, sagte jetzt Grunthe. Er setzte das Fernrohr
629 ab. Dann lehnte er sich zurück und runzelte die Stirn. Auch um die
630 fest zusammengezogenen Lippen bildeten sich Falten, daß sein Mund
631 aussah wie ein in Klammern gesetztes Minuszeichen. Er versank in
632 tiefes, sorgenvolles Nachdenken.
634 Saltner ergriff das Glas.
636 „Achten Sie auf die Färbungen am Boden der ganzen Insel!“ sagte
637 Torm zu ihm.
639 „Es sind Figuren!“ rief Saltner.
641 „Ja“, sagte Torm. „Und diese Figuren stellen nichts anderes dar als
642 ein genaues Kartenbild eines großen Teils der nördlichen
643 Halbkugel der Erde in perspektivischer Polarprojektion. Sie sehen
644 deutlich den Verlauf der grönländischen Küste, Nordamerika, die
645 Beringstraße, Sibirien, ganz Europa – mit seinen unverkennbaren
646 Inseln und Halbinseln, das Mittelmeer bis zum Nordrand von Afrika,
647 wenn auch stark verkürzt.“
649 „Es ist kein Zweifel“, sagte Saltner. „Die ganze Umgebung des Pols
650 ist in einem deutlichen Kartenbild in kolossalem Maßstab hier
651 abgezeichnet, und zwar bis gegen den 30. Breitengrad.“
653 „Und wie ist das möglich?“
655 Die Frage fand keine Antwort. Alle schwiegen.
657 Inzwischen hatte der Ballon eine fast vollständige Umkreisung der
658 Insel vollzogen. Aber er hatte sich derselben auch noch um ein
659 Stück genähert. Es war klar, daß er durch eine unbekannte Kraft,
660 wohl durch eine wirbelförmige Bewegung der Luft, um die Insel
661 herumgeführt und zugleich nach der Achse des Wirbels, die von der
662 Mitte der Insel ausgehen mochte, zu ihr hingezogen wurde.
664 Torm unterbrach das Schweigen. „Wir müssen einen Entschluß fassen“,
665 sagte er. „Wollen die Herren sich äußern.“
667 „Ich will zunächst einmal“, begann Saltner, „diese merkwürdige
668 Erdkarte photographieren. Sie scheint ziemlich richtig selbst in
669 Details zu sein. Daß sie nicht von Menschenhand herrühren kann,
670 sehen wir daraus daß auch die noch unbekannten Gegenden des
671 Polargebietes dargestellt sind. Die innere Öffnung, bei welcher die
672 Karte abbricht, entspricht in ihrem Umfange etwa dem 86.
673 Breitengrade; es fehlen also – für uns leider – die nächsten vier
674 Grade um den Pol herum.“
676 „Selbstverständlich“, sagte Torm, „müssen Sie die Karte
677 photographieren. Wir dürfen nicht mehr zweifeln, ein Werk
678 intelligenter Wesen vor uns zu haben, wenn ich mir auch nicht
679 erklären kann, wer diese sein mögen. Aber wenn das richtig ist, was
680 wir kontrollieren können, so müssen wir schließen, daß auch die
681 Teile des Polargebietes nach den Nordküsten von Amerika und
682 Sibirien hin zuverlässig dargestellt sind. Und dann hätten wir mit
683 einem Schlage eine vollständige Karte dieses bisher unerforschten
684 Polargebietes.“
686 „Nun, ich denke, wir können mit diesem Erfolg schon zufrieden sein.
687 Und bedenken Sie, wie nützlich die Karte für unsere Rückkehr werden
688 kann. So –“, damit brachte Saltner die photographische Kammer
689 wieder an ihren Platz, „ich habe drei sichere Aufnahmen. Aber der
690 Ballon bewegt sich ja schneller?“
692 „Ich glaube auch“, sagte Torm. „Ich bitte nun um die Meinung der
693 Herren, sollen wir eine Landung auf der Insel wagen, um dieses
694 Geheimnis zu erforschen?“
696 „Ich meine“, äußerte sich Saltner, „wir müssen es versuchen. Wir
697 müssen zusehen, mit wem wir es hier zu tun haben.“
699 „Gewiß“, sagte Torm, „die Aufgabe ist verlockend. Aber es ist zu
700 befürchten, daß wir zuviel Gas verlieren, daß wir vielleicht die
701 Möglichkeit aufgeben, den Ballon weiter zu benutzen. Was meinen
702 Sie, Dr. Grunthe?“
704 Grunthe richtete sich aus seinem Nachsinnen auf. Er sprach sehr
705 ernst: „Unter keinen Umständen dürfen wir landen. Ich bin sogar der
706 Ansicht, daß wir alle Anstrengungen machen müssen, um uns so
707 schnell wie möglich von diesem gefährlichen Punkt zu entfernen.“
709 „Worin sehen Sie die Gefahr?“
711 „Nachdem wir die eigentümliche Ausrüstung des Pols und die
712 Abbildung der Erdoberfläche gesehen haben, ist doch kein Zweifel,
713 daß wir einer gänzlich unbekannten Macht gegenüberstehen. Wir
714 müssen annehmen, daß wir es mit Wesen zu tun bekommen, deren
715 Fähigkeiten und Kräften wir nicht gewachsen sind. Wer diesen
716 Riesenapparat hier in der unzugänglichen Eiswüste des Polargebiets
717 aufstellen konnte, der würde ohne Zweifel über uns nach Gutdünken
718 verfügen können.“
720 „Nun, nun“, sagte Torm, „wir wollen uns darum nicht fürchten.“
722 „Das nicht“, erwiderte Grunthe, „aber wir dürfen den Erfolg unserer
723 Expedition nicht aufs Spiel setzen. Vielleicht liegt es im
724 Interesse dieser Polbewohner, den Kulturländern keine Nachricht von
725 ihrer Existenz zukommen zu lassen. Wir würden dann ohne Zweifel
726 unsere Freiheit verlieren. Ich meine, wir müssen alles daransetzen,
727 das, was wir beobachtet haben, der Wissenschaft zu übermitteln und
728 es dann späteren Erwägungen überlassen, ob es geraten scheint und
729 mit welchen Mitteln es möglich sei, das unerwartete Geheimnis des
730 Pols aufzulösen. Wir dürfen uns nicht als Eroberer betrachten,
731 sondern nur als Kundschafter.“
733 Die andern schwiegen nachdenklich. Dann sagte Torm:
735 „Ich muß Ihnen recht geben. Unsere Instruktion lautet allerdings
736 dahin, eine Landung nach Möglichkeit zu vermeiden. Wir sollen mit
737 möglichster Eile in bewohnte Gegenden zu gelangen suchen, nachdem
738 wir uns dem Pol soweit wie angänglich genähert und seine Lage
739 festgestellt haben, und wir sollen versuchen, einen Überblick über
740 die Verteilung von Land und Wasser vom Ballon aus zu gewinnen.
741 Dieser Gesichtspunkt muß entscheidend sein. Wir wollen also
742 versuchen, von hier fortzukommen.“
744 „Aber nach welcher Richtung?“ fragte Saltner. „Darüber könnte uns
745 die Polarkarte der Insel Auskunft geben.“
747 „Ich fürchte“, entgegnete Torm, „von unserm guten Willen wird dabei
748 sehr wenig abhängen. Wir müssen abwarten, was der Wind über uns
749 beschließen wird. Zunächst lassen Sie uns versuchen, diesem Wirbel
750 zu entfliehen.“
752 Inzwischen hatte sich der Ballon noch mehr der Insel genähert, und
753 seine Geschwindigkeit begann zu wachsen. Zugleich aber erhob er
754 sich weiter über den Erdboden.
756 Die Luftschiffer spannten nun das Segel auf und gaben ihm eine
757 solche Stellung, daß der Widerstand der Luft sie nach der
758 Peripherie des Wirbels treiben mußte. Da aber der Ballon viel zu
759 hoch schwebte, als daß das Schleppseil seine hemmende Wirkung hätte
760 ausüben können, so mußte das Manöver zuerst versagen. In immer
761 engeren Spirallinien aufsteigend näherte sich der Ballon dem
762 Zentrum des Wirbels und vermehrte seine Geschwindigkeit. In großer
763 Besorgnis verfolgten die Luftschiffer den Vorgang. Sie beeilten
764 sich, die Länge des Schlepptaus zu vergrößern. Ihre vorzügliche
765 Ausrüstung gestattete ihnen, ein Schlepptau von tausend Metern
766 Länge zu verwenden, an welches noch ein hundertundfünfzig Meter
767 langer Schleppgurt mit Schwimmern kam. Aber auch diese stattliche
768 Ausdehnung des Seiles reichte nicht bis auf die Oberfläche des
769 Wassers.
771 „Es bleibt nichts übrig“, rief Torm endlich, „wir müssen weiter
772 niedersteigen.“
774 Er öffnete das Manöverventil. Das Gas strömte aus. Der Ballon
775 begann zu sinken.
777 „Wir wollen aber“, sagte Torm, „da wir nicht wissen, wie wir hier
778 davonkommen, doch versuchen, eine Nachricht nach Hause zu geben.
779 Lassen Sie uns einige unserer Brieftauben absenden. Jetzt ist der
780 geeignete Moment. Was wir gesehen haben, muß man in Europa
781 erfahren.“
783 Eilends schrieb er die nötigen Notizen auf den schmalen Streifen
784 Papier, den er zusammenrollte und in der Federpose versiegelte,
785 welche den Brieftauben angeheftet wurde.
787 Saltner gab den Tierchen die Freiheit. Sie umkreisten wiederholt
788 den Ballon und entfernten sich dann in einer Richtung, die von der
789 Insel fortführte.
791 Torm schloß das Ventil wieder. Sie mußten jetzt jeden Augenblick
792 erwarten, daß das Ende des Schlepptaus die Oberfläche des Wassers
793 berühre. Der Ballon näherte sich seiner Gleichgewichtslage.
795 Grunthe blickte durch das Relieffernrohr direkt nach unten, da es
796 durch dieses Instrument möglich war, den breiten Sackanker am Ende
797 des Schleppgurts zu sehen und den Abstand desselben vom Boden zu
798 schätzen. Plötzlich griff er mit größter Hast zur Seite, erfaßte
799 den nächsten Gegenstand, der ihm zur Hand war – es war das Futteral
800 mit den beiden noch gefüllten Champagnerflaschen – und schleuderte
801 es in großem Bogen zum Korbe hinaus.
803 „Sakri, was fällt ihnen ein“, rief Saltner entrüstet, „werfen da
804 unsern saubern Wein ins Wasser.“
806 „Entschuldigen Sie“, sagte Grunthe, indem er sich aus seiner
807 gebückten Stellung aufrichtete, da er an der Bewegung der Wimpel
808 bemerkte, daß der Ballon wieder im Steigen begriffen war.
809 „Entschuldigen Sie, aber das Fernrohr konnte ich doch nicht
810 hinauswerfen, und es war keine halbe Sekunde zu verlieren – wir
811 wären wahrscheinlich verloren gewesen.“
813 „Was gab es denn?“ fragte Torm besorgt.
815 „Wir sind nicht mehr über dem Wasser, sondern bereits am Rande der
816 Insel. Das Ende des Seils war wohl kaum weiter als zehn Meter von
817 der Oberfläche der Insel entfernt. Wir hätten sie berührt, wenn
818 nicht das Sinken des Ballons momentan aufgehört hätte.
819 Glücklicherweise genügten die Flaschen, unsern Fall aufzuhalten.“
821 „Und glauben Sie denn, daß wir die Insel nicht berühren dürfen?“
823 „Ich glaube es nicht, ich weiß es.“
825 „Wieso?“
827 „Wir wären hinabgezogen worden.“
829 „Ich kann noch nicht einsehen, woraus Sie das schließen.“
831 „Sie haben mir doch beigestimmt“, sagte Grunthe, „daß wir es nicht
832 darauf ankommen lassen dürfen, in die Macht der unbekannten Wesen –
833 sie mögen nun sein, wer sie wollen – zu geraten, welche diesen
834 unerklärlichen Apparat und diese Kolossalkarte am Nordpol
835 hergestellt haben. Es ist aber wohl keine Frage, daß dieser
836 Apparat, an den wir mehr und mehr herangezogen werden, nicht sich
837 selbst überlassen hier stehen wird. Sicherlich ist die Insel
838 bewohnt, es befinden sich die geheimnisvollen Erbauer
839 wahrscheinlich in oder unter jenen Dächern und Pfeilern, die wir
840 mit unsern Fernrohren nicht durchdringen können. Es ist anzunehmen,
841 daß sie unsern Ballon längst bemerkt haben, und so schließe ich
842 denn, daß sie denselben sofort zu sich hinabziehen würden, sobald
843 unser Schleppseil in das Bereich ihrer Arme gelangt.“
845 „Gott sei Dank“, rief Saltner, „daß Sie den dunkeln Polgästen
846 wenigstens Arme zusprechen; es ist doch schon ein menschlicher
847 Gedanke, daß man ihnen zur Not in die Arme fallen kann.“
849 Torm unterbrach ihn. „Ich kann mich immer noch nicht recht dazu
850 verstehen“, sagte er, „an eine solche überlegene Macht zu glauben.
851 Das widerspräche ja doch allem, was bisher in der Geschichte der
852 Polarforschung, ja der Entdeckungsreisen überhaupt vorgekommen ist.
853 Freilich die Karte –, aber was denken Sie überhaupt über diese
854 Insel? Sie sprachen von einem Apparat, so ein Apparat müßte doch
855 einen Zweck haben–“
857 „Den wird er ohne Zweifel haben, wir sind nur nicht in der Lage,
858 ihn zu kennen oder zu begreifen. Denken Sie, daß Sie einen Eskimo
859 vor die Dynamomaschine eines Elektrizitätswerks stellen; daß das
860 Ding einen Zweck hat, wird er sich sagen, aber was für einen, das
861 wird er nie erraten. Wie soll er begreifen, daß die Drähte, die von
862 hier ausgehen, ungeheure Energiemengen auf weite Strecken
863 verteilen, daß sie dort Tageshelle erzeugen, dort schwere Wagen mit
864 Hunderten von Menschen mit Leichtigkeit hingleiten lassen? Wenn der
865 Eskimo sich über die Dynamomaschine äußert, so wird es jedenfalls
866 eine so kindische Ansicht sein, daß wir sie belächeln. Und um nicht
867 diesem unbekannten Apparat gegenüber die Rolle des Eskimo zu
868 spielen, will ich mich lieber gar nicht äußern.“
870 Torm schwieg nachdenklich. Dann sagte er:
872 „Was mich am meisten beunruhigt, ist diese unerklärliche
873 Anziehungskraft, die die Achse der Insel auf unsern Ballon ausübt.
874 Und sehen Sie, seitdem wir kein Gas mehr ausströmen lassen, beginnt
875 der Ballon wieder rapid zu steigen. Dabei wird er fortwährend um
876 das Zentrum der Insel herumgetrieben.“
878 „Und wer sagt Ihnen, was geschieht, wenn wir in die Achse selbst
879 geraten? Ich halte unsere Situation für geradezu verzweifelt, aus
880 dem Wirbel können wir nur heraus, wenn wir uns sinken lassen. Dann
881 aber geraten wir in die Macht der unbekannten Insulaner.“
883 „Und dennoch“, sagte Torm, „werden wir uns entschließen müssen.“
885 Alle drei schwiegen. Mit düsteren Blicken beobachteten Torm und
886 Grunthe die Bewegungen des Ballons, während Saltner die Insel mit
887 dem Fernrohr untersuchte. Mehr und mehr verschwanden die Details,
888 die vorher deutlich sichtbar waren, ein Zeichen, daß der Ballon mit
889 großer Geschwindigkeit stieg, auch wenn die Instrumente, ja selbst
890 die zunehmende Kälte, dies nicht angezeigt hätten.
892 Da – was war das? – auf der Insel zeigte sich eine Bewegung, ein
893 eigentümliches Leuchten. Saltner rief die Gefährten an. Sie
894 blickten hinab, konnten aber mit ihren schwächeren Instrumenten nur
895 bemerken, daß sich helle Punkte vom Zentrum nach der Peripherie hin
896 bewegten. Saltner schien es durch sein starkes Glas, als wenn eine
897 Reihe von Gestalten mit weißen Tüchern winkende Bewegungen
898 ausführte, die alle vom Innern der Insel nach außen hin wiesen.
900 „Man gibt uns Zeichen“, sagte er. „Sehen Sie hier durch das starke
901 Glas!“
903 „Das kann nichts anderes bedeuten“, rief Torm, „als daß wir uns von
904 der Achse entfernen sollen. Aber so klug sind wir selbst – wir
905 wissen nur nicht wie.“
907 „Wir müssen das Entleerungs-Ventil öffnen“, sagte Saltner.
909 „Dann ergeben wir uns auf Gnade und Ungnade“, rief Grunthe.
911 „Und doch wird uns nichts übrig bleiben“, bemerkte Torm.
913 „Und was schadet es?“ fragte Saltner. „Vielleicht wollen jene Wesen
914 nur unser Bestes. Würden sie uns sonst warnen?“
916 „Wie dem auch sei – wir dürfen nicht höher steigen“, sagte Torm.
917 „Wir werden ja geradezu in die Höhe gerissen.“
919 Schon hatten sich alle dicht in ihre Pelze gewickelt.
921 „Warten wir noch“, sagte Grunthe, „wir sind immer noch gegen
922 hundert Meter von der Achse der Insel entfernt. Die Trübung hat
923 sich genähert, wir kommen in eine Wolkenschicht. Vielleicht gelangt
924 doch der Ballon endlich ins Gleichgewicht.“
926 „Unmöglich“, entgegnete Torm. „Wir haben bereits gegen 4.000 Meter
927 erreicht. Der Ballon war im Gleichgewicht, als das Gewicht des
928 Futterals mit den Champagnerflaschen seine Bewegung zu ändern
929 vermochte. Wenn er jetzt mit solcher Geschwindigkeit steigt, so ist
930 das ein Zeichen, daß uns eine äußere Kraft in die Höhe führt, die
931 um so stärker wird, je mehr wir uns dem Zentrum nähern.“
933 „Ich muß es zugeben“, sagte Grunthe. „Es ist gerade, als wenn wir
934 uns in einem Kraftfeld befänden, das uns direkt von der Erde
935 abstößt. Sollen wir einen Versuchsballon ablassen?“
937 „Kann uns nichts Neues mehr sagen – es ist zu spät. Da – wir sind
938 in den Wolken.“
940 „Also hinunter!“ rief Saltner.
942 Torm riß das Landungsventil auf.
944 Der Ballon mäßigte seine aufsteigende Bewegung, aber zu sinken
945 begann er nicht.
947 Die Blicke der Luftschiffer hingen an den Instrumenten. Wenige
948 Minuten mußten ihr Schicksal entscheiden. Das Gas strömte in die
949 verdünnte Luft mit großer Gewalt aus. Brachte dies den Ballon nicht
950 bald zum Sinken, so war es klar, daß sie die Herrschaft über das
951 Luftmeer verloren hatten. Sie befanden sich dann einer Gewalt
952 gegenüber, die sie, unabhängig von dem Gleichgewicht ihres Ballons
953 in der Atmosphäre, von der Erde forttrieb.
955 Und der Ballon sank nicht. Eine Zeitlang schien es, als wollte er
956 sich auf gleicher Höhe halten, aber die wirbelnde Bewegung hörte
957 nicht auf, die ihn der Achse der Insel entgegentrieb. Diese Achse,
958 daran war ja kein Zweifel, war nichts anderes als die Erdachse
959 selbst, jene mathematische Linie, um welche die Rotation der Erde
960 erfolgt. Immer stärker wurden sie zu ihr hingezogen. Aber je näher
961 sie ihr kamen, um so heftiger wurde der Ballon nach oben gedrängt.
962 Schon begannen sich die körperlichen Beschwerden einzustellen,
963 welche die Erhebung in die verdünnten Luftschichten begleiten. Alle
964 klagten über Herzklopfen. Saltner mußte das Fernrohr hinlegen, vor
965 seinen Augen verschwammen die Gegenstände. Atemnot stellte sich
966 ein.
968 „Es bleibt nichts andres übrig“, rief Torm. „Die Reißleine!“
970 Grunthe ergriff die Reißleine. Die Zerreißvorrichtung dient dazu,
971 einen Streifen der Ballonhülle in der Länge des sechsten Teils des
972 Ballonumfangs aufzureißen, um den Ballon im Notfall binnen wenigen
973 Minuten des Gases zu entleeren. Aber – die Vorrichtung versagte! Er
974 zerrte an der Leine – sie gab nicht nach. Sie mußte sich am
975 Netzwerk des Ballons verfangen haben. Es war jetzt unmöglich, den
976 Schaden zu reparieren. Der Ballon stieg weiter. Von der Erde war
977 nichts mehr zu sehen, man blickte auf Wolken.
979 „Die Sauerstoffapparate!“ kommandierte Torm.
981 Obwohl man die Absicht hatte, sich stets in geringer Höhe zu
982 halten, konnte man doch nicht wissen, ob nicht die Umstände ein
983 Aufsteigen in die höchsten Regionen mit sich bringen wurden. Für
984 diesen Fall hatte man sich mit komprimiertem Sauerstoff zur Atmung
985 versehen. Es war jetzt notwendig, die künstliche Atmung
986 anzuwenden.
988 Die Forscher fühlten sich neu gestärkt; aber immer furchtbarer
989 wurde die Kälte. Sie merkten, wie ihre Gliedmaßen zu erstarren
990 drohten. Die Nase, die Finger wurden gefühllos, sie versuchten
991 ihnen durch Reiben den Blutzufluß wieder zuzuführen. Der Ballon
992 stieg rettungslos weiter, und zwar immer schneller, je mehr er sich
993 dem Zentrum näherte. Siebentausend – achttausend – neuntausend
994 Meter zeigte das Barometer im Verlauf einer Viertelstunde an. Die
995 größte Höhe, welche je von Menschen erreicht worden war, wurde nun
996 überschritten.
998 Untätig saßen die Männer zusammengedrängt – sie hatten den
999 künstlichen Verschluß der Gondel hergestellt, da sie nichts mehr am
1000 Ballon ändern konnten. Sie vermochten nichts zu tun, als sich gegen
1001 die Kälte zu schützen. Kein Mittel der Rettung zeigte sich – ihre
1002 Tatkraft begann unter dem Einfluß der vernichtenden Kälte zu
1003 erlahmen. Der Flug in die Höhe war unhemmbar – nichts mehr konnte
1004 sie retten vor dem Erfrieren – oder vor dem Ersticken. – Was würde
1005 geschehen? Es war ja gleichgültig.
1007 Und doch, immer wieder raffte sich der eine oder andere mit
1008 Anstrengung aller Willenskräfte auf – noch ein Blick auf die
1009 Instrumente – die Thermometer waren längst eingefroren – und – kaum
1010 glaublich – das Barometer zeigte einen Druck von nur noch 50
1011 Millimeter, das heißt, sie befanden sich zwanzig Kilometer über der
1012 Erdoberfläche. Und jetzt – schien es nicht, als käme der Ballon zu
1013 ihnen herab? Die entleerte Seidenhülle senkte sich über die Gondel
1014 – die Gondel flog schneller als der Ballon – wie aus einer Kanone
1015 geschossen fuhr sie in die Seide des Ballons hinein, die Insassen
1016 der Gondel waren verstrickt in das Gewirr von Stoff und Seilen –
1017 halb schon bewußtlos bemerkten sie kaum noch den Stoß der sie traf
1018 – sie waren in die Achse des von der Insel ausgehenden Wirbels
1019 geraten. – –
1021 Sie befanden sich senkrecht über dem Pol der Erde – das Ziel war
1022 erreicht, dem sie so hoffnungsfroh entgegengestrebt hatten. Weit
1023 unter ihnen im hellen Sonnenscheine lagen die glänzenden
1024 Wolkenstreifen und fern im Süden das grünlich schimmernde Land
1025 ausgebreitet, die kühnen Forscher aber sahen nichts mehr davon.
1026 Ohnmächtig, erstickt – erdrückt von der Last des Ballons, flogen
1027 sie, eine formlose Masse bildend, in der Richtung der Erdachse den
1028 Grenzen der Atmosphäre entgegen.
1030 \section{3 - Die Bewohner des Mars}
1032 Unter dem Einfluß der geheimnisvollen Kraft, welche die Trümmer der
1033 verunglückten Expedition in der Richtung der Erdachse vom Nordpol
1034 forttrieb, hatten sie eine ungeheure Beschleunigung erlangt. Der in
1035 die Falten des Ballons hineingetriebene Korb bewegte sich jetzt mit
1036 rasender Geschwindigkeit nach oben. Wenige Minuten mußten genügen,
1037 den Tod der Insassen zu bewirken, da der Verschluß der Gondel sie
1038 nicht hinreichend zu schützen vermochte.
1040 Nicht mehr von der Erde aus erkennbar schien das seltsame Geschoß
1041 einsam und verlassen den Weltraum zu durcheilen, jeder menschlichen
1042 Macht entrückt, ein Spielball kosmischer Kräfte – –
1044 Und dennoch war der Ballon der Gegenstand gespanntester
1045 Aufmerksamkeit.
1047 Die Beobachter desselben befanden sich auf einer Stelle, wo kein
1048 Mensch lebende Wesen vermutet, ja nur eine solche Möglichkeit hätte
1049 verstehen können. Daß der Nordpol von unbekannten Bewohnern besetzt
1050 sei, war ja äußerst seltsam und überraschend; aber er war doch ein
1051 Punkt der Erde, auf welchem lebende Wesen sich aufzuhalten und zu
1052 atmen vermochten. Der Ort dagegen, von welchem aus man jetzt auf
1053 den verunglückten Ballon aufmerksam wurde, befand sich bereits
1054 außerhalb der Erdatmosphäre. Genau in der Richtung der Erdachse und
1055 auf dieser genau so weit von der Oberfläche der Erde entfernt wie
1056 der Mittelpunkt der Erde unterhalb, also in einer Höhe von 6.356
1057 Kilometer, befand sich frei im Raume schwebend ein merkwürdiges
1058 Kunstwerk, ein ringförmiger Körper, etwa von der Gestalt eines
1059 riesigen Rades, dessen Ebene parallel dem Horizont des Poles lag.
1061 Dieser Ring besaß eine Breite von etwa fünfzig Metern und einen
1062 inneren Durchmesser von zwanzig, im ganzen also einen Durchmesser
1063 von 120 Metern. Rings um denselben erstreckten sich außerdem,
1064 ähnlich wie die Ringe um den Saturn, dünne, aber sehr breite
1065 Scheiben, deren Durchmesser bis auf weitere zweihundert Meter
1066 anstieg. Sie bildeten ein System von Schwungrädern, das ohne
1067 Reibung mit großer Geschwindigkeit um den inneren Ring herumlief
1068 und denselben in seiner Ebene stets senkrecht zur Erdachse hielt.
1069 Der innere Ring glich einer großen kreisförmigen Halle, die sich in
1070 drei Stockwerken von zusammen etwa fünfzehn Metern Höhe aufbaute.
1071 Das gesamte Material dieses Gebäudes wie das der Schwungräder
1072 bestand aus einem völlig durchsichtigen Stoffe. Dieser war jedoch
1073 von außerordentlicher Festigkeit und schloß das Innere der Halle
1074 vollständig luft- und wärmedicht gegen den leeren Weltraum ab.
1075 Obwohl die Temperatur im Weltraum rings um den Ring fast
1076 zweihundert Grad unter dem Gefrierpunkt des Wassers lag, herrschte
1077 innerhalb der ringförmigen Halle eine angenehme Wärme und eine zwar
1078 etwas stark verdünnte, aber doch atembare Luft. In dem mittleren
1079 Stockwerk, durch welches sich ein Gewirr von Drähten, Gittern und
1080 vibrierenden Spiegeln zog, hielten sich auf der inneren Seite des
1081 Rings zwei Personen auf, die sich damit beschäftigten, eine Reihe
1082 von Apparaten zu beobachten und zu kontrollieren.
1084 Wie aber war es möglich, daß dieser Ring in der Höhe von 6.356
1085 Kilometern sich freischwebend über der Erde erhielt?
1087 Eine tiefreichende Erkenntnis der Natur und eine äußerst
1088 scharfsinnige Ausbildung der Technik hatten es verstanden, dieses
1089 Wunderwerk herzustellen.
1091 Der Ring unterlag natürlich der Anziehungskraft der Erde und wäre,
1092 sich selbst überlassen, auf die Insel am Pol gestürzt. Gerade von
1093 dieser Insel aus aber wirkte auf ihn eine abstoßende Kraft, welche
1094 ihn in der Entfernung im Gleichgewicht hielt, die genau dem
1095 Halbmesser der Erde gleichkam. Diese Kraft hatte ihre Quelle in
1096 nichts anderem als in der Sonne selbst, und die Kraft der
1097 Sonnenstrahlung so umzuformen, daß sie jenen Ring der Erde
1098 gegenüber in Gleichgewichtslage hielt, das eben hatte die Kunst
1099 einer glänzend vorgeschrittenen Wissenschaft und Technik zustande
1100 gebracht.
1102 In jener Höhe, einen Erdhalbmesser über dem Pol, war der Ring ohne
1103 Unterbrechung der Sonnenstrahlung ausgesetzt. Die von der Sonne
1104 ausgestrahlte Energie wurde nun von einer ungeheuren Anzahl von
1105 Flächenelementen, die sich in dem Ringe und auf der Oberfläche der
1106 Schwungräder befanden, aufgenommen und gesammelt. Die Menschen
1107 verwenden auf der Erdoberfläche von der Sonnenenergie hauptsächlich
1108 nur Wärme und Licht. Hier im leeren Weltraum aber zeigte sich, daß
1109 die Sonne noch ungleich größere Energiemengen aussendet,
1110 insbesondere Strahlen von sehr großer Wellenlänge, wie die
1111 elektrischen, als auch solche von noch viel kleinerer als die der
1112 Lichtwellen. Wir merken nichts davon, weil sie zum größten Teile
1113 schon von den äußersten Schichten der Atmosphäre absorbiert oder
1114 wieder in den Weltraum ausgestrahlt werden. Hier aber wurden alle
1115 diese sonst verlorenen Energiemengen gesammelt, transformiert und
1116 in geeigneter Gestalt nach der Insel am Nordpol reflektiert. Auf
1117 der Insel wurden sie, in Verbindung mit der von der Insel direkt
1118 aufgenommenen Strahlung, zu einer Reihe großartiger Leistungen
1119 verwendet; denn man hatte auf diese Weise eine ganz enorme
1120 Energiemenge zur Verfügung.
1122 Ein Teil dieser Arbeitskraft wurde nun zunächst dazu gebraucht, ein
1123 elektromagnetisches Feld von gewaltigster Stärke und Ausdehnung zu
1124 erzeugen. Die ganze Insel mit ihren hundertvierundvierzig
1125 Rundbastionen stellte gewissermaßen einen riesigen Elektromagneten
1126 vor, der von der Sonnenenergie selbst gespeist wurde. Die
1127 Konstruktion war so angelegt, daß die Kraftlinien sich um den Ring
1128 konzentrierten und dieser, der Schwerkraft entgegen schwebend
1129 gehalten wurde. Daß dies genau in der Entfernung des Erdhalbmessers
1130 vom Pole geschah, hing mit einer Beziehung zwischen
1131 Elektromagnetismus und Schwere zusammen, infolge deren sich gerade
1132 an dieser Stelle eine Art Knotenpunkt für die Wellenbewegung beider
1133 Kräfte zu bilden vermochte und das Gleichgewicht ermöglichte.
1135 Allerdings wurde durch eine Reihe komplizierter und höchst
1136 scharfsinnig ausgedachter Kontrollapparate dafür gesorgt, daß alle
1137 Schwankungen der Energiemengen zur rechten Zeit ausgeglichen
1138 wurden. Einen solchen Apparat aufzustellen wäre indessen an keinem
1139 anderen Punkte der Erde möglich gewesen als in der Verlängerung
1140 ihrer Rotationsachse, also über dem Nordpol oder über dem Südpol.
1141 Denn an jeder andern Stelle hätte, abgesehen von tieferliegenden
1142 Schwierigkeiten, die Verschiebung der Erdoberfläche infolge der
1143 täglichen Umdrehung der Erde unüberwindbare Hindernisse für die
1144 Herstellung des Gleichgewichts zwischen der Schwerkraft und dem
1145 Elektromagneten geboten; auch hätte die gleichmäßige
1146 Sonnenstrahlung gefehlt. Der Pol bietet aber in jeder Hinsicht die
1147 einfachsten Verhältnisse wenn es gelingt, bis zu ihm zu gelangen.
1149 Nun, die unübertroffenen Ingenieure der Insel und des Ringes waren
1150 einmal da. Aber wo kamen sie her? Wie waren sie dorthin gelangt,
1151 ohne daß die internationale Kommission für Polarforschung die
1152 geringste Ahnung davon hatte? Und vor allem – wenn sie einmal da
1153 waren –, was hatte es für einen Zweck, jenen freischwebenden Ring
1154 über dem Pol zu balancieren? Und wenn einmal jener Ring da war, wie
1155 konnte man hinauf- und hinabkommen?
1157 Jener Ring war überhaupt nur ein Mittel, um einen ganz andern Zweck
1158 zu erreichen. Er diente dazu, einen Standpunkt außerhalb der
1159 Atmosphäre der Erde zu gewinnen, eine Station, um zwischen dieser
1160 und der Erde nichts Geringeres auszuführen, als – eine zeitweilige
1161 Aufhebung der Schwerkraft. Der Raum zwischen der inneren Öffnung
1162 des Ringes von zwanzig Metern Durchmesser und der auf der Insel
1163 sich befindenden Vertiefung, also ein Zylinder, dessen Achse genau
1164 mit der Erdachse zusammenfiel, war ein ›abarisches Feld‹. Dies
1165 bedeutet, ein Gebiet ohne Schwere. Körper, welche in diesen
1166 zylindrischen Raum gerieten, wurden von der Erde nicht mehr
1167 angezogen. Dieses abarische Feld bewirkte, daß in der ganzen
1168 Umgebung des Feldes Spannungen im Raum vorhanden waren, wodurch
1169 etwa sich nähernde Körper in das Feld getrieben wurden. Daher war
1170 es gekommen, daß der Ballon der Luftschiffer allmählich der Insel
1171 und damit dem abarischen Felde unentrinnbar zugeführt worden war.
1173 Die Erzeugung jenes Feldes, in welchem die Schwerkraft aufgehoben
1174 war für den inneren Raum zwischen Insel und Ring, war dadurch
1175 möglich gemacht worden, daß man eine der Erdschwere entgegengesetzt
1176 gerichtete Gravitationskraft herstellte. Es war jenen Polbewohnern
1177 bekannt, wie man diejenigen Strahlen, welche hauptsächlich
1178 chemische Wirkung, Wärme und Licht liefern, in Gravitation
1179 überführen kann. Sie wurden zu diesem Zweck bis in den inneren Teil
1180 des Ringes geleitet und traten hier in den ›Gravitationsgenerator‹.
1181 Dies war ein Apparat, durch welchen man Wärme in Gravitation
1182 umwandelte. Ein zweiter, ebenso eingerichteter Gravitationserzeuger
1183 befand sich in der zentralen Vertiefung im Inneren der Insel. Beide
1184 Apparate wirkten derartig zusammen, daß die Beschleunigung der
1185 Schwerkraft im Inneren zwischen Insel und Ring beliebig reguliert
1186 werden konnte. Man konnte sie entweder nur verringern, oder ganz
1187 aufheben – dann war das abarische Feld im eigentlichen Sinne
1188 hergestellt –, oder man konnte die Gegenschwerkraft so verstärken,
1189 daß die Körper innerhalb des abarischen Feldes ›nach oben fielen‹,
1190 das heißt, eine beliebig starke Beschleunigung entgegengesetzt der
1191 Erdschwere, also von der Erde fort, erhielten. Auf diese Weise war
1192 es möglich, mit jeder gewünschten Geschwindigkeit Körper zwischen
1193 der Insel und dem Ringe sowohl von unten nach oben als von oben
1194 nach unten in Bewegung zu setzen, indem man sie in einen zu diesem
1195 Zweck konstruierten Flugwagen einschloß.
1197 Es war nun die schwierige Aufgabe der Ingenieure an den beiden
1198 Endstationen, den Betrieb so zu regulieren, daß jedesmal das
1199 abarische Feld die nötige Stärke besaß, um den Wagen nach oben zu
1200 treiben oder in seiner Bewegung aufzuhalten.
1202 Als der Ballon der Polarforscher in das abarische Feld geriet, war
1203 dasselbe gerade auf ›Gegenschwere‹ gestellt, weil sich ein
1204 Flugwagen auf dem Wege von der Insel nach dem Ringe befand.
1205 Infolgedessen wurde der nach dem abarischen Felde hingedrängte
1206 Ballon, sobald er in die Achse desselben geraten war, mit großer
1207 Geschwindigkeit in die Höhe gerissen.
1209 Äußerlich unterschied sich das Feld von der umgebenden Luft in gar
1210 nichts. Nur ein starker aufsteigender Luftstrom und infolgedessen
1211 ein seitliches Zuströmen der Luft war natürlich vorhanden. Aber bei
1212 dem geringen Durchmesser des Feldes von zwanzig Metern war die in
1213 die Höhe getriebene Luftmasse so gering, daß es dadurch nicht zu
1214 einer merklichen Nebel- oder Wolkenbildung kam, zumal vom Ringe wie
1215 von der Insel aus eine so starke Bestrahlung stattfand, daß der
1216 sich etwa kondensierende Wasserdampf sofort wieder in Gasform
1217 aufgelöst wurde.
1219 Solange der Ballon sich noch in den Luftschichten bis ein oder zwei
1220 Kilometer befand, konnte das Ausströmen des Gases sein Aufsteigen
1221 einigermaßen verzögern. Dann aber wurde die Beschleunigung zu groß.
1222 Die Gondel, welche sich im Zentrum des Feldes befand, erfuhr dabei
1223 eine größere Beschleunigung nach oben als der an Masse zwar
1224 geringere, an Ausdehnung aber soviel größere Ballon. Denn da der
1225 Durchmesser des Ballons zwanzig Meter übertraf, so ragte er zum
1226 Teil über das abarische Feld hinaus. Erst als er durch den Verlust
1227 an Gas zusammengesunken war, geriet er ganz in das abarische Feld,
1228 und nun begann jener kolossal beschleunigte ›Fall nach oben‹, der
1229 den Ballon binnen einer Viertelstunde auf tausend Kilometer
1230 emporgerissen hätte, wenn er nicht zum Glück nach kaum einer Minute
1231 aufgehalten worden wäre.
1233 Als die Ingenieure der Insel den Ballon bemerkten, hatten sie
1234 zunächst versucht, ihn durch Ergreifung des Schleppgurts
1235 festzuhalten. Dies hatte Grunthe durch das Hinauswerfen der
1236 Champagnerflaschen verhindert, da er jede Berührung der Insel
1237 vermeiden wollte. So war der Ballon so weit gestiegen, daß er nicht
1238 mehr ergriffen werden konnte, aber er war dadurch dem abarischen
1239 Felde unrettbar überliefert. Hier hätten ihn nun die Bewohner der
1240 Insel freilich sogleich aufhalten und zurückführen können, wenn sie
1241 die ›Gegenschwere‹ im Felde abgestellt hätten. Dies war ihnen
1242 jedoch darum nicht möglich, weil sich oberhalb des Ballons, längst
1243 nicht mehr sichtbar, ihr eigener Flugwagen befand. Sie konnten also
1244 nicht eher eine Veränderung am Feld vornehmen, als bis ihr Wagen an
1245 der Station des Ringes angekommen war. Zum Glück für die Insassen
1246 des Ballons mußte dies in kürzester Zeit geschehen.
1248 Inzwischen hatten aber auch die Ingenieure auf dem Ring, obwohl sie
1249 den Ballon nicht sehen konnten, doch an ihren Gravitationsmessern
1250 eine Störung im abarischen Felde wahrgenommen. Sie sandten daher
1251 vom Ring eine Depesche nach der Insel.
1253 Diese Übermittlung bot keine Schwierigkeit, denn sie verstanden es,
1254 die Lichtstrahlen selbst als Träger für ihre Depeschen zu benutzen.
1255 Der Raum zwischen Ring und Insel gestattete dies infolge der
1256 intensiven Bestrahlung auch beim feuchtesten Wetter.
1258 Sie telegraphierten nicht nur, sie telefonierten vermöge des
1259 Lichtstrahls. Die elektromagnetischen Schwingungen des Telephons
1260 setzten sich in photochemische um und wurden auf der andern Station
1261 sofort am Apparat abgelesen. Während die unglücklichen
1262 Luftschiffer, von der Seide des Ballons eingehüllt, ihre
1263 blitzschnelle Fahrt auf der Erdachse vollführten, ging an ihnen
1264 eine Depesche vom Ring nach der Insel vorüber, welche lautete:
1266 „E najoh. Ke.“
1268 Und von der Insel wurde zurückdepeschiert:
1270 „Bate li war. Tak a fil.“
1272 Man hätte freilich alle bekannten Sprachen der Erde durchgehen
1273 können, ohne in irgendeiner diese Sätze zu finden. Sie bedeuten:
1275 „Achtung! Störung! Was ist vorgefallen?“
1277 Und die Antwort lautete:
1279 „Menschen im abarischen Feld. Abstellen sobald als möglich.“
1281 Der Empfänger dieser Depesche stand in der Beobachtungsabteilung
1282 des schwebenden Ringes und kontrollierte die Apparate, welche
1283 daselbst an einem großen Schaltbrett angebracht waren. Der Zeiger
1284 am Differenzialbaroskop wies ihm genau die Stelle, wo sich der
1285 Flugwagen im Augenblick befand. Schon war dieser nahe
1286 herangekommen. Einige Handgriffe des Beamten regulierten die
1287 Geschwindigkeit des Wagens, der nach wenigen Minuten auf der
1288 Endstation erschien. Das vorspringende Fangnetz hielt ihn auf, er
1289 ruhte an seinem Ziel.
1291 Der Beamte – es war der Vorsteher der Außenstation selbst – namens
1292 Fru, hatte bis jetzt keinen Blick von den Apparaten verwandt. Man
1293 hätte ihn für einen alten Mann halten mögen, denn langes, fast
1294 weißes Haar flatterte um seine Schläfe. Eine ungewöhnlich hohe
1295 Stirn wölbte sich über den großen Augen, deren Pupillen einen
1296 tiefen Glanz zeigten. Die Haltung des Körpers aber war frei und
1297 leicht. Gewandt bewegte er sich an dem langen Schaltbrett entlang
1298 von einem Apparat zum andern, seine Schritte glichen fast einem
1299 Gleiten über den Boden. Er war offenbar daran gewöhnt, daß die
1300 Schwerkraft eine viel geringere war als auf der Erde. Denn hier, in
1301 der doppelten Entfernung vom Mittelpunkt der Erde als deren
1302 Oberfläche, betrug die Schwere nur ein Viertel von der uns
1303 gewohnten.
1305 Die Tür des Flugwagens wurde jetzt geöffnet. Der Vorsteher der
1306 Ringstation warf nur einen flüchtigen Blick dorthin und wandte sich
1307 dann wieder den Apparaten zu, um nach dem Pol zu telegraphieren,
1308 daß das abarische Feld frei sei.
1310 Die Fahrgäste verließen den Wagen und betraten die Galerie. Es
1311 mochten achtzehn Personen sein, in seltsamer Tracht, mit eng
1312 anliegenden Kleidern. Ihre bedeutenden Köpfe zeichneten sich meist
1313 durch sehr helles, fast weißes Haar und glänzende, durchdringende
1314 Augen aus, die aber jetzt durch dunkle Brillen geschützt waren. Sie
1315 durchschritten die Galerie, deren Überschrift in jener fremden
1316 Sprache besagte, daß man sich auf der ›Außenstation der Erde‹
1317 befinde, und wandten sich über eine Treppe der Ausgangstür nach der
1318 oberen Galerie zu. Über der Tür stand in großen Buchstaben: ›Vel lo
1319 nu‹, das bedeutet: ›Zum Raumschiff nach dem Mars.‹
1321 Jener schwebende Ring war nichts anderes als der Marsbahnhof der
1322 Erde. Er war eine Station in der Nähe der Erde, durch deren
1323 Erbauung es den Bewohnern des Planeten Mars möglich geworden war,
1324 zwischen ihrem Planeten und der Erde eine regelmäßige Verbindung
1325 herzustellen. Die Fahrgäste des Flugwagens waren Martier, die nach
1326 ihrer Heimat zurückkehren wollten.
1328 \section{4 - Der Sturz des Ballons}
1330 Die Regulierung des abarischen Feldes hatte von der Ringstation aus
1331 stattgefunden, um den emporsteigenden Flugwagen mit der nötigen
1332 Geschwindigkeit zu leiten. Der Wechsel von Gegenschwere und
1333 Erdschwere erstreckte sich aber auf das ganze Feld und hatte
1334 natürlich zur Folge, daß auch der verunglückte Ballon den
1335 Schwankungen der Schwere unterlag. So wurde er zuerst in seinem
1336 Fluge nach oben gemäßigt, durchlief dann eine kurze Strecke mit
1337 unveränderter Geschwindigkeit, und von dem Augenblicke an, in
1338 welchem der Flugwagen den Ring erreicht hatte, begann der Ballon
1339 wieder mit immer zunehmender Geschwindigkeit zu fallen. Da in
1340 diesen Höhen von einem Widerstand der Luft nicht die Rede war, so
1341 fielen auch jetzt Ballon und Gondel mit gleicher Geschwindigkeit.
1342 Der stark zusammengesunkene Ballon, der einen großen Teil seiner
1343 Gasmenge verloren hatte, bedeckte in dichten Falten den Korb.
1345 Dieser Umstand hatte die Luftschiffer vor einem sofortigen Tod
1346 bewahrt. Zunächst schützte sie die Einhüllung in den Ballon vor dem
1347 Erfrieren; ja merkwürdigerweise stieg die Temperatur im Inneren des
1348 Korbes wieder, als die Atmosphäre der Erde durchflogen war. Dies
1349 rührte von der Sonnenstrahlung her, welche jetzt in voller Stärke,
1350 durch die Luft nicht mehr aufgehalten, den Ballon traf. Sie wurde
1351 durch die Hülle des Ballons absorbiert und erwärmte alles, was sich
1352 in derselben befand.
1354 Ein glücklicher Zufall hatte es aber auch so gefügt, daß sich noch
1355 ein Teil des Gases im Ballon hielt, dessen Stoff von so
1356 vorzüglicher Beschaffenheit war, daß er die Diffusion des
1357 Wasserstoffs selbst gegenüber dem leeren Raume fast völlig aufhob.
1358 Das Gas konnte nur durch das Landungsventil entströmen. Das
1359 Versagen der Zerreißvorrichtung, das ihr Verderben schien, wurde
1360 jetzt die Rettung der Luftschiffer.
1362 Durch die Einstülpung, welche der Ballon im abarischen Felde
1363 erfahren hatte, war der untere Teil des Ballons so in den oberen
1364 hineingetrieben worden, daß das Ventil zwischen den Falten
1365 zusammengepreßt lag und ein weiteres Ausströmen des Gases
1366 verhindert wurde. Freilich hätte auch dies nicht lange vorgehalten,
1367 aber der ganze Vorgang, von dem Augenblick, in welchem Grunthe die
1368 Reißleine ergriff, bis zum Zusammenklappen des Ballons und dann zum
1369 Abstellen des abarischen Feldes durch die Martier hatte nur wenige
1370 Minuten betragen.
1372 Da es sich bei dem Niedergang des Ballons im abarischen Feld um
1373 einen herabsteigenden Körper handelte, hatten die Ingenieure der
1374 Insel die Regulierung der Bewegung zu besorgen. Sie konnten
1375 denselben zwar der eingetretenen Bewölkung wegen nicht sehen, aber
1376 ihre Instrumente zeigten ihnen genau die Stelle, an welcher er sich
1377 befand, und die Geschwindigkeit, mit welcher er fiel. Sie gaben nun
1378 im geeigneten Moment dem Feld eine so starke Gegenbeschleunigung,
1379 daß der Ballon in der Höhe von etwa dreitausend Meter über der Erde
1380 zur Ruhe kam, gerade in dem Augenblick, in welchem er die
1381 Wolkendecke durchbrochen hatte und der Beobachtung durch das
1382 Fernrohr zugänglich geworden war. Der Ballon war jetzt den
1383 gewöhnlichen Verhältnissen der Atmosphäre überlassen. Das abarische
1384 Feld wurde nun gänzlich abgestellt, so daß es sich in nichts von
1385 den übrigen Teilen der Atmosphäre unterschied. Allerdings hatte der
1386 Ballon so viel Gas verloren, daß er sich nicht in der Höhe halten
1387 konnte. Aber wenn die Luftschiffer noch am Leben waren, durften die
1388 Martier annehmen, daß sie durch Auswerfen von Ballast ihren Abstieg
1389 nunmehr verlangsamen und selbständig regulieren konnten.
1391 Doch was sahen die Martier der Insel durch ihre Fernrohre? Der
1392 Ballon hatte sich allerdings über dem Korb wieder erhoben. Dieser
1393 selbst aber war gegen den Ring gepreßt und in das Gewirr der ihn
1394 tragenden Seile geraten und lag nun vollständig schief zur Seite.
1395 Das Schleppseil hing nicht herab, sondern hatte sich um den Ballon
1396 herumgeschlungen. Der Verschluß des Korbes war geöffnet. Ein großer
1397 Teil des Inhalts der Gondel schien dabei herausgestürzt. Die Last
1398 des Ballons war dadurch so stark erleichtert worden, daß die
1399 übriggebliebene Gasmenge, so gering sie auch war, sie doch noch zu
1400 tragen vermochte. Der Ballon sank nur ganz allmählich und wurde, da
1401 das abarische Feld außer Tätigkeit gesetzt war, vom Wind ergriffen.
1402 So trieb der Ballon von der Insel fort über das Binnenmeer hin,
1403 nahezu in der entgegengesetzten Richtung als in derjenigen, aus
1404 welcher die Luftfahrer gekommen waren.
1406 Die Martier erkannten nun wohl, daß die Insassen des Ballons die
1407 Kontrolle über ihn verloren hatten. Was konnten sie aber zu ihrer
1408 Rettung tun? Sie hätten zwar durch Herstellung des abarischen
1409 Feldes bewirken können, daß sich der Ballon dem Zentrum wieder
1410 nähern mußte, doch sie wollten ihn ja gerade von der Insel
1411 entfernen. Denn sie durften durch diesen fremden Körper nicht
1412 länger ihren Verkehr mit der Ringstation stören lassen.
1414 Während die Martier sich berieten, hatte der Ballon bereits die
1415 Insel überflogen und befand sich über dem Meer. Zugleich war er auf
1416 etwa zweitausend Meter gesunken. Würde er das gegenüberliegende
1417 Ufer erreichen? Würde er in das Meer stürzen? Oder würde er an der
1418 Felswand des steil abfallenden Ufers zerschellen? Das letzte schien
1419 das Wahrscheinlichste, wenn es nicht gelang, den Ballon entweder zu
1420 heben oder zu schnellem Sinken zu bringen.
1422 In der halb umgestürzten Gondel des Ballons sah es wüst aus. Die
1423 Instrumente zum Teil zertrümmert, die Körbe und Kisten zerbrochen,
1424 Vorräte und Menschen in einem wirren Knäuel, nur durch das Netz der
1425 vielfach verschlungenen Stricke am Herausstürzen verhindert.
1427 Von einem stechenden Schmerz im rechten Fuß erweckt, öffnete
1428 Grunthe die Augen. Er sah sich zu seinem Erstaunen am Rande des
1429 Korbes, der sich auf der einen Seite mit dem Ringe verfangen hatte,
1430 zwischen dem Geflecht desselben und einem der Anker des Ballons
1431 eingeklemmt. Dieser hatte ihn am Fuß verletzt. Schnell kam Grunthe
1432 wieder zu vollem Bewußtsein. Er konnte nur seinen Oberkörper und
1433 die Arme bewegen. Ein Blick auf den Zustand des Ballons ließ ihn
1434 befürchten, daß es unmöglich sein würde, die Höhe des Gebirges
1435 jenseits des Sees zu gewinnen. Unter ihm aber lag die Fläche des
1436 Meeres. Besorgt blickte er sich nach seinen Gefährten um. Torm
1437 vermochte er nirgends zu entdecken. Aber nun sah er, wie unter
1438 einem zerbrochenen Korb und einem Haufen von Decken sich etwas
1439 bewegte und ein Kopf mit dunkelbraunem, lockigem Haar zum Vorschein
1440 kam. Es war Saltner, der ebenfalls aus seiner Ohnmacht erwachte.
1441 Saltner, der keine Ahnung von dem Zustand des Ballons hatte, suchte
1442 sich aus seiner unbequemen Lage zu befreien. Grunthe aber erkannte,
1443 in welcher Gefahr der Reisegenosse schwebte. Jede weitere Bewegung
1444 konnte ihn aus dem Korbe herausschleudern und hinabstürzen lassen.
1446 „Liegen Sie still“, rief er ihm zu, „verhalten Sie sich ganz ruhig
1447 – der Korb ist gekentert – halten Sie sich fest!“
1449 „Sackerment“, brummte Saltner unter der Decke, „liegen Sie doch
1450 einmal still, wenn Sie auf einer zerbrochenen Champagnerflasche
1451 sitzen! Hätten wir nur das ganze Zeug gleich ausgetrunken und die
1452 leere Flasche hinausgeworfen!“
1454 Dabei warf er sich mit einem Gewaltruck zur Seite, zugleich aber
1455 geriet er ins Rollen –
1457 Grunthe stieß einen Schrei des Schreckens aus. Er sah den Gefährten
1458 am äußersten Rande der Gondel schweben – Saltner fuhr mit den Armen
1459 in die Luft, jedoch er fand keinen Halt – der Körper stürzte hinaus
1460 – seine Knie hingen in der Schlinge eines Seiles – in dieser
1461 furchtbaren Lage, den Kopf nach unten, schwebte Saltner mehr als
1462 tausend Meter über dem Spiegel des Polarmeeres.
1464 In der Aufregung des Augenblicks wandte Grunthe, mit beiden Händen
1465 sich festhaltend, seinen Körper so gewaltsam, daß es ihm gelang,
1466 den Fuß unter dem Anker herauszureißen. Er achtete den Schmerz
1467 nicht; so schnell wie möglich, obwohl mit großer Vorsicht,
1468 kletterte er an den Tauen des Korbes nach Saltner hin. Er suchte
1469 nach einem Seil, das er ihm zuwerfen konnte, um ihn wieder in die
1470 Gondel zu ziehen. Aber wo war in diesem Gewirr von Stricken
1471 sogleich ein passendes Tau zu finden? Hier hing eine weite Schlinge
1472 herab. Er versetzte sie in Schwingungen, er zerrte daran, und jetzt
1473 gelang es ihm, das Tau bis in Saltners Nähe zu bringen.
1475 Zum Glück hatte dieser keinen Augenblick seine Geistesgegenwart
1476 verloren. Als er das Tau im Bereich seiner Hände sah, griff er
1477 danach. Es gelang ihm sich festzuhalten, und nun versuchte er an
1478 dem Tau sich wieder zur Gondel emporzuarbeiten. Schon befand er
1479 sich wieder in aufrechter Stellung. Mit den Händen am Seil höher
1480 greifend, zog er seine Füße aus der Schlinge, in welcher er
1481 hängengeblieben war, und setzte sie auf den Rand des Korbes.
1482 Plötzlich entstand über ihm ein Rauschen und Krachen. Das Seil, an
1483 welchem er sich hielt, war ein Teil des über den Ballon gefallenen
1484 Schlepptaus. Es löste sich jetzt mit seinem freien Ende vom Ballon
1485 und glitt abwärts. Kaum hatte Saltner noch Zeit, sich an der Gondel
1486 festzuklammern, als das Seil in seiner ganzen Länge hinabsauste.
1487 Aber indem es über den Ballon hinwegglitt, verfing es sich mit der
1488 Reißleine und zog dieselbe mit voller Gewalt mit sich. Jetzt trat
1489 die Zerreißvorrichtung in Funktion. Die Ballonhülle klaffte
1490 auseinander. Das Gas strömte mit Zischen aus. Der Ballon drehte
1491 sich um seine Achse und begann mit rasender Geschwindigkeit zu
1492 fallen.
1494 „Hinauf in den Ring“, rief Grunthe. „Wir müssen sehen, die Gondel
1495 abzuschneiden.“
1497 „Aber wo ist Torm?“ rief Saltner.
1499 Sie riefen, sie schrieen, sie suchten – Torm war nicht zu finden.
1500 Dennoch war es möglich, daß er sich noch im Korb befand – sie
1501 durften diesen also nicht vom Ballon trennen, sie konnten ihn auch
1502 nicht länger durchsuchen –
1504 „Den Fallschirm, den Fallschirm!“ rief Grunthe wieder.
1506 „Er ist fort!“
1508 Der Ballon wirbelte abwärts –
1510 Ein Schlag, ein Schäumen und Aufspritzen – das Meer schlug über der
1511 Gondel und ihren Insassen zusammen – –
1513 Wie eine riesige Schildkröte schwamm die Hülle des Ballons, sich
1514 aufblähend, auf dem Wasser, die Expedition unter sich begrabend.
1516 \section{5 - Auf der künstlichen Insel}
1518 Das milde Licht des Polartages schien durch die breiten Fenster
1519 eines hohen Gemaches, das im Stile der Marsbewohner ausgestattet
1520 war. An der Decke zogen sich eine große Anzahl metallischer
1521 Streifen entlang, die in ihrer Gesamtheit ein geschmackvolles
1522 Muster darstellten. In der Mitte schlossen sie sich zu einer
1523 Rosette zusammen, von welcher zahlreiche Drähte herabführten und in
1524 einem schrankartigen Aufsatz endigten. Dieser Aufsatz befand sich
1525 auf einem großen runden Tisch und trug an seiner Außenseite ringsum
1526 eine Reihe von Wirbeln oder Handgriffen; Aufschriften über ihnen
1527 bezeichneten ihre Bestimmung. Die den Fenstern gegenüberliegende
1528 Wand war zu beiden Seiten der breiten Mitteltür von geschnitzten
1529 Regalen bedeckt, die zur Aufbewahrung einer reichhaltigen
1530 Bibliothek dienten. Den darüber freibleibenden Raum schmückten
1531 Gemälde; sie stellten Ansichten vom Mars dar. Doch hätte man
1532 glauben mögen, durch eine Reihe von Öffnungen plastische
1533 Darstellungen, oder vielmehr die Natur selbst zu sehen. Denn die
1534 Abstufungen der Farben waren so intensiv, daß sie den Eindruck
1535 vollständiger Wirklichkeit machten. Da sah man in einer Landschaft
1536 die Reflexe der Sonnenstrahlen auf dem sumpfigen Boden wie
1537 leuchtende Sterne, und dennoch vermochte man in dem tiefen Schatten
1538 der riesigen Bäume die feinsten Nuancen deutlich zu unterscheiden.
1539 Über der Tür leuchtete die lebensgroße Büste Imms, des
1540 unsterblichen Philosophen der Martier, der ihnen die Lehre von der
1541 Numenheit enthüllt hatte.
1543 Auf der Fensterseite blühten in Näpfen seltsame Gewächse. Am
1544 merkwürdigsten war darunter die tanzende Blüte ›Ro-Wa‹, eine
1545 lilienartige Pflanze, deren lange Blütenstengel sich
1546 schlangengleich hin- und herbewegten und mit ihren zierlichen
1547 Knospen fortwährend anmutige Bewegungen ausführten, indem sie
1548 zugleich ein leises Zwitschern wie von Vogelstimmen hören ließen.
1549 Zwischen den Blumentischen stand auf der einen Seite eine
1550 Schreibmaschine, auf der andern ein Apparat, der nichts anderes
1551 vorstellte als eine Maschine zur Ausführung schwieriger
1552 mathematischer Rechnungen.
1554 Die Fenster reichten bis zum Boden des Zimmers. Dennoch schien es,
1555 als liefe an denselben etwa bis zur Höhe von einem Meter eine
1556 Bekleidung entlang. Aber seltsam, diese Bekleidung schimmerte in
1557 einem dunkeln Grün und wogte leise auf und ab; und mitunter
1558 leuchteten kleinere und größere Fische darin auf und stießen ihre
1559 Köpfe an die Scheiben. Es war das Meer, das bis zu Meterhöhe über
1560 den Boden des Zimmers hereinblickte. Denn jenes Zimmer befand sich
1561 auf der Außenseite der Insel, welche Torms verunglückte Expedition
1562 am Nordpol der Erde gesehen hatte.
1564 Eine natürliche Insel war jedoch diese Anlage der Martier nicht.
1565 Sie hatten vielmehr in den Binnensee, der am Nordpol sich vorfand,
1566 eine künstliche Insel, richtiger ein schwimmendes Floß von großer
1567 Ausdehnung, hineingebaut, das ihr Feld von riesigen Elektromagneten
1568 zu tragen hatte. Denn diese Elektromagnete brauchten sie zur
1569 Balancierung ihrer Außenstation und dadurch zur Errichtung des
1570 abarischen Feldes. Auf der inneren Seite des ringförmig erbauten
1571 Riesenfloßes befanden sich die Arbeitsmaschinen und Apparate,
1572 während die Außenseite zu Wohnräumen diente sowie zum Stapelplatz
1573 aller der Vorräte und Werkzeuge, welche die Martier hier allmählich
1574 ansammelten, um die Eroberung der Erde vom Nordpol aus
1575 vorzubereiten.
1577 Über die Treppe, die von dem Dach der Insel nach dem Korridor und
1578 den angrenzenden Wohnzimmern führte, stieg eine weibliche Gestalt
1579 herab. Auf das Geländer gestützt bewegte sie sich mühsam, wie durch
1580 eine schwere Last niedergebeugt. Sie zuckte schmerzlich zusammen,
1581 sooft ihr Fuß mit einem krampfhaften Aufschlag die nächst niedere
1582 Stufe berührte. Darauf durchschritt sie ebenso schwer und mühevoll
1583 den Korridor, indem sie sich gleichfalls mit den Händen an einem
1584 der Geländer unterstützte, die sich den Korridor entlangzogen.
1585 Jetzt berührte sie die Tür des Zimmers, die sich geräuschlos in
1586 sich selbst zusammenrollte, und trat ein. Die Tür schloß sich
1587 hinter ihr von selbst.
1589 Mit einem Schlag war die Haltung der Gestalt verändert. Leicht und
1590 kräftig richtete sie sich empor. In einer anmutigen Bewegung warf
1591 sie den Kopf zurück und atmete einige Male tief auf. Sie glitt
1592 einige Schritte durch das Zimmer; nicht mehr gebeugt und mühsam,
1593 sondern wie schwebend durchmaß sie in graziöser Haltung den Raum
1594 und blickte auf dem Tisch nach dem Zifferblatt, das den Stand des
1595 Schweredrucks im Zimmer angab. Ein helles Aufleuchten ihrer großen,
1596 glänzenden Augen mochte ihre Zufriedenheit andeuten, denn sie
1597 korrigierte kaum merklich die Stellung des Handgriffs, durch den
1598 sie die im Zimmer herrschende Schwerkraft regulieren konnte. Eine
1599 Abzweigung des abarischen Feldes gestattete den Bewohnern der
1600 Insel, ihre Wohnräume den Schwereverhältnissen anzupassen, welche
1601 ihre Konstitution erforderte. Denn die Schwerkraft auf dem Mars
1602 beträgt nur ein Drittel von derjenigen auf der Erde.
1604 Jetzt streifte sie mit einer leichten Bewegung die warme Hülle ab,
1605 die ihre Schultern bedeckte, und ohne sich umzublicken warf sie
1606 dieselbe, wo sie gerade stand, achtlos in die Höhe. Von ihrem Kopf
1607 löste sie die Kapotte, die sie draußen getragen hatte, und stieß
1608 sie ebenfalls ziellos in die Luft. An ihren Handschuhen drückte sie
1609 auf ein Knöpfchen und streckte dann ihre Hände mit gespreizten
1610 Fingern leicht in die Höhe, worauf sich die Handschuhe von selbst
1611 abstreiften und emporstiegen. Alle die nach oben geworfenen
1612 Gegenstände flogen von selbst einer Ecke des Zimmers zu, schlugen
1613 eine dort befindliche Klappe zurück und glitten hinter der Wand auf
1614 die ihnen bestimmten Plätze, während die Klappe sich wieder schloß.
1615 Sie waren sämtlich mit einem von den Martiern entdeckten Stoff
1616 gefüttert, der sich nach Art der Pflanzenfaser behandeln ließ, aber
1617 in äußerst kräftiger Weise, so wie das Eisen vom Magnet, von einem
1618 dazu eingerichteten Apparat angezogen wurde. Die anziehende Kraft
1619 trat in Tätigkeit, sobald der Schluß gelöst wurde, der die
1620 Gegenstände am Körper befestigte. Bei der im Zimmer herrschenden
1621 geringen Schwere genügte es, die Sachen einfach mit einem leichten
1622 Ruck nach oben zu werfen; die selbsttätige Garderobe besorgte das
1623 übrige. So war es den Martiern sehr leicht gemacht, ihre Sachen in
1624 Ordnung zu halten. Denn durch die Konstruktion der verschiedenen
1625 Öffnungen, welche die Garderobenstücke zu passieren hatten, während
1626 sie im Inneren des Garderobenschranks wieder herabfielen, wurden
1627 sie automatisch sortiert, gereinigt und in die ihnen bestimmten
1628 Fächer eingefügt, so daß sie sofort wieder zu bequemem Gebrauch bei
1629 der Hand waren.
1631 Ohne sich um die abgelegten Kleidungsstücke weiter zu kümmern,
1632 näherte sich die Dame dem Bücherregal und zog eines der dort
1633 stehenden Bücher hervor, indem sie es an einem daran befindlichen
1634 Handgriff erfaßte. Sie begab sich damit nach dem Sofa und streckte
1635 sich in bequemer Lage hin.
1637 La war die Tochter des Ingenieurs Fru, des Vorstehers der
1638 Außenstation. Hätte sie auf der Erde gelebt, so wäre ihre
1639 Lebenszeit auf mehr als vierzig Jahre zu berechnen gewesen. Als
1640 Bewohnerin des Mars aber, dessen Jahre doppelt so lang sind wie die
1641 der Erde, zählte sie erst einige zwanzig Sommer und stand in der
1642 Blüte ihrer Jugend. Ihr volles Haar, das sie in einen Knoten
1643 geschlungen trug, hatte eine auf Erden wohl nicht leicht zu
1644 findende Farbe, ein helles, etwas ins Rötliche schimmerndes Blond,
1645 einigermaßen der Teerose vergleichbar; in bezaubernder Zartheit
1646 erhob es sich wie eine Krone über dem weißen, reinen Teint ihres
1647 feingebildeten Antlitzes. Die großen Augen, die allen Martiern
1648 eigentümlich sind, wechselten je nach der Beleuchtung von einem
1649 lichten Braun bis zum tiefsten Schwarz. Denn entsprechend den
1650 starken Helligkeitsunterschieden, welche auf dem Mars herrschen,
1651 besitzen die Bewohner desselben ein sehr weitreichendes
1652 Akkomodationsvermögen, und bei schwachem Licht erweitern sich ihre
1653 dunklen Pupillen bis an den Rand der Augenlider. Das Mienenspiel
1654 gewinnt dadurch eine überraschende Lebhaftigkeit, und nichts
1655 pflegte die Menschen mehr an den Marsbewohnern, nachdem sie sie
1656 kennengelernt hatten, zu fesseln als der ausdrucksvolle Blick ihrer
1657 mächtigen Augen. In ihnen zeigte sich die gewaltige Überlegenheit
1658 des Geistes dieser einer höheren Kultur sich erfreuenden Wesen.
1660 Wie eine leichte Wolke umhüllte ein faltenreicher weißer Schleier
1661 die ganze Gestalt und ließ nur den edel geformten Hals und den
1662 unteren Teil der Arme unbedeckt. Darunter aber schimmerten die
1663 Formen des Körpers wie in einen glänzenden Harnisch gekleidet; denn
1664 in der Tat bestand das eng anschließende Kleid aus einem
1665 metallischen Gewebe, das, obgleich es sich jeder Bewegung auf das
1666 bequemste anpaßte und dem leichtesten Drucke nachgab, doch einen
1667 Panzer von größter Widerstandsfähigkeit bildete.
1669 Das Buch, welches La der Bibliothek entnommen hatte, besaß wie alle
1670 Bücher der Martier die Form einer großen Schiefertafel und wurde an
1671 einem Handgriff ähnlich wie ein Fächer gehalten, so daß die längere
1672 Seite der Tafel nach unten lag. Ein Druck mit dem Finger auf diesen
1673 Griff bewirkte, daß das Buch nach oben aufklappte, und auf jeden
1674 weiteren Druck legte sich Seite auf Seite von unten nach oben um.
1675 Man bedurfte auf diese Weise nur einer Hand, um das Buch zu halten,
1676 umzublättern und jede beliebige Seite festzulegen.
1678 La schien es mit ihrem Studium nicht eilig zu haben. Sie hielt das
1679 Buch geschlossen in der nachlässig herabhängenden Hand und gab sich
1680 ihren Gedanken hin. Nach einiger Zeit begann sie die Lippen zu
1681 bewegen und Laute vor sich hin zu sagen, die ihr offenbar nicht
1682 geringe Mühe machten. Mitunter lachte sie leise vor sich hin, wenn
1683 ihr eines der ungewohnten Worte nicht über die Lippen wollte, oder
1684 es lief momentan ein Ausdruck der Ungeduld über ihre Züge. Sie
1685 repetierte ein Pensum, das sie für sich erlernt hatte. Aber nun
1686 blieb sie ganz stecken und sann eine Weile nach. Dann sagte sie für
1687 sich:
1689 „Es ist doch ein närrisches Kauderwelsch, das diese Kalaleks
1690 sprechen!“
1692 Jetzt erst erhob sie das Buch und ließ die Blätter mit großer
1693 Geschwindigkeit sich herumschlagen, bis sie die gewünschte Stelle
1694 gefunden hatte.
1696 Das Buch enthielt eine Zusammenstellung alles dessen, was die
1697 Martier bisher über die Lebensweise und Sprache der Eskimos hatten
1698 in Erfahrung bringen können. Durch die Eskimofamilie, welche sie
1699 aufgefunden hatten und auf ihrer Station ernährten, war es ihnen
1700 gelungen, die Sprache der Eskimos zu erforschen. Ja sie kannten
1701 sogar von einer Anzahl Worte ihre Darstellung in lateinischer
1702 Druckschrift; denn der jüngere der beiden Eskimos hatte sich eine
1703 Zeitlang auf einer Missionsstation in Grönland aufgehalten und war
1704 im Besitz einer grönländischen Übersetzung des Neuen Testaments, in
1705 welcher er zu buchstabieren vermochte. La studierte Grammatik und
1706 Wörterbuch der Eskimos oder ›Kalalek‹.
1708 Nachdem sie wieder eine Reihe von Worten und Redensarten vor sich
1709 hingesagt hatte, fiel ihr ein, ob sie wohl auch die richtige
1710 Aussprache getroffen habe. Die Prüfung war leicht; sie brauchte nur
1711 die Empfangsplatte des Grammophons auf die betreffende Stelle des
1712 Buches zu legen, um den Laut selbst zu hören; denn das Buch
1713 enthielt auch die Phonogramme der direkt vom Mund der Eskimos
1714 aufgenommenen Worte. Aber das Grammophon, welches die Phonogramme
1715 hörbar machte, befand sich in dem Schrankaufsatz des Tisches, und
1716 sie hätte sich zu diesem Zweck vom Sofa erheben müssen; das war ihr
1717 zu unbequem.
1719 Ach, dachte sie, es ist doch eine zu ungeschickt eingerichtete
1720 Welt! Daß man noch nicht einmal so weit ist, daß der Selbstsprecher
1721 zu einem hergelaufen kommt!
1723 Das Grammophon kam aber nicht. La blieb also liegen und begnügte
1724 sich, das Buch neben sich auf einem Tischchen zu deponieren.
1726 Es ist wirklich recht überflüssig, spann sie ihren Gedankengang
1727 weiter, sich mit der Eskimosprache soviel Mühe zu geben. Diese
1728 Eskimos sind doch eine traurige Gesellschaft, und der Trangeruch
1729 ist unerträglich. Sicher ist die große Erde auch von Wesen feinerer
1730 Art bewohnt, die vermutlich eine ganz andere Sprache reden. Weiß
1731 doch sogar unser junger Kalalek mit Erstaunen von der Weisheit
1732 seiner frommen Väter zu erzählen, die ihm das Buch in der seltsamen
1733 Schrift gegeben haben. Wenn wir erst einmal Gelegenheit fänden, mit
1734 solchen Leuten zu verkehren, das möchte sich vielleicht eher
1735 lohnen. Was mag das für ein Luftballon gewesen sein, der heute über
1736 die Insel hinzog und dann in der Höhe verschwand? Da waren doch
1737 gewiß keine Eskimos darin. Was mag aus den Luftschiffern geworden
1738 sein?
1740 La blickte empor. An der Wand war die Klappe des Fernsprechers mit
1741 leichtem Schlag niedergefallen.
1743 „La, bist du da?“ fragte eine weibliche Stimme in dem halblauten
1744 Ton der Martier.
1746 „Hier bin ich“, antwortete La in ihrer tiefen, langsamen
1747 Sprechweise. „Bist du es, Se?“
1749 „Ja, ich bin es. Hil läßt dich bitten, sogleich hinüber in das
1750 Gastzimmer Nummer 20 zu kommen.“
1752 „Schon wieder hinaus in die Schwere. Was gibt es denn?“
1754 „Etwas ganz Besonderes, du wirst es gleich sehen.“
1756 „Müssen wir ins Freie?“
1758 „Nein, du brauchst keinen Pelz. Aber komm gleich.“
1760 „Nun gut denn, ich komme.“
1762 Die Klappe des Fernsprechers schloß sich.
1764 La erhob sich und glitt in ihrem schwebenden Gang der Tür zu. Sie
1765 öffnete sie mit einem leisen Seufzer, denn sie ging nicht gern über
1766 die Korridore, auf denen die Erdschwere herrschte, so daß sie nur
1767 gebückt einherschleichen konnte.
1769 Aber sie war doch neugierig, was auf der Insel Besonderes passiert
1770 sein sollte. Waren neue Gäste vom Mars gekommen? Oder hatte sich
1771 der Ballon wieder gezeigt?
1775 Als der zertrümmerte Ballon ins Meer stürzte, hatten die Martier
1776 der Insel bereits ihr Jagdboot bemannt, auf welchem sie das
1777 Polarbinnenmeer zu durchforschen pflegten. Eine von Akkumulatoren
1778 getriebene Schraube erteilte ihm eine außerordentliche
1779 Geschwindigkeit. Sechs Martier unter Führung des Ingenieurs Jo
1780 hatten in demselben Platz genommen; auch der Arzt der Station, Hil,
1781 befand sich dabei. Alle trugen die Köpfe in einer helmartigen
1782 Bedeckung, die ihnen sowohl ihre Bewegungen in der Luft
1783 erleichterte, als auch zugleich als Taucherhelm im Wasser diente.
1784 Die Helme waren nämlich aus einem diabarischen, das ist
1785 schwerelosen Stoff und hatten daher für ihre Träger kein Gewicht.
1786 Zugleich enthielten sie in ihrer Kuppel einen ziemlich bedeutenden
1787 luftleeren Raum, so daß sie eine, freilich nur geringe Zugkraft
1788 nach oben hin ausübten. Dennoch genügte dieselbe, wenigstens das
1789 Gewicht des Kopfes soweit zu mindern, daß die Muskeln des Nackens
1790 entlastet wurden und die Martier ihren Kopf fast ebenso frei wie
1791 auf dem Mars zu bewegen vermochten, wenn sie auch sonst von dem
1792 ihnen ungewohnten Körpergewicht bedrückt wurden. Eben deshalb
1793 trugen sie Taucheranzüge, um schwere Arbeiten möglichst in das
1794 Wasser zu verlegen. Denn hier nahm ihnen natürlich der Auftrieb des
1795 Wassers die Last ihres Körpergewichts ab.
1797 Schnell näherte sich das Jagdboot dem Ballon, der von den Spuren
1798 des in ihm noch enthaltenen Wasserstoffes und der Luft, die sich
1799 unter ihm verfangen hatte, auf dem Wasser schwimmend erhalten
1800 wurde. Um zu dem von der Seide des Ballons bedeckten Korb zu
1801 gelangen, tauchten die Martier unter und drangen vom Wasser aus
1802 unter den Ballon. Sie fanden sogleich die beiden verunglückten
1803 Menschen und schafften sie eiligst in ihr Boot. Sodann lösten sie
1804 die Gondel von ihren Verbindungen und bargen ihren gesamten Inhalt
1805 ebenfalls an Bord. Alles übrige ließen sie vorläufig treiben, da es
1806 ihnen zunächst darauf ankam, die aufgefundenen Menschen in ihre
1807 Behausung zu bringen.
1809 Saltner und Grunthe hatten außer der Verletzung, die sich letzterer
1810 bereits vor dem Absturz am Fuß zugezogen hatte, weiter keine
1811 Beschädigungen durch den Fall erlitten. Aber sie hatten sich nicht
1812 aus dem Wasser herausarbeiten können. Keiner gab ein Lebenszeichen
1813 von sich. Indessen begannen die Martier unter Leitung des Arztes
1814 sofort die eifrigsten Wiederbelebungsversuche, wie es schien ohne
1815 Erfolg.
1817 „Da hätten wir nun“, sagte Jo, „endlich einmal ein paar wirkliche
1818 Bate, die keine Kalalek sind, ein paar zivilisierte Erdbewohner,
1819 und nun müssen die armen Kerle tot sein.“
1821 „Wir wollen noch hoffen“, erwiderte einer der Martier. „Der Körper
1822 ist noch warm. Vielleicht haben die Bate ein zähes Leben.“
1824 „Es wäre ein großes Glück“, begann Jo wieder, „wenn wir sie retten
1825 könnten. Es sind nicht bloß kühne Leute, es sind offenbar besonders
1826 hervorragende Männer ihres Volkes, sonst würden sie nicht zu diesem
1827 wunderbaren Unternehmen ausgewählt sein.“
1829 „Ich wußte gar nicht“, sagte ein andrer, „daß die Bate Luftschiffe
1830 haben.“
1832 „Derartige Ballons sind schon mehrfach beobachtet worden“,
1833 erwiderte Jo, „aber man wußte nicht sicher, wozu sie dienen,
1834 wenigstens nicht, daß sich die Bate damit selbst in die Luft
1835 erheben. Ich habe immer geglaubt, sie ließen dadurch nur
1836 irgendwelche Lasten über die Erde heben oder ziehen. Gleichviel,
1837 für uns kommt alles darauf an, daß wir durch die Leute nähere
1838 Nachrichten von den kultivierten Gegenden der Erde erhalten. Alle
1839 unsere Pläne würden alsdann wesentlich gefördert werden. Hil,
1840 versuchen Sie Ihre ganze Kunst.“
1842 Der Arzt antwortete nicht. Seine Aufmerksamkeit konzentrierte sich
1843 auf die Bemühungen, die Atmung der Ertrunkenen wieder in Tätigkeit
1844 zu setzen.
1846 Endlich richtete er sich auf.
1848 „Geben Sie vollen Strom!“ rief er Jo zu. „Es ist eine leise
1849 Hoffnung da, aber hier im Freien bringen wir sie nicht durch. Wir
1850 müssen in einer Minute im Laboratorium sein.“
1852 Das Boot sauste durch die Flut. In zehn Sekunden war die Insel
1853 erreicht. Es schoß durch die Einfahrt bis in den inneren Hafen. Im
1854 Augenblick darauf waren die Verunglückten aufgehoben und in die
1855 Krankenabteilung gebracht. Es war keine leichte Arbeit, denn jeder
1856 der beiden Männer hatte für die Martier, in Rücksicht auf ihre
1857 Fähigkeit, Lasten zu heben, ein Gewicht, das für uns einem solchen
1858 von fünf Zentnern entspricht. Sie hätten zwar ihre Kräne benutzen
1859 können, aber dies hätte zu lange gedauert. Und es kam auch nur
1860 darauf an, die Verunglückten bis über die Schwelle der Tür zu
1861 heben. Dann trat die Wirkung des abarischen Feldes in Kraft, und
1862 der Transport hatte keine Schwierigkeiten mehr.
1864 Hil begann sofort die Behandlung mit allen Hilfsmitteln der
1865 martischen Heilkunst. Er hatte bereits einige Erfahrung aus dem
1866 Studium der Eskimos gewonnen und daraus die Unterschiede in der
1867 Funktion der Organe bei Menschen und bei Marsbewohnern
1868 kennengelernt, die übrigens keineswegs so bedeutend sind, wie man
1869 meinen mochte. Dem durchdringenden Scharfblick des Martiers
1870 genügten die Schlüsse, die er aus der gewonnenen Erfahrung ziehen
1871 konnte, um das Richtige zu treffen.
1873 Die Bewohner der Insel, soweit sie nicht gerade mit einer
1874 dringenden Arbeit beschäftigt waren, hatten sich inzwischen aufs
1875 Lebhafteste für die aufgefundenen Menschen interessiert. Im Vorraum
1876 des Krankenzimmers war ein fortwährendes Kommen, Gehen und Fragen,
1877 die Klappen der Fernsprechverbindungen hoben und senkten sich, aber
1878 noch immer konnte man nichts Bestimmtes erfahren.
1880 Endlich, nach einer halben Stunde angestrengter Tätigkeit, brach
1881 Hil sein Schweigen. Er wandte sich zu dem Direktor der Station, Ra,
1882 der neben ihm stehend aufmerksam die merkwürdigen, wie tot
1883 daliegenden Wesen betrachtete, und sagte:
1885 „Sie werden leben.“
1887 „Ah!“
1889 „Aber es ist fraglich, ob wir sie hier zum Bewußtsein bringen. Wir
1890 müssen sie in Verhältnisse schaffen, die ihren Lebensgewohnheiten
1891 entsprechen. Vor allem dürfen wir ihnen die Schwere nicht
1892 entziehen, und ich glaube, auch die Temperatur des Zimmers muß
1893 höher sein.“
1895 „Gut“, antwortete Ra, „wir haben ja Gastzimmer genug, wir können
1896 sie an der Außenseite, bei unseren Wohnungen unterbringen. Ich
1897 werde sofort das Nötige anordnen.“
1899 Sobald Ra in den Vorraum trat und den hoffnungsvollen Ausspruch des
1900 Arztes mitteilte, pflanzte sich die Nachricht durch die ganze Insel
1901 hin fort. Die Bate, die keine Eskimos sind, waren der Mittelpunkt
1902 aller Gespräche, obgleich erst die wenigsten Martier sie überhaupt
1903 gesehen hatten. Daß übrigens jemand, der bei der Pflege nichts zu
1904 tun hatte, neugierig hätte eindringen wollen, konnte bei dem feinen
1905 Taktgefühl der Martier selbstverständlich nicht vorkommen.
1907 Die beiden Geretteten wurden getrennt in geeigneten Räumen
1908 untergebracht und vollständiger Ruhe überlassen.
1910 Stundenlang lagen sie in tiefem Schlaf.
1912 \section{6 - In der Pflege der Fee}
1914 Saltner schlug die Augen auf.
1916 Was er da über sich sah, war es das Netzwerk des Ballons? Diese
1917 regelmäßigen, goldglänzenden Arabesken auf dem lichtblauen Grund?
1918 Nein, der Ballon war es nicht – der Himmel sieht auch nicht so aus
1919 – doch – was war denn geschehen? Er war ja ins Wasser gestürzt.
1920 Sieht es unten auf dem Meer so aus? Aber im Wasser ist man tot oder
1921 – er wendete den Kopf, doch die Augen fielen ihm wieder zu. Er
1922 wollte nachdenken, doch die Fragen waren ihm zu schwer, er fühlte
1923 sich so matt – – jetzt bemerkte er, daß er einen Gegenstand
1924 zwischen den Lippen hielt, ein Röhrchen. – War es noch immer das
1925 Mundstück des Sauerstoffapparats? Nein. – Ein seltsamer Duft
1926 umwehte ihn – instinktiv sog er an dem Rohr, denn er empfand einen
1927 brennenden Durst. Ach, wie das wohltat! Ein kühler erquickender
1928 Trank! Wein war es nicht – Milch auch nicht –, gleichviel, es
1929 mundete – war es vielleicht Nektar? Seine Sinne verwirrten sich
1930 wieder. Aber der Trank wirkte wunderbar. Neues Leben rann durch
1931 seine Adern. Er konnte die Augen wieder öffnen. Aber was erblickte
1932 er? Also war er doch im Wasser?
1934 Über ihm, höher als sein Kopf, rauschten die Wogen des Meeres. Aber
1935 sie drangen nicht bis zu ihm heran. Eine durchsichtige Wand trennte
1936 sie von ihm, hielt sie zurück. Der Schaum spritzte an ihr empor,
1937 das Licht brach sich in den Wellen. Dennoch konnte er den Himmel
1938 nicht sehen, ein Sonnendach mochte ihn abblenden. Hin und wieder
1939 stieß ein Fisch dumpf gegen die Scheiben. Vergeblich versuchte sich
1940 Saltner seine Lage zu erklären. Er glaubte zunächst, sich auf einem
1941 Schiff zu befinden, obwohl es ihn wunderte, daß sich im Zimmer
1942 nicht die geringste Bewegung spüren ließ. Aber nun blickte er etwas
1943 mehr zur Seite. War es denn nicht mehr Tag? Das Zimmer war doch von
1944 Tageslicht erhellt, aber dort links sah er direkt in dunkle Nacht.
1945 Ein ihm unbekanntes Bauwerk in einem nie gesehenen Stil lag im
1946 Mondschein vor ihm. Er blickte auf das Dach desselben, das von den
1947 Wipfeln seltsamer Bäume begrenzt wurde. Und wie merkwürdig die
1948 Schatten waren\modernize{ –!}{! --} Saltner versuchte sich vorzubeugen, den Kopf zu
1949 heben. Da standen wirklich zwei Monde am Himmel, deren Strahlen
1950 sich kreuzten. Auf der Erde gab es etwas Derartiges nicht. Ein
1951 Gemälde konnte doch aber nicht so starke Lichtunterschiede zeigen –
1952 es müßte denn ein transparentes Bild sein –
1954 Auf das leise Geräusch, welches seine Bewegung verursachte, schob
1955 sich auf einmal die Landschaft zur Seite. Eine Gestalt lehnte in
1956 einem Sessel und sah Saltner mit großen, leuchtenden Augen an.
1957 Einen Augenblick starrte er verwirrt auf diese neue Erscheinung.
1958 Noch nie glaubte er ein so herrliches Frauenantlitz gesehen zu
1959 haben. Schnell wollte er sich erheben, und nun erst warf er einen
1960 Blick auf seinen eignen Körper. Man hatte ihn während seiner
1961 Bewußtlosigkeit offenbar gebadet und mit frischer Leibwäsche
1962 versehen. Er fand sich in einen weiten Schlafrock von einem ihm
1963 unbekannten Stoff gehüllt.
1965 Jetzt streckte die Gestalt eine Hand aus und drehte an einem der
1966 Knöpfe, die sich neben ihr auf einem Tisch befanden. In demselben
1967 Augenblick durchlief Saltner ein Gefühl, als wollte man ihn
1968 plötzlich in die Höhe heben. Die Hand, deren Stellung er verändern
1969 wollte, fuhr ein ganzes Stück höher, als er sie zu heben
1970 beabsichtigte. Mit Leichtigkeit richtete er seinen Oberkörper
1971 empor, aber bei dem Ruck flogen auch seine Beine in die Luft, und
1972 mit einer überraschenden Geschwindigkeit führte er einige
1973 unbeabsichtigte turnerische Übungen aus, bis es ihm gelang, sich in
1974 sitzender Stellung auf seinem Lager zu balancieren.
1976 Zugleich hatte sich auch die weibliche Gestalt erhoben und schwebte
1977 auf ihn zu. Ein herzgewinnendes Lächeln lag auf ihren Zügen, und
1978 aus den wunderbaren Augen sprach die innigste Teilnahme.
1980 Saltner wollte aufstehen, bemerkte aber schon beim ersten Anziehen
1981 seines Fußes, daß er Gefahr lief, in eine unbestimmte Höhe zu
1982 schnellen. Eine leichte Handbewegung der vor ihm stehenden Gestalt
1983 bedeutete ihm, seinen Sitz wieder einzunehmen. Nun endlich fand er
1984 die Sprache wieder in gewohnter Lebhaftigkeit.
1986 „Wie Sie befehlen“, sagte er. „Es wäre mir eine große Ehre, wenn
1987 Sie ebenfalls Platz nehmen wollten und mir gütigst andeuten, wo ich
1988 mich eigentlich befinde.“
1990 Bei seinen Worten ließ die Gestalt ein leises, silbernes Lachen
1991 vernehmen.
1993 „Er spricht, er spricht!“ rief sie in der Sprache der Martier. „Es
1994 ist zu lustig!“
1996 „Fafagolik?“ versuchte Saltner die fremden Laute wiederzugeben.
1997 „Was ist das für eine Sprache oder was für eine Gegend?“
1999 Die Martierin lachte wieder und betrachtete ihn dabei vergnüglich,
2000 wie man ein merkwürdiges Tier abwartend anschaut.
2002 Saltner wiederholte seine Frage französisch, englisch, italienisch
2003 und sogar lateinisch. Damit war sein Sprachschatz erschöpft. Da ihn
2004 die Fremde offenbar nicht verstand und er noch immer keine Antwort
2005 erhielt, sagte er wieder auf deutsch:
2007 „Die Gnädige scheint mich nicht zu verstehen, aber ich will mich
2008 doch wenigstens vorstellen. Mein Name ist Saltner, Josef Saltner,
2009 Naturforscher, Maler, Photograph und Mitglied der Tormschen
2010 Polarexpedition, augenblicklich verunglückt und, wie mir scheint,
2011 mehr oder weniger gerettet. Eigentlich ist dabei gar nichts zu
2012 lachen, meine Gnädige, oder was Sie sonst sind.“
2014 Darauf zeigte er mehrere Male mit dem Finger auf sich selbst und
2015 sagte deutlich: „Saltner! Saltner!“ Sodann zeigte er mit der Hand
2016 rings auf seine Umgebung und zuletzt auf die schöne Martierin.
2018 Diese ging sogleich auf seine Gebärdensprache ein. Sie bewegte die
2019 Hand langsam auf sich zu und sagte ihren Namen: „Se.“
2021 Darauf deutete sie auf Saltner und wiederholte deutlich seinen
2022 Namen. Und noch einmal wiederholte sie mit den entsprechenden
2023 Gesten:
2025 „Se! Saltner!“
2027 „Se, Se?“ sagte Saltner fragend. „Das ist also Ihr werter Name.
2028 Oder meinen Sie vielleicht, da draußen sei die See? Verstehen Sie
2029 vielleicht doch ein wenig Deutsch? Wo befinden wir uns denn hier?“
2031 Auf seine fragende Handbewegung zeigte Se nach dem Meer, das vor
2032 den bis zum Fußboden reichenden Fenstern wogte, und nannte das
2033 Wort, das in der Sprache der Martier Meer bedeutet. Darauf zog sie
2034 an einem Handgriff, und anstelle des Meeres erschien die
2035 Landschaft, welche Saltner bewundert hatte. Er sah jetzt, daß
2036 dieselbe auf einen Wandschirm gemalt war, den Se soeben vor das
2037 Fenster geschoben hatte. Sie zeigte auf die Landschaft und sagte
2038 „Nu.“ Das bedeutet ›Mars‹, aber Saltner war freilich mit diesem
2039 Wort nicht gedient.
2041 Se ging nun weiter in das Zimmer zurück, das der Wandschirm bisher
2042 seinen Blicken verhüllt hatte, und suchte nach einem Gegenstand,
2043 den sie nicht sogleich zu finden schien. Saltner folgte ihr mit den
2044 Augen. Er glaubte noch nie etwas Anmutigeres gesehen zu haben,
2045 etwas Wunderbareres jedenfalls noch nicht.
2047 Ein rosiger Schleier umhüllte den größten Teil der Gestalt, ließ
2048 jedoch hier und da den metallischen Schimmer des Unterkleides
2049 durchblicken. Die Haare kräuselten sich über dem Nacken in
2050 beweglichen Löckchen, die als Grundfarbe ein lichtes Braun zeigten,
2051 aber bei jeder Bewegung irisierten wie das Farbenspiel auf einer
2052 Seifenblase. Alle Bewegungen ihres Körpers glichen dem leichten
2053 Schweben eines Engels, der von der Schwere des Stoffes unabhängig
2054 ist. Und sobald der Kopf an eine dunklere Stelle des Zimmers
2055 geriet, leuchtete das Haar phosphoreszierend und umgab das Gesicht
2056 wie ein Heiligenschein.
2058 Plötzlich unterbrach sie ihr Suchen und rief:
2060 „Wie bin ich doch zerstreut! Das hat ja alles noch Zeit. Der arme
2061 Bat hat gewiß Hunger, daran hätte ich zunächst denken sollen. Wart,
2062 mein armer Bat, ich will dir gleich etwas braten.“
2064 Sie trat an den Tisch im Hintergrund des Zimmers und machte sich an
2065 dem Schrankaufsatz und verschiedenen Handgriffen zu schaffen. Dann
2066 war sie wieder neben ihm und sagte mit einem unnachahmlichen Ton,
2067 der ihn entzückte: „Saltner“, indem sie die nicht mißzuverstehenden
2068 Pantomimen des Essens machte.
2070 „Glänzender Gedanke, holdselige Se“, rief Saltner, indem er die
2071 Pantomime wiederholte.
2073 Auf einen Handgriff Ses, Saltner wußte nicht wie, stand auf einmal
2074 ein Tischchen vor seinem Lager, und Se setzte ihm eine Speise vor,
2075 die sie soeben bereitet hatte. Er untersuchte nicht lange, was es
2076 sei, zerbrach sich nicht den Kopf über die merkwürdigen Formen der
2077 ihm gereichten Instrumente, sondern gebrauchte sie, unbekümmert um
2078 Ses Lächeln, als Löffel, und tat dann einen langen Zug aus dem
2079 Mundstück eines mit Flüssigkeit gefällten Gefäßes. Sein Hunger war,
2080 wie er jetzt erst merkte, so groß, daß er selbst Ses Anwesenheit
2081 und seine ganze Umgebung momentan vergessen hatte. Erst nachdem der
2082 erste Reiz gestillt war, hörte er wieder aufmerksam auf Ses
2083 Erklärungen, die ihm die einzelnen Gegenstände in ihrer Sprache
2084 benannte, und es gelang ihm bald, einige Worte zu behalten.
2086 Als er sein Mahl beendet hatte, betrachtete ihn Se wieder mit
2087 zufriedener Miene. Wie man ein Schoßhündchen streichelt, glitt sie
2088 mit der Hand über sein Haar und sagte:
2090 „Der arme Bat war hungrig, nun wird er wieder gesund werden. War es
2091 gut, Saltner?“
2093 Saltner verstand freilich ihre Worte nicht, aber den Sinn fühlte er
2094 deutlich heraus. Er kam sich auch etwas gedemütigt vor, denn er
2095 merkte wohl, daß ihn Se nicht als ein gleichberechtigtes Wesen
2096 behandelte. Aber wie sie seinen Namen aussprach, wie sie ihn mit
2097 den Augen ansah, die bis ins Innerste der Seele hineinzuleuchten
2098 schienen, konnte er nicht anders, als ihr mit den herzlichsten
2099 Worten danken. Und auch Se verstand den Dank, ohne die Worte zu
2100 kennen, die er sprach. Lächelnd sagte sie in ihrer Sprache:
2102 „Saltner gefällt mir, er ist nicht wie ein Kalalek.“
2104 Saltner hatte das Wort Kalalek verstanden, das die Eskimos den
2105 Martiern als die Bezeichnung ihres Stammes genannt hatten.
2107 „Nein“, rief er entschieden, „meine schöne Se, ein Eskimo bin ich
2108 nicht, ich bin ein Deutscher, kein Eskimo – Deutscher!“
2110 Und er begleitete die Worte mit so entschiedenen Gesten, daß Se
2111 ihren Sinn sofort verstand.
2113 Sie eilte zu dem Bücherregal an der Zimmerwand – denn Bücher
2114 gehören bei den Martiern zur unentbehrlichen Ausstattung jedes
2115 Zimmers, eher würde man die Fenster entbehren als die Bibliothek –
2116 und holte einen Atlas herbei.
2118 Inzwischen bestürmte Saltner seine Pflegerin mit Fragen nach dem
2119 Schicksal seiner Gefährten, ohne sich genügend verständlich machen
2120 zu können. Se kümmerte sich zunächst nicht um seine Worte und
2121 Gebärden, sondern hielt den Atlas an seinem Griff Saltner vor die
2122 Augen und ließ die Blätter desselben sich rasch umschlagen. Sein
2123 Erstaunen über diese Mechanik wurde aber übertroffen, als sie in
2124 ihrem Umblättern stillhielt und den Griff des Buches in einem
2125 Gestell auf dem Tischchen vor ihm befestigte. Er erkannte sofort
2126 die Karte der Gegenden um den Nordpol der Erde wieder, die er in
2127 dem Riesenmaßstab der Insel vom Ballon aus bewundert hatte.
2129 Se zeigte mit ihrem schlanken, zierlichen Finger, an dem ihm die
2130 große Beweglichkeit der einzelnen Glieder auffiel, auf Grönland und
2131 die nächsten Landmassen um den Pol; dazu sagte sie wiederholt:
2132 „Kalalek, Bat Kalalek.“ Dann zeigte sie auf Saltner, ergriff seine
2133 Hand und führte sie über die andern Teile des Kartenbildes, indem
2134 sie dabei fragte: „Bat Saltner?“
2136 Saltner suchte auf der Karte die Gegend von Deutschland, die
2137 allerdings perspektivisch schon stark verkürzt erschien, und machte
2138 ihr durch Zeichen begreiflich, daß hier seine Heimat sei. Da er aus
2139 dem öfter gehörten Wort ›Bat‹ schloß, daß dies wohl soviel wie
2140 Mensch oder Volksstamm bedeute, so zeigte er auf den Pol und fragte
2141 dazu:
2143 „Bat Se?“
2145 Se antwortete mit einer lebhaft abwehrenden Bewegung. Sie legte die
2146 ganze Hand auf die Karte und sagte: „Bat.“ Dann zeigte sie auf sich
2147 selbst und sprach mit Selbstbewußtsein: „Se, Nume.“
2149 Und als Saltner sie fragend anblickte, wies sie mit ausgestrecktem
2150 Arm nach einer bestimmten Stelle des Bodens und wiederholte noch
2151 einmal: „Nume.“ Wie sie so dastand, leuchteten ihre Augen in
2152 verklärtem Glanz, und Saltner konnte nicht zweifeln, daß er ein
2153 höheres Wesen vor sich habe. Aber sogleich neigte sie sich wieder
2154 mit liebenswürdigem Lächeln zu ihm und ließ einige Blätter des
2155 Atlas zurückschlagen. Es zeigte sich eine Gruppe geometrischer
2156 Figuren, in denen Saltner ohne Schwierigkeit einen Aufriß der
2157 Planetenbahnen im Sonnensystem erkannte. Se wies auf den
2158 Mittelpunkt und sagte: „O.“
2160 „Sonne“, antwortete Saltner, indem er zugleich nach der Richtung
2161 hinzeigte, in welcher die Sonnenstrahlen auf der Oberfläche des
2162 Meeres spielten.
2164 Se nickte befriedigt, beschrieb dann mit ihrem Finger auf der Karte
2165 die Erdbahn und wiederholte den Namen der Erde: „Ba“, und, auf
2166 Saltner weisend: „Bat!“ Dann aber wieder mit dem ganzen Stolz der
2167 Martier den Namen ›Nume‹ aussprechend, bezeichnete sie auf der
2168 Karte die Bahn des Mars und sagte mit einem hoheitsvollen Blick auf
2169 Saltner: „Nu.“
2171 „Der Mars!“ Es kam fast tonlos von Saltners Lippen. Er merkte, wie
2172 sich alle seine Begriffe zu verwirren drohten. Hilflos sah er zu Se
2173 empor, die kaum seine Aufregung bemerkt hatte, als sie ihm schon
2174 bedeutete, sich niederzulegen. Zwar wollte er trotz der Mattigkeit,
2175 die er jetzt an sich spürte, aufspringen, um seine Wißbegierde
2176 weiter zu befriedigen, aber ein Blick, der keinen Widerstand
2177 zuließ, bannte ihn auf sein Lager.
2179 In diesem Augenblick öffnete sich die Tür des Zimmers, und in
2180 derselben erschien zusammengebeugt und schleppend, auf zwei Stäbe
2181 gestützt, die Gestalt des Arztes Hil. Kaum aber hatte Hil das
2182 Zimmer betreten, als er sich in voller Höhe aufrichtete, die Stäbe
2183 fortwarf und schnell auf das Lager zuschritt. Er ergriff sofort
2184 Saltners Hand, und während er den Puls beobachtete, sagte er mit
2185 leichtem Vorwurf:
2187 „Aber Se Se, was machen Sie mir für Geschichten. Stellen Sie nur
2188 gleich die Abarie ab. Unser Bat muß seine richtige Erdschwere
2189 haben, sonst geht er uns ein, ehe wir ihn wieder kräftig sehn.“
2191 „Seien Sie nur nicht böse, Hil Hil“, lachte Se, „ich habe ihn ja so
2192 schön gepflegt und gefüttert – sehen Sie die Schüssel – 150 Gramm
2193 Eiweiß, 240 Gramm Fett und –“
2195 Hil sah nach der Federwaage, die sich unter jedem Speisegerät der
2196 Martier befand und sofort konstatierte, wieviel Nahrungsstoffe man
2197 auf dieselbe gelegt oder dem Körper zugeführt hatte.
2199 „Aber Sie haben die Schwere abgestellt, davon stand nichts in Ihrer
2200 Instruktion.“
2202 „Ja, Hil Hil, Sie können doch nicht verlangen, daß ich im Zimmer
2203 herumkriechen soll, wenn er wach ist.“
2205 „Ach so, die liebe Eitelkeit!“
2207 „Oh, vor dem Bat! Aber als er aufwachte, mußte ich doch schnell
2208 hin, und dann mußte ich die Pastete backen, und – ja, wenn Sie
2209 wüßten: Er heißt Saltner und ist kein Kalalek, sondern ein – ja,
2210 das Wort habe ich vergessen, doch ich zeige Ihnen auf der Karte die
2211 Gegend.“
2213 „Erst lassen Sie es schwer werden – aber halt, noch einen
2214 Augenblick, ich will mir zuvor einen Stuhl holen – so –“
2216 „Und ich will mich auch erst setzen“, sagte Se.
2218 Als beide Platz genommen hatten, griff Se an einen Wirbel, und
2219 Saltner sah, wie Se und Hil sichtlich in ihren Sesseln
2220 zusammensanken und ihre gelegentlichen Bewegungen mühsam und
2221 schwerfällig wurden. Er aber merkte, wie das eigentümliche Gefühl
2222 des Schwindels, das ihn beherrscht hatte, verschwand, seine
2223 Gliedmaßen konnte er wieder normal dirigieren, und er legte sich
2224 behaglich auf sein Lager zurück.
2226 Der Arzt sah ihn mit seinen großen, sprechenden Augen wohlwollend
2229 „Also man ist wieder lebendig?“ sagte er, was Saltner freilich
2230 nicht verstand. Dann fügte er in der Sprache der Eskimos hinzu:
2231 „Versteht ihr vielleicht diese Sprache?“
2233 Saltner erriet die Frage und schüttelte den Kopf. Dagegen sagte er
2234 nunmehr selbst in der Sprache der Martier, was er von Se gelernt
2235 hatte:
2237 „Trinken – Wein – Bat gut Wein trinken –“
2239 Se brach in ihr feines, silbernes Lachen aus, und Hil sagte
2240 belustigt: „Sie haben ja ausgezeichnete Fortschritte gemacht – nun
2241 werden wir uns wohl bald unterhalten können.“
2243 Dabei wies er auf das neben Saltner stehende Trinkgefäß hin, und
2244 dieser bediente sich desselben mit Erfolg zu neuer Stärkung.
2246 Das Schicksal seiner Gefährten lag ihm am schwersten auf der Seele.
2247 Er versuchte noch einmal, darüber Erkundigungen einzuziehen, indem
2248 er einen Finger aufhob und dazu sagte: „Bat Saltner.“ Dann erhob er
2249 drei Finger und suchte durch weitere Zeichen verständlich zu
2250 machen, daß drei ›Bate‹ mit dem Ballon angekommen und herabgestürzt
2251 seien.
2253 Hil, der zum ersten Mal einen Europäer sah, hatte seine
2254 Aufmerksamkeit mehr auf den ganzen Menschen als auf sein Anliegen
2255 gerichtet, und blickte jetzt fragend zu Se hinüber, als sich
2256 Saltner mit der von Se gehörten Anrede ›Hil Hil‹ direkt an ihn
2257 wendete.
2259 Se erklärte:
2261 „Er meint, daß drei Bate angekommen und in das Meer gestürzt sind.
2262 Wir haben aber doch nur zwei gefunden?“
2264 „Allerdings“, sagte Hil, „und dem andern geht es auch besser. Der
2265 Fuß ist nicht schlimm verletzt und wird in einigen Tagen geheilt
2266 sein. Ich habe mich durch La ablösen lassen, um einmal hier nach
2267 dem Rechten zu sehen. Ich glaube übrigens, daß er bei Bewußtsein
2268 ist, er hat wiederholt die Augen geöffnet, doch ohne zu sprechen.
2269 Hoffentlich hat er keine schwere Erschütterung davongetragen. Wir
2270 wollen ihn nicht anreden, um ihn nicht vorzeitig aufzuregen. Wollen
2271 Sie nicht einmal hinübergehen?“
2273 „Recht gern, aber wer bleibt bei Saltner?“
2275 „Der muß jetzt schlafen. Und dann müssen wir überhaupt eine andere
2276 Einrichtung treffen. Wir bringen sie beide zusammen in ein Zimmer,
2277 und zwar in das große. Aus der einen Seite lasse ich die abarische
2278 Verbindung entfernen, desgleichen in den beiden Nebenräumen. Dort
2279 werden ihre Betten und alle ihre Geräte hingebracht, so daß sie in
2280 ihren gewohnten Verhältnissen leben können. Und wir können uns dann
2281 bei ihnen aufhalten und sie studieren, ohne fortwährend unter
2282 diesem Druck umherkriechen zu müssen, indem wir uns in dem andern
2283 Teil des Zimmers die Schwere erleichtern.“
2285 „Schön“, sagte Se, „aber ehe Sie meinen armen Bat einschläfern,
2286 will ich noch einmal mit ihm verhandeln.“
2288 Sie wandte sich zu Saltner und machte ihm so gut wie möglich
2289 begreiflich, daß noch einer seiner Gefährten gerettet sei und daß
2290 er ihn bald sehen solle. Dann brachte sie auf geschickte Weise in
2291 Erfahrung, wie jener heiße, und ließ sich einige deutsche Worte so
2292 lange vorsagen, bis sie sich dieselben eingeprägt hatte. Während
2293 sie Saltner aus ihren großen Augen lächelnd ansah, streckte Hil die
2294 Hand gegen sein Gesicht aus und bewegte sie einige Male hin und
2295 her. Saltner fielen die Augen zu. Noch war es ihm, als wenn zwei
2296 strahlende Sonnen vor ihm leuchteten, dann wußte er nicht mehr, ob
2297 dies zwei Augen seien oder die Monde des Mars, und bald lag er in
2298 traumlosem Schlaf.
2300 \section{7 - Neue Rätsel}
2302 Grunthe erwachte aus seiner Bewußtlosigkeit in einem Zimmer, das
2303 ganz ähnlich eingerichtet war wie dasjenige, in welches man Saltner
2304 gebracht hatte. Denn es gehörte zu derselben Reihe von Gastzimmern,
2305 die für den vorübergehenden Aufenthalt von Martiern auf der
2306 Erdstation bestimmt waren. Auch er konnte von seinem Lager aus
2307 nichts erblicken als die großen Fensterscheiben, hinter denen das
2308 Meer wogte, und den Wandschirm, der den übrigen Teil des Zimmers
2309 verbarg. Dieser Schirm war ebenfalls mit einer Nachtlandschaft des
2310 Mars verziert, welche beide Monde des Mars zeigte – ein bei den
2311 Malern des Mars sehr beliebter Lichteffekt. Hier aber befanden sich
2312 außerdem im Vordergrund zwei Figuren, von denen die eine nach einem
2313 besonders hell leuchtenden Stern hinwies, während eine zweite das
2314 stark vergrößerte Bild jenes Sternes beobachtete, wie es von einem
2315 Projektionsapparat auf einer Tafel entworfen erschien.
2317 Grunthe suchte seine Gedanken zu sammeln. Er lag sorgfältig
2318 gebettet und in einem Schlafgewand, das nicht das seinige war, in
2319 einem erwärmten Zimmer. Seinen Fuß, der ihn übrigens nicht
2320 schmerzte, konnte er nicht bewegen; dieser befand sich in einem
2321 festen Verband. Er fühlte sich matt, aber vollständig bei Sinnen
2322 und ohne merkliche Beschwerden. Kopf und Arme, bis zu einem
2323 gewissen Grad auch den Oberkörper, konnte er willkürlich bewegen.
2324 Er war also nach seinem Sturz ins Wasser gerettet worden. Wo aber
2325 befand er sich, und wer waren die Retter?
2327 Die anfängliche Täuschung, daß er an der Stelle, wo der Schirm
2328 stand, in eine wirkliche Nachtlandschaft sehe, konnte bei ihm nicht
2329 lange anhalten, da diese Figuren enthielt, welche sich nicht
2330 bewegten. Er hatte also ein Bild vor sich. Demnach war das Meer,
2331 wie er auch aus der Farbe und Art der Beleuchtung schloß, wohl
2332 nichts anderes als das Polarmeer, in welches der Ballon gestürzt
2333 war, er befand sich auf der Insel, und seine Retter waren die
2334 Bewohner dieser Insel. Wer waren sie, und was hatte er von ihnen zu
2335 erwarten? Darauf konzentrierten sich alle seine Gedanken.
2337 Er bewegte seine Arme, er beobachtete seine Atmung, seinen Puls, er
2338 hörte das Rauschen des Meeres – alle Erscheinungen der Natur waren
2339 unverändert, er war auf der Erde, und doch konnten die Wesen, die
2340 hier wohnten, keine Menschen sein. Der Stoff seines Gewandes,
2341 seiner Decke, seines Lagers war ihm vollständig unbekannt, daraus
2342 konnte er keinen Schluß ziehen. Aber das Bild! Was stellte das Bild
2343 vor? War es nicht möglich, daraus zu erkennen, in wessen Gewalt er
2344 sich befand?
2346 Die beiden Gestalten auf dem Bild waren, wie es schien,
2347 menschlicher Art. Die stehende Figur, welche nach dem Stern
2348 hinwies, sah nicht anders aus als eine ideale Frauengestalt mit
2349 auffallend großen Augen; um ihren Kopf spielte ein seltsamer
2350 Lichtschimmer – sollte dies eine symbolische Figur mit einem
2351 Heiligenschein sein? Die Gewandung – soweit überhaupt von solcher
2352 die Rede war – ließ keine Schlüsse zu, sie konnte ja einer Laune
2353 des Künstlers entsprungen sein. Die sitzende Gestalt, welche das
2354 Bild des Sternes beobachtete und dem Beschauer den Rücken zuwandte,
2355 schien einen enganliegenden metallenen Panzer zu tragen; in der
2356 Hand hielt sie einen Grunthe unbekannten Gegenstand. Sollten diese
2357 beiden Figuren Vertreter der Bewohner der Polinsel sein? Aber die
2358 Landschaft selbst war keine Landschaft der Erde. Also wohl eine
2359 Erinnerung an die Heimat, aus welcher die Polbewohner stammten? Und
2360 wenn es so war – diese beiden Monde –, sie konnten keiner andern
2361 Welt angehören als dem Mars.
2363 Bewohner des Mars haben den Pol besiedelt! Der Gedanke war Grunthe
2364 schon einmal aufgestiegen, als er zuerst vom Ballon aus die Insel
2365 mit ihren Vorrichtungen und dem merkwürdigen Kartenbild der Erde
2366 betrachtet hatte. Er hatte ihn als zu phantastisch zurückgedrängt,
2367 er wollte nichts mit so unwahrscheinlichen Hypothesen zu tun haben,
2368 so lange er noch auf eine andere Erklärung hoffen konnte. Doch als
2369 der Ballon von jener unerklärlichen Kraft in die Höhe gerissen
2370 wurde, mußte er wieder an diese Hypothese denken. Und jetzt, die
2371 merkwürdige Rettung, die seltsamen Stoffe, das Bild! Was war das
2372 für ein Stern, der auf diesem Bild beobachtet wurde? Er strengte
2373 seine scharfen Augen an, um die Abbildung auf der Tafel zu
2374 erkennen. Eine hell beleuchtete schmale Sichel, der übrige Teil der
2375 Scheibe in einem matten Schimmer – und diese dunklen Flecke, die
2376 weißen Kappen an den Polen – kein Zweifel, das war die Erde, wie
2377 sie vom Mars aus bei starker Vergrößerung erschien, die schmale
2378 Sichel im Sonnenschein, das übrige schwach vom Mondlicht erhellt. –
2379 Grunthe konnte sich nicht länger der Ansicht verschließen, daß er
2380 bei den Marsbewohnern sich befinde – ein Gast, ein Gefangener – wer
2381 konnte es wissen?
2383 Wie konnten Marsbewohner auf die Erde kommen? Grunthe wußte die
2384 Frage nicht zu beantworten. Nahm man aber die Tatsache einmal als
2385 gegeben, so erklärten sich die andern Erscheinungen sehr leicht,
2386 der Wunderbau der Insel, die Beeinflussung des Ballons, die
2387 Rettung, die Einrichtung des Zimmers – die Hypothese der
2388 Marsbewohner war doch wohl die einfachste –
2390 Und auf einmal zuckte Grunthe zusammen – eine Erinnerung wurde ihm
2391 plötzlich lebendig –, seine Lippen schlossen sich fest aufeinander,
2392 und zwischen seinen Augenbrauen bildete sich eine tiefe senkrechte
2393 Falte – Er spannte sein Gedächtnis aufs äußerste an –
2395 Ell, Ell!, sagte er bei sich. – Was war es doch, was ihm Ell gesagt
2396 hatte, ehe er die Reise antrat? Friedrich Ell, der Freund Torms,
2397 lebte als Privatgelehrter in Friedau seinen Studien, aber er war
2398 der eigentliche geistige und der pekuniäre Urheber der Expedition,
2399 die Seele der internationalen Vereinigung für Polarforschung. Mit
2400 ihm hatte er oft über die Möglichkeit disputiert, wie die Bewohner
2401 des Mars mit der Erde in Verbindung treten könnten. Und Ell hatte
2402 immer gesagt: Wenn sie kommen, so haben wir sie am Nordpol oder am
2403 Südpol zu erwarten. Man springt auf einen Eisenbahnzug nicht, wo er
2404 in Fahrt ist, sondern wo er steht. Wer weiß, was Sie am Pol finden!
2405 Grüßen Sie mir die – – ja, das Wort hatte er vergessen. Er hatte
2406 kein Gewicht darauf gelegt. Man wußte nicht immer bei Ell, ob er
2407 scherze oder im Ernst spräche. „Grüßen Sie mir die –“ Es fiel ihm
2408 nicht ein. Aber wohl erinnerte er sich, wie Ell eines Abends sehr
2409 erregt geworden war, als man von den Bewohnern des Mars wie von
2410 Fabelwesen gesprochen hatte. Er hatte dann das Gespräch plötzlich
2411 abgebrochen.
2413 Grunthe wurde aus seinem Nachsinnen gerissen. Hinter dem Bild der
2414 Marslandschaft wurden Stimmen laut. Was war das für eine Sprache?
2415 Grunthe kannte sie nicht, er verstand kein Wort.
2417 Hinter dem Schirm hatte, von Grunthe unbemerkt, La gesessen. Es war
2418 ihr sehr unbequem, unter dem Druck der irdischen Schwerkraft
2419 auszuhalten, und sie hatte sich deshalb unbeweglich auf ihr Sofa
2420 gestreckt. Jetzt kam Se schwerfällig herbei und ließ sich ebenfalls
2421 nieder.
2423 „Wie geht’s dem Bat?“ fragte sie.
2425 „Ich weiß es wirklich nicht“, sagte La, „ich habe noch nicht
2426 gehört, daß er sich bemerklich gemacht hätte, und unter diesem
2427 Druck kannst du nicht verlangen, daß ich zu ihm hingehe.“
2429 „So machen wir es leicht!“ rief Se und streckte die Hand nach dem
2430 Griff des abarischen Apparates aus.
2432 „Aber Hil hat es verboten“, erwiderte La. „Es könnte schädlich
2433 wirken.“
2435 „Ach, ich habe es drüben auch so gemacht, auf kurze Zeit tut es dem
2436 Bat nichts. Hast du ihn denn schon gefüttert?“
2438 „Nein, wie konnte ich?“
2440 „Und doch ist es nötig, meint auch Hil. Und so lange müssen wir
2441 mindestens uns frei bewegen können. Also, auf meine
2442 Verantwortung.“
2444 Se stellte den Apparat auf die normale Marsschwere ein. Die beiden
2445 Damen erhoben sich und atmeten erleichtert auf.
2447 In demselben Augenblick wollte Grunthe eine Bewegung ausführen,
2448 aber sein Arm fuhr plötzlich viel höher, als er beabsichtigt hatte.
2449 Sogleich probierte er die Bewegung noch einmal und konstatierte,
2450 daß alle seine Gliedmaßen sowie die Decke seines Bettes viel
2451 leichter geworden waren. Er suchte nach einem Gegenstand, den er in
2452 die Höhe werfen wollte, um das wunderbare Phänomen zu studieren. Da
2453 er jetzt trotz des Verbandes an seinem Fuß den Oberkörper leicht
2454 aufrichten konnte, erblickte er auf einem Wandbrett über seinem
2455 Lager einige Gegenstände, die ihm gehörten; man hatte sie offenbar
2456 in seinen Taschen gefunden. Er ergriff sein Taschenmesser, hielt es
2457 so hoch wie möglich über den Boden und ließ es fallen. Er konnte
2458 den Fall bequem mit den Augen verfolgen; es dauerte eine Sekunde,
2459 ehe das Messer den Boden erreichte. Grunthe schätzte die Höhe und
2460 sagte sich: Die Schwerkraft ist geringer geworden, und zwar beträgt
2461 sie nur etwa ein Drittel soviel wie gewöhnlich. Das ist die Schwere
2462 auf dem Mars. Und wieder mußte er an Ell denken, der so oft gesagt
2463 hatte: „Von der Schwere frei werden, heißt das Weltall
2464 beherrschen.“
2466 Auf das leichte Geräusch, welches das Auffallen des Messers
2467 erzeugte, hatte Se den Wandschirm beiseite geschoben und war mit La
2468 auf Grunthe zugetreten. Dieser hatte seine Aufmerksamkeit nicht
2469 mehr auf den Schirm gerichtet und schrak daher mit einer Bewegung
2470 der Überraschung zusammen, als er plötzlich die beiden schönen
2471 Martierinnen vor sich sah. Kaum hatte er erkannt, daß sich zwei
2472 lebendige weibliche Gestalten ihm näherten, so legte er sich mit
2473 eisiger Miene zurück und heftete die Augen starr an die Decke. Da
2474 er La und Se nicht anzusehen wagte, konnte er nicht bemerken, mit
2475 welch freundlichen und teilnahmsvollen Blicken sie ihn
2476 betrachteten. Nur an dem Ton der Stimmen, mit welchem sie in ihrer
2477 Sprache einige Worte an ihn richteten, erkannte er die gute
2478 Gesinnung. La zupfte ihm die Decke zurecht, Se aber beugte sich
2479 über ihn und sah mit ihrem leuchtenden Blick tief in seine Augen.
2480 Diese Damengesellschaft war ihm schrecklich; lieber hätte er sich
2481 von feindlichen Wilden umgeben gesehen. Ach, und nun fühlte er eine
2482 weiche Hand auf seinem Kopf, Se streichelte sein Haar – unwillig
2483 stieß er die Hand zurück.
2485 „Armer Mensch“, sagte Se, „er scheint noch ganz verwirrt. Wir
2486 müssen ihm vor allen Dingen zu trinken geben.“ Sie legte die Hand
2487 wieder auf seine Stirn und sagte: „Fürchte dich nicht, wir tun dir
2488 nichts, armer Mensch.“
2490 „Ko bat“, so lautete das letzte Wort Ses in ihrer Sprache, „Ko bat“
2491 – es wirkte überraschend auf Grunthe –, das war einer der seltsamen
2492 Ausdrücke Friedrich Ells. So pflegte Ell zu sagen, wenn er mit
2493 einer seiner wunderlichen Ansichten nicht durchdringen konnte, wenn
2494 er sein Mitleid mit dem Mangel an Verständnis bei den Menschen
2495 bezeichnen wollte. Oft hatte ihn Grunthe gefragt, wo diese
2496 Redensart herstammen wie er dazu käme. Dann hatte Ell immer nur
2497 still gelächelt und wiederholt: „Ko bate, das versteht ihr nicht,
2498 arme Menschen!“ Diese Erinnerungen waren mit dem Wort in Grunthe
2499 wieder aufgetaucht. Er verhielt sich jetzt ganz ruhig.
2501 Inzwischen hatte La ein Trinkgefäß herbeigeholt, mit dem
2502 wunderbaren Nektar der Martier gefüllt. Die Martier tranken stets
2503 durch einen mit Mundstück versehenen Schlauch, der in dem Gefäß
2504 befestigt war, und dieses Mundstück versuchte La jetzt Grunthe
2505 zwischen die Lippen zu schieben. Aber das war vergebliches Bemühen,
2506 Grunthe hielt sie fest geschlossen und wandte sein Gesicht zur
2507 Seite.
2509 „Die Bate sind aber unliebenswürdige Geschöpfe“, sagte La lachend.
2511 „Oh“, entgegnete Se, „Saltner war ganz anders, der redete gleich!“
2512 Grunthe hatte den Namen erfaßt, jetzt öffnete er zum ersten Mal die
2513 Lippen.
2515 „Saltner?“ fragte er, ohne jedoch Se anzublicken.
2517 „Ach“, sagte Se, „siehst du, er kann hören und sprechen. Nun paß
2518 auf, nun werde ich einmal mit ihm reden.“
2520 Sie schlug den Arm freundschaftlich um Las Schulter und stellte
2521 sich nahe an das Lager. Dann sagte sie mit großer Anstrengung ihres
2522 Sprachorgans die von Saltner gelernten deutschen Worte: „Saltner
2523 deutsch Freund trinken Wein, Grunthe trinken Wein, deutsch
2524 Freund.“
2526 Grunthe warf jetzt einen erstaunten Blick auf die deutsch redende
2527 Martierin, während La über die Worte, die ihr furchtbar komisch
2528 vorkamen, kaum ihr Lachen verbergen konnte. Auch Grunthe war im
2529 Begriff zu lächeln, als er aber die beiden verführerischen
2530 Gestalten so nahe vor sich erblickte, starrte er sofort wieder an
2531 die Decke, antwortete jedoch in höflichem Ton:
2533 „Wenn ich recht verstehe, so ist auch mein Freund Saltner gerettet.
2534 Sagen Sie, bitte, wo ich hier bin.“
2536 „Trinken Wein, Grunthe“, wiederholte Se dringend, und La hielt ihm
2537 das Mundstück vor das Gesicht.
2539 Grunthe nahm jetzt die dargebotene Erfrischung. Und bald fühlte er
2540 sich durch das Getränk aufs angenehmste erquickt und belebt. Er
2541 bedankte sich und richtete noch einige Fragen an Se, aber ihre
2542 Sprachkenntnisse waren nunmehr erschöpft. Grunthe sah ein, daß er
2543 die Gebärdensprache zu Hilfe nehmen müsse, und so mußte er sich
2544 wohl oder übel entschließen, die beiden Martierinnen anzusehen. Er
2545 deutete auf sie hin, dann auf das Bild, und sagte auf gut Glück:
2546 „Mars? Mars?“
2548 Das Wort hatte Se behalten. Sie wiederholte es bejahend: „Mars,
2549 Nu!“ Und auf La und sich hinweisend sagte sie, hochaufgerichtet:
2550 „La, Se, Nume!“
2552 Nume! Das war’s! Das war das Wort, das Ell ihm gesagt hatte: Grüßen
2553 Sie die Nume!
2555 Nume also nannten sich die Martier, und Ell hatte das gewußt – –
2556 das gab Grunthe soviel zu denken, daß er momentan seine Umgebung
2557 vergaß. Um in seinem Nachdenken nicht gestört zu werden, schloß er
2558 die Augen, und sein Gesicht nahm wieder den starren Ausdruck an.
2560 Se wollte ihn fragen, ob er essen wolle, aber das deutsche Wort,
2561 das sie sich von Saltner hatte sagen lassen, war ihr entfallen. Da
2562 Grunthe hartnäckig die Augen geschlossen hielt, begab sie sich in
2563 den Hintergrund des Zimmers, um eine Mahlzeit zu bereiten. Denn
2564 dies geschah in jedem Zimmer sehr einfach und schnell durch die
2565 elektrische Küche. La zog es indessen vor, sich einen Sessel
2566 herbeizuziehen und neben dem Lager Platz zu nehmen. Sie musterte
2567 aufmerksam die Gegenstände, welche man bei Grunthe gefunden hatte,
2568 und spielte mit einem kleinen Buch, das sich unter denselben
2569 befand. Es war eine Anweisung zum Verkehr in der Eskimosprache und
2570 zeigte als Titelvignette einen fein ausgeführten Holzschnitt, einen
2571 Eskimo in seinem Kajak auf wildbewegtem Meer dem Fischfang
2572 abliegend.
2574 „Oh, sieh!“ rief sie Se zu, „hier ist ein Kalalek in seinem Kajak.“
2575 Die beiden Eskimoworte schlugen verständlich an Grunthes Ohr und
2576 weckten ihn aus seinem verworrenen Hinbrüten. Sollten die Martier
2577 vielleicht das Grönländische erlernt haben? Er sagte sich, daß dies
2578 ja leicht möglich sei. Er selbst hatte sich zum Zweck der Reise das
2579 Notwendigste für den Verkehr angeeignet und fragte daher:
2581 „Ich spreche einige Worte der Eskimos. Verstehen Sie mich?“
2583 Se wußte nicht, was er meinte. La aber hatte schon seit einiger
2584 Zeit ihre Studien auf die Sprache der einzigen Menschen gerichtet,
2585 die den Martiern bisher begegnet waren. Sie verstand ihn und
2586 antwortete:
2588 „Ich verstehe ein wenig.“
2590 „Wo sind meine Freunde?“ fragte Grunthe.
2592 „Es ist nur einer da. Er ist in einem andern Zimmer.“
2594 „Kann ich zu ihm?“
2596 „Er schläft, aber man wird Sie dann zusammenbringen.“
2598 „Wie kommen Sie vom Nu auf die Erde?“
2600 La wußte die Antwort nicht auszudrücken. Sie fragte dagegen:
2602 „Was wollt ihr hier?“
2604 Grunthe wußte nun seinerseits nicht, wie er den Begriff ›Nordpol‹
2605 im Grönländischen wiedergeben sollte. Er wollte sich in dem
2606 Büchlein Rats erholen und sagte:
2608 „Geben Sie mir das Buch.“
2610 „Was?“ fragte La.
2612 Grunthe richtete sich auf, um das Buch, das sie in der Hand hielt,
2613 zu erfassen. Aber er hatte im Augenblick nicht an die veränderten
2614 Schwereverhältnisse gedacht, und so kam es, daß sein ganzer
2615 Oberkörper bis zu Las Platz hinüberschnellte. Er wäre aus dem Bett
2616 gestürzt, wenn nicht La ihn rasch am Arm gefaßt und gehalten hätte.
2617 Diese Berührung war nun für Grunthe höchst peinlich, er wollte sich
2618 ihr entziehen, aber da er noch gar nicht verstand, seine Glieder
2619 unter den veränderten Umständen zu gebrauchen, und außerdem durch
2620 seinen Fuß behindert war, geschah es, daß er nach der andern Seite
2621 zu fallen drohte und ihn La ganz mit ihren Armen umfassen mußte.
2622 Sie legte ihn sanft auf das Lager zurück, während er ihr
2623 teerosenfarbiges Haar dicht vor seinen Augen flimmern sah. Ein
2624 Schwindel drohte ihn zu erfassen.
2626 Se kam mit dem Speisegerät herangeschwebt.
2628 „Was macht ihr denn?“ rief sie lachend. „Ich höre, daß ihr euch so
2629 eifrig unterhaltet, ohne daß ich verstehen kann, was ihr redet, und
2630 auf einmal –“
2632 „Ja“, lachte La ebenfalls, „es war zu komisch, was der arme Bat für
2633 Sprünge machte!“
2635 „Ach“, sagte Se, „das scheint mir eine gefährliche Geschichte! Erst
2636 wagt er dich nicht anzusehen, und wie ich den Rücken wende, macht
2637 er dir auf grönländisch eine Liebeserklärung.“
2639 „Daran bist du schuld, du hast die Schwere abgestellt. Wenn ihm der
2640 Schreck nur nicht schlecht bekommt – was wird Hil sagen!“
2642 Grunthe lag wieder regungslos. Sein allerdings ganz unverschuldetes
2643 Ungeschick ärgerte ihn schwer, die Berührung mit der schönen La war
2644 ihm entsetzlich, zudem bewirkte die Abnahme der Schwere jetzt ein
2645 körperliches Übelbefinden.
2647 Aber La bat ihn so freundlich in der Eskimosprache, doch zu essen,
2648 und Se bot ihm die einen verlockenden Duft entwickelnden Speisen
2649 mit einem so gebietenden Blick, daß er seinen Hunger zu stillen
2650 wagte.
2652 Mit größter Vorsicht richtete er sich auf und genoß einiges von den
2653 Speisen, von denen er keine Ahnung hatte, was sie vorstellten.
2654 Sobald er sich dankend zurücklehnte, schob Se das Speisetischchen
2655 zur Seite, und La sagte:
2657 „Leben Sie wohl, Grunthe, schlafen Sie.“
2659 Sie schwebte zum Zimmer hinaus, und Se zog den Wandschirm vor, so
2660 daß Grunthe wieder sich selbst überlassen blieb. Der Kopf schwirrte
2661 ihm von allem, was um ihn herum vorgegangen war, neue Fragen
2662 drängten sich auf, und er wollte sich eben noch einmal aufrichten;
2663 da ergriff ihn plötzlich ein Gefühl, als würde er mit Gewalt gegen
2664 sein Lager gedrückt. Se hatte die Erdschwere wieder hergestellt.
2665 Jetzt schoben sich dichte Vorhänge vor die Fenster, und Grunthe lag
2666 im Dunkeln. Eine leise Musik wie aus weiter Ferne ließ sich hören
2667 und mischte sich melodisch mit dem Rauschen des Meeres.
2669 Grunthe versuchte vergebens, seine Gedanken zu konzentrieren. Sie
2670 bewegten sich um die Frage, wie es lebenden Wesen möglich sein
2671 könne, den luftleeren Weltraum zu durchfliegen. Wie hatten Martier
2672 auf die Erde kommen können? Aber nur in unbestimmten Vermutungen
2673 irrten seine Vorstellungen umher, und ehe er zu irgendeiner
2674 Klarheit in dieser Frage gelangte, lösten sich seine Gedanken in
2675 undeutliche Traumbilder auf. Grunthe entschlummerte.
2677 \section{8 - Die Herren des Weltraums}
2679 \begin{verse}
2680 „Dreifach panzerten Mut und Kraft\\
2681 Dem das eiserne Herz, der sich zuerst gewagt\\
2682 Im gebrechlichen Boot hinaus\\
2683 Auf das tückische Meer. \ldots{}
2684 \end{verse}
2686 So pries einst Horaz die Kühnheit des Seefahrers, der dem fremden
2687 Element sein unsicheres Fahrzeug anvertraute. \ldots{} Aber unbedenklich
2688 besteigt der Tourist den luxuriösen Bau des Riesendampfers, um in
2689 wenigen Tagen die wohlbekannte Ozeanstraße zu durchmessen.
2691 Ähnlich rühmte ein Dichter des Mars den Mut und den Scharfsinn
2692 jenes Martiers Ar, der es einst gewagt, auf den Wegen des Lichts
2693 und der kosmischen Schwere in die Leere des Raumes seinen
2694 unvollkommenen Apparat zu werfen, um zum ersten Male den Flug zu
2695 versuchen durch den Weltäther nach dem leuchtenden Nachbarstern,
2696 der strahlenden ›Ba‹, dem Schmuck der Marsnächte, der
2697 jahrtausendlangen Sehnsucht aller ›Nume‹. Jetzt aber kannte man auf
2698 dem Mars genau die Mittel, welche die Marsbewohner, die sich selbst
2699 ›Nume‹ nannten, anwenden mußten, die einzelnen Umstände, auf die
2700 sie zu achten hatten, um je nach der Stellung der Planeten die
2701 strahlende Ba, das ist die Erde, zu erreichen. Wohl war eine Reise
2702 zwischen Mars und Erde noch immer ein zeitraubendes und
2703 kostspieliges Unternehmen, aber es hatte seinen ebenso sicheren und
2704 bequemen Gang wie etwa heutzutage für einen Menschen eine Reise um
2705 die Erde.
2707 Die Erforschung der Erde, die Entdeckung des intraplanetaren Weges
2708 nach derselben und die endliche Besitzergreifung vom Nordpol bildet
2709 ein umfangreiches und wichtiges Kapitel in der Kulturgeschichte der
2710 Martier.
2712 Die Durchsichtigkeit der Atmosphäre auf dem Mars hatte seine
2713 Bewohner frühzeitig zu vorzüglichen Astronomen gemacht. Mathematik
2714 und Naturwissenschaft waren zu einer Höhe der Entwicklung gelangt,
2715 die uns Menschen als ein fernes Ideal vorschwebt. Je mehr der
2716 alternde Mars durch seinen verhältnismäßig geringen Wasservorrat
2717 die Existenzbedingungen der Martier erschwerte, um so großartiger
2718 waren die Anstrengungen gewesen, durch welche die Martier die
2719 Technik der Naturbeherrschung ausbildeten. Immer neue Kräfte und
2720 Hilfsmittel wußten sie ihrem Planeten zu entlocken, der sich
2721 freilich durch die Eigentümlichkeit seines Baues in noch viel
2722 höherem Maß zur Erziehung eines Kulturvolkes eignete als die Erde.
2724 Der Tag auf dem Mars hat fast dieselbe Dauer wie auf der Erde, er
2725 ist nur vierzig Minuten länger. Das Jahr des Mars dagegen umfaßt
2726 670 Mars-, das sind 687 Erdentage, ist also fast doppelt so lang
2727 als ein Erdenjahr. Die gesamte Oberfläche des Mars beträgt etwa nur
2728 ein Viertel von derjenigen der Erde. Die südliche Halbkugel des
2729 Mars ist die wasserreichere und daher am stärksten bevölkert; sie
2730 enthält auch die beiden einzigen Meere, welche der Mars besitzt,
2731 wenn man darunter diejenigen Becken versteht, welche das ganze Jahr
2732 hindurch mit Wasser erfüllt sind. Die nördliche Halbkugel besteht
2733 zum größten Teil aus unfruchtbaren Wüsten. Aber die Bevölkerung des
2734 Mars, der die von der Natur genügend bewässerte Region ihres
2735 Planeten längst zu klein geworden, wußte der kargen Natur neue
2736 Gebiete des Anbaus abzugewinnen. Sie durchzog das gesamte
2737 Wüstengebiet mit einem vielverzweigten Netz geradliniger breiter
2738 Kanäle und verteilte auf diese Weise zur Zeit der Schneeschmelze,
2739 im Beginn des Sommers einer jeden
2740 Halbkugel, das Wasser, welches sich in Gestalt von Schnee an den
2741 Polen angehäuft hatte, über den ganzen Planeten. Wie die Ägypter
2742 das Anwachsen des Nils benutzten, um der Wüste den fruchtbaren
2743 Boden des Niltals abzugewinnen, so tränkten die Marsbewohner durch
2744 ihre Kanäle beide Ufer derselben. Schnell schoß hier eine üppige
2745 Vegetation auf, und so wurde durch das Kanalnetz das ganze
2746 Wüstengebiet mit fruchtbaren, an hundert Kilometer breiten
2747 Vegetationsstreifen durchzogen, die eine ununterbrochene Kette
2748 blühender Ansiedlungen der Martier enthielten. Wenn hier die
2749 dunkelgrünen Blätter der Pflanzen mit einem Schlag hervorsproßten,
2750 dann hoben sich diese Streifen dunkel von dem rötlichen Wüstenboden
2751 ab, und die Astronomen der Erde wunderten sich, woher dieses
2752 regelmäßige Netz von Streifen auf dem Mars wohl stammen möchte. Die
2753 Riesenarbeit der Bewässerung des Planeten war eine Notwendigkeit
2754 für die Martier geworden, nachdem die in der Kultur
2755 vorgeschritteneren Bewohner der Südhalbkugel allmählich den ganzen
2756 Planeten ihrer Herrschaft unterworfen
2757 hatten. Die einzelnen Völkerschaften
2758 bildeten einen großen Staatenbund. Wie auf der Erde der Weltverkehr
2759 sich durch
2760 internationale Verträge
2761 regelte, ohne daß die Selbständigkeit
2762 der einzelnen politischen Verbände darunter litt, so
2763 hatte die vorgeschrittenere Zivilisation der Martier in ihrer
2764 internationalen Vereinigung ein Zentralorgan, das unbeschadet der
2765 Freiheit der Einzelgemeinden alle Angelegenheiten regulierte,
2766 welche für die Bewohner des ganzen Planeten ein gemeinsames
2767 Interesse besaßen.
2769 Nachdem die Oberfläche des Planeten vollständig erforscht und
2770 besiedelt war, richtete sich die Aufmerksamkeit der Martier
2771 naturgemäß stärker wie je über die Grenzen ihres Wohnplatzes hinaus
2772 auf ihre Nachbarn im Sonnensystem. Und was konnte sie hier
2773 mächtiger fesseln als die strahlende Ba, die sagenumwobene Erde,
2774 die bald als Morgen-, bald als Abendstern alle andern Sterne ihres
2775 dunklen Himmels überstrahlt?
2777 Die Ruhe und Durchsichtigkeit der Atmosphäre gestattete ihnen, bei
2778 ihren Fernrohren Vergrößerungen zu benutzen, wie sie auf der Erde
2779 unmöglich waren. Denn auf der Erde vereitelt die stets
2780 ungleichmäßig bewegte Luft, daß wir Instrumente von so starken
2781 Vergrößerungen praktisch anzuwenden vermöchten, als wir sie wohl
2782 theoretisch und technisch konstruieren könnten. Der Druck der
2783 Atmosphäre auf dem Mars ist aber so gering, wie wir ihn nur auf den
2784 allerhöchsten Berggipfeln der Erde besitzen, und die über der
2785 Marsoberfläche lastende Luftschicht ist dementsprechend dünner und
2786 durchsichtiger. Die Astronomen des Mars konnten daher, bei
2787 günstiger Stellung der Planeten gegeneinander, die Erde ihrem Auge
2788 so nahe bringen, als wäre sie nur gegen zehntausend Kilometer weit
2789 entfernt, und vermochten somit noch Gegenstände von zwei bis drei
2790 Kilometer Ausdehnung zu erkennen. Unter diesen Umständen hatten sie
2791 natürlich bemerkt, daß sich auf der Erde Einrichtungen finden, die
2792 nur als das Werk intelligenter Wesen zu erklären seien. Auch
2793 durchschauten sie viel zu klar den Bau und die Natur der Erde sowie
2794 die Analogien im gesamten Sonnensystem, als daß sie nicht die
2795 Überzeugung von der Bewohnbarkeit der Erde und einer gewissen
2796 Kultur der Erdbewohner gehabt hätten. Die Karte der Erde selbst war
2797 ihnen in umfassenderer Weise bekannt als uns Menschen; denn von
2798 ihrem Standpunkt aus konnten sie nach und nach alle jene Gebiete
2799 der Erdkugel, insbesondere die Polargegenden, durchmustern, die
2800 bisher unseren irdischen Forschungen verschlossen geblieben sind.
2802 Es hatte nicht an Versuchen der Martier gefehlt, sich mit den von
2803 ihnen vermuteten Erdbewohnern in Verbindung zu setzen. Aber die
2804 gegebenen Zeichen waren wohl nicht bemerkt oder nicht verstanden
2805 worden. Jedenfalls mochten die Erdbewohner nicht in der Lage sein,
2806 darauf zu antworten. Die Erde war ein sehr viel jüngerer Planet und
2807 in ihrer ganzen Entwicklung auf einer Stufe, wie sie der Mars schon
2808 vor Millionen Jahren durchlaufen hatte. Da sagten sich die
2809 Marsbewohner selbstverständlich, daß die Bate, wie sie die
2810 hypothetischen Bewohner der Erde nannten, jedenfalls auf einem viel
2811 niedrigeren Standpunkt der Kultur ständen als sie, die Nume; ja wer
2812 weiß, ob sie sich überhaupt schon bis zur Höhe der ›Numenheit‹, zur
2813 Vernunftidee der Martier, erhoben haben!
2815 Um jene Zeit, als man auf der Erde von einem Jahrhundert der
2816 Naturwissenschaft zu sprechen anfing, blickten die Martier längst
2817 nicht nur auf das Zeitalter des Dampfes, sondern auch auf das
2818 Zeitalter der Elektrizität wie auf ein altes Kulturerbe zurück.
2819 Damals vollendete sich bei ihnen eine wissenschaftliche Entdeckung,
2820 die eine Umgestaltung aller Verhältnisse nach sich zu ziehen
2821 geeignet war. Die Enthüllung des Geheimnisses der Gravitation war
2822 es, die einen ungeahnten Umschwung der Technik herbeiführte und die
2823 Martier zu Herren des Sonnensystems machte.
2825 Die Gravitation ist jene Kraft, welche die Bewegungen der Gestirne
2826 im Weltraum beherrscht. Sie verbindet die Sonne mit den Planeten,
2827 die Planeten mit ihren Monden, sie hält die Gegenstände an der
2828 Oberfläche der Weltkörper fest und bewirkt, daß diese als dauernde
2829 einheitliche Gruppen im Universum bestehen; sie läßt den geworfenen
2830 Stein wieder zur Erde fallen und die Gewässer nach dem Meer hin
2831 sich sammeln. Sie ist eine allgemeine Eigenschaft der Körper,
2832 welche von ihrer gegenseitigen Lage im Raum abhängt; die Arbeit,
2833 welche ein Körper infolge der Gravitation zu leisten vermag, nennt
2834 man daher Raumenergie.
2836 Wenn es gelänge, einem Körper diese eigentümliche Form der Energie
2837 zu entziehen, die er infolge seiner Lage zu den übrigen Körpern,
2838 insbesondere zu den Planeten und der Sonne besitzt, wenn es
2839 gelänge, seine Gravitation in eine andere Energieform überzuführen,
2840 so würde man diesen Körper dadurch unabhängig von der Schwerkraft
2841 machen; die Schwerkraft würde durch ihn hindurch oder um ihn
2842 herumgehen, ohne ihn zu beeinflussen; er würde ›diabarisch‹ werden.
2843 Er würde ebensowenig von der Sonne angezogen werden wie ein Stück
2844 Holz vom Magneten. Dann aber müßte es ja auch gelingen, den Körper
2845 dem Einfluß der Planeten und der Sonne soweit zu entziehen, daß man
2846 ihn im Weltraum frei bewegen könnte; dann also müßte es gelingen,
2847 den Weg von einem Planeten zum andern, von dem Mars zur Erde zu
2848 finden.
2850 Dies war den Martiern gelungen. Sie vermochten Körper von gewisser
2851 Zusammensetzung herzustellen, so daß jede auf sie treffende
2852 Schwerewirkung spurlos an ihnen und an den von ihnen umschlossenen
2853 Körpern vorüberging – das heißt spurlos als Schwere. Die
2854 Gravitationsenergie wurde in andere Energieformen umgewandelt.
2855 Solche Körper können wir ›diabarisch‹ nennen.
2857 Zwei Umstände hatten es den Martiern erleichtert, dem Geheimnis der
2858 Gravitation auf die Spur zu kommen. Der eine lag darin, daß die
2859 Schwerkraft auf ihrem Planeten nur ein Drittel von demjenigen Werte
2860 beträgt, den sie auf der Erde besitzt. Eine Last, die auf der Erde
2861 tausend Kilogramm wiegt, hat, auf den Mars gebracht, nur ein
2862 Gewicht von 376 Kilogramm; ein freifallender Körper, der bei uns in
2863 der ersten Sekunde 5 Meter herabfällt, fällt auf dem Mars in dieser
2864 Zeit nur um 1,8 Meter und kommt mit der sanften Geschwindigkeit von
2865 3,6, statt bei uns mit fast 10 Meter, an. Infolgedessen war es den
2866 Martiern erleichtert, alle Eigentümlichkeiten der Schwere bequemer
2867 und genauer zu studieren.
2869 Der zweite Umstand war ein geographischer, oder, wie wir beim Mars
2870 sagen müßten, ein areographischer, nämlich die Zugänglichkeit der
2871 Pole des Mars. Während auf der Erde die Pole mit ihrer ewigen
2872 Eisdecke des Besuches sich erwehren, sind die Marspole nicht
2873 vergletschert. Zwar bedecken sie sich im Winter mit einer dichten
2874 Schneehülle, die aber doch viel geringer ist als auf der Erde, weil
2875 die Atmosphäre des Mars viel weniger Feuchtigkeit enthält. Außerdem
2876 dauert der Sommer fast ein volles Erdenjahr, währenddessen der Pol
2877 in fortwährendem Sonnenschein liegt, so daß der Schnee zum größten
2878 Teil fortschmilzt. Die Pole des Mars sind daher den Marsbewohnern
2879 nicht nur bekannt, sondern sie haben gerade auf ihnen ihre
2880 bedeutendsten wissenschaftlichen Stationen angelegt. Denn die Pole
2881 eines Planeten sind ausgezeichnete Punkte, sie unterliegen nicht
2882 der Umdrehung um die Achse im Verlauf eines Tages, und sie bieten
2883 dadurch Gelegenheit zu Beobachtungen, die sich an keiner anderen
2884 Stelle so einfach anstellen lassen.
2886 Gerade nun für die Untersuchung der Schwerkraft zeigte sich dies
2887 von größter Wichtigkeit. Ihre Wirkungen im Kosmos zu studieren, das
2888 heißt ihre Wechselwirkung mit andern kosmischen Kräften, mußte man
2889 sich von der Rotation des Planeten um seine Achse und allen dadurch
2890 entstehenden Komplikationen unabhängig machen. Dies konnte nur am
2891 Pol geschehen. Vom Pol gingen denn auch die Untersuchungen der
2892 Martier aus.
2894 Die Martier hatten entdeckt, daß die Gravitation, ebenso wie das
2895 Licht, die Wärme, die Elektrizität, sich in Form einer
2896 Wellenbewegung durch den Weltraum und die Körper fortpflanzt.
2897 Während aber die Geschwindigkeit der strahlenden Energie, die wir
2898 als Licht, Wärme und Elektrizität beobachten, 300.000 Kilometer in
2899 der Sekunde beträgt, ist diejenige der Gravitation eine
2900 millionenmal größere. Nach den Berechnungen der Martier durchläuft
2901 die Gravitation den Raum mit einer Geschwindigkeit von 300.000
2902 Millionen Kilometern pro Sekunde, sie verhält sich also zu
2903 derjenigen des Lichts etwa so wie die des Lichts zur
2904 Geschwindigkeit des Schalls. Den Weg von der Sonne bis zur Erde
2905 legt somit die Wirkung der Schwere in einem halben Tausendteil
2906 einer Sekunde zurück; kein Wunder, daß es den Astronomen der Erde
2907 nicht gelungen war, die von ihnen allerdings vermutete endliche
2908 Geschwindigkeit der Gravitation zu konstatieren.
2910 Einen Körper, der die Lichtwellen nicht durch sich hindurchgehen
2911 läßt, nennen wir undurchsichtig; ließe er sie vollständig
2912 hindurchgehen, so würde er absolut durchsichtig sein, wir würden
2913 ihn so wenig sehen wie die Luft. Ein Körper, der die Wärmewellen
2914 durch sich hindurchgehen läßt, bleibt kalt; er muß sie in sich
2915 aufnehmen, sie absorbieren, um sich zu erwärmen. So ist es nun, wie
2916 die Martier entdeckten, auch mit der Gravitation. Die Körper sind
2917 darum schwer, weil sie die Gravitationswellen absorbieren. Körper
2918 ziehen sich nur dann gegenseitig an, wenn sie die von ihnen
2919 wechselseitig ausgehenden Gravitationswellen nicht durch sich
2920 hindurchtreten lassen. Sobald aber ein Körper so beschaffen ist,
2921 daß er die Gravitationswellen eines Planeten oder der Sonne nicht
2922 aufnimmt, sondern frei durchläßt, so wird er nicht angezogen, er
2923 hat keine Schwere, er ist diabar, schweredurchlässig, und dadurch
2924 schwerelos.
2926 Die Martier hatte gefunden, daß das Stellit, ein auf ihrem Planeten
2927 vorkommender Körper, sich so verändern läßt, daß die Schwerewellen
2928 hindurchtreten können. Und mit diesem Augenblick wurde dieser
2929 Körper vom Mars wie von der Sonne nicht mehr angezogen. Allerdings
2930 ließ es sich nicht erreichen, absolut schwerelose Körper
2931 herzustellen, wie es ja auch keine absolut durchsichtigen Körper
2932 gibt; wohl aber ließ sich die Schwere so vermindern, daß sie nur
2933 kaum merklich auf den diabaren Körper wirkt. Indem man die
2934 Schwerelosigkeit verstärkte oder verminderte, konnte man nun, wenn
2935 einmal der Körper eine bestimmte Geschwindigkeit besaß, durch
2936 passende Benutzung der Anziehung der Planeten und der Sonne die
2937 Bahn des Körpers im Weltraum regulieren – vorausgesetzt, daß man
2938 sich in einem solchen diabaren Körper befand, in einer Kugel aus
2939 Stellit.
2941 Dieses Wagestück, einen Apparat herzustellen, in welchem ein Mensch
2942 sich in den Weltraum schleudern lassen konnte, um dann durch
2943 Regelung der Anziehung, welche die Weltkörper auf ihn ausübten,
2944 seinen Weg zu lenken, das hatte zuerst der Martier Ar unternommen.
2945 Aber man hatte ihn nie wiedergesehen. War er in die Fixsternwelt
2946 jenseits des Sonnensystems hinausgeflogen? War er in die Sonne
2947 gestürzt? Umkreiste sein Raumschiff die Sonne oder irgendeinen
2948 Planeten als ein neuer Trabant? Niemand wußte es.
2950 Aber andere kühne Forscher ließen sich nicht zurückschrecken. Sie
2951 hatten jetzt die theoretische Möglichkeit des interplanetaren
2952 Verkehrs eingesehen, es war jetzt keine Tollkühnheit mehr, sich dem
2953 Raum anzuvertrauen, sondern eine dringende Aufgabe der Kultur und
2954 somit eine sittliche Forderung, eine Pflicht der ›Numenheit‹. Die
2955 größte Schwierigkeit lag nur darin, die Geschwindigkeit unschädlich
2956 zu machen, welche der Planet in seiner eigenen Bahn besaß und die
2957 sich natürlich auf das schwerelose Raumschiff übertrug, sobald es
2958 den Mars verließ. Man reiste von einem der Pole ab, um von der
2959 Rotation des Planeten unabhängig zu sein, aber die Geschwindigkeit
2960 des Mars in seiner Bahn beträgt 24 Kilometer in der Sekunde, und
2961 mit dieser flog man hinaus in den Raum, fort von der Sonne in der
2962 Richtung der Tangente der Marsbahn. Es kam dann darauf an, sich der
2963 Sonnenanziehung in dem richtigen Augenblick zu überlassen, um durch
2964 die Flugbahn des Raumschiffs in den Anziehungsbereich der Erde zu
2965 gelangen. Man war somit ganz auf die vorhandenen Gravitationskräfte
2966 angewiesen, wie ein Schiff auf dem Meer auf die Richtung der
2967 Wasser- und Luftströmungen; und auf einen weiteren Erfolg konnte
2968 man erst hoffen, wenn es auch noch gelang, Mittel zu finden, die
2969 Richtung der erhaltenen Geschwindigkeit willkürlich abzulenken.
2971 Aber auch dieses Problem war allmählich gelöst worden. Die
2972 Geschichte der menschlichen Entdeckungen auf der Erdoberfläche war
2973 nicht weniger reich an Opfern als diejenige der Versuche der
2974 Martier, den Weltenraum zu durchsegeln. Endlich aber war einmal
2975 nach jahrelangem Ausbleiben ein Raumschiff zurückgekehrt, das die
2976 Erde dreimal in großer Nähe umflogen hatte. Ein anderes war auf dem
2977 Mond der Erde gelandet. Zuletzt war es dem rastlosen Erdforscher
2978 Col auf seiner dritten Raumreise gelungen, den Nordpol der Erde zu
2979 erreichen. Der Südpol wurde zuerst vom Kapitän All betreten. Von
2980 jetzt ab verkürzte sich immer mehr die Reisezeit nach der Erde
2981 durch die vervollkommnete Technik der Raumfahrt, anstelle der
2982 vereinzelten Entdeckungsreisen trat eine planmäßige Besetzung des
2983 Nordpols. Und nachdem durch Konstruktion der Außenstation und die
2984 Errichtung des abarischen Feldes die Landung auf der Erde ebenso
2985 gesichert war wie die eines Dampfschiffes im Schutz eines
2986 trefflichen Hafens, waren die Martier an dem ersehnten Ziel
2987 angelangt, die Erde nach Belieben besuchen zu können.
2989 Nur freilich, die beiden Pole waren bis jetzt die einzigen Punkte,
2990 welche sie zu erreichen vermochten. Am Südpol hatten sie eine
2991 ähnliche, wenn auch kleinere und weniger benutzte Station angelegt
2992 wie am Nordpol. Denn nur während des Sommers der Nordhalbkugel
2993 konnten sie die Nordstation unterhalten. Im Winter verlegten sie
2994 das abarische Feld auf
2995 den Südpol, der zu dieser Zeit Sommer hatte. Dagegen war es ihnen
2996 noch nicht gelungen, zu den bewohnten Teilen der Erde vorzudringen.
2997 Noch niemals hatten sie einen zivilisierten Menschen kennengelernt.
2998 Einige Eskimos waren die einzigen Vertreter, nach denen sie die
2999 Eigentümlichkeiten der Erdbewohner zu beurteilen vermochten. Aber
3000 bei ihren Umkreisungen der Erde in der Entfernung von einigen
3001 tausend Kilometern zeigten ihnen ihre vorzüglichen Instrumente
3002 natürlich die Einrichtungen der Kultur in solcher Deutlichkeit, daß
3003 sie sehr wohl wußten, die Hervorbringer dieser Werke seien keine
3004 Eskimos. Doch an andern Stellen als an den Polen zu landen, war
3005 ihnen bisher nicht gelungen. Durch die Rotation der Erde wurden die
3006 Verhältnisse dort so kompliziert, daß die technischen
3007 Schwierigkeiten nicht überwunden werden konnten. Diese ergaben sich
3008 aus der besonderen Natur der Gravitation und dem dadurch bedingten
3009 Bau der Raumschiffe, welche dem Druck der Luft und ihren Stürmen
3010 nicht widerstehen konnten. Auch am Pol war ja die Landung erst mit
3011 Sicherheit durchzuführen, seitdem es nach vielen Opfern und
3012 Verlusten gelungen war, die Außenstation zu errichten und so die
3013 Raumschiffe außerhalb der Atmosphäre zu halten. Wie die Brandung
3014 einer Insel gegen die Überrumpelung durch landende Feinde schützt,
3015 so deckte die Umdrehung um ihre Achse und die Dichtheit ihrer
3016 Atmosphäre die Erde gegen einen plötzlichen Einfall der
3017 Marsbewohner von der Luftseite her. Nur am Pol konnten sie sich
3018 festsetzen. Und wenn sie nun auf der Erde vordringen wollten, so
3019 mußte dies über die Gletscher und Eisschollen der Polargegenden
3020 geschehen.
3022 Mit diesem Plan trugen sich nun freilich die Marsbewohner. Aber die
3023 Überwindung dieser Eiszonen bot ihnen ebensoviel Schwierigkeiten,
3024 als wenn Europäer in das vernichtende Sumpfklima eines tropischen
3025 Urwaldes oder über die wasserlose Wüste vordringen wollten. Unsere
3026 Schiffe tragen uns wohl ans Ufer unbekannter Länder, aber in das
3027 Innere vermögen wir erst später und unter den größten
3028 Schwierigkeiten einen Einblick zu gewinnen. Die Martier hatten auf
3029 der Erde vor allem mit zwei gewaltigen Hindernissen zu kämpfen:
3030 Luft und Schwere. Die Dichtigkeit der Luft, ihre Feuchtigkeit und
3031 die Größe des Luftdrucks waren für die Konstitution ihres Körpers
3032 verderblich; sie konnten das Klima der Erde nur kurze Zeit
3033 ertragen. Und die Stärke der Schwerkraft, dreimal so groß wie auf
3034 dem Mars, hinderte ihre Bewegungen und drückte jeder ihrer
3035 mechanischen Arbeiten eine dreifache Last auf. Sie hätten dieselbe
3036 überhaupt nicht tragen können, wenn sie nicht für die Verhältnisse
3037 ihres Planeten eine sehr bedeutende Muskelkraft besessen hätten.
3038 Gerade jetzt, als die Nordpolexpedition Torms in ihrem abarischen
3039 Feld scheiterte, waren sie mit den ernstesten Vorbereitungen
3040 beschäftigt, einen Vorstoß nach Süden zu unternehmen. Denn auf dem
3041 Mars waren die Versuche gelungen, einen Stoff herzustellen, der
3042 sich wie das Stellit schwerelos machen ließ, aber dabei genügende
3043 Festigkeit besaß, der Wärme und Feuchtigkeit der Luft zu
3044 widerstehen. Von ihm erhofften die Martier, daß er ihnen die Wege
3045 durch die Erdenluft bahnen werde.
3047 \section{9 - Die Gäste der Marsbewohner}
3049 Als Saltner zum zweiten Mal auf der Insel erwachte, war er nicht
3050 wenig erstaunt, sich wieder in einer völlig veränderten Situation
3051 zu finden. Das Zimmer war verdunkelt, doch schimmerte die Decke
3052 desselben in einem matten Grau, so daß er einigermaßen seine
3053 Umgebung erkennen konnte. Er sah sofort, daß er in einen anderen
3054 Raum gebracht worden war. Fenster waren nicht vorhanden, und das
3055 Rauschen des Meeres vermochte er nicht zu hören. Dagegen sah er in
3056 der Nähe seines Bettes mehrere Körbe und Pakete aufgestapelt, in
3057 denen er einen Teil aus dem Inhalt der Gondel des untergegangenen
3058 Ballons zu erkennen glaubte. Wenn es nur etwas heller gewesen wäre!
3059 Aber wie konnte man Licht erhalten?
3061 Er erhob erst vorsichtig seinen Arm, um nicht etwa wieder einen
3062 unfreiwilligen Luftsprung zu machen, und als er merkte, daß er sich
3063 unter den gewöhnlichen Umständen der Erdschwere befand, setzte er
3064 sich mit einem lebhaften Schwung auf den Rand seines Lagers. Und
3065 siehe da, in dem Augenblick, in welchem seine Füße den Boden
3066 berührten, wurde es hell im Zimmer. An der Decke hatte sich eine
3067 weite Oberlichtöffnung gebildet, und die Sonne, nur durch einen
3068 leichten Schirm gedämpft, schien fröhlich herein. Er erkannte nun,
3069 daß er in der Tat das Eigentum der Expedition vor sich hatte, auch
3070 seine sorgfältig gereinigte und getrocknete Kleidung fand er dabei.
3071 Und am Boden lag sogar sein Eispickel, den er zu etwaigen
3072 Gletscherbesteigungen am Nordpol mitgenommen hatte. Schnell erhob
3073 er sich, und schon bei den ersten Schritten, die er auf dem weichen
3074 Teppich des Zimmers probierte, fühlte er, daß er sich wieder völlig
3075 wohl und bei Kräften befand. Er schob einen Vorhang zu seiner
3076 Linken beiseite und sah dahinter verschiedene Geräte, die ihm
3077 höchst fremdartig vorkamen, aber doch soviel erraten ließen, daß
3078 sie einen Bade-Apparat vorstellten und was sonst zur Toilette eines
3079 Martiers gehören mochte. Ehe er sich jedoch getraute, von diesen
3080 ihm unbekannten Gegenständen Gebrauch zu machen, untersuchte er
3081 erst die übrigen Teile des geräumigen Schlafgemachs. In der Mitte
3082 der dem Bett gegenüberliegenden Wand befand sich eine große Tür,
3083 die er indessen vorläufig nicht zu öffnen wagte. Er wandte sich
3084 nun nach rechts und
3085 bemerkte, daß die Täfelung dieser Seitenwand ebenfalls eine Tür
3086 enthielt, die aber nicht ganz geschlossen war. Sie führte in ein
3087 verdunkeltes Gemach. Als Saltner an dem ihm unbekannten Mechanismus
3088 herumtastete, rollte sich die Tür auf und ließ dadurch mehr Licht
3089 in das Zimmer. Da erblickte er an der gegenüberliegenden Wand ein
3090 Bett genau wie das seinige und erkannte zu seiner
3091 unaussprechlichen
3092 Freude - Grunthe, der in ruhigem Schlummer lag.
3094 „Guten Morgen, Doktor“, rief Saltner ohne weiteres. „Wie geht’s?“
3096 Grunthe schlug verwundert die Augen auf.
3098 „Saltner?“ sagte er.
3100 „Hier sind wir, munter und gesund, wer hätte das gedacht! Aber der
3101 arme Torm – niemand weiß etwas von ihm!“
3103 „Und wissen Sie denn“, fragte Grunthe, sogleich ermuntert, „wo wir
3104 uns befinden?“
3106 „Ich weiß es, aber Sie werden’s freilich nicht glauben wollen. Oder
3107 haben Sie etwa schon mit dem biedern Hil oder der schönen Se
3108 gesprochen?“
3110 „Wir sind in der Gewalt der Nume“, antwortete Grunthe finster.
3111 „Sind wir allein?“
3113 „Soviel ich weiß, aber der Teufel traue diesen Maschinerien – wer
3114 kann wissen, ob man nicht von irgendwo alles hört und sieht, was
3115 hier vorgeht, oder ob nicht irgendein geheimer Phonograph jedes
3116 Wort protokolliert. Na, deutsch verstehen sie vorläufig noch
3117 nicht.“
3119 „Welche Zeit haben wir? Wie lange war ich bewußtlos?“
3121 „Ja, wenn Sie das nicht wissen! Ich denke, hier gibt es überhaupt
3122 keine Zeit.“
3124 „Nun, das wird sich alles bestimmen lassen, wenn wir erst einmal
3125 den freien Himmel wiedersehen“, sagte Grunthe. „Aber wie kann man
3126 hier Licht machen?“
3128 „Treten Sie gefälligst mit Ihren Füßen auf den Boden vor Ihrem
3129 Bett, dann wird es Tag. Wir sind hier im Lande der automatischen
3130 Bedienung.“
3132 „Das kann ich nicht, bester Saltner, mein Fuß ist verwundet–“
3134 „I – das wäre – lassen Sie sehen –“
3136 „Es ist nichts, ich bin schon verbunden, aber ich muß vorläufig
3137 noch liegen bleiben.“
3139 Saltner war inzwischen an Grunthes Bett geeilt, und in dem Moment,
3140 in welchem er den Teppich vor demselben betrat, öffnete sich das
3141 Oberlicht.
3143 „Sehen Sie“, rief Saltner, „allmählich lernt man diese Marskniffe.
3144 Ich kann übrigens schon etwas martisch und werde Ihnen gleich ein
3145 Frühstück bestellen. Erlauben Sie nur, daß ich vorher ein wenig
3146 Toilette mache.“
3148 Er eilte nach dem Alkoven, der offenbar als Toilettenzimmer dienen
3149 sollte, und stellte sich überlegend vor die Apparate.
3151 „Das da scheint mir eine Badewanne“, sagte er, während Grunthe
3152 durch die Tür sein halblautes Selbstgespräch vernahm, „aber Wasser
3153 ist nicht darin. Und dies dürfte wohl einen Waschtisch vorstellen.
3154 Aber hier sind drei verschiedene Griffe, und jeder hat eine
3155 Aufschrift – nur daß ich sie nicht lesen kann. Ich kenn mich halt
3156 nicht aus. Na, ich werde mal ein bissel drehen. Vielleicht kommt
3157 ein Wasser heraus.“
3159 Er drehte vorsichtig an dem einen Wirbel, in der Meinung, das
3160 darunter befindliche flache Becken werde sich auf irgendeine Weise
3161 mit Wasser füllen. Aber ehe er sich’s versah, sprang das Becken,
3162 sich fächerförmig zu einem Tisch ausbreitend, hervor und versetzte
3163 ihm einen unhöflichen Schlag gegen den Magen. Mit Hallo sprang er
3164 zurück, fand sich aber sofort wieder stolpernd nach vorn
3165 geschnellt, denn gleichzeitig hatte sich in seinem Rücken ein
3166 Sessel aus dem Fußboden erhoben. Nachdem er sich von seinem ersten
3167 Schreck erholt, betrachtete er sich die Sache eingehend, probierte
3168 an dem Tisch und Sessel, und da er sie standfest fand, ließ er sich
3169 gemütlich auf dem Sessel nieder.
3171 „Was gibt’s denn?“ fragte Grunthe von seinem Bett aus.
3173 „Ein Wasser war’s nicht“, sagte Saltner, „aber es sitzt sich ganz
3174 gut hier. Nun wollen wir einmal den zweiten Wirbel probieren.“ Doch
3175 schnell sprang er wieder auf, er dachte, der zweite Handgriff könne
3176 vielleicht dazu dienen Tisch und Sessel wieder verschwinden zu
3177 lassen, und bei dieser Gelegenheit wollte er sich erst in
3178 Sicherheit bringen. Aber es kam anders. Er erhielt nur von einer
3179 aufspringenden Schublade einen Stoß an die Hand. Die Schublade
3180 enthielt eine Anzahl jener Mundstücke, deren sich die Martier, wie
3181 Saltner wußte, zum Trinken bedienten, und nun bemerkte er auch, daß
3182 oberhalb des Tisches drei Öffnungen freigeworden waren, in welche
3183 die Mundstücke hineinpaßten.
3185 „Halt“, sagte Saltner, „hier gibt’s was zu trinken. Aber damit
3186 wollen wir doch noch warten.“
3188 Er drehte an dem dritten Griff. Eine muldenförmige Schale wurde
3189 sichtbar, und in dieselbe fielen aus einer darüber befindlichen
3190 Öffnung fingerdicke, hellbraune Gegenstände, welche etwa die
3191 Gestalt von kleinen Würsten hatten.
3193 „Das ist also ein Frühstück und keine Toilette“, rief Saltner
3194 lachend und probierte die sehr einladend aussehenden und würzig
3195 duftenden Stangen. Sie schmeckten vorzüglich und erwiesen sich als
3196 ein knuspriges Gebäck, das mit einer kräftigen Fleischfarce gefüllt
3197 war. Wenigstens hielt Saltner sie dafür. Aber während er die erste
3198 Stange verzehrte, setzte der Apparat seine Tätigkeit fort, und
3199 Gebäck auf Gebäck fiel in die Schale, die bald bis zum Rand gefüllt
3200 war. Das ist zuviel des Segens, dachte Saltner und suchte umher,
3201 wie sich wohl der geheimnisvolle Speisequell abstellen ließe. Doch
3202 vergebens, der Wirbel selbst ließ sich nicht zurückdrehen – Saltner
3203 wußte nicht, daß man zu diesem Zweck erst durch Drehen der Schale
3204 den automatischen Spender des Gebäcks abstellen mußte. Einen
3205 weiteren Handgriff aber verstand er nicht zu finden, und so quoll
3206 ein unstillbarer Strom von Fleischrollen auf die Schale, fiel von
3207 dort auf Tisch und Fußboden und begann sich zu einem stattlichen
3208 Haufen aufzutürmen. Saltner lief in Verzweiflung hin und her, aber
3209 er fand kein Mittel – er wollte die Öffnung nicht mit Gewalt
3210 verstopfen. – Schließlich dachte er, der Vorrat muß ja doch einmal
3211 ein Ende nehmen, und wollte der Sache ihren Lauf lassen. Er wollte
3212 nun die auf der Schale liegenden Stücke fortnehmen, um Grunthe eine
3213 Portion zu bringen, dabei merkte er, daß die Schale sich drehen
3214 ließ, und auf einmal hörte die weitere Spedition des Gebäcks auf.
3216 Er sammelte die umherliegenden Massen der Delikatesse bis auf einen
3217 kleinen Rest und trug sie in Grunthes Zimmer, der bei diesem
3218 Anblick und Saltners tragikomischer Miene sich eines Lächelns nicht
3219 erwehren konnte. Dort verbarg er sie in einem der leeren Körbe der
3220 Expedition, denn auch in Grunthes Gemach hatte man einen Teil der
3221 aus der Gondel geretteten Gegenstände geschafft.
3223 „Warum lassen Sie das Zeug nicht einfach liegen?“ fragte Grunthe.
3225 „Das geht nicht, ich bin ja sonst unsterblich vor den Damen als
3226 dummer Bat blamiert. Übrigens sehne ich mich nach dem Frühstück;
3227 aber erst muß ich doch sehen, wo ich ein Waschwasser finde.“
3229 Er drehte der Reihe nach an verschiedenen Griffen, ohne daß er das
3230 Gewünschte antraf. Bald sprang ein Schrank auf, der ihm
3231 unverständliche Geräte enthielt, bald entzündeten sich Lampen an
3232 verschiedenen Stellen des Zimmers. Dann zeigte sich eine Schüssel,
3233 und schon hoffte er am Ziel zu sein, aber erschrocken fuhr er
3234 zurück, denn die Schüssel begann sich zu erhitzen. Endlich
3235 erweiterte sich in der Ecke des Zimmers der Fußboden zu einem
3236 flachen Bassin, und ein Springbrunnen sprühte einen Strahl hervor.
3237 Vorsichtig überzeugte sich Saltner, ob er es auch wirklich mit
3238 Wasser zu tun habe, und war sehr erfreut, als sich seine Vermutung
3239 bestätigte. Nun vervollständigte er mit Hilfe seiner
3240 wiedergefundenen Reiseeffekten seine Toilette und setzte sich mit
3241 Behagen an den Frühstückstisch.
3243 Es war ihm ungewohnt und seltsam, daß das Tischchen so leer war und
3244 weder Gläser noch Tassen oder Löffel und Messer enthielt. Das
3245 Gebäck wenigstens wollte er auf einen Teller legen und sah sich
3246 deshalb nochmals im Zimmer um. Er bemerkte jetzt, daß sich auch ein
3247 großer Spiegel im Zimmer befand, neben welchem ein Gestell mit
3248 mehreren glänzenden runden Scheiben stand, die er für silberne
3249 Teller hielt. Er holte sich einen solchen Teller und legte sein
3250 Frühstücksgebäck darauf. Dann ließ er sich das Getränk munden, das
3251 die Öffnungen über dem Tischchen bereitwillig spendeten, nachdem er
3252 die Mundstücke daran befestigt hatte. Es war eine warme und zwei
3253 kalte Flüssigkeiten, die er erhielt und als Schokolade, Wein und
3254 Selterswasser bezeichnete, da sie mit diesen Getränken am meisten
3255 Ähnlichkeit hatten, obwohl er sich sagte, daß sie sich doch in
3256 vieler Hinsicht von den auf der Erde üblichen Genüssen dieser Art
3257 unterschieden. Insbesondere die Schokolade war sehr fettreich.
3259 Neu gestärkt trat er in seinem kleidsamen Reiseanzug zu Grunthe ins
3260 Zimmer und sagte:
3262 „Ich bin nun bereit, unsere Polarforschung fortzusetzen.
3263 Hoffentlich können Sie auch bald mitkommen. Aber ehe wir uns
3264 beraten, was wir zu tun haben, will ich doch sehen, ob ich Ihnen
3265 nicht ein Getränk verschaffen kann. Sie müssen ja einen grausigen
3266 Durst haben.“
3268 „Danke schön“, erwiderte Grunthe lachend, „sehen Sie, was ich
3269 habe.“ Und er wies auf das Mundstück eines Schlauches hin, das
3270 neben seinem Kopf über dem Bett herabhing. „Und hier“, fuhr er
3271 fort, „kosten Sie einmal diese Pastete oder was es sonst ist. Ich
3272 habe zwar keine Ahnung, wie es eigentlich schmeckt, aber ich fühle
3273 mich dadurch wunderbar gestärkt. Wenn mich mein Fuß nicht hinderte,
3274 stünde ich sogleich auf.“
3276 „Sakra auch, das lasse ich mir gefallen! Wie haben Sie das
3277 entdeckt? Ich habe mich inzwischen abgeschunden, verschiedene Stöße
3278 bekommen und das Zimmer in ziemliche Unordnung gebracht. Wie fanden
3279 Sie das, es war doch vorhin nicht hier?“
3281 „Einfach durch Nachdenken. Ich sagte mir, die Martier sind viel
3282 klüger als wir und jedenfalls viel umsichtiger. Wenn wir nun einen
3283 Patienten haben, der nicht gehen kann, so werden wir ihm doch ein
3284 Frühstück ans Bett bringen, und wenn wir selbst aus irgendeinem
3285 Grund nicht kommen wollen, so werden wir es ihm hinstellen. Ich sah
3286 mich also um. Nun betrachten Sie einmal diese beiden kleinen Zettel
3287 an diesen Ringen.“
3289 „Das sind ja lateinische Buchstaben!“
3291 „Allerdings. Es sind zwei Wörter der Eskimosprache. ›Misalukpok‹
3292 und ›Imerpok‹. Das eine bezeichnet ›Essen‹ und das andere
3293 ›Trinken‹.“
3295 „Warum hat man mir aber nicht auch solche Aufschrift angeklebt? Bei
3296 mir sind alle Schilder in einer Zeichenschrift, die jedenfalls
3297 martisch ist.“
3299 „Sie verstehen ja nicht Grönländisch.“
3301 „Woher wissen aber die Nume, daß Sie es verstehen?“
3303 „Weil ich mich gestern mit einer – mit jemand darin unterhalten
3304 habe.“
3306 „Potztausend, Grunthe, Sie sind mir über! Aber eins begreif ich
3307 nicht, wie können die Leute, die Herren Martier, wissen, wie man
3308 diese Worte in unsern Buchstaben schreibt?“
3310 „Darüber bin ich mir auch noch nicht klar. Sie sehen, es ist
3311 Antiqua, der lateinischen Druckschrift genau nachgemalt. Und mein
3312 kleines Wörterbuch ist nicht mehr da, daraus haben sie die Zeichen
3313 entnommen. Aber wie sie die richtigen Worte in dem Buch aufgefunden
3314 haben, das ist mir ein völliges Rätsel. Denn sie kennen doch nur
3315 den Laut der Eskimoworte, aber nicht die gedruckten Zeichen.“
3317 „Es ist eine unheimliche Geschichte“, sagte Saltner. „Aber ein
3318 gutes Weiberl ist sie doch, die Se, ich bin halt ganz hin! Wenn ich
3319 nur wüßt, warum sich kein Mensch bei uns sehen läßt, kein Nume,
3320 wollt ich sagen, denn darauf scheinen sie sich was Großes
3321 einzubilden, daß sie keine Menschen sind.“
3323 „Das kann ich Ihnen auch sagen, Saltner. Würden Sie ihren Gästen
3324 nachts zwischen drei und vier Uhr einen Besuch machen?“
3326 „Ist das die Uhr? Aber vorhin wußten Sie’s ja nicht, und ich denke,
3327 am Pol gibt’s überhaupt keine Zeit.“
3329 „Eine konventionelle Zeit muß es doch geben. Die Leute müssen doch
3330 festsetzen, wann sie schlafen und wann sie zu Mittag essen sollen.
3331 Wir also haben zum Beispiel unsere mitteleuropäische Einheitszeit
3332 auf unseren Taschenuhren mitgebracht, und danach hätten wir jetzt
3333 neun Uhr 55 Minuten vormittags. Als der Ballon scheiterte, war es
3334 nach mitteleuropäischer Zeit gegen sechs Uhr abends. Nun weiß ich
3335 bloß nicht, ob seitdem ein oder zwei Nächte vergangen sind, denn
3336 das hängt von der Länge unserer Ohnmacht und unseres Schlafes ab.“
3338 „Das weiß ich allerdings auch nicht. Ich weiß auch nicht, wann
3339 unser erstes Erwachen stattgefunden hat; das Ihrige vermutlich bald
3340 nach dem meinigen.“
3342 „Nun, das läßt sich nachher aus der Deklination der Sonne
3343 feststellen, welches Datum wir haben. Ich habe meine Uhr auch jetzt
3344 erst wieder entdeckt – beide Uhren, und da sie übereinstimmen, sind
3345 sie auch nicht stehengeblieben –“
3347 „Nein, ich habe dieselbe Zeit –“
3349 „Ja, aber welche Zeit rechnen die Martier hier? Sehen Sie, das
3350 haben sie mir auch mitgeteilt, und daher weiß ich, daß es für sie
3351 jetzt Schlafenszeit ist und daß sie erst in vielleicht zwei Stunden
3352 aufstehen werden. Deswegen sagte ich, es sei zwischen drei und vier
3353 bei unsern Wirten; wie sie die Stunden zählen und benennen, weiß
3354 ich allerdings auch nicht.“
3356 „Aber Doktor, woher wissen Sie denn, was bei den Martiern für eine
3357 Tageseinteilung Mode ist und was die Glocke bei ihnen geschlagen
3358 hat?“
3360 „Glauben Sie wohl, Saltner, in einem Schlafzimmer, das mit allem
3361 Komfort der Martier ausgestattet ist, werde eine Uhr fehlen?“
3363 „Ich habe keine gesehen und Sie vorhin auch nicht.“
3365 „Seitdem aber habe ich sie entdeckt. Sehen Sie die Malerei, welche
3366 die kreisförmige Öffnung des Oberlichts einschließt? Sie ist in
3367 zwölf mal zwölf gleiche Abschnitte geteilt. Und jene schmalen
3368 hellen Streifen, die Sie dazwischen sehen, liegen nicht fest,
3369 sondern bewegen sich auf dem Ring. Das ist mir erst allmählich klar
3370 geworden, als ich während ihrer Toilette hier ruhig lag und in die
3371 Höhe starrte. Hier haben Sie die Uhr der Martier.“
3373 „Ich schau sie wohl an, aber klug werd ich nimmer draus.“
3375 „Entziffern kann ich sie auch nicht. Aber sehen Sie, es sind zwei
3376 Zettel angesteckt, die offenbar nicht zur Uhr gehören, sondern nur
3377 für heute, für uns, eine Nachricht geben. Der eine zeigt ein
3378 geschlossenes, der andere ein offenes Auge. Die Deutung ist klar:
3379 Schlafen und Wachen.“
3381 „Es ist richtig, und dieser helle Strich –“
3383 „Das ist der Stundenzeiger –“
3385 „Dachte ich mir. Er steht noch ungefähr um ein Zwölftel des ganzen
3386 Kreises von dem geöffneten Auge ab.“
3388 „Daher eben schließe ich, daß noch zwei Stunden zirka bis zum
3389 Beginn des Erwachens der Martier sind.“
3391 „Aber finden Sie es nicht seltsam, daß die Martier den Tag
3392 ebenfalls in zwölf Stunden teilen?“
3394 „Ebenfalls? Wir teilen ihn ja in vierundzwanzig –“
3396 „Nun, das sind zweimal zwölf.“
3398 „Daß die Zwölf wiederkehrt, wundere ich mich gar nicht – ich würde
3399 mich wundern, wenn es anders wäre. Es liegt das im Wesen der Zahl,
3400 das heißt im Wesen des Bewußtseins überhaupt. Die Gesetze der
3401 Mathematik sind die Gesetze der Welt. 12 ist 3 mal 4, die kleinste
3402 aller Zahlen, welche die drei ersten Zahlen 2, 3 und 4 zu Teilern
3403 besitzt. Alle intelligenten Wesen, welche Mathematik treiben,
3404 werden die 12, nächstdem die 60 zur Grundlage ihrer Einteilungen
3405 machen.“
3407 „Aber wir haben ja doch die Zehn –“
3409 „Die alte Astronomie wählte die Zwölf – zwölf Zeichen bilden den
3410 Tierkreis – die Zehn ist nur ein unwissenschaftlicher Rückfall in
3411 die sinnliche Anschauung der zehn Finger – Krämerpolitik –, doch
3412 lassen wir das.“
3414 „Meinetwegen“, sagte Saltner. „Aber was tun wir nun? Erst müssen
3415 Sie natürlich Ihren Fuß auskurieren.“
3417 „Ich fürchte“, erwiderte Grunthe, „wir werden auch dann nichts
3418 anderes tun können, als was die Martier über uns beschließen. Mit
3419 der Expedition wird es wohl so ziemlich aus sein. Suchen wir uns
3420 inzwischen möglichst mit den Verhältnissen vertraut zu machen.
3421 Rekognoszieren Sie ein wenig!“
3423 „Im Zimmer habe ich mich schon umgesehen, und ich möchte nicht noch
3424 mehr von den rätselhaften Instrumenten probieren – man kann sich zu
3425 leicht blamieren. Ich komme mir vor wie ein Wilder in einem
3426 physikalischen Institut, bloß daß unsereiner nicht die nötige
3427 Naivität besitzt.“
3429 „Was haben wir denn für Ausgänge?“
3431 „Nur einen aus jedem unserer Zimmer. Ich weiß die Tür nicht zu
3432 öffnen. Ich glaube, es ist auch schicklicher, wir warten hier, bis
3433 man uns aufsucht, als daß ich aufs Ungewisse herumstöbere.“
3435 „Sie haben recht! Vielleicht haben Sie die Güte, unsere Sachen ein
3436 wenig zu ordnen, und wenn Sie mein Tagebuch finden, so bitte ich
3437 Sie darum. Zunächst müssen wir sehen, daß wir sowohl Torms Eigentum
3438 als die offiziellen Aktenstücke der Expedition in Sicherheit
3439 bringen.“
3441 „Ich habe schon einiges hier beiseite gelegt“, sagte Saltner, indem
3442 er unter den Gegenständen aufräumte, welche die Martier aus der
3443 Gondel gerettet hatten. Sie waren zum Teil durch den Sturz und das
3444 Meerwasser beschädigt.
3446 „Es wäre mir übrigens gar nicht unangenehm“, fuhr Saltner fort,
3447 „wenn noch einiges von unserm Proviant brauchbar wäre. Denn ich
3448 traue nicht recht, wie einem dieser Würstchenautomat hier
3449 bekommen wird. Sehen Sie einmal, was die Herrn Nume alles
3450 aufgehoben haben! Da haben sie uns ja das Futteral mit den beiden
3451 Flaschen Champagner hergelegt, das Sie in der Not als Ballast auf
3452 die Insel warfen. Ich hab halt gedacht, das würde ihnen die Köpfe
3453 zerschlagen und dabei in tausend Trümmer gehen. Aber es scheint
3454 ganz unversehrt. Nun, ich will die beiden Monopol nur aus dem
3455 Kasten nehmen. Die können wir doch nimmer mit Freude ansehn. Arme
3456 Frau Isma!“ Er nahm die Flaschen heraus.
3458 „Halt“, sagte er, „da in dem Futter steckt noch ein Paketchen. –
3459 Was haben wir denn da?“
3461 Der Verschluß hatte sich gelöst. Ein Buch in der Größe eines
3462 Notizkalenders kam zum Vorschein.
3464 „Na“, sagte Saltner, „Frau Isma wird uns doch nicht noch ein Album
3465 mitgegeben haben. Sehen Sie doch einmal, Grunthe, was das ist.“
3467 „Was geht das mich an?“ sagte Grunthe unwirsch.
3469 Saltner schlug das Buch auf. Er stutzte sichtlich, blätterte darin
3470 und sah lange hinein.
3472 „Das ist –“, sagte er dann kopfschüttelnd, „das ist ja – Aber wie
3473 ist das möglich?“
3475 Das kleine Buch enthielt ein Wörterverzeichnis der Sprache der
3476 Martier; die Worte waren mit Hilfe der Lautzeichen des lateinischen
3477 Alphabets transkribiert, daneben befand sich eine deutsche
3478 Übersetzung und zugleich das Zeichen des Wortes in der
3479 stenographischen Schrift der Martier. Saltner hatte an den wenigen
3480 ihm bekannten Worten die Bedeutung des Inhalts erkannt.
3482 „Sagen Sie mir das eine“, fuhr er fort, „mir steht der Verstand
3483 still – wie kann ein deutsch-martisches Wörterbuch hierherkommen –
3484 wie kann es überhaupt existieren?“
3486 Grunthe streckte sprachlos die Hand aus und ergriff das Buch.
3488 Er warf nur einen Blick hinein. Dann sagte er leise: „Das ist die
3489 Handschrift von Ell.“
3491 Grübelnd schloß er die Augen. Das unlösbare Rätsel trat ihm wieder
3492 entgegen – wie kam Ell zur Kenntnis der Sprache der Marsbewohner?
3493 Und wenn er sie kannte, warum hatte er sich nicht offen
3494 ausgesprochen? Warum hatte er nicht ihm oder Torm die
3495 Sprachanleitung mitgegeben? Wie kam sie versteckt in das Futteral,
3496 unter die Flaschen?
3498 Er wußte keine Antwort.
3500 Saltner hatte inzwischen das Buch ergriffen und suchte sich daraus
3501 einige Worte zusammen.
3503 Da hörte er im Nebenzimmer leises Lachen und Stimmen der Martier.
3504 Der Arzt Hil war in Saltners Zimmer eingetreten. Se hatte ihn bis
3505 an die Tür begleitet und amüsierte sich köstlich über die
3506 Unordnung, welche Saltner angestiftet hatte, am meisten aber
3507 darüber, daß er bei seinem Frühstück als Teller die – Kämme benutzt
3508 hatte. Die flachen Scheiben, welche Saltner für Teller gehalten
3509 hatten, dienten den Martiern dazu, das Haar zu ordnen; sie wurden
3510 elektrisch geladen und streckten dann die Haare geradlinig vom Kopf
3511 ab. „Es ist zu lustig“, lachte Se. „Aber wir wollen ihm jetzt
3512 nichts sagen, dem armen ›deutsch Saltner‹.“ Darauf zog sie sich
3513 wieder zurück. Denn es war ihr zu ›schwer‹ in den Zimmern der
3514 Bate.
3516 Hil trat bei Grunthe und Saltner ein.
3518 \section{10 - La und Saltner}
3520 Hil war mit dem Zustand seiner Patienten sehr zufrieden. Mit großem
3521 Interesse betrachtete er ihre \modernize{Effekten}{Effekte}.
3522 Sichtliches Erstaunen aber
3523 malte sich auf seinen Zügen, als ihm Grunthe den kleinen
3524 deutsch-martischen Sprachführer überreichte. Er blätterte eifrig
3525 darin, und indem er auf einzelne Zeichen der martischen Schrift
3526 zeigte und sich das danebenstehende deutsche Wort nennen ließ,
3527 gelang es ihm bald, einige Fragen zu stellen, die Grunthe durch das
3528 umgekehrte Verfahren beantwortete. Da es ihm selbst an Zeit
3529 gebrach, den gegenseitigem Sprachunterricht sofort eingehend
3530 aufzunehmen, fragte er Grunthe mit Hilfe des Grönländischen, ob er
3531 nicht mit La, die sich gern mit Sprachstudien beschäftigte,
3532 martisch sprechen wolle, um recht bald zu einem gegenseitigen
3533 Verständnis zu kommen. Grunthe war dies sehr unangenehm. Er war
3534 recht froh, daß sich keine von seinen Pflegerinnen hier bei ihm
3535 sehen ließ, und er wandte sich daher an Saltner mit dem Vorschlag,
3536 ihn in dieser Hinsicht zu vertreten. Obgleich dieser die Sprache
3537 der Eskimos nicht als verbindendes Hilfsmittel benutzen konnte,
3538 glaubte er doch, mit Hilfe des Ellschen Sprachführers auszukommen
3539 und erklärte sich gern zu allen Diensten bereit.
3541 Hil nahm den Sprachführer mit sich und geleitete Saltner in den
3542 anstoßenden großen Salon der Martier. Hier stellte er ihn einer
3543 Anzahl der dort versammelten Martier vor, unter denen sich der
3544 Leiter der Station Ra mit seiner Frau sowie neben einigen andern
3545 Martierinnen auch Se und La befanden.
3547 Saltner wußte nicht, wo er seine Augen zuerst hinwenden sollte.
3548 Fast alles, was er sah, war ihm fremd, am meisten aber überraschten
3549 ihn die Gestalten der Martier selbst. Es war ihm nur lieb, daß er
3550 sich aus Mangel an Sprachkenntnissen in Schweigen hüllen und sich
3551 mit dem Sehen begnügen konnte. Hil nannte ihm die Namen der
3552 einzelnen, die ihn mit ihren martischen Handbewegungen begrüßten,
3553 was Saltner mit europäischen Verbeugungen erwiderte. Nur fielen
3554 dieselben leider etwas steif aus, da er infolge der verminderten
3555 Schwere sehr vorsichtig sein mußte. Er sah wohl an den Gesichtern
3556 derjenigen Martier, welche in ihm zum ersten Mal einen Europäer
3557 erblickten, wie sie sich Mühe gaben, ihre Belustigung über seine
3558 Ungeschicklichkeit zu verbergen. Es war ihm daher sehr angenehm,
3559 als sich die Mehrzahl der Anwesenden zurückzog.
3561 Gleich bei seinem Eintritt war ihm neben der reizenden Se die
3562 Gestalt Las aufgefallen, und als er bei der Nennung der Namen
3563 erkannte, daß dieses wunderbare Wesen seine Sprachlehrerin sein
3564 sollte, heftete er seine Blicke erwartungsvoll auf ihre Züge. Aber
3565 in ihren großen Augen war keine Spur von Spott zu bemerken, sie
3566 begrüßte ihn mit ruhiger Liebenswürdigkeit, und ein Lächeln, das
3567 sie mit Se tauschte, sagte dieser, daß ihr dieser Bat besser gefiel
3568 als der andere. Saltner war überzeugt, daß er riesenschnelle
3569 Fortschritte im Martischen machen würde, wenn ihm die Anerkennung
3570 aus solchen Augen als Lohn winke. Er wußte nur nicht recht, wie die
3571 Sache zu beginnen sei, da keines der beiden die Sprache des andern
3572 kannte. La holte einige Bücher aus der Bibliothek, darunter den ihm
3573 schon bekannten Atlas, der ihm zur ersten Verständigung mit Se
3574 gedient hatte. Sie streckte sich dann in ihrer Lieblingsstellung
3575 auf den Diwan und winkte Saltner, sich dicht an ihrer Seite
3576 niederzulassen. Sie begann zunächst einige Gegenstände zu
3577 bezeichnen, die sich unmittelbar der Anschauung darboten, und sich
3578 die Benennung martisch und deutsch wiederholen zu lassen; dann
3579 verfuhr sie ebenso mit verschiedenen Abbildungen in den Büchern.
3580 Aber so ging die Sache zu langsam. Sie griff zu dem Sprachführer,
3581 den Se in der Hand hielt. Se hatte bis jetzt in dem Büchlein
3582 geblättert und eine Anzahl von deutschen Worten auf einem Streifen
3583 durchsichtigen Papiers einfach dadurch nachgebildet, daß sie das
3584 Papier einen Augenblick auf das betreffende gedruckte Wort legte
3585 und andrückte. Das Papier war lichtempfindlich und gehörte zu einem
3586 kleinen Taschenschnellphotograph, den man als Notizbuch bei sich zu
3587 führen pflegte. Saltner las: „Schüler fleißig. Lehrer streng.
3588 Fernhörer. Alles hören.“
3590 Als er wieder aufblickte, sah er, daß Se schelmisch lachte. Sie
3591 machte sich dann noch an dem Apparatentisch zu schaffen und
3592 entfernte sich mit freundlichen Winken: „Das ist recht“, sagte La,
3593 „sie hat den Phonograph aufgezogen. Danach können wir dann unser
3594 Pensum gut repetieren.“
3596 Darauf nahm La den Sprachführer vor und ging mit Saltner die
3597 Redensarten und kleinen Gespräche durch, welche dort in beiden
3598 Sprachen angegeben waren. Er las sie deutsch, sie martisch, und
3599 beide lachten dazwischen herzlich, wenn sie ihre Aussprache zu
3600 verbessern suchten oder komische Mißverständnisse zutage kamen.
3601 Saltner mußte La dicht über die Schulter blicken, um im Buch zu
3602 lesen. Es ließ sich nicht vermeiden, daß sein Blick nach der
3603 wunderbaren Farbe ihres Haares und den weichen Formen des Nackens
3604 abirrte und die Worte manchmal zerstreut herauskamen. Ein seltsamer
3605 Wärmestrom ging von ihrem Körper aus, und dies war nicht bloß ein
3606 Spiel seiner Phantasie; er erfuhr später, daß die Martier in der
3607 Tat eine höhere Blutwärme besitzen als die Menschen. Er merkte, daß
3608 sich seine Sinne verwirrten. Und auch dies hatte seinen Grund nicht
3609 nur in seinen Gefühlen, sondern war eine Wirkung der geringen
3610 Schwere, an die seine Konstitution noch nicht gewöhnt war. Das Blut
3611 wurde ihm stärker zu Kopfe getrieben.
3613 La erkannte dies bald. Sie gab ihm das Buch zu halten, lehnte sich
3614 zurück und stellte das abarische Feld ab. Alsbald fühlte sich
3615 Saltner wieder wohler, und die Studien nahmen mit erneuter Kraft
3616 ihren Fortgang. So vergingen schnell einige Stunden. Und auf einmal
3617 stellte sich heraus, daß die Lehrerin viel mehr deutsch gelernt
3618 hatte als der Schüler martisch. Nicht weniger als Saltner hatte
3619 Grunthe dabei gelernt, der den Sprechübungen durch den Fernhörer
3620 zugehört hatte. Er fragte an, ob er jetzt vielleicht das Buch auf
3621 einige Zeit erhalten könnte.
3623 La stellte die Schwere ab, um sich wieder frei bewegen zu können.
3625 „Oh, wie zerstreut bin ich doch!“ rief sie aus. „Wir brauchten uns
3626 doch nicht mit dem einen Exemplare zu quälen! Wenn Sie mir das Buch
3627 noch eine halbe Stunde erlauben“ – wandte sie sich durch den
3628 Fernsprecher an Grunthe –, „so werde ich es sofort vervielfältigen
3629 lassen.“
3631 Sie schrieb einige Worte auf ein Stückchen Papier, legte dies in
3632 das Buch und packte das Ganze in einen Umschlag. Dann warf sie das
3633 kleine Paket in einen an der Wand befindlichen Kasten.
3635 Saltner sah ihr verwundert zu.
3637 „Das ist die pneumatische Post nach der Werkstatt“, sagte La
3638 erklärend. „Es wird nicht lange dauern, so bekommen wir die Kopien
3639 des Buches, aber nicht in Ihrem ungeschickten Format, sondern in
3640 unserer hübschen Tafelform.“ Sie erläuterte das Gesagte durch
3641 verschiedene Handbewegungen.
3643 „Und wer besorgt denn dies?“ fragte Saltner.
3645 „Wer von den Technikern gerade an der Reihe für den Tag ist. Die
3646 Arbeitszeit wechselt in geregelter Ablösung. Jeder hat seinen
3647 besonderen Tätigkeitskreis. Ich zum Beispiel muß mich mit der
3648 Erlernung der schrecklichen Menschensprachen quälen. Haben Sie mich
3649 verstanden?“
3651 Da Saltner noch ein ziemlich fragendes Gesicht machte, wiederholte
3652 sie die Antwort noch einmal, zu seiner Verwunderung in zwar etwas
3653 seltsamem, aber doch verstehbarem Deutsch.
3655 „Sie sprechen ja deutsch, La La!“ rief er aus.
3657 „Sie haben nicht aufgepaßt“, sagte sie lachend. „Die Worte sind ja
3658 alle heute in unserm Pensum vorgekommen. Wir wollen es repetieren.“
3659 Sie ging an den Tisch und drückte auf den Knopf des Grammophons.
3661 Man hörte sogleich die Worte wieder, die La zu Se bei ihrer
3662 Verabschiedung gesprochen hatte. La zog sich nun auf ihren Diwan
3663 zurück, stellte die Abarie ab und winkte Saltner, sich zu setzen.
3665 Es war ihm ganz seltsam zumute, als er so seine eigene Stimme,
3666 jedes Wort mit der eigenen Betonung, jeden Sprachfehler –
3667 dazwischen das tiefe, halblaute Organ Las und ihr leises Lachen –
3668 wieder vernahm. Die schräg einfallenden Sonnenstrahlen rückten bis
3669 an Las Ruhestätte und entzündeten ein seltsames Farbenspiel
3670 zwischen den losen Wellen ihres Haares, sie spielten als ein Meer
3671 von Funken auf den glitzernden Fäden ihres Schleiers, die sich bei
3672 ihren Atemzügen leise hoben und senkten. War er noch er selbst,
3673 oder war er in ein fernes Geisterreich entrückt und mußte er nun
3674 sein eigenes Leben an sich vorüberziehen lassen?
3676 „Nicht träumen“, sagte La halblaut, „aufpassen.“
3678 Nun hörte er wieder auf die Worte ihrem Sprachsinn nach, er
3679 repetierte.
3681 Da klapperte es an dem Postkasten.
3683 „Da sind unsere Bücher“, sagte La. „Stellen Sie, bitte, das
3684 Grammophon ab, und öffnen Sie den Kasten.“
3686 Saltner vollzog den Auftrag. Er enthob dem Kasten ein Paket, das
3687 die Kopien des Sprachführers enthielt. La nahm das Original heraus
3688 und gab es Saltner.
3690 „Hier“, sagte sie, „bringen Sie dies Ihrem Freund zurück, mit
3691 bestem Dank. Und wenn es Ihnen recht ist, arbeiten wir am
3692 Nachmittag noch einmal.“
3694 „Verfügen Sie vollständig über mich“, sagte Saltner mit einem
3695 bewundernden Blick. Eine vornehme Handbewegung verabschiedete ihn.
3699 Die Sprachstudien fanden am Nachmittag eine unerwartete
3700 Unterbrechung.
3702 Eben wollte Saltner, der mit Grunthe zusammen gespeist hatte, sich
3703 wieder in den Salon begeben, als Ra bei ihnen eintrat, um ihnen
3704 eine Mitteilung zu machen, die beide Forscher aufs Lebhafteste
3705 erregte.
3707 Die Martier hatten auf ihren Jagdbooten das Binnenmeer und seine
3708 Ufer noch weiter nach Spuren der Expedition abgesucht. In einem der
3709 Fjorde, welche sich ungefähr in der Richtung des 70. Meridians
3710 westlicher Länge von Greenwich verzweigten, am Fuß eines
3711 unmittelbar in das Wasser abfallenden Gletschers, hatte man den
3712 bisher vermißten Fallschirm der Expedition gefunden, zwischen
3713 losgebrochenen Eisschollen treibend. Derselbe mußte so nahe am Ufer
3714 niedergefallen sein, daß es wohl denkbar war, ein an demselben
3715 hängender Mensch hätte sich auf den Gletscher retten können. Die
3716 Martier hatten das Land selbst nicht betreten können; ohne
3717 besondere maschinelle Vorrichtungen war ihnen dies überhaupt nicht
3718 möglich.
3720 Saltner sprang auf und bat dringend, ihn sofort an Ort und Stelle
3721 zu bringen. Hier war eine Möglichkeit gegeben, daß Torm doch noch
3722 am Leben und zu retten sei. Daß der Fallschirm in so weiter
3723 Entfernung vom Ballon gefunden war, und zwar an einer Stelle, über
3724 die der Ballon nicht geflogen sein konnte, ließ sich nur dadurch
3725 erklären, daß Torm den Schirm vom Ballon getrennt hatte. Dann
3726 konnte die in den unteren Luftschichten herrschende Windströmung
3727 den langsam fallenden Schirm sehr wohl bis dorthin getrieben haben.
3728 Aber ob sich Torm an dem Schirm befunden hatte? Vermutlich hatte er
3729 sich mit demselben niedergelassen; aus welchen Gründen ließ sich
3730 nur unsicher vermuten. Vielleicht hatte er den Ballon dadurch zu
3731 retten gedacht, daß er ihn um sich selbst erleichterte; vielleicht
3732 auch hatte er die Gefährten für erstickt gehalten und für sich
3733 selbst ein letztes Rettungsmittel versucht, ehe der Ballon wieder
3734 über das Meer hinaustrieb. Jedenfalls mußte man alles daransetzen,
3735 etwaige Spuren von Torm aufzufinden.
3737 Ra stellte Saltner bereitwillig ein Boot und Mannschaft zur
3738 Verfügung, sagte aber sogleich, daß die Martier zu einer
3739 Untersuchung des Gletschers selbst sehr wenig geeignet seien. Sie
3740 würden jedoch für einige Apparate sorgen, die zum Transport
3741 etwaiger Lasten oder auch von Personen mit Vorteil benutzt werden
3742 könnten. Insbesondere aber schlüge er ihm vor, die beiden Eskimos,
3743 welche sich auf der Station aufhielten, Vater und Sohn,
3744 mitzunehmen. Sie leisteten den Martiern gute Dienste bei Arbeiten
3745 und Transporten im Freien, bei denen es menschlicher Muskelkraft
3746 bedürfe, und könnten ihn gewiß bei einer etwaigen Besteigung des
3747 Gletschers unterstützen.
3749 Nach einer halben Stunde war das Boot bereit. Da Saltner sich nicht
3750 auf die ihm unbekannten Apparate der Martier verlassen wollte,
3751 hatte er sich mit seinem eigenen Seil und seinem getreuen,
3752 glücklich geretteten Eispickel versehen, die ihn schon bei so
3753 mancher schwierigen Klettertour in den Gebirgen seiner Heimat
3754 begleitet hatten.
3756 Saltner war nicht wenig erstaunt, als er in dem langen, elegant
3757 gebauten Boot neun riesige Kugeln von etwa einem Meter Durchmesser
3758 erblickte, die Kopfhüllen der Martier, die ihnen direkt auf den
3759 Schultern saßen. Sie sahen dadurch wie seltsame Karikaturen aus.
3760 Der Führer des Bootes stand am Land und begrüßte Saltner, worauf er
3761 sich mühsam an Bord begab und nun ebenfalls seinen Kugelhelm
3762 aufsetzte. Die beiden Eskimos befanden sich schon im Boot und
3763 lösten das Seil, sobald der Führer eingestiegen war. Sie verstanden
3764 nicht recht seine Handbewegung, und das Boot begann von der
3765 Landestelle abzutreiben, gerade als Saltner seinen Fuß auf den Rand
3766 desselben setzte. Die Martier, welche glaubten, er müsse unfehlbar
3767 ins Wasser stürzen, winkten lebhaft mit ihren Armen, während er
3768 selbst sich mit einem leichten Schwunge vom Ufer abstieß und
3769 gewandt in das Boot sprang. Für einen geschickten Turner war dies
3770 eine Kleinigkeit, erregte aber bei den Martiern offenbare
3771 Anerkennung. Unter dem Einfluß der Erdschwere wäre diese Leistung
3772 keinem von ihnen möglich gewesen.
3774 Kaum hatte Saltner einige Schritte getan, indem er sich nach einem
3775 passenden Platz umsah, als einer der Martier seine große Kugel von
3776 der Schulter nahm und an ihrer Stelle der anmutige Kopf Las zum
3777 Vorschein kam. Sie sah ihn mit ihren großen Augen heiter an und
3778 nickte ihm freundlich zu.
3780 „Wie kommt es, daß Sie hier sind, La La?“ sagte Saltner, in seiner
3781 Überraschung deutsch sprechend. „Sie scheuen doch die Schwere
3782 draußen. Diese Fahrt ist gewiß sehr anstrengend für Sie?“
3784 „Ganz richtig“, antwortete La ebenfalls deutsch, „ich tue es nicht
3785 zum Vergnügen. Ich bin im Dienst. Wie wollen Sie verstehen diese
3786 Nume? Wie wollen Sie verstehen diese Kalalek? Ich bin als
3787 Dolmetscher hier“, fügte sie auf martisch hinzu.
3789 „Das ist wahr, an diese Schwierigkeit habe ich gar nicht gedacht.
3790 Aber wie leid tut es mir, daß Sie sich so bemühen müssen. Freilich,
3791 was könnte ich mir Besseres wünschen – doch wollen Sie nicht Ihren
3792 Helm wieder aufsetzen?“ La schüttelte den Kopf. Aber sie schlug
3793 hinter ihrem Platz eine Lehne mit weichem Polster in die Höhe und
3794 stützte dort ihr Haupt auf. So lehnte sie sich zurück und ließ ihre
3795 Augen prüfend über das Boot und die ganze Umgebung wandern.
3797 Mit großer Geschwindigkeit durchschnitt das Boot die leise bewegten
3798 Wellen der Bucht und hatte in etwa zehn Minuten die Stelle
3799 erreicht, an welcher sich mehrere Kanäle von verschiedener Breite
3800 verzweigten. Jetzt mußte langsam und vorsichtig gefahren werden,
3801 denn ein Gewirr von Felsblöcken und Eisbergen oder Schollen
3802 erstreckte sich am Stirnende des Gletschers entlang und verengte
3803 das Fahrwasser. Die Martier hatten den Platz bezeichnet, an welchem
3804 sie den Fallschirm gefunden hatten, und Saltner spähte nach einer
3805 geeigneten Stelle aus, wo man den Gletscher erklimmen könnte. Er
3806 schlug seinen Eispickel in eine Scholle und sprang auf dieselbe
3807 hinüber, kam wieder zurück und ließ das Boot weiterfahren. Es
3808 schien sich von selbst zu verstehen, daß er hier kommandierte.
3810 La ließ ihre Augen mit Wohlgefallen auf seinen entschiedenen
3811 Bewegungen ruhen. Dieser Bat, über den sie als Martierin sich so
3812 weit erhaben fühlte, war ihr bisher nur seltsam vorgekommen. Aber
3813 hier, in seinem Element als gewandter Kletterer, machte er ihr doch
3814 einen viel vorteilhafteren Eindruck. Gegenüber den unbeweglichen
3815 Kugeln, die ihre Landsleute auf den Schultern trugen, gegenüber den
3816 grauen, stumpfen Gesichtern der Eskimos mit ihren vorstehenden
3817 Backenknochen bot sein ausdrucksvoller Kopf, seine freie Haltung
3818 und kräftige Kühnheit ein Bild, das sie gern betrachtete.
3820 Der Gletscher fiel an den meisten Stellen mit einem senkrechten
3821 Abbruch von zehn bis fünfzehn Metern Höhe in die See ab. Endlich
3822 hatte Saltner eine Stelle gefunden, an welcher ihm der Aufstieg
3823 möglich schien. Gewandt schlug er Stufe auf Stufe in das ziemlich
3824 weiche Eis und kletterte, von den Augen der Martier unter Spannung
3825 verfolgt, die Eiswand hinauf. Dann warf er das Seil hinab, und die
3826 beiden Eskimos folgten ihm an demselben. Bald waren die drei für
3827 die Insassen des Bootes hinter dem Rand des Eises verschwunden.
3829 Längere Zeit war nichts von den Kletterern zu vernehmen, und La
3830 begann schon ungeduldig nach der Höhe zu blicken. Da erschien
3831 Saltner etwa hundert Meter weiter am Rand des Absturzes und winkte
3832 dem Boot, sich dorthin zu begeben. Als dies geschehen war, rief er
3833 hinunter:
3835 „Ich habe Spuren gefunden. Wird es möglich sein, einige Leute hier
3836 heraufzubringen?“
3838 La übersetzte, und der Führer des Bootes ließ antworten, daß dies
3839 sehr leicht sei, wenn es Saltner gelänge, mit seinem Seil die Rolle
3840 des Aufzuges, den die Martier mit sich führten, hinaufzuziehen und
3841 oben zu befestigen.
3843 Dies geschah nach Wunsch. Alsbald hatten die Martier einen bequemen
3844 Aufzug eingerichtet, den sie mit den Akkumulatoren ihres Bootes
3845 betrieben.
3847 Nicht weit von der Stelle, an welcher die Martier ihren Aufzug
3848 angebracht hatten, stieß eine Seitenschlucht in das Haupttal, und
3849 hier zog sich ein Streifen von Felstrümmern und Moränenschutt, von
3850 Flechten überkleidet, auf dem ganz allmählich ansteigenden
3851 Gletscher in die Höhe. Auf diesem Streifen konnte man, ohne sich
3852 der unsicheren Oberfläche des Gletschers anzuvertrauen, gut ins
3853 Innere des festen Landes gelangen. Saltner hatte nun in dieser
3854 Richtung einen Gegenstand zwischen dem Geröll bemerkt, der zwar der
3855 weiten Entfernung wegen nicht deutlich erkennbar war, aber
3856 jedenfalls untersucht werden mußte, da er von Menschen herzurühren
3857 schien, wenn es nicht gar der nur zum Teil sichtbare Körper eines
3858 Menschen war. Um jedoch das Gestein zu erreichen, mußte man
3859 zunächst eine tiefe und breite Spalte passieren; diese Spalte war
3860 an einer Stelle durch eine Schneebrücke überspannt gewesen, die
3861 offenbar erst vor kurzem zusammengebrochen war. Gegenwärtig war es
3862 unmöglich, dieselbe ohne künstliche Hilfsmittel zu überschreiten,
3863 und deshalb hatte Saltner die Martier heraufgerufen. Er sagte sich,
3864 es sei sehr wohl denkbar, daß Torm mit Hilfe des vom Fallschirm
3865 abgelösten Seiles auf den Gletscher und von dort auf den
3866 Moränenstreifen gelangt sei. Mit großer Aufregung hatte er daher
3867 jenen dunklen Gegenstand in der Ferne betrachtet.
3869 Die Martier wanden nun aus ihrem Boot genügend lange Stangen empor,
3870 um die Spalten überbrücken zu können, und Saltner verrichtete mit
3871 den Eskimos die übrige Arbeit. Alsdann wanderte er über die
3872 Felstrümmer weiter, eine Kletterpartie, die übrigens schwieriger
3873 war und langsamer vor sich ging, als er ursprünglich erwartet
3874 hatte.
3876 La hatte sich ebenfalls emporziehen lassen. Auf ausgebreiteten
3877 Fellen ruhend sah sie den Arbeiten der Menschen zu. Sie hatte noch
3878 niemals einen Gletscher in der Nähe gesehen, geschweige denn
3879 betreten. Auf dem Mars gab es solche Gebilde nicht; die Atmosphäre
3880 war viel zu trocken, um dieselben zu unterhalten. Mit Bewunderung
3881 blickte sie in das Gewirr von Spalten, Trümmern und Zacken, die mit
3882 ihren grünlichen Schatten sich von den rötlich im Sonnenschein
3883 schimmernden Schneeflächen abhoben. Gar zu gern hätte sie einen
3884 Blick in die unergründliche Eisschlucht hineingetan, welche die
3885 Menschen überbrückten, aber sie scheute sich, den mühsamen Gang zu
3886 zeigen, mit dem sie sich hätte hinschleppen müssen.
3888 Jetzt waren die Menschen fortgegangen; sie konnten die seltsame
3889 Figur nicht mehr beobachten, die sich langsam von den Fellen erhob,
3890 ihren Kugelhelm aufsetzte und auf zwei Stöcke gestützt der Spalte
3891 zuschlich. Der Weg war gar nicht so anstrengend, wie La glaubte;
3892 sie hatte sich doch schon einigermaßen geübt, ihre Glieder unter
3893 dem Einfluß der Erdschwere zu bewegen. So gelangte sie an den
3894 angebrachten Steg und ließ sich am Rand der Gletscherspalte
3895 nieder.
3897 An die eine der hinübergelegten Stangen sich haltend, beugte sie
3898 vorsichtig den Kopf über den Abgrund. Dunkelgrün dämmerte die
3899 Tiefe, aus der das Rauschen des Schmelzwassers dumpf herauftönte.
3900 Genau unter ihr streckte sich ein zackiger Grat ihr entgegen, der
3901 die Schlucht der Länge nach durchzog. Ein großer Felsblock war
3902 hinabgestürzt und auf dem Grat festgehalten worden. Er bildete eine
3903 Art Brücke da unten in der Tiefe. Daneben zeigte ein frischer Spalt
3904 seine kristallklaren Eiswände. La konnte sich an dem ungewohnten
3905 Schauspiel nicht sattsehen. Schwindel kannte sie nicht. Sie war
3906 gewohnt, den Weltraum in seiner Unendlichkeit unter ihren Füßen zu
3907 erblicken, wenn das Raumschiff die Leere des Sternenhimmels
3908 durcheilte. Aber sie kannte auch nicht die Gefahren dieses mürben,
3909 abbröckelnden Elements, auf dessen überhängender Kante sie ruhte.
3910 Um besser hinabzublicken, zog sie sich an der Stange weiter und
3911 stemmte ihre Füße gegen einen Vorsprung des Randes. Der Vorsprung
3912 brach. Zerstiebend stürzte er in die Tiefe. Ihr Fuß verlor die
3913 Stütze. Sie wollte sich wieder hinaufschwingen, aber die Last war
3914 zu schwer für ihre Kräfte. Der unförmliche Helm hinderte sie, ihren
3915 Oberkörper frei an dem Steg zu bewegen, an welchen sie sich
3916 geklammert hielt. Sie rief um Hilfe, doch die Stimme drang nur
3917 schwach unter dem Helm hervor. Eine erneute Anstrengung brachte
3918 ihren Körper höher, aber nun glitt die Stange aus ihrer Lage, ihre
3919 Hände verloren den Halt – – La stürzte in den Abgrund.
3921 Ihr Angstschrei verhallte zwischen den Eiswänden der Spalte. Aber
3922 der Helm, der ihren Absturz verschuldete, wurde vorläufig zu ihrem
3923 Retter. Sie fiel auf die Stelle, welche der auf dem Grat ruhende
3924 Felsblock verengte, und der elastische Helm hemmte den Sturz. Er
3925 war zertrümmert, aber sie selbst fühlte sich unverletzt, sie hatte
3926 das Bewußtsein nicht verloren. Mit den Armen sich festklammernd,
3927 lag sie auf dem Felsen, unter sich die finstere Tiefe, über sich
3928 den schmalen Lichtstreifen des Himmels, unfähig, sich zu bewegen.
3929 Sie vermochte nichts zu ihrer Rettung zu tun, Minute auf Minute
3930 verrann. Wann würde man sie bemerken? Konnte sie gerettet werden?
3931 Sie war vollkommen ruhig. Das Bild der fernen Heimat stieg vor ihr
3932 auf. „Noch einmal möcht ich ihn sehen, meinen schönen Nu“, so klang
3933 es in ihr, „aber wenn es nicht sein soll, so füg ich mich Deinem
3934 Willen im Weltenplan.“
3936 Da vernahm sie Rufe über sich. Ein Kugelhelm wurde sichtbar. Die
3937 Martier hatten ihr Verschwinden bemerkt, sie ward gesehen. Man rief
3938 ihr zu, sie möge Mut fassen, man werde den Aufzug herbeischaffen.
3939 Sie wußte, daß darüber lange Zeit vergehen müsse; die Martier
3940 konnten nur langsam arbeiten. Und sie fühlte, wie die Kälte der
3941 Schlucht ihre Glieder erstarren ließ.
3943 Plötzlich hörte sie oben erneute Rufe und schnelle Schritte.
3944 Eilende Gestalten schwangen sich über den Steg. La wußte, wer es
3945 war. Saltner war mit den beiden Eskimos zurückgekehrt. Kaum hatte
3946 er erkannt, was geschehen war, als er sich auch sofort anseilte und
3947 von seinen beiden Begleitern in den Spalt hinabsenken ließ. La sah,
3948 wie seine Gestalt näher und näher kam. Mit der einen Hand hielt er
3949 sich von der Wand der Spalte ab. Und nun kniete er neben ihr auf
3950 dem Felsblock. Er löste den Rest ihres Helmes geschickt von ihren
3951 Schultern; dumpf donnerte er in den Abgrund. Dann hob er sie empor
3952 und sagte besorgte Worte, die sie nur halb verstand. Jetzt erst
3953 erfaßte sie der Schwindel, und das Bewußtsein drohte sie zu
3954 verlassen. Aber sie fühlte, daß Saltner sie fest umschlang, und in
3955 diesem Augenblick wußte sie sich geborgen. Jetzt rief er mit lauter
3956 Stimme in seiner Muttersprache nach oben: „Ein zweites Seil!“
3958 La lächelte, ihn dankbar ansehend, und sagte leise: „Kalalek nicht
3959 verstehen.“
3961 „Doch, doch!“ erwiderte Saltner. Und wirklich, der jüngere der
3962 beiden Eskimos rief die deutschen Worte hinab:
3964 „Nicht hier. Warten. Nume kommen.“
3966 La blickte ihn fragend an. Aber er antwortete nicht, er sah, daß
3967 sie fror.
3969 „Werft die Decke herab!“ rief er.
3971 Man schien ihn jetzt nicht zu verstehen. „Was heißt auf
3972 grönländisch Decke?“ fragte er.
3974 „Kepik.“
3976 „Kepik!“ rief er hinauf.
3978 Eine wollene Decke wurde hinabgeworfen. Saltner schlug den Pickel
3979 fest in die Wand und beugte sich weit vor, um sie aufzufangen. Es
3980 gelang. Er hüllte La hinein. Er zog seine Feldflasche heraus, die
3981 er vorsorglich aus den geretteten Reisevorräten mit Kognak gefüllt
3982 hatte. La wußte zwar damit nicht Bescheid, aber er flößte ihr etwas
3983 von dem feurigen Getränk ein, das ihr sehr wohltat.
3985 Er berichtete kurz. Sein Ausflug war ohne entscheidenden Erfolg
3986 geblieben. Der fragliche Gegenstand war eine der im Ballon
3987 befindlichen Decken gewesen, dieselbe, die La jetzt einhüllte. Aber
3988 ob sie von Torm mitgenommen und dort zurückgelassen war oder ob sie
3989 aus dem Ballon bei seinem Flug verloren und vom Wind hingetrieben
3990 worden war, ließ sich nicht feststellen; das letztere war sogar das
3991 wahrscheinlichere. Dabei hatte sich überraschenderweise
3992 herausgestellt, daß der Sohn des Eskimos einige Worte deutsch
3993 verstand. Er war ein Jahr in Diensten deutscher Missionare auf
3994 Grönland gewesen und hatte einzelne Worte aufgefaßt, als Saltner
3995 mit La deutsch sprach. Nur hatte er in Gegenwart der Martier nicht
3996 gewagt, dies zu erkennen zu geben.
3998 Endlich erschienen die Martier wieder am Rand der Spalte. Ein
3999 zweites Seil wurde herabgelassen. Saltner machte einen erträglichen
4000 Sitz zurecht, und indem er La stützte und mit dem Eispickel beide
4001 von der Wand fernhielt, wurden sie glücklich an die Oberfläche
4002 befördert.
4004 „Ich weiß, was ich Ihnen verdanke“, sagte La.
4006 Eine tiefe Erschöpfung ergriff sie, und sie mußte bis an das Boot
4007 getragen werden.
4009 Man trat sofort die Heimfahrt an.
4011 \section{11 - Martier und Menschen}
4013 Der September hatte begonnen. Noch immer beschrieb die Sonne ohne
4014 unterzugehen den vollen Kreis des Himmels, aber sie stand nur noch
4015 wenige Grad über dem Horizont. Schon streifte sie nahe an die
4016 höchsten Gipfel der Berge, welche an einzelnen Stellen die
4017 Steilufer des Polarbassins überragten. Der lange Polartag neigte
4018 sich seinem Ende zu. Wie in einem ewigen Untergang wanderte der
4019 riesige Glutball der Sonne rings um die Insel, meist drang sie nur
4020 strahlenlos wie eine rote Scheibe durch die Nebel, und ein breites,
4021 rosig glühendes Band zog sich durch die leise wogenden Fluten ihr
4022 entgegen und folgte ihrem Lauf als ein natürlicher Stundenzeiger um
4023 den Pol.
4025 Die beiden deutschen Nordpolfahrer verbrachten ihre Tage wie in
4026 einem köstlichen Märchen. Hätte nicht der Gedanke an den verlorenen
4027 Gefährten auf ihre Stimmung niederdrückend gewirkt und den Genuß
4028 der Gegenwart gedämpft, nichts Freudigeres und Erhebenderes wäre
4029 denkbar gewesen als der beglückende Verkehr mit den Bewohnern der
4030 Polinsel, die, wie sie jetzt erfuhren, den Namen Ara führte, zu
4031 Ehren des ersten Weltraumschiffers Ar.
4033 Die Martier behandelten die beiden Erdbewohner als ihre Gäste,
4034 denen jede Freiheit gestattet war. Gegenüber den kleinen,
4035 unansehnlichen, schmutzigen und tranduftenden Eskimos erschienen
4036 ihnen die stattlichen Figuren der Europäer in ihrer reinlichen
4037 Tracht schon äußerlich als Wesen verwandter Art. Nicht wenig trug
4038 dazu die körperliche Überlegenheit bei, welche die Martier, sobald
4039 sie sich nicht im Schutz des abarischen Feldes befanden, an den
4040 Menschen anerkennen mußten. Aufrecht und leicht schritten diese
4041 einher und verrichteten spielend Arbeiten, denen die unter dem
4042 Druck der Erdschwere gebeugt einherschleichenden Martier nicht
4043 gewachsen waren. Denn auch Grunthe war nach wenigen Tagen wieder in
4044 seiner Gesundheit völlig hergestellt und spürte keinerlei üble
4045 Folgen seiner Fußverletzung. Saltner aber hatte sich durch die
4046 entschlossene und geschickte Rettung Las die Achtung der Martier
4047 erworben.
4049 Überraschend schnell hatte sich das gegenseitige Verständnis durch
4050 die Sprache angebahnt. Dies war natürlich hauptsächlich durch die
4051 glückliche Auffindung der kleinen deutsch--martischen
4052 Sprachanweisung gelungen. Es zeigte sich, daß diese von ihrem
4053 Verfasser Ell ganz speziell für diejenigen Bedürfnisse
4054 ausgearbeitet war, die sich bei einem ersten Zusammentreffen der
4055 Menschen mit den Martiern für beide Teile herausstellen würden.
4056 Denn es waren darin weniger die alltäglichen Gebrauchsgegenstände
4057 und Beobachtungen berücksichtigt, über welche man sich ja leicht
4058 durch die Anschauung direkt verständigen kann, wie Speise und
4059 Trank, Wohnung, Kleidung, Gerätschaften, die sichtbaren
4060 Naturerscheinungen und so weiter; vielmehr fanden sich gerade die
4061 Ausdrücke für abstraktere Begriffe, für kulturgeschichtliche und
4062 technische Dinge darin verzeichnet, so daß es Grunthe und Saltner
4063 möglich wurde, sich über diese Gedankenkreise mit den Martiern zu
4064 besprechen. Ell hatte offenbar vorausgesehen, daß, wenn
4065 wissenschaftlich gebildete Europäer mit den in der Kultur ihnen
4066 überlegenen Martiern zusammenkämen, das Hauptinteresse darin
4067 bestehen müßte, sich gegenseitig über die allgemeinen Bedingungen
4068 ihres Lebens zu unterrichten.
4070 Es erregte übrigens bei den Martiern keine geringere Verwunderung
4071 wie bei den beiden Forschern, daß auf Erden ein Mensch existiere,
4072 der sowohl die Sprache und Schrift der Martier beherrschte als auch
4073 eine ziemlich zutreffende Kenntnis der Verhältnisse auf dem Mars
4074 besaß. Aus gewissen Einzelheiten schlossen sie allerdings, daß
4075 diese Kenntnis sich nur auf weiter zurückliegende Ereignisse bezog,
4076 daß insbesondere die Tatsache der Marskolonie am Pol der Erde dem
4077 Verfasser des Sprachführers nicht bekannt war, wohl aber das
4078 Projekt der Martier, die Erde an einem ihrer Pole zu erreichen. Der
4079 Name Ell war in einigen Landschaften des Mars nicht selten. Die
4080 gegenwärtigen Polbewohner erinnerten sich der Berichte, daß bei den
4081 ersten Entdeckungsfahrten nach der Erde mehrfach Fahrzeuge
4082 verschollen waren, ohne daß man jemals etwas über das Schicksal der
4083 kühnen Pioniere des Weltraums hatte erfahren können. Von einem
4084 berühmten Raumfahrer, dem Kapitän All, wußte man sogar gewiß, daß
4085 er mit mehreren Gefährten infolge eines unglücklichen Zufalls auf
4086 der Erde zurückgelassen worden war, allerdings unter Umständen,
4087 welche allgemein an seinen baldigen Untergang glauben ließen.
4088 Immerhin war es wohl denkbar, daß einer oder der andere dieser
4089 Martier zu Menschen sich gerettet und die Kunde vom Mars dahin
4090 gebracht hätte. Diese Ereignisse aber lagen dreißig bis vierzig
4091 Erdenjahre zurück, und jene Männer selbst waren alle in
4092 vorgeschrittenerem Alter gewesen, da eine Beteiligung jüngerer
4093 Leute an jenen ersten, unsicheren Fahrten nicht bekannt war. Ell
4094 selbst, der etwa mit Grunthe gleichaltrig oder nur ein wenig älter
4095 war, konnte also nicht zu ihnen gehören. Und Grunthe wie Saltner
4096 konnten versichern, daß von einem Auftauchen eines Marsbewohners,
4097 ja überhaupt von der Existenz solcher Wesen, auf der Erde nichts
4098 bekannt sei. Ell war der einzige, der ein solches Wissen besaß,
4099 dies aber bis auf jene beiläufigen Redensarten, die Grunthe nicht
4100 ernsthaft genommen, durchaus verborgen gehalten hatte. Wie er
4101 selbst dazu gekommen war, blieb ebenso unaufgeklärt wie die
4102 Umstände, durch welche jene Sprachanweisung in das Flaschenfutteral
4103 gelangt sein konnte, das Frau Isma Torm der Expedition als eine
4104 scherzhafte Überraschung am Nordpol mitgegeben hatte.
4106 Den Bemühungen der Deutschen, sich die Sprache der Marsbewohner
4107 anzueignen, kamen diese bereitwillig entgegen, so daß Saltner und
4108 insbesondere Grunthe sehr bald ein Gespräch auf martisch führen
4109 konnten; gleichzeitig fand es sich, daß auch die Martier, welche
4110 den täglichen Umgang der beiden bildeten, das Deutsche
4111 beherrschten. Ersteres wurde dadurch möglich, daß die
4112 Verkehrssprache der Martier außerordentlich leicht zu erlernen und
4113 glücklicherweise für eine deutsche Zunge auch leicht auszusprechen
4114 war. Sie war ursprünglich die Sprache derjenigen Marsbewohner
4115 gewesen, die auf der Südhalbkugel des Planeten in der Gegend jener
4116 Niederungen wohnten, welche von den Astronomen der Erde als
4117 Lockyer-Land bezeichnet werden. Von hier war die Vereinigung der
4118 verschiedenen Stämme und Rassen der Martier zu einem großen
4119 Staatenbund ausgegangen, und die Sprache jener Zivilisatoren des
4120 Mars war die allgemeine Weltverkehrssprache geworden. Durch einen
4121 Hunderttausende von Jahren dauernden Gebrauch hatte sie sich so
4122 abgeschliffen und vereinfacht, daß sie der denkbar glücklichste und
4123 geeignetste Ausdruck der Gedanken geworden war; alles Entbehrliche,
4124 alles, was Schwierigkeiten verursachte, war abgeworfen worden.
4125 Deswegen konnte man sie sich sehr schnell soweit aneignen, daß man
4126 sich gegenseitig zu verstehen vermochte, wenn es auch
4127 außerordentlich schwierig war, in die Feinheiten einzudringen, die
4128 mit der ästhetischen Anwendung der Sprache verbunden waren.
4130 Übrigens war dies nur die Sprache, die jeder Martier beherrschte.
4131 Neben derselben aber gab es zahllose, sehr verschiedene und in
4132 steter Umwandlung begriffene Dialekte, die bloß in verhältnismäßig
4133 kleinen Gebieten gesprochen wurden, endlich sogar Idiome, die
4134 allein im Kreis einzelner Familiengruppen verstanden wurden. Denn
4135 es zeigte sich als eine Eigentümlichkeit der Kultur der Martier,
4136 daß der allgemeinen Gleichheit und Nivellierung in allem, was ihre
4137 soziale Zusammengehörigkeit als Bewohner desselben Planeten
4138 anbetraf, eine ebenso große Mannigfaltigkeit und Freiheit des
4139 individuellen Lebens entsprach. Wenn so die schnelle Erfaßbarkeit
4140 des Martischen den Deutschen zugute kam, so brachte die
4141 erstaunliche Begabung der Martier andererseits zuwege, daß sie sich
4142 wie spielend das Deutsche aneigneten. Gegenüber dem verwirrenden
4143 Formenreichtum des Grönländischen erschien ihnen das Deutsche
4144 wesentlich leichter. Was aber die schnellere Erlernung desselben
4145 hauptsächlich bewirkte, war der Umstand, daß das Deutsche als
4146 Sprache eines hochentwickelten Kulturvolkes dem geistigen Niveau
4147 der Martier soviel näherstand. Was der Grönländer in seiner Sprache
4148 auszudrücken wußte, die konkrete Art, wie er es nur ausdrücken
4149 konnte, der enge Interessenkreis, auf den sich das Leben des Eskimo
4150 beschränkte, das alles war dem Martier sehr gleichgültig, und er
4151 beschäftigte sich damit nur, weil er bisher kein anderes Mittel
4152 besaß, mit Bewohnern der Erde in Verkehr zu treten. Ganz anders
4153 aber wurde das Interesse der Martier erregt, als sie mit Grunthe
4154 und Saltner Gesprächsthemata berühren konnten, die ihrem eigenen
4155 gewohnten Gedankenkreis näherlagen. Im Deutschen fanden sie eine
4156 Sprache, reich an Ausdrücken für abstrakte Begriffe, und dadurch
4157 verwandt und angemessen ihrer eigenen Art zu denken. Die
4158 Überlegenheit, mit welcher die Martier die kompliziertesten
4159 Gedankengänge behandelten und in einem allgemeinen Begriff jede
4160 einzelne seiner Anwendungen mit einemmal überblickten, diese
4161 bewundernswerte Feinheit der Organisation des Martiergehirns kam
4162 den Deutschen zum erstenmal zum vollen Bewußtsein, als sie die
4163 Gewandtheit bemerkten, mit welcher die Martier das Deutsche nicht
4164 nur erfaßten und gebrauchten, sondern gewissermaßen aus dem einmal
4165 begriffenen Grundcharakter die Sprache mit genialer Kraft
4166 nachschufen.
4168 Grunthe und Saltner wurde es sehr bald klar, daß die Martier
4169 geistig in ganz unvergleichlicher Weise höher standen als das
4170 zivilisierteste Volk der Erde, wenn sie auch noch nicht zu
4171 übersehen vermochten, wie weit diese höhere Kultur reiche und was
4172 sie bedeute. Ein Gefühl der Demütigung, das ja nur zu natürlich
4173 war, wenn der Stolz des deutschen Gelehrten einer höheren
4174 Intelligenz sich beugen mußte, wollte im Anfang die Gemüter
4175 verstockt machen. Aber es konnte nicht lange vor der übermächtigen
4176 Natur der Martier bestehen. Es wich widerstandslos der ungeteilten
4177 Bewunderung dieser höheren Wesen. Neid oder Ehrgeiz, es ihnen
4178 gleichzutun, konnten bei den Menschen gar nicht aufkommen, weil sie
4179 sich nicht einfallen lassen durften, sich mit den Martiern auf
4180 dieselbe Stufe der Einsicht stellen zu wollen.
4182 Freilich wurden sie von den Martiern wie Kinder behandelt, denen
4183 man ihre Torheit liebevoll nachsieht, während man sie zu besserem
4184 Verständnis erzieht. Aber davon merkten Grunthe und Saltner nichts.
4185 Denn die Martier, wenigstens diejenigen der Insel, waren viel zu
4186 klug und taktvoll, als daß sie je ihre Überlegenheit in direkter
4187 Weise geltend gemacht hätten. Sie wußten es so einzurichten, daß
4188 den Menschen die Berichtigung ihrer Irrtümer als Resultat der
4189 eigenen Arbeit erschien, und ihre unvermeidlichen Mißgriffe
4190 korrigierten sie mit entschuldigender Liebenswürdigkeit.
4192 Die Wunder der Technik, welche die Forscher bei jedem Schritt auf
4193 der Insel umgaben, versetzten sie in eine neue Welt. Sie fühlten
4194 sich in der beneidenswerten Lage von Menschen, die ein mächtiger
4195 Zauberer der Gegenwart entrückt und in eine ferne Zukunft geführt
4196 hat, in welcher die Menschheit eine höhere Kulturstufe erklommen
4197 hat. Die kühnsten Träume, die ihre Phantasie von der Wissenschaft
4198 und Technik der Zukunft ihnen je vorgespiegelt hatte, sahen sie
4199 übertroffen. Von den tausend kleinen automatischen Bequemlichkeiten
4200 des täglichen Lebens, die den Martiern jede persönliche
4201 Dienerschaft ersetzten, bis zu den Riesenmaschinen, die, von der
4202 Sonnenenergie getrieben, den Marsbahnhof in sechstausend Kilometer
4203 Höhe schwebend erhielten, gab es eine unerschöpfliche Fülle neuer
4204 Tatsachen, die zu immer neuen Fragen drängten. Bereitwillig gaben
4205 die Wirte ihren Gästen Auskunft, aber in den meisten Fällen war es
4206 gar nicht möglich, ihnen den Zusammenhang zu erklären, weil ihnen
4207 die Vorkenntnisse fehlten. Grunthe war in dieser Hinsicht so
4208 vorsichtig, nicht viel zu fragen; er suchte sich auf seine eigne
4209 Weise zurechtzufinden, sobald er sah, daß die Erklärung der Martier
4210 über seinen Horizont ging. Saltner machte sich weniger Skrupel
4211 darüber. „Das hilft nun nichts“, pflegte er zu sagen, „wir spielen
4212 einmal hier die wilden Indianer, und was wir nicht begreifen, ist
4213 Medizin.“
4215 Als ihnen Hil zum erstenmal die Einrichtung erklärt hatte, wodurch
4216 sich die Martier in ihren Zimmern den Druck der Erdschwere
4217 erleichterten, und Grunthe mit zusammengekniffenen Lippen in tiefes
4218 Nachdenken verfiel, sagte Saltner einfach: „Medizin“ und hob
4219 Grunthe samt dem Stuhl, auf welchem er saß, mit ausgestreckten
4220 Armen über seinen Kopf. Diese Kraftleistung war zwar für ihn bei
4221 der auf ein Drittel verringerten Erdschwere durchaus nichts
4222 Besonderes, ließ ihn aber doch den Martiern als einen Riesen an
4223 Stärke erscheinen.
4225 Das Zimmer, welches an die beiden Schlafzimmer von Grunthe und
4226 Saltner stieß, war für den bequemen Verkehr der Martier mit den
4227 Menschen in eigentümlicher Weise eingerichtet worden. Da nämlich
4228 die Verringerung der Erdschwere, deren die Martier für die
4229 Leichtigkeit ihrer Bewegungen bedurften, von Grunthe und Saltner
4230 nicht gut vertragen wurde, so hatte man es durch eine am Boden
4231 markierte Linie – Saltner nannte sie den ›Strich‹ – in zwei Teile
4232 zerlegt. Der abarische Apparat konnte für die Hälfte des Zimmers,
4233 welche an die Wohnräume der Menschen grenzte, ausgeschaltet werden,
4234 während in dem übrigen Teil die Gegenschwere auf das den Martiern
4235 gewohnte Maß eingestellt wurde. Hier hielten sich die Martier auf,
4236 wenn sie bei den Deutschen ihre Besuche machten, während diese sich
4237 nach ihren Wünschen eingerichtet hatten, soweit es mit den von den
4238 Martiern bereitwillig hergegebenen Möbeln und den wenigen von ihnen
4239 selbst mitgebrachten Gegenständen geschehen konnte. Freilich
4240 beschränkte sich diese Einrichtung nur auf die Aufstellung eines
4241 Arbeitstisches, einiger Bücher, Schreibmaterialien und Instrumente;
4242 denn in dieser Hinsicht wußten die Forscher nur in der ihnen
4243 gewohnten Weise auszukommen. Was im übrigen die Bequemlichkeiten
4244 des täglichen Lebens anbetraf, so waren sie nicht nur auf die
4245 Apparate und Gewohnheiten der Martier angewiesen, sondern fanden
4246 dieselben auch bald um so viel vorteilhafter und angenehmer, daß
4247 sie gern darüber nachdachten, wie sie dergleichen in ihre Heimat
4248 verpflanzen könnten.
4250 Saltner, der seinen photographischen Apparat unter den geretteten
4251 Gegenständen wiedergefunden hatte, konnte kaum Zeit genug gewinnen,
4252 alle die Ausstattungsstücke der Martier aufzunehmen und die
4253 gänzlich neuen Formen der Verzierungen, die Gemälde, Kunstwerke und
4254 Zimmerpflanzen abzubilden. Ein besonderes Studium machte er aus den
4255 Automaten, deren Mechanismus er zu ergründen suchte und sich immer
4256 wieder aufs neue erklären ließ.
4258 Seine Beraterin in diesen Dingen war in der Regel die immer heitere
4259 Se, seine liebenswürdige Pflegerin beim ersten Erwachen. Sie hielt
4260 sich täglich einen großen Teil ihrer Zeit über in dem
4261 gemeinschaftlichen Gesellschaftszimmer auf und machte den Gästen
4262 gewissermaßen die Honneurs des Hauses. Dagegen bekam Saltner La nur
4263 selten zu sehen, gewöhnlich nur des Abends, wenn sich die Martier
4264 in größerer Anzahl einzustellen pflegten. Und dann hielt sie sich
4265 gern zurück, obwohl er oft fühlte, daß ihre großen Augen mit einem
4266 sinnenden Ausdruck auf ihm ruhten. Sein lebhaftes Gespräch mit Se
4267 aber unterbrach sie häufig durch eine Neckerei. Da man sich meist
4268 bei geöffneten Fernhörklappen unterhielt, so konnte man, sobald man
4269 wollte, einem Gespräch in einem andern Zimmer zuhören und sich
4270 hineinmischen; so war es nichts Ungewöhnliches, daß man von einem
4271 Zwischenruf eines ungeahnten Zuhörers unterbrochen wurde.
4272 Ebensowenig aber nahm es jemand übel, wenn man einfach seine Klappe
4273 abschloß.
4275 Die Sprachstudien waren speziell zwischen La und Saltner nicht
4276 wieder aufgenommen worden. Denn La hatte noch mehrere Tage nach
4277 ihrem Unfall sich vollkommener Ruhe hingeben müssen, und als sie
4278 wieder gesundet war, fand sie das gegenseitige Verständnis zwischen
4279 Menschen und Martiern schon ziemlich weit vorgeschritten. Aber auch
4280 sie hatte ihre unfreiwillige Muße benutzt und nicht nur den
4281 Ellschen Sprachführer, sondern auch die wenigen Nachschlagwerke,
4282 welche die Luftschiffer mit sich hatten, durchstudiert.
4284 Trotz des Eindrucks, den die reizende Se auf Saltners empfängliches
4285 Gemüt machte, flogen seine Gedanken immer zu der stilleren, milden
4286 La zurück, und es war ihm stets wie eine leichte Enttäuschung, wenn
4287 er sie im Zimmer nicht vorfand. Gerade daß er öfter ihre tiefe
4288 Stimme vernahm, ließ ihn ihren Anblick um so mehr vermissen.
4290 Las Zurückhaltung war nicht absichtslos. Daß sowohl sie wie Se eine
4291 unentrinnbare Gefahr für Saltners Herz waren, lag ja für beide auf
4292 der Hand, nachdem sie sich überhaupt erst an den Gedanken gewöhnt
4293 hatten, daß ein Mensch sich verlieben könne. Was aber Se höchst
4294 komisch vorkam und als äußerst spaßhaft erschien, das vermochte La
4295 so harmlos nicht anzusehen. Der ›arme Mensch‹, mit dem Se sich so
4296 lustig unterhielt, war ihr doch in einem andern Licht erschienen,
4297 damals, als er, in seinem eignen Element tätig, Leistungen
4298 verrichtete, die über das Vermögen der Nume hinausgingen.
4300 Sie konnte den Moment nicht vergessen, in welchem sie sich in
4301 seinen starken Armen vom vernichtenden Abgrund zurückgerissen
4302 fühlte. Und so blieb es ihr immer gegenwärtig, daß dieses Spielzeug
4303 der erhabenen Nume, wenn auch nur ein Mensch, doch ein freies
4304 Lebewesen sei, kein ebenbürtiger Geist, aber vielleicht ein
4305 ebenbürtiges Herz. Ein doppeltes Mitleid stritt mit sich selbst in
4306 ihrer Seele, sie vermochte ihn nicht zu kränken durch Kälte und
4307 Zurückweisung, und sie wollte nicht Gefühle erwecken, die ihm doch
4308 nur zu größerem Leid werden konnten. Wer kann wissen, wie
4309 Menschenherzen fühlen mögen? Vielleicht waren die Menschen viel
4310 stärker in ihren Gefühlen als in ihrem Verstand. Und sie war
4311 Saltner zu dankbar, um nicht für ihn zu denken, was er wohl nicht
4312 verstand. – Aber was tun?
4314 Wäre Saltner ein Martier gewesen, so hätte es keiner Vorsicht für
4315 La bedurft. Er hätte dann gewußt, daß ihre Freundlichkeit und
4316 selbst ihre Zärtlichkeit nichts bedeuteten als das ästhetische
4317 Spiel bewegter Gemüter, das die Freiheit der Person nicht
4318 beschränken kann. Wie jedoch mochten Menschen in diesem Fall
4319 denken? Durfte sie hierin ohne weiteres gleiche Sitten
4320 voraussetzen? Und würde er wohl verstehen, was von vornherein und
4321 immer den Menschen, den wilden Erdbewohner, von der heiteren
4322 Freiheit des erhabenen Numen trennte? Und lief er nicht Gefahr, bei
4323 Se demselben Schicksal zu verfallen, vor dem sie ihn selbst zu
4324 behüten suchte?
4326 Wenn sie Se ihre Bedenken andeutete, so lachte diese nur.
4328 „Aber La“, sagte sie, „du bist auch gar zu bedächtig! Ich bitte
4329 dich, er ist ja bloß ein Mensch! Es ist doch furchtbar komisch,
4330 wenn der sich Mühe gibt, so recht liebenswürdig zu sein.“
4332 „Du kannst aber nicht wissen“, antwortete La, „ob ihm auch so
4333 furchtbar komisch zumute ist. Ein Tier, das wir necken, scheint uns
4334 oft äußerst lächerlich, und ich muß dann doch immer denken, daß es
4335 vielleicht bitter dabei leidet. Und ein Mensch ist doch nicht bloß
4336 komisch –“
4338 „Ich habe freilich noch keinen in einer Eisgrube gesehen“, sagte
4339 Se, „doch ich glaube, du brauchst dir um den keine Sorge zu machen.
4340 Wenn es dich aber beruhigt, so kann man ihn ja leicht merken
4341 lassen, wie’s gemeint ist –“
4343 „Ich will ihn aber nicht kränken.“
4345 „Im Gegenteil, wir machen gemeinsame Sache. Wir binden ihn beide.“
4347 „Meinst du, daß ein Mensch das Spiel versteht?“
4349 „Na, wenn er so dumm ist –“
4351 „Wir wissen doch gar nichts von den Anschauungen –“
4353 „So werden wir uns eben alle drei belehren. Schade, daß der steife
4354 Grunthe nicht mitspielen kann. Willst du?“
4356 „Ich werde mir’s überlegen.“
4358 La zog sich zu ihren Studien zurück. Se begab sich in das
4359 Gesellschaftszimmer, wo sie Saltner wieder mit Zeichnen beschäftigt
4360 fand.
4362 „Wenn ich mit meinen Mustern glücklich nach Deutschland
4363 zurückkomme“, rief er vergnügt, „so bin ich ein gemachter Mann.
4364 ›Martisch‹ muß Mode werden. Ich gründe einen Bazar für Marswaren.
4365 Schade nur, daß wir die Rohstoffe nicht haben werden. Was ist das
4366 zum Beispiel für ein wunderbares Gewebe, aus dem Ihr Schleier
4367 besteht? Die Stickerei darin bildet lauter funkelnde Sterne, die
4368 sich nirgends untereinander berühren; nirgends ist ein Grund
4369 sichtbar, der sie zusammenhält. Es scheint, als schwebe eine Wolke
4370 von Funken um Sie her.“
4372 „Das tut sie auch“, sagte Se lachend, „aber sie brennt nicht,
4373 fühlen Sie getrost! Kommen Sie gefälligst hierher, denn über den
4374 Strich gehe ich nicht.“
4376 Se hatte sich, mit einer chemischen Handarbeit beschäftigt, auf
4377 einem der niedrigen Diwane, wie die Martier sie lieben,
4378 niedergelassen, während Saltner an seinem eigenhändig
4379 hergerichteten Pult sich befand. Er legte den Zeichenstift fort und
4380 trat an Se heran, die sich mit ihrem Diwan bis dicht an die
4381 Schwerkraftgrenze gerückt hatte.
4383 „Geben Sie Ihre Hände her“, sagte Se.
4385 Sie nahm ein Ende des langen Schleiers und band damit Saltners
4386 Hände zusammen. Man konnte keinerlei Stoff erkennen. Es sah auch
4387 jetzt aus, als wenn ein Strom vom lichten Funken um seine Hände
4388 stöbe.
4390 „Fühlen Sie etwas?“ fragte Se.
4392 „Jetzt, nachdem Sie Ihre Finger fortgenommen haben, nichts. Kann
4393 man denn den Stoff überhaupt nicht fühlen?“
4395 „Wenigstens nicht mit der groben Haut von euch Menschen.“
4397 Saltner führte die zusammengebundenen Hände mit dem Schleier an
4398 seine Lippen.
4400 „Doch“, sagte er, „mit den Lippen fühle ich, daß etwas zwischen
4401 meiner Hand und meinem Mund ist.“
4403 „Nun strengen Sie einmal Ihre Riesenkräfte an, und reißen Sie die
4404 Hände voneinander.“
4406 „Oh, das wäre schade um den Funkenschleier.“
4408 „Versuchen Sie es nur.“
4410 Saltner zerrte seine Hände auseinander, aber je heftiger er zog, um
4411 so enger schloß sich der Knoten, und er merkte jetzt, wie sich die
4412 kleinen Sternchen in seine Haut eingruben.
4414 „Ja“, sagte Se, „der Stoff ist unzerreißbar, wenigstens kann er
4415 kolossale Lasten halten. Diese unsichtbar feinen Fäden, von denen
4416 jeder wohl einen Zentner tragen kann, sind für viele unserer
4417 Apparate ein unentbehrlicher Bestandteil. Jetzt sind Sie also
4418 gefesselt und können ohne meine Erlaubnis nicht mehr fort.“
4420 „Um die bitte ich auch gar nicht, ich finde es reizend hier“, sagte
4421 Saltner und beugte sich über die Lehne des Diwans, auf welche er
4422 die gebundenen Hände stützte.
4424 Se faßte seinen Kopf zwischen ihre Hände und bog ihn zu sich
4425 nieder, während sie ihm in die Augen sah, als wollte sie seine
4426 Gedanken ergründen.
4428 „Seid ihr eigentlich dumm, ihr Menschen?“ fragte sie plötzlich.
4430 „Nicht so ganz“, sagte Saltner, indem er sich noch tiefer
4431 herabbeugte.
4433 „Der Strich!“ rief Se lachend und schob seinen Kopf leicht zurück.
4434 „Geben Sie die Hände her.“
4436 Sie löste im Augenblick den Knoten und ergriff wieder die gläsernen
4437 Stäbchen, mit denen sie in einem Gefäß auf besondere Weise
4438 hantierte.
4440 „Sie haben mir noch immer nicht gesagt“, sprach Saltner, nach
4441 seinem Pult zurückgehend, „was für ein Stoff das ist, auf dem die
4442 Stickerei sitzt.“
4444 „Eine Stickerei ist es überhaupt nicht, sondern es sind Dela – wie
4445 heißt das? Aus Muscheln, kleine Kristalle, die sich darin bilden.“
4447 „Also etwas Ähnliches wie unsere Perlen –“
4449 „Aber sie leuchten von selbst. Und der Stoff ist Lis.“
4451 „Lis? Da bin ich ebenso klug.“
4453 „Lis ist eine Spinne, sie webt ein fast unsichtbares Netz.“
4455 „Und wie findet man das auf? Wie webt man die Fäden?“
4457 „Im polarisierten Licht, sehr einfach, und mit besonderen
4458 Maschinen. Und die Dela sind nicht daraufgesetzt, sondern sie
4459 liegen in Schlingen zwischen dünnen Schichten des Gewebes.“
4461 „Sie nannten die Dela Kristalle – wie ist es denn möglich, daß sie
4462 dieses Eigenlicht dauernd aussenden, ähnlich wie unsre
4463 Glühwürmchen?“
4465 „Sie müssen natürlich von Zeit zu Zeit ins Strahlbad, dann leuchten
4466 sie wieder ein paar Tage.“
4468 „Ins Strahlbad?“
4470 „Nun ja, sie werden einer starken, künstlichen Bestrahlung
4471 ausgesetzt. Das Licht trennt einen Teil der chemischen Stoffe der
4472 Kristalle voneinander, und indem diese sich nachher langsam wieder
4473 vereinigen, entsteht das Selbstleuchten.“
4475 „Also was wir Phosphoreszenz nennen. Und was haben Sie dort für
4476 eine Handarbeit?“
4478 Se antwortete nicht sogleich. Sie stellte gerade eine Kopfrechnung
4479 an, die sich auf ihre Arbeit bezog, und betrachtete dabei den
4480 Sekundenzeiger der Zimmeruhr.
4482 Da klang die Klappe des Fernsprechers, und gleich darauf vernahm
4483 man die Stimme von La. Sie fragte an, ob die ›Menschen‹ für einige
4484 Herren der Insel zu sprechen seien.
4486 „Es wird mir sehr angenehm sein, die Herren zu sehen“, sagte
4487 Saltner. „Mein Freund ist augenblicklich nicht anwesend, aber ich
4488 werde ihn sogleich rufen.“ –
4490 \section{12 - Die Raumschiffer}
4492 Grunthe beschäftigte sich auf der Oberfläche der Insel mit
4493 Messungen. Was ihn sowohl wie Saltner besonders wunderte, war der
4494 Umstand, daß die vom Ballon aus beobachtete Erdkarte auf dem Dach
4495 der Insel selbst durchaus nicht sichtbar war. Wie kamen die Martier
4496 überhaupt auf die Idee, eine solche Riesenkarte anzubringen, und
4497 auf welche erstaunliche Weise war sie hergestellt? Aber gerade
4498 darüber konnten die Forscher auf ihre Fragen keine Auskunft
4499 erhalten.
4501 Grunthe liebte es, sich soviel als möglich im Freien aufzuhalten,
4502 um sowohl die technischen Einrichtungen der Insel als auch die
4503 Erscheinungen der Natur am Nordpol zu studieren, ja er hatte schon
4504 mit Unterstützung einiger Martier Bootfahrten auf dem Binnenmeer
4505 und ebenfalls bis zum gegenüberliegenden Ufer vorgenommen, ohne
4506 jedoch auf weitere Spuren von Torm zu treffen. Er hatte dabei
4507 bemerkt, daß die Polinsel infolge ihrer versteckten Lage zwischen
4508 den übrigen höheren Inseln von den Ufern des Bassins aus überhaupt
4509 nicht wahrnehmbar und somit gegen zufällige Entdeckung geschützt
4510 war. So ernsthaft ihn diese Studien beschäftigten, war es ihm doch
4511 nebenbei sehr angenehm, mit einem triftigen Vorwand sich von dem
4512 Konversationszimmer fernzuhalten. Denn hier waren einen großen Teil
4513 des Tages über Se oder La, manchmal auch eine oder die andre der
4514 übrigen auf der Insel wohnenden Frauen anwesend, und die Aufgabe
4515 der Höflichkeit, sich mit diesen zu unterhalten, überließ er gern
4516 Saltner, der sich derselben mit Vorliebe unterzog. Im Freien
4517 dagegen war er ziemlich sicher, keiner von den Damen zu begegnen.
4518 Außerhalb der Schutzvorrichtungen, die sie von einem Teil der
4519 Erdschwere befreiten, war ihnen der Aufenthalt zu lästig; und sie
4520 wußten wohl, daß der schwerfällige Schritt und die gebeugte
4521 Haltung, die ihnen dort die eigene Körperlast auferlegte, ihre
4522 Anmut keineswegs erhöhten. Insbesondere den Menschen gegenüber, die
4523 sich hier ungezwungen in ihrem Element fühlten, zeigten sie sich
4524 nicht gern in dem Zustand physischer Unfreiheit.
4526 Da Saltner wußte, daß sich Grunthe in der Nähe aufhielt, konnte er
4527 ihn leicht benachrichtigen.
4529 Die Zahl der auf der Insel befindlichen Martier war nicht
4530 unbedeutend, sie mochte gegen dreihundert Personen betragen,
4531 worunter sich ungefähr fünfundzwanzig Frauen, aber keine Kinder
4532 befanden. Die Lebensweise dieser Kolonie entsprach nicht den
4533 Gewohnheiten der Martier auf ihrem eigenen Planeten; es waren nicht
4534 Familien, die sich hier angesiedelt hatten, sondern die Kolonisten
4535 bildeten eine ausgewählte Truppe mit militärischer Organisation,
4536 wie sie von den Martiern zur Vornahme wichtiger öffentlicher
4537 Arbeiten ausgerüstet wurde. Aber auch hier war dem Bedürfnis der
4538 Nume nach möglichst großer individueller Unabhängigkeit Rechnung
4539 getragen. Die einzelnen hatten sich je nach ihrer persönlichen
4540 Neigung zu Gruppen zusammengefunden und danach ihre Wohnung auf der
4541 Insel gewählt. Jede dieser Gruppen wurde durch einen der älteren
4542 Beamten geleitet, der die Ordnung der Arbeiten verteilte. Ihm stand
4543 eine der Damen zur Seite, welche gewissermaßen die häusliche
4544 Wirtschaft der Gruppe führte, die Verteilung der Nahrungsmittel
4545 beaufsichtigte und die regelmäßige Funktion der Automaten
4546 kontrollierte, während jedes Mitglied einer Gruppe eine bestimmte
4547 Zeit der Bedienung dieser Automaten widmete.
4549 Die Pflege der beiden Gäste hatten die Gruppen des Ingenieurs Fru
4550 und des Arztes Hil übernommen, denen als weibliche Assistenten La
4551 und Se angehörten. Es war natürlich, daß Saltner und Grunthe
4552 hauptsächlich mit den Mitgliedern dieser Gruppe verkehrten, wozu
4553 sich noch als täglicher Gast der Direktor der Kolonie, Ra,
4554 gesellte. Mit den übrigen Gruppen waren sie bisher nur gelegentlich
4555 in Berührung gekommen.
4557 Die Martier, welche im Begriff standen, ihren Besuch bei den Gästen
4558 zu machen, gehörten der Gruppe des Ingenieurs Jo an, dessen
4559 Tätigkeit Grunthe und Saltner hauptsächlich ihre Rettung
4560 verdankten. Selbstverständlich hatten sie nicht versäumt, ihm
4561 alsbald nach ihrer Wiederherstellung ihren herzlichsten Dank
4562 abzustatten.
4564 Mit ihnen zusammen erschien La. Sie trat zuerst Saltner entgegen
4565 und bot ihm mit einem reizenden Lächeln über den ›Strich‹ hinüber
4566 ihre Hand. Aber ehe noch Saltner in ein Gespräch mit ihr kam, wußte
4567 Se sie beiseite zu ziehen. Während Jo mit Saltner sprach,
4568 unterhielten sich die beiden Damen eifrig und leise, worauf Se das
4569 Zimmer verließ. Jo begrüßte Saltner in seiner offenen, nach
4570 martischen Begriffen etwas derben Weise und nannte die Namen seiner
4571 Begleiter. Jeder von ihnen grüßte nach martischer Sitte, indem er
4572 die linke Hand ein wenig erhob und die Finger derselben leicht
4573 öffnete und schloß. Saltner bewies die Fortschritte in seiner
4574 Bildung dadurch, daß er den Gruß in derselben Weise erwiderte. Die
4575 Martier wollten ihm jedoch an Höflichkeit nicht nachstehen und
4576 schüttelten ihm der Reihe nach auf deutsche Weise die rechte Hand,
4577 ohne sich merken zu lassen, wie sehr diese barbarische Zeremonie
4578 sie innerlich belustigte. Sie hüteten sich dabei sorglich, den
4579 Strich zu überschreiten, jenseits dessen die Erdschwere begann.
4581 Auf Saltners Einladung nahmen sie an der breiten Tafel in der Mitte
4582 des Zimmers Platz. Man hatte dieses Zimmer in Rücksicht auf
4583 zahlreiche Versammlungen so eingerichtet, daß ein großer Tisch die
4584 Länge desselben erfüllte und mit dem einen Ende über den ›Strich‹
4585 hinüberragte. Hier befanden sich die Plätze für die beiden
4586 Deutschen. In den Besuchsstunden, besonders aber am Abend, wenn die
4587 Arbeiten des Tages beendet waren, pflegte sich hier stets eine
4588 größere Gesellschaft zusammenzufinden. Dann wurde auch bei
4589 gemeinschaftlichen Gesprächen eine leichte Erfrischung in Form von
4590 Getränken eingenommen. Die Einhaltung dieser Plauderstunden war
4591 eine feststehende Sitte der Martier. Die Mahlzeiten dagegen, welche
4592 wirklich zur Sättigung dienten, fanden niemals gemeinschaftlich
4593 statt; dies galt bei den Martiern als unpassend. Beim Essen schloß
4594 sich ein jeder ab, und schon daß Saltner und Grunthe
4595 gemeinschaftlich zu speisen pflegten, erschien den Martiern als ein
4596 Zeichen der stark tierischen Natur der Menschen. Nach ihrer Ansicht
4597 war die Sättigung eine physische Verrichtung, welche nicht in die
4598 Gesellschaft gehörte; in dieser wurden nur ästhetische Genüsse
4599 gestattet. Zu solchen ästhetischen Genüssen gehörten Essen und
4600 Trinken allerdings auch, insofern sie dem reinen Wohlgefallen am
4601 Geschmack entsprachen und sich der Empfindungen der Zunge und des
4602 Gaumens nur zum freien Spiel bedienten, nicht aber insofern sie den
4603 Zweck der Ernährung und die Stillung des körperlichen Bedürfnisses
4604 zu erfüllen bestimmt waren.
4606 Auf Las Aufforderung, welche jetzt die Stelle der Wirtin vertrat,
4607 öffneten die Martier die auf dem Tisch stehenden Kästchen und
4608 bedienten sich der darin befindlichen Piks.
4610 Der Gebrauch dieser Piks ersetzte den Martiern in vollkommener
4611 Weise den Genuß, welchen die Menschen durch das Rauchen erreichen,
4612 ein leichtes, die Sinne mäßig beschäftigendes und die Nerven
4613 beruhigendes, damit den ganzen Gemütszustand behaglich hebendes
4614 Spiel, das aber dem Rauchen gegenüber den Vorteil hatte, daß es die
4615 Luft nicht verdarb und die übrigen Anwesenden nicht belästigte. Die
4616 Piks bestanden in Kapseln, etwa in der Größe und Gestalt einer
4617 kleinen Taschenuhr, die an leichte Aluminiumstäbe gesteckt und
4618 dadurch bequem hin und her bewegt wurden. Brachte man diese Kapsel,
4619 während man den Stiel in der Hand hielt, an die Stirn, so ging ein
4620 schwacher, angenehm erregender Wechselstrom durch den Körper,
4621 wodurch man sich wohltuend erfrischt fühlte. Die Bewegung der Hand
4622 und das Streichen der Stirn und Schläfen war ein sehr anmutiger
4623 Zeitvertreib. Dabei zeigte sich auf der Kapsel ein zartes
4624 Farbenspiel je nach der Größe des Widerstandes, den der Strom fand,
4625 und die Art der Berührung, die Wendungen des Piks boten eine reiche
4626 Abwechslung der Beschäftigung. Der Kenner wußte diese leichten
4627 Reize des Gefühls aufs feinste zu variieren. Wegen der Grazie und
4628 Zierlichkeit der Bewegungen, mit denen Se und La die Piks zu
4629 handhaben pflegten, hatte Saltner diesen Instrumenten den Namen
4630 Nervenfächer beigelegt.
4632 „Freut mich sehr“, sagte Jo, mit seinem Pik an die Stirn klopfend,
4633 „den Herrn Bat wieder wohlzusehen. Hätt’s nicht gedacht, als wir
4634 Sie unter dem Ballon hervorholten. Habe leider wenig Zeit gehabt,
4635 mit Ihnen zu plaudern, hätte gern etwas über Ihre Luftfahrt
4636 gehört.“
4638 „Dazu ist hoffentlich noch Gelegenheit“, sagte Saltner.
4640 „Fürchte nein“, erwiderte Jo. „Kommen nämlich, uns zu
4641 verabschieden. Morgen geht’s heim.“
4643 „Wie?“ fragte Saltner erstaunt.
4645 Jo deutete mit dem Pik nach einer Stelle des Fußbodens und sagte:
4646 „Nu.“
4648 Saltner mußte sich erst besinnen, daß Jo mit seiner Bewegung die
4649 Richtung nach dem Mars bezeichne, denn unwillkürlich stellte er
4650 sich die Fahrt nach dem Mars immer als einen Aufstieg gegen den
4651 Himmel vor. Aber der Mars befand sich gegenwärtig unter dem
4652 Horizont, und dahin deutete Jo.
4654 „Sie sollten mit uns kommen“, sagte Jo lächelnd. „Das ist doch noch
4655 ganz etwas anderes bei uns auf dem Mars wie hier auf der schweren
4656 Erde, wo man sich genieren muß, vor die Tür zu gehen.“
4658 „Ich danke“, erwiderte Saltner, „ich fürchte, auf dem Mars Sprünge
4659 zu machen, die mir nicht gut bekommen würden. Interessant wäre es
4660 ja freilich, Ihre wunderbare Heimat kennenzulernen, aber glauben
4661 Sie denn, daß ein Mensch bei Ihnen existieren kann?“
4663 „Gewiß könnte er das“, sagte einer der anwesenden Martier, „und
4664 zwar viel besser, als wir auf der Erde fortkommen. Ich bin
4665 überzeugt, daß Sie sich an die geringere Schwere bald gewöhnen
4666 würden und ebenso an die dünnere Luft. Beide Umstände kompensieren
4667 sich einigermaßen in der Wirkung auf den Organismus, und Sie müssen
4668 wissen, daß die Luft bei uns relativ reicher an Sauerstoff ist als
4669 hier. Wie wäre es auch sonst möglich, daß die Bewohner beider
4670 Planeten eine so große Ähnlichkeit besitzen?“
4672 „Ich bin Ihnen sehr verbunden für dieses Kompliment“, antwortete
4673 Saltner, „indessen ist unsere Expedition doch nicht auf einen so
4674 weiten Ausflug eingerichtet, und wir müssen zunächst daran denken,
4675 wieder nach Hause zu kommen.“
4677 „Es wird Ihnen wohl etwas einsam hier werden“ mischte sich La in
4678 das Gespräch.
4680 „Wie“, fragte Saltner überrascht, „gehen Sie auch fort?“
4682 „Morgen noch nicht, aber im Verlauf der nächsten – – ja, ich will
4683 es Ihnen lieber in Ihre Zeitrechnung nach Erdtagen übersetzen –,
4684 also in den nächsten vierzehn Tagen ungefähr werden wir fast alle
4685 die Erde verlassen haben.“
4687 „Aber davon höre ich das erste Wort.“
4689 „Weil wir überhaupt noch nicht von der Zukunft gesprochen haben –“
4691 „Es ist wahr, die Gegenwart war zu schön und zu reich –“
4693 „Nun, werden Sie nicht melancholisch! Und dann versteht es sich ja
4694 doch von selbst, daß wir im Winter nicht hierbleiben, ausgenommen
4695 die Wächter.“
4697 „Was für Wächter?“
4699 „Wir erwarten sie mit dem nächsten Fahrzeug vom Nu“, sagte Jo. „Sie
4700 sind unsre Ablösung – nur zwölf Mann, die hier überwintern und die
4701 Insel bewachen. Im Winter können wir unsre Arbeiten nicht
4702 fortsetzen, und die ganze Insel zu heizen, das wäre denn doch zu
4703 kostspielig.“
4705 „Und kommen Sie im Sommer zurück?“
4707 „Wir oder andere.“
4709 „Und ich denke, Sie bringen die Polarnacht nicht hier auf der Insel
4710 zu, sondern bei uns. Dort, wo wir auf dem Mars wohnen, haben wir
4711 dann gerade unsern herrlichen Spätsommer. Und wenn die Sonne hier
4712 am Nordpol wieder aufgeht, reisen Sie vom Mars ab und kommen dann
4713 im Lauf Ihres Mai hier an. Das ist gerade die rechte Zeit für den
4714 Pol – und dann werden Sie, denke ich, Ihre Freunde vom Mars zu
4715 Ihren Landsleuten zu führen wissen. Sie brauchen aber nicht jetzt
4716 schon mit Jo zu reisen, wir verlassen die Erde erst mit dem letzten
4717 Schiff.“
4719 La hatte dies zu Saltner gesagt. Und als sie ihn dabei so
4720 freundlich ansah, schien es ihm, als könne es gar nicht anders
4721 sein, er müsse mit nach dem Mars gehen. Aber was würde Grunthe dazu
4722 sagen?
4724 Allerdings hatten weder Saltner noch Grunthe bisher mit den
4725 Martiern über ihre nächste Zukunft gesprochen. Das hatte
4726 verschiedene Ursachen in zufälligen Umständen. Der Hauptgrund war
4727 jedoch, wohl ohne daß die beiden Deutschen sich darüber klar
4728 wurden, daß die Martier bisher es absichtlich vermieden hatten,
4729 sich über diese Frage zu äußern. Sie hatten selbst noch keinen
4730 Entschluß gefaßt. Auf die erste Lichtdepesche nach dem Mars über
4731 die Auffindung der Menschen hatte die Zentralregierung der
4732 Marsstaaten geantwortet, daß man zunächst die Fremdlinge beobachten
4733 und ausforschen und dann über sie Bericht erstatten solle. Dieser
4734 Bericht war vor kurzem abgegangen, die Antwort jedoch noch nicht
4735 eingetroffen. Deshalb hatten die Martier jede Hindeutung auf das
4736 weitere Schicksal ihrer Gäste vermieden, und sobald Grunthe und
4737 Saltner eine Frage in dieser Hinsicht zu stellen oder einen Wunsch
4738 zu äußern versuchten, waren sie darüber mit einer ausweichenden
4739 Antwort hinweggegangen. Wenn aber die Martier auf irgendeine Frage
4740 nicht eingehen wollten, so war es für die Menschen ganz unmöglich,
4741 sie dahin zu bringen. Die Leichtigkeit, mit welcher sie die
4742 Gedanken lenkten, und die Überlegenheit ihres Willens waren so
4743 groß, daß die Menschen ihnen folgen mußten und dabei kaum merkten,
4744 daß sie geleitet wurden. Aber Grunthe wie Saltner waren in der Tat
4745 noch so erfüllt von den Aufgaben, die ihnen auf der Insel gestellt
4746 waren, daß sie die Pläne über die Fortsetzung ihrer Reise selbst in
4747 ihren Gesprächen untereinander nur vorübergehend berührt hatten.
4748 Sie hatten sich zwar vorgenommen, in den nächsten Tagen einen
4749 definitiven Entschluß zu fassen und zu gelegener Zeit mit den
4750 Martiern darüber zu reden, bis jetzt war es aber noch nicht dazu
4751 gekommen. Grunthe glaubte nämlich, daß sie, falls nur die Erlaubnis
4752 der Martier erlangt war, jederzeit die Insel ohne Schwierigkeit
4753 würden verlassen können, weil er nach einer allerdings nur
4754 vorläufigen Untersuchung sich für überzeugt hielt, daß der Ballon
4755 mit verhältnismäßig geringer Mühe sich wieder herstellen ließe. Mit
4756 dem größten Teil ihrer Ausrüstung waren auch einige Reservebehälter
4757 gerettet worden, die komprimierten Wasserstoff enthielten.
4758 Allerdings konnte derselbe zu einer vollständigen Füllung des
4759 Ballons nicht ausreichen. Doch hoffte Grunthe, von den Martiern die
4760 Mittel zur genügenden Entwicklung des Gases zu erhalten. Er hatte
4761 bei seinen Studien auf der Insel gesehen, daß die Martier über so
4762 gewaltige Mengen elektrischen Stromes verfügten, daß er dadurch den
4763 Wasserstoff leicht aus dem Wasser des Meeres erhalten konnte.
4764 Sollte ihm aber hierzu die Beihilfe verweigert werden, so war er
4765 entschlossen, den Ballon entsprechend zu verkleinern und mit dem
4766 Reservevorrat an Gas und nur dem notwendigsten Gepäck die Heimreise
4767 anzutreten. Er hatte in der Bibliothek der Martier die
4768 Witterungsbeobachtungen gefunden, welche Jahre hindurch von ihnen
4769 am Nordpol ausgeführt waren. Daraus hatte er entnommen, daß während
4770 des Novembers regelmäßig andauernd nach Europa hinwehende Winde
4771 einzutreten pflegten, daß er aber früher keine Aussicht hatte,
4772 günstige Windverhältnisse zu erwarten. Demnach mußte er sich
4773 entscheiden, ob er sich jetzt, kurz vor Beginn der Polarnacht,
4774 unbestimmten atmosphärischen Verhältnissen anvertrauen wollte, oder
4775 ob er mitten in der Polarnacht es wagen wollte, bei günstigem Wind
4776 aufzusteigen. Das letztere schien ihm das Empfehlenswertere zu
4777 sein, da er bei gutem Wind hoffen durfte, in wenigen Tagen bewohnte
4778 Gegenden zu erreichen.
4780 Diese Überlegungen, welche Grunthe für sich angestellt hatte, waren
4781 von ihm zwar Saltner gegenüber beiläufig erwähnt worden, doch hatte
4782 sie dieser, eben weil sie die Zeit zur Ausführung noch nicht für
4783 gekommen hielten, zunächst nicht weiter erwogen. Ihm war vorläufig
4784 die Gegenwart alles, und jetzt erst stellten ihn Las Worte
4785 unmittelbar vor die Frage, was zu tun sei, wenn die Martier fast
4786 sämtlich die Insel verließen. Zugleich aber schien ihm im
4787 Augenblick eine so schnelle Trennung von seinen innig verehrten
4788 Gastfreunden und von La und Se insbesondere als etwas kaum
4789 Mögliches. Indem ihm Grunthes Pläne momentan durch den Kopf
4790 schossen, fühlte er doch, daß er nicht sofort eine Zusage geben
4791 dürfe, und in seiner Verwirrung zögerte er mit der Antwort, während
4792 die Martier mit allerlei verlockenden Schilderungen Las Einladung
4793 unterstützten.
4795 Zum Glück trat Grunthe jetzt ein, und die Zeremonie der Begrüßung
4796 mit den Martiern wiederholte sich. Nur La, an welcher Grunthe nach
4797 Möglichkeit vorbeisah, mußte sich mit einem steif ausfallenden
4798 martischen Fingergruß begnügen. Sie lächelte zu Saltner hinüber,
4799 und ihr Blick schien sagen zu wollen: „Wir werden ihn doch
4800 mitnehmen.“
4802 Grunthe hatte bereits auf dem Weg von Hil gehört, daß morgen ein
4803 Fahrzeug nach dem Mars abgehe.
4805 „Wie viele Nume verlassen uns denn?“ fragte er.
4807 „Dreiundfünfzig, darunter fünf Damen“, antwortete Jo.
4809 „Dann ist es wohl ein bedeutendes Fahrzeug? Wenn ich recht gehört
4810 habe, sind selbst Ihre größten Raumschiffe nicht auf viel mehr
4811 berechnet.“
4813 „Das ist richtig. Auf mehr wie sechzig können wir unsere Schiffe
4814 nicht gut einrichten, das Verhältnis zu den Richt-Bomben wird sonst
4815 zu ungünstig. Aber der ›Komet‹ ist ein vorzügliches Fahrzeug und
4816 trägt gut seine sechzig Personen – Sie haben also noch bequem
4817 Platz, und ich würde mich sehr freuen, Sie mitzunehmen.“
4819 „Sie sind selbst der Kommandant?“ fragte Grunthe.
4821 „Ich habe die Ehre, das Raumschiff ›Komet‹ zu führen, bestimmt nach
4822 der Südstation des Mars. Sie fahren darin sicherer durch den
4823 Weltraum als in Ihrem Ballon durch die Luft der Erde. Also
4824 abgemacht, kommen Sie mit?“
4826 „Daran ist nicht zu denken“, sagte Grunthe lächelnd. „Aber es würde
4827 mich sehr interessieren, der Abfahrt beizuwohnen. Wann findet sie
4828 statt?“
4830 64,63“, erwiderte Jo.
4832 Grunthe sah ihn fragend an.
4834 „Mittlere Marslänge“, fügte Jo hinzu.
4836 „Sie müssen schon“, begann La, „den Herren alle Maßangaben in ihre
4837 irdische Rechnungsweise umrechnen. In unsre Messungsmethode können
4838 sie sich nicht so schnell hineinfinden. Morgen um 1,6 ist die
4839 Abfahrt, das heißt nach Ihrer Stundenrechnung um drei Uhr. Sehen
4840 Sie sich nur die Sache einmal an, Grunthe, Sie werden Lust
4841 bekommen, bald selbst eine Fahrt mitzumachen. In der nächsten Zeit
4842 geht jeden dritten Tag ein Schiff ab!“
4844 „Der Mars“, fiel Jo ein, „ging sechs Tage vor Ihrer Ankunft durch
4845 sein Perihel – ich meine den Punkt, wo er der Sonne am nächsten
4846 steht –, und da er sich gerade jetzt auch in der Erdnähe befindet –
4847 Sie wissen, daß die Opposition vor wenigen Tagen stattfand –, so
4848 gibt es keine günstigere Reisezeit. Aber ›piken‹ Sie denn nicht?“
4850 „Ich danke, niemals“, sagte Grunthe, die angebotenen Piks
4851 zurückweisend. Dabei starrte er geradeaus und zog seine Lippen
4852 zusammen. Er rechnete in der Eile die augenblickliche Entfernung
4853 von Mars und Erde aus.
4855 „Wie lange Zeit pflegen Sie denn zur Fahrt zu brauchen?“ fragte
4856 Saltner.
4858 „Das kommt ganz auf die Umstände an. Bei günstiger Stellung der
4859 Planeten läßt sich die Reise auf dreißig Ihrer Tage und weniger
4860 reduzieren, ja wenn wir tüchtige Bombenhilfe geben, was freilich
4861 sehr teuer wird, so könnte man bei so großer Planetennähe wie jetzt
4862 sogar auf acht oder neun Tage herabkommen. Aber ich muß freilich
4863 bemerken, daß man eine solche Geschwindigkeit von 90 bis 100
4864 Kilometern in der Sekunde nur unter ganz besonderen Umständen
4865 benutzen würde.“
4867 „Ich begreife überhaupt noch nicht“, sagte Grunthe, sich wieder am
4868 Gespräch beteiligend, „wie sie Ihre Geschwindigkeit und Richtung in
4869 verhältnismäßig so kurzer Zeit verändern können. Ich weiß, daß Sie
4870 Ihr Fahrzeug mehr oder weniger diabarisch machen, daß Sie also die
4871 Anziehung der Sonne schwächer oder auch gar nicht auf dasselbe
4872 einwirken lassen können. Bei der Abfahrt heben Sie die Gravitation
4873 ganz auf, um zunächst genügend weit aus dem Anziehungsbereich der
4874 Erde zu kommen, nicht wahr?“
4876 „Ganz richtig. Aber sprechen Sie, bitte, weiter, damit ich sehe,
4877 wie weit Sie mit den Prinzipien unserer Raumreisen vertraut sind.“
4879 „Wenn Sie abreisen, verlassen Sie also die Erde und die Erdbahn in
4880 der Richtung ihrer Tangente mit einer Geschwindigkeit von etwa 30
4881 Kilometern in der Sekunde, denn das ist die Geschwindigkeit der
4882 Erde in ihrer Bahn, die Sie nach dem Beharrungsgesetz beibehalten.
4883 Sie kommen dadurch in immer größere Entfernung von der Sonne. Wenn
4884 Sie nun die Gravitation wieder wirken lassen, vielleicht nur
4885 schwach, so wird das denselben Erfolg haben, als wenn Sie sich mit
4886 der Geschwindigkeit der Erde in sehr großer Entfernung von der
4887 Sonne, zum Beispiel in der Entfernung des Uranus befänden, und die
4888 Bahn müßte dann eine hyperbolische werden, Sie würden sich auf
4889 einer Hyperbel von der Sonne entfernen.“
4891 Jo machte ein Zeichen der Zustimmung.
4893 „Nun kann ich mir wohl denken“, fuhr Grunthe fort, „daß Sie durch
4894 geschickte Kombinierung solcher Bahnen, indem Sie die Gravitation
4895 schwächen oder verstärken, in das Anziehungsgebiet des Mars
4896 gelangen können. Aber ich verstehe nicht, wie dies in so kurzer
4897 Zeit möglich ist. Sie müssen jedenfalls einen sehr weiten Weg
4898 durchlaufen, und wenn Sie sich von der Sonne entfernen wollen, so
4899 wird doch unter dem Einfluß der Gravitation Ihre Geschwindigkeit
4900 immer kleiner, niemals aber größer.“
4902 „Sie haben darin vollkommen recht“, erwiderte Jo. „Dies war der
4903 einzige Weg, der unsern Raumschiffern in der ersten Zeit unserer
4904 Weltraumfahrten zu Gebote stand. Sie hatten damals nur das Mittel
4905 der Gravitationsänderung, infolgedessen waren die Fahrten sehr
4906 zeitraubend, mühsam und gefährlich. Man konnte unter Umständen
4907 Jahre brauchen, um von der Erde bis in die Nähe des Mars
4908 zurückzugelangen, und ein kleiner Fehler in der Berechnung oder
4909 eine unvorhergesehene Störung konnte weitere Jahre kosten. Ja, wir
4910 haben damals noch manches Schiff verloren, von dem man nie wieder
4911 etwas gehört hat.“
4913 „Und wieso ist das jetzt besser geworden?“ fragte Grunthe.
4915 „Sie scheinen noch nichts von der Speschen Erfindung der
4916 Richtschüsse zu wissen“, bemerkte Jo.
4918 „Was ist das?“
4920 „Das ist alles zugleich, was bei Ihren Schiffen Schraube, Steuer
4921 und Anker sind. Wir können dadurch unsere Geschwindigkeit
4922 vergrößern, verringern, vernichten und umkehren sowie in jede
4923 beliebige Richtung lenken. Da es sich dabei aber um kolossalen
4924 Energieaufwand handelt, wie Sie sich denken können – wir haben es
4925 ja mit Geschwindigkeiten von durchschnittlich 30 Kilometer zu tun,
4926 deren Quadrate hier in Ansatz kommen –, so benutzen wir sie nur mit
4927 Maß. Die Gravitation arbeitet billiger.“
4929 Grunthe schwieg. Es war ihm unheimlich, sich dieser Macht gegenüber
4930 zu fühlen, welche selbst die Herrschaft der Sonne im Weltraum zu
4931 bändigen wußte.
4933 „Wie in aller Welt ist das möglich?“ fragte Saltner. „Sie haben ja
4934 im Raum keinerlei Widerstand, wie unsre Schiffe im Wasser. Können
4935 wir doch nicht einmal unsern Luftballon ohne Schleppseile lenken.“
4937 „Es fehlen Ihnen nur die nötigen Energiequellen und allerdings auch
4938 der nötige Platz zum Losschießen, wie wir ihn im Weltraum zur
4939 Verfügung haben. Sehen Sie, ein solcher Schuß, man nennt ihn einen
4940 ›Spe‹, entwickelt eine Energiemenge von ungefähr 500 Billionen
4941 Meterkilogramm, wenn ich richtig umgerechnet habe –“
4943 „Es trifft ziemlich zu“, sagte La, da Jo sie fragend ansah.
4945 „Dadurch können wir also“, fuhr Jo fort, „einem Raumschiff, das
4946 eine Masse von etwa einer Million Kilogramm besitzt, eine
4947 Geschwindigkeit von einem Kilometer in der Sekunde erteilen – wenn
4948 wir somit dreißig Spes anwenden, so ist es möglich, die
4949 Geschwindigkeit, die unser Fahrzeug von der Erde mitnimmt, auf Null
4950 herunterzubringen. So ein Schuß wird ganz allmählich entladen,
4951 sonst könnte ja niemand den Ruck aushalten – immerhin bringen wir
4952 das Schiff binnen drei Stunden zum Stehen. Sie sehen also, daß wir
4953 auf diese Weise an jeder beliebigen Stelle des Weltraums einfach
4954 haltmachen können. Wir heben die Anziehung der Sonne auf und heben
4955 die planetarische Tangentialgeschwindigkeit auf, und damit stehen
4956 wir still, unverändert in unsrer Lage zu allen Körpern unsres
4957 Sonnensystems. Hier können wir warten, so lange wir Lust haben; wir
4958 stellen uns zum Beispiel auf die Marsbahn und lassen den Planeten
4959 einfach herankommen. Aber das würde immer noch viel zu lange
4960 dauern. Wenn wir noch etwas mehr Bomben in passender Richtung
4961 anwenden, so können wir uns sofort direkt auf den Planeten oder
4962 vielmehr auf den Punkt seiner Bahn hinbewegen, an welchem wir ihn
4963 am schnellsten antreffen. Natürlich nehmen wir dabei, so gut es
4964 sich machen läßt, die Gravitation mit in Anspruch,
4965 selbstverständlich immer, wenn wir uns der Sonne zu nähern haben,
4966 also wenn wir vom Mars hierherfahren.“
4968 Grunthe verharrte noch immer in seinem Schweigen. Er rechnete jetzt
4969 aus, welche Geschwindigkeit wohl das Geschoß bekommen müsse, wenn
4970 durch den Rückschlag beim Abfeuern das ganze Raumschiff mit einer
4971 Geschwindigkeit von einem Kilometer pro Sekunde zurückgeschleudert
4972 werden solle. Schon begann das Gespräch der Martier sich anderen
4973 Gegenständen zuzuwenden, als er sagte:
4975 „Ich kann natürlich in Ihre Worte keinen Zweifel setzen. Aber wenn
4976 Sie der Masse des Schiffs von einer Million Kilogramm eine
4977 Geschwindigkeit von 1.000 Metern erteilen, so würde dies ja
4978 voraussetzen, daß das Geschoß selbst eine so ungeheure
4979 Geschwindigkeit erhielte, wie sie auf keine Weise sich erzeugen
4980 läßt.“
4982 „Warum nicht?“ fragte Jo.
4984 „Und wenn auch“, unterbrach Saltner, „was nützt Ihnen denn das
4985 Abschießen? Dadurch kann doch Ihr Schiff nicht bewegt werden?“
4987 „Das schon“, berichtigte ihn Grunthe, „nur der Schwerpunkt des
4988 ganzen Systems kann nicht verrückt werden. Der Schwerpunkt von
4989 Geschoß und Schiff behält seine Geschwindigkeit, aber dort befindet
4990 sich ja niemand, das Raumschiff entfernt sich von diesem
4991 Schwerpunkt infolge des Rückschlags, wie wir hören, um einen
4992 Kilometer in der Sekunde, das heißt, es bewegt sich dann nur noch
4993 mit einer Geschwindigkeit von 29 Kilometern vorwärts. Gleichzeitig
4994 aber muß das Geschoß nach der entgegengesetzten Seite mit einer
4995 solchen Geschwindigkeit fliegen, daß das Produkt aus dieser und der
4996 Masse des Geschosses gleich ist dem Produkt aus Masse und
4997 Geschwindigkeit des Schiffs (in bezug auf den Schwerpunkt), das
4998 gibt in unserm Fall die Zahl von tausend Millionen. Es fragt sich
4999 nun, welche Masse Ihre Geschosse besitzen –“
5001 „Hundert Kilogramm“, sagte Jo.
5003 „Dann würde ja“, sagte Grunthe kopfschüttelnd, „das Geschoß eine
5004 Geschwindigkeit von zehn Millionen Meter, das sind zehntausend
5005 Kilometer in der Sekunde bekommen – das ist mir undenkbar!“
5007 „Und dennoch ist es so“, versicherte Jo. „Ja, es ist dies noch gar
5008 nicht die Grenze des Erreichbaren. Wir haben berechnet, daß sich
5009 die Geschwindigkeit bis über die Lichtgeschwindigkeit hinaus muß
5010 steigern lassen –“
5012 „Sie wollen mich zum besten haben –“
5014 „Nicht im geringsten.“
5016 „Durch die Entwicklung von Explosionsgasen?“
5018 „Wer behauptet das? Das ist natürlich nicht möglich. Aber durch die
5019 Explosion des Weltäthers selbst.“
5021 Grunthe schüttelte nur den Kopf.
5023 „Ich las in Ihren Büchern“, fuhr Jo fort, „daß Sie Ihre Geschosse
5024 durch die Entwicklung der Pulvergase mit Geschwindigkeiten
5025 schleudern, welche größer sind als die Geschwindigkeit, mit der
5026 sich der Schall in der Luft fortpflanzt. Nun – der Vergleich trifft
5027 zwar nicht vollständig zu, aber in der Hauptsache – warum sollen
5028 wir nicht durch Entwicklung großer Äthervolumina Geschwindigkeiten
5029 erzeugen, die größer sind als diejenige, mit welcher sich das Licht
5030 im Äther fortpflanzt? Es kommt nur darauf an, Apparate zu haben,
5031 die das leisten.“
5033 „Und diese haben Sie?“
5035 „Allerdings. Wir können Ätherspannungen erzeugen, die wir plötzlich
5036 entlasten. Der kondensierte Äther heißt ›Repulsit‹. Unsere
5037 Geschütze und Geschosse bestehen aus – ja, wie soll ich Ihnen das
5038 übersetzen? Übrigens kommt die Sache im Grunde darauf hinaus, große
5039 Elektrizitätsmengen unter kolossalen Spannungen zu halten – und die
5040 Entdeckung hängt wieder mit derjenigen der Diabarie zusammen.“
5042 „Das ist uns freilich jetzt nicht möglich, so schnell zu fassen“,
5043 sagte Grunthe. „Und Sie wollen die Geschwindigkeiten noch
5044 steigern?“
5046 „Wir hoffen bis auf fünf mal hunderttausend Kilometer zu kommen.
5047 Wir überholen dann das Licht. Und wer auf einem solchen Geschoß in
5048 den Weltraum reiste, der würde zurückblickend die Zeiten der
5049 Vergangenheit auftauchen sehen, denn er käme zu jenen Lichtwellen,
5050 die vor seiner Abreise den Planeten verlassen haben.“
5052 „Ich danke Ihnen“, sagte Grunthe verstummend.
5054 „Übrigens“, setzte Jo noch hinzu, „ist es für die Richtschüsse
5055 natürlich kein Vorteil, so große Geschwindigkeiten zu wählen, denn
5056 der Energieverbrauch wächst ja mit der Geschwindigkeit im Quadrat.
5057 Wir würden viel besser fortkommen, wenn wir kleinere
5058 Geschwindigkeiten anwendeten, aber dann würden die Massen der
5059 Geschosse so groß werden müssen, daß wir sie nicht mitnehmen
5060 können. Tausend Richtgeschosse zu je hundert Kilo Masse machen
5061 ohnehin schon zehn Prozent unsrer gesamten Schiffsmasse aus.“
5063 Es traten jetzt neue Gäste ein, um sich ebenfalls die Menschen noch
5064 einmal anzusehen, ehe sie nach dem Mars abreisten. Denn sie wollten
5065 doch bei der Heimkehr auch etwas von den Eingeborenen der Erde zu
5066 erzählen haben. Ein Teil der Anwesenden erhob sich und
5067 verabschiedete sich. Auch Jo stand auf.
5069 „Nun“, sagte er, „schade, daß Sie nicht mit mir kommen wollen, doch
5070 wir sehen uns morgen vor der Abreise.“
5072 „Und auf dem Nu treffen wir uns alle bald wieder“, fügte La hinzu.
5073 „Wer weiß“, sprach sie neckend zu Jo, „ob wir Sie im ›Meteor‹ nicht
5074 noch überholen und eher zu Hause sind als Sie. Oß wird
5075 wahrscheinlich den ›Meteor‹ führen.“
5077 „Da kennen Sie den alten Jo schlecht“, erwiderte Jo lachend. „Man
5078 fährt nicht fünfundzwanzig Jahre zwischen Mars und Erde, um sich
5079 von solch jungem Springinsfeld überholen zu lassen.“
5081 „Sie sind eben ein zu guter Lehrer für Oß gewesen, da ist’s kein
5082 Wunder, daß er jetzt auch seine Sache versteht.“
5084 „Das tut er, gewiß, das tut er“, sagte Jo, indem er La
5085 freundschaftlich das Haar streichelte. „Aber was will das jetzt
5086 sagen – das heißt, Oß ist ein tüchtiger Techniker, brillanter
5087 Abariker, weiß es – doch um die Überfahrt zu machen, dazu gehört
5088 heute nicht mehr viel, das kann man lernen. Ja, liebe La, vor –
5089 nun, Sie lebten wohl noch nicht, als ich meine erste Fahrt als
5090 Lehrling machte, da war’s etwas anderes; da gab’s noch keine
5091 Außenstation auf der Erde, von der aus man den Mars jederzeit sehen
5092 und nach ihm telegraphieren konnte. Und wenn so ein Schiff zehn
5093 oder zwanzig Richtschüsse zum Anlegen mithatte, da galt es schon
5094 als besonders fein ausgerüstet. Da haben wir Dinge erlebt, wovon
5095 Ihr junges Volk keine Ahnung habt.“
5097 „Erzählen Sie“, bat La, „bleiben Sie noch, Jo, Sie müssen uns etwas
5098 erzählen. Sie haben es eigentlich längst versprochen. Setzen Sie
5099 sich, die Bate müssen es auch hören.“
5101 \section{13 - Das Abenteuer am Südpol}
5103 Grunthe und Saltner hatten sich inzwischen mit den übrigen Martiern
5104 unterhalten. Diesmal waren sie recht gründlich nach allerlei
5105 Einrichtungen der Menschen ausgefragt worden. Grunthe beschrieb
5106 ihnen auf der Karte die Wohnplätze der verschiedenen Rassen und die
5107 Abgrenzungen der bedeutendsten Staaten. Sie waren sehr erstaunt zu
5108 hören, daß es große Gebiete der Erde gäbe, die man noch gar nicht
5109 oder sehr wenig kenne, und daß ihre Einwohner keinerlei Einfluß auf
5110 die Geschicke der ganzen Menschheit ausübten. Bei den Martiern
5111 bestehe zwar auch ein sehr großer Unterschied zwischen der Bildung
5112 der einzelnen Bewohner und Volksstämme, aber gänzlich
5113 unzivilisierte Landschaften gäbe es überhaupt nicht. Grunthe fragte
5114 nach der Anzahl der Marsbewohner und erfuhr zu seiner Überraschung,
5115 daß sie nicht weniger als dreitausendeinhundert Millionen betrüge,
5116 also das doppelte der Zahl der Menschen, auf einer viermal so
5117 kleinen Oberfläche zusammengedrängt wie die der Erde.
5119 „Da können wir Ihnen einen Teil von uns überlassen“, sagte einer
5120 der Martier scherzend.
5122 „Es würde Ihnen auf der Erde zu schwer werden“, erwiderte Saltner,
5123 dem der Gedanke eines Einfalls der Martier auf die Erde recht
5124 bedenklich erschien. „Lieber kommen wir ein wenig zu Ihnen.“
5126 „Aber erst lernen Sie ordentlich balancieren“, ertönte eine Stimme
5127 aus der Luft. „Ich werde gleich einmal nachsehen.“
5129 Es war Ses Stimme. Sie hatte die Klappe des Fernsprechers geöffnet
5130 und gerade Saltners Worte verstanden.
5132 Gleich darauf erschien sie an der Tür. Um seine Geschicklichkeit zu
5133 erweisen, überschritt Saltner den ›Strich‹ und ging ihr vorsichtig
5134 entgegen. Sie lachte herzlich und rief, ihm die Hand
5135 entgegenstreckend: „Es geht schon ganz gut, Sie haben Fortschritte
5136 gemacht.“
5138 Saltner ergriff die Hand und bückte sich, um sie an seine Lippen zu
5139 führen. Diese Verbeugung ging auch ganz gut vonstatten, aber als er
5140 sich aufrichten wollte, geschah es zu plötzlich, und er lief
5141 Gefahr, nach hinten zu stürzen. Da er sich über sich selbst lustig
5142 machte, so zeigten auch die Martier ihre Heiterkeit über seine
5143 vorsichtigen Bewegungen und baten ihn dann, ihnen doch einige
5144 seiner Kraftproben zu zeigen, von denen sie gehört hatten.
5146 Eben hatte er zwei der Martier mit Leichtigkeit in die Luft
5147 gehoben, als sich La nach ihm umdrehte.
5149 „Was wollen Sie über dem ›Strich‹?“ sagte sie scherzhaft drohend.
5151 Saltner sprang schleunigst einen Schritt zurück, hatte aber die
5152 beiden Herren vom Mars noch nicht niedergesetzt, und in dem
5153 Augenblick, als er den ›Strich‹ passierte, wurden sie ihm zu
5154 schwer, so daß sie ziemlich unsanft zur Erde kamen.
5156 Während er sich entschuldigte, rief La: „Alle an den Tisch! Jo
5157 erzählt von seiner ersten Erdfahrt, bitte, bitte!“
5159 Dem allgemeinen Drängen konnte Jo nicht widerstehen. Auch auf dem
5160 Mars spinnt ein alter Seemann gern ein Garn. Er setzte sich oben an
5161 den Tisch. Se und La saßen dicht am ›Strich‹ neben den beiden
5162 Deutschen.
5164 Jo nahm bedächtig ein Pik, legte es an die Stirn, an das rechte und
5165 an das linke Auge, und sah sich dann noch einmal im Zimmer um.
5167 Se verstand ihn.
5169 „Unter dem Tischrand“, sagte sie. „Greifen die Herren nur zu.“
5171 Schmunzelnd zog Jo ein Mundstück hervor und probierte das Getränk.
5173 „Ein feiner Tropfen“, sagte er.
5175 Ein Teil der Martier und auch Saltner folgten seinem Beispiel. La
5176 lehnte sich bequem zurück, Se nahm ihre chemische Handarbeit auf,
5177 und Grunthe zog sein Notizbuch hervor, um sich einige
5178 stenographische Aufzeichnungen zu machen.
5180 „War damals siebzehn Jahr alt“, begann Jo seine Erzählung.
5182 „Marsjahre“, sagte La leise zur Erklärung.
5184 „– hatte eben meinen technischen Kursus absolviert, als ich mich
5185 beim Kapitän All meldete, der mit der ›Ba‹, vierundzwanzig
5186 Personen, nach der Erde abgehen sollte. Wollte mich eigentlich
5187 nicht mitnehmen, weil ich noch zu jung sei, aber da im letzten
5188 Augenblick einer von der Mannschaft verhindert wurde und kein
5189 andrer sich gemeldet hatte, so kam ich mit. Fünf Monate waren wir
5190 unterwegs und hatten glücklich so manövriert, daß wir der Erde
5191 parallel flogen, genau in der Achse über dem Südpol. Sie hatten
5192 Sommer dort unten, aber um den Pol herum war alles von dichten
5193 Wolken bedeckt. Wir sahen auf der Erde nur ihre weiße, von der
5194 Sonne beglänzte Wolkenoberfläche, und wo sie im Schatten
5195 verschwand, spielten die Südlichter in rötlichen Streifen. Wir
5196 ließen uns sinken und machten uns, als wir tief genug gekommen
5197 waren, so leicht, daß wir als Luftballon in der Atmosphäre
5198 schwammen. Dann ging es durch die Wolken hinab, und wir kamen auch
5199 glücklich, leider aber mit einer Abweichung von ein paar
5200 Kilometern, auf den Pol. Nun, Sie wissen, auf dem Südpol ist’s
5201 nicht so schön wie hier, ’s ist ringsum Festland-Eis, eine
5202 Hochfläche von ein paar tausend Metern, wie Sie’s hier nebenan
5203 haben – in – wie heißt das Ding?“
5205 „Grönland.“
5207 „Gut. Nun mußten wir aber das Schiff nach dem Pol schaffen, denn
5208 wir hatten das schwere Schwungrad für die Station, die wir
5209 vorbereiten sollten, auszuladen. Deshalb war All sehr ungehalten,
5210 daß er von der Erdachse abgekommen war. Aber dieselbe Ursache, die
5211 uns abgetrieben hatte, verhinderte uns, auch jetzt ans Ziel zu
5212 gelangen. Das war der herrschende Wind. Ich sagte schon, daß wir
5213 uns in der Atmosphäre nicht anders wie einer ihrer Luftballons
5214 verhalten können. Wir können uns leichter machen als die Luft, aber
5215 ihren Strömungen unterliegen wir dabei ebenso wie ihrem
5216 Widerstand.“
5218 „Verzeihen Sie“, begann Grunthe, „ich habe mich schon immer
5219 gewundert, gerade weil sich Ihr Raumschiff in der Atmosphäre wie
5220 ein Luftballon handhaben läßt, und zwar mit dem wunderbaren
5221 Vorteil, weder Ballast noch Gas opfern zu müssen, da Sie sich nach
5222 Belieben leicht oder schwer machen können, ich habe mich gewundert,
5223 daß Sie nicht, nachdem Sie einmal am Pol die Erdgeschwindigkeit
5224 gewonnen haben, einfach mit Ihren Raumschiffen nach Europa oder den
5225 Vereinigten Staaten von Nordamerika gekommen sind – kurzum, warum
5226 Sie so ängstlich in der Befahrung unsres Luftmeers sind.“
5228 „Und ich“, erwiderte Jo, „habe mich allerdings auch gewundert, wie
5229 Sie sich diesen gebrechlichen Dingern in einer Atmosphäre
5230 anvertrauen können, die so dicht und schwer ist wie die Ihrige, und
5231 in welcher nach allen Richtungen die tollsten Stürme einherrasen.“
5233 „Ich habe“, bemerkte La, „in einem der Bücher gelesen, die Sie
5234 mitgebracht haben, von den Entdeckungsreisen der Menschen auf der
5235 Erde. Da spricht ein Seefahrer seine Verwunderung darüber aus, daß
5236 die Eingeborenen in irgendeiner Inselgruppe in ihren gebrechlichen
5237 Kähnen weite Fahrten unternehmen, an die er sich in seinem großen
5238 Dampfschiff nicht wagen würde, weil er die Gefahren der Tiefe nicht
5239 zu vermeiden weiß. Ähnlich mag es sich wohl mit unsern Raumschiffen
5240 und Ihren Luftballons verhalten. Bedenken Sie, daß wir Ihre
5241 Atmosphäre noch sehr wenig kennen –“
5243 „Und vor allen Dingen“, fuhr Jo fort, „daß unsre Raumschiffe, die
5244 aus Stellit bestehen, nicht darauf eingerichtet sind, den großen
5245 Druck Ihrer Luft und den Widerstand, wenn wir nicht mit dem Wind
5246 fliegen, zu ertragen. Das Stellit ist sehr fest in der Kälte des
5247 Weltraums, aber in der Wärme und Feuchtigkeit der Luft wird es
5248 schnell angegriffen. Außerdem sind wir luftdicht durch unsre Kugel
5249 von außen abgeschlossen und können uns darum außerhalb derselben an
5250 nichts wagen. Die Technik unserer Luftschiffahrt auf dem Mars läßt
5251 sich auf der Erde aus verschiedenen Gründen nicht anwenden. Sie
5252 dürfen sich also nicht wundern, daß es uns bis jetzt noch nicht
5253 eingefallen ist, unsre Raumschiffe an unbekannte Gefahren zu wagen,
5254 durch die uns möglicherweise die Rückkehr abgeschnitten worden
5255 wäre. Doch sind bereits Versuche geglückt, diabarische Fahrzeuge
5256 mit Öffnungen herzustellen, und das, was uns noch fehlt, ist
5257 eigentlich nur ein genügend widerstandsfähiger Stoff für dieselben.
5258 Aber auch hier steht die Abhilfe bevor, und dann fahren wir zu
5259 Ihnen.“
5261 „Wenn Sie zu uns kommen“, sagte La lächelnd zu Grunthe, „werde ich
5262 Ihnen mit Se eine Privatvorlesung über Raum- und Lufttechnik
5263 halten.“
5265 „Dann fürchte ich leider, darauf verzichten zu müssen, denn ich
5266 gedenke vorläufig hierzubleiben.“
5268 „So werde ich Ihnen einen ausführlichen, schönen, gelehrten Brief
5269 schreiben, verlassen Sie sich darauf!“
5271 Grunthe verbeugte sich mit zusammengepreßten Lippen, und Jo fuhr
5272 fort:
5274 „Nun kurzum, wir hatten keine Wahl, wir mußten jetzt mit dem
5275 Raumschiff nach dem Pol. Da nun aber das Wetter nicht besser wurde
5276 – das heißt, der Himmel war klar, aber die Luft blies vom Pol her
5277 –, so beschloß All, den Versuch zu wagen, uns nach dem Pol
5278 hinzuwinden. Wir hatten große Mengen von mit Lis durchzogenen Tauen
5279 mit. Dieses Tau legten wir vom Schiff bis zum Pol aus, verankerten
5280 es dort gründlich und setzten mit der Winde an. Das Schiff wurde
5281 nur soweit leicht gemacht, daß es sich gerade hob, ohne Gefahr, auf
5282 dem Eis aufzulaufen. Denn es zu schleifen durften wir nicht wagen,
5283 darauf ist unsere Stellitkugel nicht eingerichtet.
5285 Die Arbeit ging natürlich langsam vorwärts, aber wir waren in
5286 vierundzwanzig Stunden doch einen Kilometer vorgerückt. Leider
5287 frischte der Wind immer stärker auf und wurde böig. Bei den Stößen
5288 bog sich die Kugel bedenklich an der Haftstelle des Seiles, und All
5289 hielt es für nötig, die ganze Kugel in ein Netz zu fassen. Es war
5290 eine furchtbare Arbeit, in dieser Luft und Schwere die Seile über
5291 die fünfzehn Meter hohe Kugel zu spannen, und daß keiner von uns
5292 dabei verunglückt ist, bleibt mir heute noch ein Rätsel. Todmüde
5293 ging es am dritten Tag wieder an die Winde. Eine Maschine hatten
5294 wir leider nicht mit, wir mußten mit unsern eignen Kräften
5295 arbeiten. Am fünften Tag waren wir bis auf einen Kilometer heran.
5296 Wir arbeiteten immer vier Mann und wurden alle Stunden abgelöst.
5297 Lieber machten wir den Weg hin und her zum Schiff, als daß wir uns
5298 ohne Erholung dem Druck der Schwere länger ausgesetzt hätten. Zur
5299 Rückfahrt benutzten wir übrigens einen Segelschlitten; das war
5300 unsre größte Freude, so der Ruhe mit Bequemlichkeit
5301 entgegenzufahren. Eben hatte ich mich mit meinen Kameraden
5302 aufgesetzt, und in zwei Minuten waren wir bis auf die Hälfte des
5303 Weges zum Schiff herangekommen, das nicht höher als etwa zehn Meter
5304 über dem Eis schwebte. Die Strickleiter hing aus der Luke bis zum
5305 Boden herab, und in weiteren zwei Minuten hofften wir in unsren
5306 Hängematten zu liegen.
5308 Plötzlich sehen wir von der Seite und halb nach vorn hin etwas
5309 Gelblich-Weißes herantrotten, zwei große vierfüßige Tiere, wie wir
5310 sie noch nie gesehen hatten. Es waren, was Sie Eisbären nennen,
5311 aber damals wußten wir noch nicht, was das heißen will, wenn man
5312 ihnen waffenlos begegnet. Waffen hatten wir überhaupt nicht mit,
5313 nur die langen, mit Eisenspitzen versehenen Stangen, mit denen wir
5314 unsern Schlitten dirigierten und ihm nachhalfen. Noch niemals war
5315 uns auf dieser öden Erdfläche, außer einigen Vögeln, irgendein Tier
5316 begegnet. Von Raubtieren, die dem Numen gefährlich sind, wußten wir
5317 überhaupt nichts als aus den alten Überlieferungen der Vorzeit, da
5318 es solche auf dem Mars noch gegeben haben soll. Aber als diese
5319 Bestien, sobald sie uns erblickten, mit gierigen Augen auf unsern
5320 Schlitten zutrabten, dachten wir uns doch, daß die Sache nicht
5321 geheuer sei. Wir konnten freilich nichts tun, als mit unsern Picken
5322 die Fahrt unsres Schlittens beschleunigen, wobei wir dem Wind das
5323 Beste überlassen mußten. Ließ der Wind einen Augenblick nach, so
5324 mußten uns die Bären den Weg abschneiden. Es war eine fatale
5325 Situation, doch sahen wir dieselbe nicht als besonders bedenklich
5326 an, da wir glaubten, ihnen mit unsern Stöcken gewachsen zu sein.
5327 Wir waren jetzt nur noch hundert Meter von der Strickleiter
5328 entfernt, und man war bereits vom Schiff aus auf uns aufmerksam
5329 geworden. All selbst und zwei Mann, mehr hatten an der Luke nicht
5330 Platz, standen mit Gewehren bereit, denn damit war die Expedition
5331 für alle Fälle versehen. Sie wagten aber nicht zu schießen, weil
5332 das Schiff an dem langen Tau stark hin- und herschwankte und die
5333 Bären jetzt so dicht an dem Schlitten waren, daß wir selbst hätten
5334 getroffen werden können; ein sicheres Zielen war ja nicht möglich.
5335 Zudem hatten wir auch noch keine Erfahrung, wie Luftwiderstand und
5336 Schwere auf der Erde unsere Geschosse ablenken. Das Telelyt war
5337 damals noch nicht für Handwaffen im Gebrauch.
5339 Ich stand vorn am Schlitten. Die Gefährten riefen mir zu, direkt
5340 auf die Strickleiter zu halten und sie sofort zu erfassen. Wir
5341 durften ja die Geschwindigkeit des Schlittens nicht mäßigen. Es
5342 handelte sich noch um Sekunden. Da stößt der Schlitten an irgendein
5343 kleines Hindernis und wird von seinem Weg abgelenkt. Ich fürchte,
5344 daß ich die Strickleiter verfehle, und renne den Stock so stark in
5345 das Eis, daß er mir aus der Hand gerissen wird. Wir sausen an der
5346 Leiter vorbei. Da pfeift es über uns, und der eine Bär wälzt sich
5347 in seinem Blut. Durch die Wendung des Schlittens hatte All zum
5348 Schuß kommen können. Der andere aber ist unmittelbar am Schlitten.
5349 Unglücklicherweise stechen die beiden zuletzt Stehenden mit ihren
5350 Picken nach ihm. Der Bär ist verwundet, aber mit einem Tatzenschlag
5351 hat er den armen Tam vom Schlitten gerissen. Er erfaßt ihn an
5352 seinen Kleidern und trabt mit ihm davon.
5354 Inzwischen war All mit einer Anzahl bewaffneter Leute die Leiter
5355 herabgestiegen, und wir hatten den Schlitten zum Stehen gebracht.
5356 Der Bär aber lief mit seiner Beute so schnell, daß All ihm nicht
5357 folgen konnte; Sie wissen ja, daß wir schwer an uns zu tragen
5358 haben, wenn wir uns auf der Erde bewegen sollen. Zu schießen wagte
5359 All nicht um Tams willen; wenn auch dieser nicht selbst getroffen
5360 wurde, so wäre er doch verloren gewesen, sobald der Bär nicht
5361 sofort auf der Stelle tot war.
5363 Unsre Bestürzung war groß. Wir suchten den Bären durch Schreien
5364 einzuschüchtern, aber er kümmerte sich um nichts. Die Entfernung
5365 zwischen ihm und uns vergrößerte sich schnell.
5367 ›Wir können ihn nicht stellen‹, rief All, ›doch folgen müssen wir
5368 ihm. Ich gehe selbst, zwei Leute genügen zur Begleitung. Die andern
5369 zurück aufs Schiff!‹
5371 Jetzt sahen wir, daß der Bär die Richtung auf unsern Arbeitsplatz
5372 am Pol einschlug. Unsre Gefährten an der Winde hatten ebenfalls den
5373 Vorgang bemerkt. Sie stellten die Arbeit ein und beratschlagten
5374 offenbar, ob sie sich dem Schlitten anvertrauen oder auf das Gerüst
5375 flüchten sollten, das über der Winde erbaut war. Da der Bär sich
5376 schnell näherte, so wählten sie das letztere. Auch sie suchten den
5377 Bär durch Lärm zu verscheuchen, aber vergebens.
5379 Als All erkannte, daß der Bär auf die Arbeiter an der Winde zulief,
5380 hieß er jeden seiner Begleiter noch ein Gewehr mitnehmen, um sie
5381 womöglich ihnen zuzustellen. All hatte noch nicht die Hälfte des
5382 Weges zurückgelegt, als der Bär bereits bei der Winde ankam. Wir
5383 waren inzwischen, mit Ausnahme Alls und seiner Begleitung, in das
5384 Schiff zurückgekehrt und beobachteten von dort den Vorgang. Die
5385 Leute auf dem Gerüst ärgerten offenbar den Bären. Er ließ Tam am
5386 Fuß des Gerüstes liegen, setzte sich auf die Hinterbeine und schlug
5387 seine Tatzen in die Winde ein, als wolle er sie umreißen. Kaum
5388 hatte All bemerkt, daß Tam nicht mehr geschleppt wurde, als er auf
5389 etwa fünfhundert Meter auf den Bären anlegte. Einen Augenblick
5390 zögerte er noch, um eine günstigere Stellung abzuwarten. Da schien
5391 es, als wolle der Bär von der Winde ablassen und sich wieder seiner
5392 Beute zuwenden.
5394 All drückte los.
5396 Eine Sekunde später sahen wir den Bären zusammenstürzen. Mehr sahen
5397 wir nicht. Im Moment darauf erhielten wir einen Stoß, daß wir alle
5398 übereinander fielen. Als wir uns aufrafften, fanden wir das
5399 Raumschiff um wenigstens fünfzig Meter gehoben und vom Wind mit
5400 großer Geschwindigkeit davongetrieben. Es war nicht anders denkbar,
5401 als daß Alls Kugel das dünne Tau zerschnitten, der Druck des Windes
5402 es vollends zerrissen hatte.
5404 Der erste Steuermann übernahm das Kommando. Aber es war sehr
5405 schwierig, etwas zu tun.
5407 Die Anker heraus und tiefer!
5409 Das Schiff streifte in drohender Nähe des Eises hin. Wenn die Anker
5410 nicht bald faßten, so war keine Aussicht, die Gefährten
5411 wiederzusehen.
5413 Aber die Anker tanzten über die völlig glatte, hart gefrorene
5414 Fläche des Eises hin, ohne zu fassen. Glücklicherweise leistete uns
5415 das lange Seil ausgezeichnete Dienste, an welchem wir das Schiff
5416 nach dem Pol hinbugsiert hatten. Es diente uns jetzt als
5417 Schleppseil, indem wir es in einer Länge von fast tausend Meter
5418 nachzogen. Von Minute zu Minute hofften wir über Spalten zu kommen,
5419 in denen es sich vielleicht verfangen könne. Leider wurde der Wind
5420 immer stärker und steigerte sich zum Sturm. Wir wußten aus der
5421 Karte, daß es nicht mehr lange dauern konnte, bis wir zu der Stelle
5422 gelangten, an der das Eisfeld in steilem Abfall nach dem Meer hin
5423 abstürzt. Vorher freilich mußten große Bruchspalten kommen, und
5424 darauf setzten wir unsre Hoffnung.
5426 Fast eine Stunde mochten wir so dahingerast sein, schon sahen wir
5427 in der Ferne das Meer auftauchen – da kamen auch die Spalten. Würde
5428 das Tau sich verfangen? Die Anker nutzten uns nichts mehr, denn die
5429 Oberfläche des Eises wurde jetzt so unregelmäßig, daß wir uns höher
5430 erheben mußten, um nicht gegen einen Vorsprung geschleudert zu
5431 werden, und die Ankerseile waren nur kurz. Da, endlich gibt es
5432 einen Ruck, daß wir taumeln – doch die Fahrt geht wieder weiter –
5433 aber jetzt, jetzt halten wir an, das Seil hat sich gespannt! Doch
5434 was ist das? Ein furchtbarer Windstoß von oben drückt unser Schiff
5435 nach dem Boden zu; da wir dem Sturm nicht mehr folgen, drängt er
5436 uns hinab, das Schiff prallt gegen den Boden und erhebt sich aufs
5437 neue – noch ein solcher Stoß, und wir sind verloren. Wir müssen
5438 steigen, wir machen uns schwerelos und heben uns in die Höhe. Aber
5439 war die Hebung zu stark oder hat die veränderte Richtung das Seil
5440 aus der Spalte gelöst – kurzum, es gibt nach, wir schnellen in die
5441 Höhe, das Seil hängt frei herab, und wir folgen wieder dem Sturm –
5442 wir schweben über dem Absturz des Gletschers, vor uns das wütende,
5443 mit Eisschollen erfüllte Meer. – Jetzt blieb nichts übrig, als nach
5444 oben zu entfliehen, in höhere Schichten der Atmosphäre. Wir wußten
5445 aus der Karte, daß wir eine breite Meeresbucht zu überfliegen
5446 hatten, jenseits deren sich hohe feuerspeiende Berge erheben. Schon
5447 sahen wir von unsrer Höhe ihre Rauchwolken am Horizont. Wir fliegen
5448 immer direkt nach Norden auf einem Meridian, der in der Richtung
5449 nach der großen Insel hinläuft, die Sie, wie ich aus Ihrer Karte
5450 gesehen habe, Neuseeland nennen. An Landung konnten wir nicht mehr
5451 denken, wir mußten hinauf. Aber dazu mußten wir noch eine schwere
5452 Arbeit vollbringen, an die ich nicht gern denke. Das Netz um unser
5453 Schiff mit dem langen Seil mußte fort. Denn was außerhalb unsrer
5454 Kugel ist, können wir nicht diabarisch machen, es hätte unsre
5455 Bewegung im Raum gehindert. Ich war der Jüngste, ich mußte in der
5456 untern Luke hängend das Seil kappen; dann wurden von oben die
5457 Verbindungen des Netzes gelöst, und ich hatte die Aufgabe, die
5458 Seile nach unten zu ziehen. Dabei herrschte hier oben eine Kälte,
5459 daß das Quecksilber gefror. Glücklicherweise behalten die Lisseile
5460 ihre Geschmeidigkeit, sonst wäre die Arbeit unmöglich gewesen. Ich
5461 wundere mich noch heute, daß ich nicht abgestürzt bin, denn ich
5462 mußte in der Erdschwere arbeiten.
5464 Endlich war auch das geschehen. Die Luken wurden geschlossen, und
5465 wir ließen die Erde hinter uns.“
5467 \section{14 - Zwischen Erde und Mars}
5469 Jo tat einen Zug aus seinem Mundstück und fuhr dann in seiner
5470 Erzählung fort.
5472 „Was war nun zu tun? Nach kurzer Ruhepause versammelte uns der
5473 erste Steuermann, Mitt hieß er, der später die berühmte Umschiffung
5474 des Jupiter ausführte, zu einer Beratung. Sollten wir versuchen,
5475 noch einmal die Erdachse zu gewinnen und nach dem Pol
5476 zurückzukehren? Sollten wir die Unseren ihrem Schicksal überlassen
5477 und die Heimreise nach dem Mars antreten? Wir hatten den vierten
5478 Teil unserer Mannschaft und den Kapitän verloren. Es war natürlich,
5479 daß wir zu ihnen zurückwollten. Aber es war auch nicht leicht. Eine
5480 nochmalige Landung und eine zweite Abfahrt von der Erde verlangten
5481 einen solchen Aufwand von Energie und vor allem von Richtschüssen,
5482 daß die Gefahr vorlag, dadurch unsre Rückkehr nach dem Mars
5483 überhaupt in Frage zu stellen. Trotzdem wurde beschlossen
5484 umzukehren, nachdem Mitt eine Berechnung gemacht und gefunden
5485 hatte, daß wir unter günstigen Umständen gerade auskommen könnten.
5486 Wären wir nämlich nach dem Mars gegangen und wäre von dort sofort
5487 ein neu ausgerüstetes Schiff nach der Erde geschickt worden, so
5488 hätte doch erst im nächsten Frühjahr den Zurückgebliebenen Hilfe
5489 gebracht werden können. Daß sie aber den Polarwinter auf der Erde
5490 nicht überstehen konnten, war gewiß.
5492 Alle diese Überlegungen, insbesondere die genauere Berechnung und
5493 ihre wiederholte Prüfung, hatten längere Zeit in Anspruch
5494 genommen.
5496 Seitdem wir die Atmosphäre der Erde verlassen und in der Richtung
5497 der Tangente der Erdbahn uns bewegten, mochten etwa sechs Stunden
5498 vergangen sein. Obwohl wir in dieser Zeit einen Weg von über
5499 600.000 Kilometern zurückgelegt hatten, waren wir doch von der Erde
5500 selbst, die ja in gleicher Richtung auf ihrer Bahn hinlief, noch
5501 kaum 1.500 Kilometer entfernt. Wenn wir uns jetzt volle Schwere
5502 gaben, konnten wir sie in kurzer Zeit wieder erreichen, und es kam
5503 darauf an, uns durch einen mäßigen Korrekturschuß eine solche
5504 seitliche Geschwindigkeit zu erteilen, daß wir nach dem Pol
5505 gelangten.
5507 Die äußere Kugelhülle unseres Schiffes, in welcher sich die innere
5508 Kugel fast ohne Reibung nach jeder Richtung drehen kann, hatte
5509 natürlich durch die Abenteuer, die wir bei der Abfahrt und in der
5510 Atmosphäre erlebten, eine starke Rotation erhalten. Wir hatten
5511 bereits zu unserm großen Mißbehagen bemerkt, daß der Apparat nicht
5512 richtig funktionierte, welcher die innere Kugel in ihrer
5513 Gleichgewichtslage zu halten hatte, indem wir fortwährend
5514 Schwankungen durch die äußere Kugel erlitten. Bis jetzt war jedoch
5515 noch keine Zeit gewesen, dem Übelstand abzuhelfen. Nun aber kam es
5516 darauf an, die Rotation der äußeren Kugel sowohl wie die
5517 Schwankungen der inneren vollständig zu hemmen. Es war dies
5518 einerseits wünschenswert, um eine genaue Aufnahme unserer Lage zu
5519 machen, obwohl dieser Zweck allenfalls auch durch
5520 Momentphotographie erreicht werden kann; andererseits war es
5521 durchaus notwendig für die genaue Abgabe des Richtschusses, der
5522 durch das Ventil an der Außenseite der äußeren Kugel gelöst wird.
5523 Denn wenn dieser auch nur um geringe Differenzen fehlerhaft wird,
5524 so können daraus Abirrungen vom Weg entstehen, die nur schwer
5525 wieder zu korrigieren sind, für uns aber, die wir keine Kraft zu
5526 verschwenden hatten, verhängnisvoll werden konnten.
5528 Als wir nun das Schiff einer genauen Besichtigung unterwarfen,
5529 stellte sich zu unserm nicht geringen Schrecken heraus, daß der
5530 Winddruck während der Verankerung und das Aufschlagen des Schiffes
5531 Formveränderungen der äußeren Kugel bewirkt hatten, die eine
5532 umständliche Reparatur erforderten. Bevor diese nicht
5533 fertiggestellt war, durften wir keine Schwere geben und überhaupt
5534 kein Manöver ausführen. Und diese Reparatur nahm leider, das war zu
5535 sehen, einige Tage in Anspruch. Während dieser Zeit mußten wir auf
5536 unsrer gradlinigen Bahn verharren, die uns auf Strecken von der
5537 Erde entfernte, welche dem Quadrat der Zeit proportional waren.
5539 Aber es war auf dieser Reise, als wenn uns nichts gelingen sollte.
5540 Ein neuer Mißstand trat auf.
5542 Der Mond der Erde näherte sich der Stellung, in welcher die Erde
5543 Vollmond hat. Unglücklicherweise entfernten wir uns also von der
5544 Erde gerade in der Richtung auf den Mond zu. Dies wäre ja für uns
5545 ziemlich gleichgültig gewesen, wenn wir in der Nähe der Erde,
5546 wenigstens am ersten Tag unsrer Fahrt, unsere Umkehr hätten
5547 bewerkstelligen können. Nach Ablauf des dritten Tages aber mußten
5548 wir, sobald wir uns der Gravitation unterwarfen, in den
5549 Anziehungsbereich des Mondes statt in denjenigen der Erde geraten.
5550 Konnten wir also unsere Reparatur nicht vorher beendigen, so hatten
5551 wir nur die Wahl, unsere Richtschüsse auf gut Glück bloß zur
5552 Verringerung unsrer Geschwindigkeit zu verschwenden oder uns in so
5553 weite Entfernung von der Erde hinaustragen zu lassen, daß sich
5554 unsere Rückkehr auf lange verzögern mußte. Und wer weiß, ob wir
5555 dann unsere Gefährten noch lebend angetroffen hätten?
5557 Wir arbeiteten also in fieberhafter Eile an der Herstellung des
5558 Schiffes, um möglichst bald einen sichern Richtschuß abgeben zu
5559 können. Und wirklich, im Verlauf des dritten Tages war es gelungen,
5560 die Kugeln zeigten keine merkliche Drehung mehr. Es war die höchste
5561 Zeit; noch wenige Stunden, und wir hätten den Einfluß des Mondes
5562 bekämpfen müssen. Jetzt konnten wir es noch wagen, uns
5563 schwerzumachen und der Anziehung der Erde nur durch einen schwachen
5564 Korrekturschuß nachzuhelfen.
5566 Die Diabarität wurde aufgehoben. Mit höchster Spannung warteten wir
5567 die nächste Beobachtung ab. War in der früheren Berechnung
5568 irgendein kleiner Fehler vorgekommen, so konnte es sein, daß wir
5569 nach dem Mond statt nach der Erde fielen. Noch stand er über uns,
5570 mit seiner glänzenden Scheibe einen beträchtlichen Teil des Himmels
5571 verdeckend, denn sein Durchmesser erschien 26mal so groß wie hier
5572 von der Erde aus. Deutlich unterschieden wir jede Einzelheit an
5573 seiner Oberfläche. Die riesigen Ringgebirge lagen wie zum Greifen
5574 vor uns. Die langgestreckten Lavafelder, durch die tiefschwarzen
5575 Schatten breiter Risse unterbrochen, glänzten blendend im
5576 Sonnenlicht. Unter uns, bereits merklich kleiner als der Mond,
5577 schwebte die Erde als matte Scheibe, vom Schimmer des Mondlichts
5578 erleuchtet; nur eine schmale Sichel zeigte sich im Strahl der
5579 Sonne. Wenn wir uns von der Sonne, die nahe neben der Erde stand,
5580 abwendeten, glänzten überall am tiefschwarzen Firmament die Sterne
5581 in leuchtender Pracht. Es war ein herrlicher Anblick, aber wir
5582 achteten nicht darauf. Wir warteten nur, ob unsere Kugel beginnen
5583 würde, sich zu drehen, das heißt, den Boden unter unsern Füßen dem
5584 Mond zuzuwenden; dies wäre das Zeichen gewesen, daß wir dem Mond
5585 und nicht mehr der Erde tributär waren. Noch näherten wir uns dem
5586 Mond, da er noch immer ein wenig vor uns in unserer Richtung stand.
5587 Noch überwog die Anziehung der Erde, doch war sie von der des
5588 Mondes so geschwächt, daß wir kaum einen Zug nach dem Boden
5589 bemerkten; wir mußten uns verhalten wie im schwerelosen Feld. Die
5590 Sorge um unsere Gefährten ließ es uns jeden Augenblick erscheinen,
5591 als begönnen die Gegenstände sich zu erheben, als wollte unsre
5592 innere Kugel sich drehen. Aber noch immer schwebte der Mond über
5593 uns.
5595 Endlich hatte Mitt seine Beobachtung beendet. ›Wir kommen durch‹,
5596 sagte er. ›Wir sinken.‹ Alle atmeten auf.
5598 Noch eine Viertelstunde, und die Erdschwere machte sich wieder
5599 geltend. Die Instrumente ließen deutlich erkennen, daß wir uns der
5600 Erde wieder zu nähern begannen. Nun kam es darauf an, den passenden
5601 Richtschuß zur Korrektur unsres Falls abzugeben. Wir hätten zwar
5602 damit warten können, bis wir der Erde näher waren. Aber je eher wir
5603 es taten, um so weniger Energie brauchten wir aufzuwenden. Denn
5604 wenn erst unsre Fallgeschwindigkeit größer geworden war, so mußte
5605 die Kraft auch um so stärker sein, welche unsre Richtung zu
5606 verändern vermochte.
5608 Mit größter Sorgfalt wurde die Bombe gewählt, die äußere Kugel in
5609 die berechnete Stellung gebracht und die Entladung durch Verbindung
5610 mit dem Chronometer im richtigen Moment bewirkt. Die Reaktion war
5611 schwach, und wir schwankten nur wenig auf unsern Plätzen. In
5612 wenigen Minuten war alles vollbracht, was wir vorläufig tun
5613 konnten. Todmüde suchten wir unsere Lagerstätten auf, denn Ruhe
5614 hatte es bis jetzt für uns nicht gegeben.
5616 Ich hatte einige Stunden fest geschlafen, als ich durch ein
5617 allgemeines Stimmengewirr aufgeweckt wurde. Ich eilte in den
5618 Außenraum, und das erste, was mir in die Augen fiel, war der
5619 veränderte Anblick des Mondes. Er war kleiner geworden, wir
5620 entfernten uns also von ihm; das beruhigte mich. Aber seine
5621 erleuchtete Fläche zeigte eine Abplattung, das heißt, wir sahen auf
5622 ein Stück der nicht erleuchteten Mondkugel, das meiner Ansicht nach
5623 größer war, als es hätte sein dürfen, wenn wir nach der Erde zu
5624 fielen. Schnell begab ich mich nach der unteren Seite, und hier sah
5625 ich, daß auch die Erde entschieden an Größe abgenommen hatte. Wir
5626 entfernten uns also von beiden Himmelskörpern, und zwar, wie sich
5627 sogleich herausstellte, in einer nahezu kreisförmigen Ellipse,
5628 deren Ebene mit der der Erdbahn fast einen rechten Winkel bildete.
5630 Wie dies geschehen konnte, ist bis heute unaufgeklärt geblieben.
5631 Daß es nicht eher bemerkt wurde, daran trug der Mann schuld,
5632 welcher die Wache hatte und aus Übermüdung eingeschlafen war. Sonst
5633 hätte er sehr bald am Richtungszeiger den Fehler bemerken müssen,
5634 und dann hätte noch ein Korrekturschuß angebracht werden können.
5635 Jetzt aber war unsere Entfernung von der Erde bereits so groß
5636 geworden, daß wir unsere Richtung fast hätten umkehren müssen, um
5637 die Erde wieder zu erreichen. Das durften wir bei unserm geringen
5638 Vorrat an starken Richtschüssen nicht tun.
5640 Einige von Ihnen wissen vielleicht, daß Mitt nach unsrer Rückkehr
5641 auf den Mars seines Fehlers wegen zur Verantwortung gezogen wurde.
5642 Es konnte ihm aber kein Versehen nachgewiesen werden, und er wurde
5643 freigesprochen. Die Rechnungen wurden sämtlich aufs genauste
5644 geprüft, und es blieben nur zwei Erklärungen übrig. Es war möglich,
5645 daß nach dem Verlassen der Erdatmosphäre wegen der mangelhaften
5646 Beschaffenheit unsres Schiffes die erste Ortsbestimmung fehlerhaft
5647 gewesen ist und dieser Fehler auf die Beurteilung unsrer Richtung
5648 oder Geschwindigkeit nachgewirkt hat. Infolgedessen wäre der
5649 Korrekturschuß unrichtig abgegeben worden. Es konnte aber auch die
5650 Beobachtung als richtig vorausgesetzt und der Rechnung durch die
5651 Hypothese genügt werden, daß wir, ohne es zu wissen, während des
5652 Schlafs der Wache durch einen unbekannten kosmischen Körper
5653 abgelenkt worden sind, den wir, obgleich er ziemlich groß gewesen
5654 sein muß, nachträglich nicht bemerkten, weil er bereits in den
5655 Erdschatten getreten war.
5657 Nun, wie dem auch sein mochte, wir konnten nicht mehr zur Erde
5658 zurück. Unsre Niedergeschlagenheit können Sie sich denken. Sie
5659 wurde noch größer, als wir erkannten, wie es mit unsrer Rückkehr
5660 zum Mars beschaffen sei.
5662 Gingen wir in unsrer Bahn weiter, so kamen wir nach einem halben
5663 Erdenjahr wieder der Erde so nahe, daß wir sie hätten erreichen
5664 können. Aber dann hatte der Südpol Winter, und wir wären dort
5665 verloren gewesen. Der gewöhnliche Weg nach dem Mars war uns zum
5666 Unglück durch einen großen Kometen versperrt, dessen
5667 Anziehungsbereich wir berücksichtigen mußten. Ein zweiter Weg – Sie
5668 müssen bedenken, daß wir unsre Richtung und Geschwindigkeit nicht
5669 so oft und beliebig ändern konnten wie heutzutage –, ein zweiter
5670 Weg hätte uns bis in die Nähe der Asteroidenbahnen geführt, und das
5671 ist so, als wenn Sie auf dem Meer zwischen unbekannten Klippen
5672 segeln wollten. Denn wenn wir auch damals schon gegen 2.000 dieser
5673 kleinen Planeten kannten, so gibt es doch noch unzählige, die so
5674 klein sind, daß wir sie noch nie gesehen haben, kleiner als unsre
5675 Kugel, aber genügend, um uns in Grund und Boden zu bohren, wenn wir
5676 auf einen treffen. Außerdem hätte auch dieser Weg so lange Zeit in
5677 Anspruch genommen, daß es fraglich wurde, ob unser Proviant dazu
5678 ausreichte. Alle übrigen Wege waren noch weiter und mußten deshalb
5679 verworfen werden. Der Mars stand, wie ich bemerken will, hinter der
5680 Sonne, denn seit unsrer Abreise von ihm war ein halbes Erdenjahr
5681 vergangen.
5683 Mitt hatte uns das Resultat seiner Berechnungen mitgeteilt und sich
5684 dann zu neuen Prüfungen in seine Kajüte zurückgezogen. Wir saßen in
5685 uns gekehrt da, jeder machte sich mit dem Gedanken vertraut, unsren
5686 lieben Nu nicht wieder zu betreten. Einer der Gefährten äußerte
5687 sich endlich dahin, man solle die jetzige Bahn einhalten, nach
5688 einem halben Jahr die Erde zu treffen suchen, diese aber am Nordpol
5689 anlaufen. Da alsdann dort Sommer wäre so würden wir wahrscheinlich
5690 eins unsrer Schiffe antreffen, von dem wir genügende Vorräte
5691 bekommen könnten, um im nächsten Südsommer nach dem Südpol
5692 zurückzukehren. Die Hoffnung freilich, unsre Gefährten noch zu
5693 retten, mußten wir wohl aufgeben, immerhin aber konnten wir auf
5694 diese Weise unsre Rückkehr nach dem Mars sichern, selbst für den
5695 Fall, daß wir kein Schiff daselbst antrafen. Wir konnten ja dann
5696 die günstigste Stellung zur Reise abwarten und fanden auf alle
5697 Fälle einige Vorräte in den Depots. Dieser Plan fand allseitigen
5698 Beifall, und wir schickten uns eben an, den Kapitän zu rufen, um
5699 ihm unsre Vorschläge zu machen, als dieser mit glänzenden Augen
5700 unter uns trat und rief: ›Freunde, wollen wir in sechzig Tagen auf
5701 dem Mars sein?‹
5703 Wir sprangen auf und umringten ihn. Alle wollten wir näheres hören.
5704 Nun –“
5706 Jo unterbrach sich und warf einen Blick auf die Uhr.
5708 „Pik und Spe!“ rief er. „ist das schon spät geworden! Nun, ich will
5709 schnell ein Ende machen!“
5711 „O bitte, bitte, es ist noch Zeit.“
5713 „Kurz und gut! Mitt hatte den kühnen Plan erdacht, in einer
5714 rückläufigen Hyperbel mit kurzer Periheldistanz quer über die
5715 Erdbahn weg auf den Mars zu stoßen. Er setzte uns das kurz
5716 auseinander. Allerdings mußten wir unsre Richtschüsse bis auf einen
5717 letzten, zum Landen bestimmten Notvorrat daran wagen. Nur eine
5718 Gefahr war dabei, und deshalb wollte Mitt nicht ohne unsere
5719 Einwilligung handeln – wir kamen der Sonne in einer Weise nahe, wie
5720 es noch kein Raumschiffer gewagt hatte, und es fragte sich, ob wir
5721 die Strahlung würden aushalten können.
5723 Auch der Plan, auf der Erde am Nordpol anzulegen, schien Mitt sehr
5724 erwägenswert, und lange wurde hin und her überlegt, was zu tun
5725 sei.
5727 Aber Sie wissen ja, in jedem rechten Raumschifferherzen steckt die
5728 Lust, das Ungewohnte zu wagen, wenn es einigermaßen aussichtsvoll
5729 ist. Den Gefährten konnten wir in diesem Südpol-Sommer doch nicht
5730 mehr helfen, und so wurde beschlossen, die kühne Hyperbelfahrt zu
5731 versuchen.
5733 Nun, Gott war gnädig, wir sind heimgekommen. Aber die zwei Tage,
5734 die wir um die Sonnennähe jagten, die möchte ich nicht wieder
5735 erleben. Ich habe manches durchgemacht – solche Glut noch nicht.
5736 Wir konnten unsre äußere Stellitkugel nur dadurch vor dem Schmelzen
5737 bewahren, daß wir sie schnell rotieren ließen; so strahlte sie die
5738 auf der einen Seite empfangene Hitze auf der andern wieder aus –
5739 weiß nicht, bekomme sogleich einen wahren Merkursdurst, wenn ich
5740 daran denke!“
5742 Damit tat Jo einen tiefen Zug aus seinem Mundstück und erhob sich.
5744 „Schade, schade, daß Sie morgen schon fortgehen!“ sagte La zu Jo.
5745 „Von der Sonnennähe müssen Sie uns noch einmal erzählen!“
5747 „Wenn’s einmal recht kalt ist!“
5749 „Und All? Hat man nichts mehr von ihm gehört?“ fragte Grunthe.
5751 „Nichts! Auch bei wiederholten Besuchen des Südpols hat man keine
5752 Spuren mehr gefunden, keine Aufzeichnungen. Und nun, Gott befohlen!
5753 Auf Wiedersehen morgen vormittags!“
5755 Jo schüttelte den Deutschen die Hände, und alle Martier
5756 wiederholten die Begrüßung. Dann zogen sie sich zurück. Nur La und
5757 Se blieben noch einige Minuten und redeten ihren Gästen zu, ihre
5758 Reise nicht im Winter zu wagen, sondern mit ihnen nach dem Mars zu
5759 gehen.
5761 „Lassen Sie sich durch Jos Erzählung nicht bange machen“, sagte La
5762 lächelnd. „Wir nehmen jetzt soviel Richtschüsse mit, daß wir allen
5763 Hindernissen schleunigst ausweichen können. Die Gefahr lag ja
5764 früher darin, daß man auf der Erdoberfläche landen und von dort
5765 abreisen mußte; jetzt aber haben wir auf beiden Planeten Stationen
5766 außerhalb der Atmosphäre.“
5768 „Solche Besorgnisse würden uns nicht abhalten“, sagte Grunthe
5769 ernst. „Wir hoffen ja später mit der Hilfe Ihrer Landsleute auf den
5770 Mars zu reisen.“
5772 „Und was hält Sie denn ab, schon jetzt mit uns zu kommen?“ fragte
5775 „Die Pflicht“, erwiderte Grunthe.
5777 La und Se schwiegen einen Augenblick. Dann sagte Se mit einem Blick
5778 auf Saltner:
5780 „Es gibt auch eine Pflicht gegen die Freunde.“
5782 „Die Pflicht der Dankbarkeit gegen unsre Retter wird mir stets
5783 heilig bleiben“, sagte Grunthe, „aber im Falle des Widerstreits
5784 entscheidet die ältere –“
5786 „Oder die höhere“, fiel La ein, „und das werden wir schon noch
5787 untersuchen.“
5789 „Das wissen Sie ja“, sagte Saltner herzlich, „daß ich nichts lieber
5790 täte, als mit Ihnen zu gehen, wohin’s auch immer wäre.“
5792 „Mit wem denn?“ scherzte La. „Wir wohnen leider auf dem Mars
5793 dreitausend Kilometer voneinander.“
5795 „Das ist nicht so schlimm“, erwiderte Saltner. „Sie haben dort
5796 gewiß so schnelle Beförderungsmittel, daß man einen Tag hier und
5797 einen da sein kann. Und das hat auch seine guten Seiten.“
5799 „Das ist reizend“, rief Se. „Sie passen ausgezeichnet auf den Mars.
5800 Wenn wir Sie nun beim Wort nehmen?“
5802 Se und La warfen sich einen Blick des Einverständnisses zu. Dann
5803 faßten sie jede einen seiner Finger und sagten gleichzeitig:
5805 „Gebunden.“
5807 Saltner machte ein etwas verdutztes Gesicht, da er nicht recht
5808 wußte, was das bedeuten sollte.
5810 „Wieso?“ fragte er. „Was soll das sein?“
5812 „Ein Spiel!“ rief La, und beide sahen ihn so sonderbar und
5813 freundlich an, daß ihm ganz seltsam ums Herz wurde.
5815 „Gehen’s“, sagte er etwas verlegen, „Sie wollen mich gewiß zum
5816 besten haben. Was muß ich denn jetzt tun?“
5818 „Das wird sich schon finden. Recht liebenswürdig sein müssen Sie!“
5819 sagte Se. „Und jetzt gute Nacht! Sie müssen morgen zeitig
5820 aufstehen, eigentlich schon heute, der Flugwagen nach der
5821 Außenstation geht um ein Uhr.“
5823 „Auf Wiedersehen morgen am abarischen Feld!“ rief La.
5825 Und beide nickten ihm freundlich zu, grüßten Grunthe und schwebten
5826 mit ihrem leichten, gleitenden Schritt nach der Tür. Die Wolke
5827 glühender Funken wogte um Se, und über den schlanken Formen ihres
5828 Halses schimmerte der zarte Regenbogen ihres Haars. Über Las Haupt
5829 glänzte es wie ein Heiligenschein, und aus ihren tiefen Augen fiel
5830 ein langer Blick auf Saltner zurück. Dann schloß sich die Tür. Die
5831 Feen der Insel waren verschwunden.
5833 Saltner stand noch lange stumm und blickte nach der geschlossenen
5834 Tür. Was meinten sie wohl? Wie sollte er sie verstehen? Und welche
5835 von beiden – –
5837 Dann drehte er sich auf dem Absatz herum und pfiff leise vor sich
5838 hin.
5840 „Das ist gescheit“, sagte er, „die scheinen halt nicht
5841 eifersüchtig. Aber – am Ende ist das gar nicht sehr schmeichelhaft
5842 für mich. Wer kann sich auch gleich bei den Feen auskennen? Kommen
5843 Sie, Grunthe, wir wollen soupieren.“
5845 Die beiden Männer zogen sich in ihr Zimmer zurück, aßen zu Abend
5846 und sprachen dabei hin und her über die Frage, ob sie imstande sein
5847 würden, dem Wunsch der Martier zu widerstehen und am Pol
5848 zurückzubleiben.
5850 „Ich ging schon gern hin“, sagte Saltner endlich, „aber von Ihnen
5851 geh ich nicht, alter Freund. Und nun sehen Sie zu, was Sie
5852 durchsetzen.“
5854 \section{15 - 6.356 Kilometer über dem Nordpol}
5856 Grunthe und Saltner ruhten noch in ihren Betten, als bereits im
5857 abarischen Feld ein reges Leben herrschte. Die Martier, welche das
5858 Raumschiff besteigen sollten, begaben sich in Abteilungen von je
5859 vierundzwanzig Personen nach der Außenstation. So viele faßte der
5860 Flugwagen, der den Verkehr von der Insel nach dem Abgangspunkt der
5861 Raumschiffe vermittelte, nach jenem in der Höhe von 6.356
5862 Kilometern über dem Pol schwebenden Ring. Es waren also, um die
5863 Reisenden und diejenigen ihrer Freunde, die sie bis an das Schiff
5864 begleiten wollten, nach dem Ring zu befördern, drei Flugwagen
5865 erforderlich. Der Aufstieg nahm ungefähr eine Stunde in Anspruch,
5866 und da sich niemals mehr als ein Wagen im abarischen Feld befinden
5867 durfte, so verließ der erste Wagen schon am frühsten Morgen,
5868 richtiger noch in der konventionellen Schlafenszeit, denn die Sonne
5869 ging ja nicht auf noch unter, die Inselstation. Dies war nach der
5870 Tageseinteilung, welche die Martier für den Nordpol der Erde
5871 festgesetzt hatten, um 11,6 Uhr, nach mitteleuropäischer Zeit
5872 ungefähr um 11 Uhr vormittags, eine Stunde vor dem Aufstehen, wie
5873 es sonst auf der Insel üblich war.
5875 Diesmal mußten Grunthe und Saltner freilich etwas früher ihre Ruhe
5876 unterbrechen, denn der dritte Flugwagen, der sie nach der
5877 %TODO: Uhrzeiten verwirrend: 10,6 Uhr gemeint?
5878 Außenstation bringen sollte, verließ die Insel gegen 0,6 Uhr, um
5879 eine Stunde vor der Abfahrt des Raumschiffes am Ring zu sein.
5881 Die Martier waren schon fast vollständig in der Abfahrtshalle am
5882 abarischen Feld versammelt, als Grunthe und Saltner ankamen. Die
5883 meisten der Anwesenden waren ihnen bereits bekannt, und alle
5884 begrüßten sie aufs liebenswürdigste. Auch Hil, der Arzt, hatte sich
5885 eingefunden. Da die Menschen zum erstenmal eine Fahrt im abarischen
5886 Feld machten – wenn man die unfreiwillige in ihrem Luftballon nicht
5887 mitrechnen wollte –, so war es ihm von größtem wissenschaftlichem
5888 Interesse, ihr Verhalten dabei zu beobachten. Auch konnte man ja
5889 nicht wissen, ob nicht vielleicht unter den ungewohnten
5890 Bedingungen, denen die Menschen hier ausgesetzt waren, seine Hilfe
5891 vonnöten würde. Indessen wußten sich Grunthe und Saltner schon ganz
5892 geschickt zu benehmen, als sie die auf Marsschwere gestellte
5893 Vorhalle betraten. Zu ihrer Verwunderung sahen sie, daß die Martier
5894 die Pelzkragen nicht mehr trugen, in denen sie den Weg über die
5895 Insel zurückgelegt hatten, sondern sich in ihrer gewöhnlichen
5896 Zimmertoilette befanden.
5898 Hil forderte sie auf, ebenfalls ihre Mäntel abzulegen, da sie nun
5899 bis zu ihrer Rückkehr nicht mehr ins Freie kämen. Wagen und
5900 Ringstation seien selbstverständlich künstlich erwärmt.
5902 Vergeblich sah sich Saltner nach La und Se um. Schon ertönte das
5903 Signal zum Einsteigen, als La eilig hereinkam und die Anwesenden
5904 begrüßte. Ihre Blicke flogen alsbald zu Saltner, der sich ihr noch
5905 schnell näherte und ihr die Hand reichen wollte. Sie aber legte
5906 beide Hände auf seine Schultern und sah ihm zärtlich in die Augen.
5907 Die Begrüßung überraschte ihn, er mußte sich einen Augenblick
5908 sammeln, denn er wußte, daß diese Form des Willkomms nur unter ganz
5909 nahestehenden Freunden oder Liebenden üblich war und ungefähr die
5910 Bedeutung eines Kusses unter den Menschen besaß. Aber ihre Blicke
5911 gaben ihm schnell den Mut, sie zu erwidern, und zu seiner großen
5912 Freude glückte es ihm, ihre Schultern mit seinen Händen zu
5913 berühren, ohne zu hoch in die Luft zu greifen, und sie auch wieder
5914 zu entfernen, ohne das Gleichgewicht zu verlieren. Nur das rosig
5915 schimmernde Haar streiften seine Finger, und er fühlte diese
5916 Berührung wie ein leises Überspringen elektrischer Funken.
5918 Schon bestiegen die übrigen den Flugwagen. Hil geleitete Grunthe
5919 hinein. La faßte Saltner an der Hand, um ihn beim Hinaufsteigen der
5920 ungewohnten Stufen ins Innere des Wagens zu unterstützen. Ehe er
5921 dieselben betrat, blickte er noch einmal zurück, um nach Se zu
5922 schauen, ob sie nicht käme.
5924 „Heute nicht“, sagte La, seinen Gedanken erratend, „morgen sehen
5925 Sie sie wieder. Heute müssen Sie mit mir vorliebnehmen.“
5927 Es war keine Zeit zu Erklärungen. Der Wagen wurde geschlossen. Dies
5928 geschah, indem der außenstehende Beamte die Falltür hob, durch
5929 welche die Reisenden in das Innere des Wagens gestiegen waren. Der
5930 Boden bildete jetzt die ebene, mit weichen Teppichen belegte Fläche
5931 eines geräumigen Zimmers. Die Decke war gleichfalls eben, während
5932 der ganze Wagen äußerlich die Gestalt einer vollkommenen Kugel
5933 besaß. In den beiden Segmenten, welche durch Boden und Decke
5934 gebildet waren, befand sich je ein Wagenführer, die beide durch
5935 Signale mit der untern wie mit der oberen Station verkehrten.
5937 Nirgends zeigte sich ein Fenster, von der Außenwelt war nichts zu
5938 sehen. Eine Anzahl von Kugeln, welche an unsichtbaren Lisfäden von
5939 der Decke herabhingen, verbreitete ein angenehmes Licht. Die
5940 Deutschen sahen hier zum erstenmal die künstliche Beleuchtung der
5941 Martier durch fluoreszierende Lampen, die nur aus absolut luftleer
5942 gemachten, durchscheinenden Kugeln bestanden und infolge der
5943 schnellen Wechselströme leuchteten, welche von dem mittleren Teil
5944 der Wagenwand ausgingen. In diesem befand sich auch der
5945 Heizapparat. Das Zimmer hatte im Grundriß die Gestalt eines
5946 Quadrats, so daß zwischen seinen Wänden und der Kugel noch Raum für
5947 einige kleinere Gelasse blieb. Die Ausstattung war die bei den
5948 Martiern übliche mit einem festen Tisch in der Mitte, der zugleich
5949 als Büffet diente. Nur dadurch unterschied sie sich von der eines
5950 gewöhnlichen Gesellschaftszimmers, daß sich ringsum an den Wänden
5951 auffallende Gestelle hinzogen, deren Zweck Grunthe nicht zu erraten
5952 vermochte. Er war geneigt, sie für Turngeräte zu halten, und etwas
5953 Ähnliches waren sie auch. Eigentümlich waren ferner die Stühle,
5954 sämtlich mit Seitenlehnen und Leisten an den Füßen versehen. Diese
5955 Stühle konnte man zwar, infolge einer besonderen Mechanik, nach
5956 Verlangen hin- und herschieben, nicht aber vom Boden aufheben.
5958 Kaum war der Wagen verschlossen, als ein zweites Signal ertönte.
5959 Schnell suchte sich jeder der Martier eines der Gestelle am Rand
5960 des Zimmers und begab sich in dasselbe. Grunthe und Saltner wurden
5961 angewiesen, wie sie sich dabei zu benehmen hätten. Sie steckten die
5962 Füße in schuhartige Vorsprünge am Boden, so daß sie nicht
5963 ausgleiten konnten, stemmten sich mit den Armen fest an den zur
5964 Seite befindlichen Griffen und lehnten sich mit dem Rücken an die
5965 gepolsterte Wand, während der Kopf zwischen weichen Kissen wie in
5966 einer Grube ruhte.
5968 „Nun bin ich nur neugierig, was das soll“, sagte Saltner.
5969 „Hoffentlich brauchen wir nicht zwei Stunden lang hier als Mumien
5970 zu stehen.“
5972 „Es dauert nicht lange“, sagte einer der Martier.
5974 „Halten Sie sich ganz fest“, fügte La hinzu, „von dem Augenblick,
5975 in welchem die tiefe Glocke erklingt und das Licht sich verdunkelt,
5976 bis es wieder hell wird, und rühren Sie sich ja nicht.“
5978 „Ich folge blindlings –“
5980 „Warum –“ Grunthe wollte etwas fragen. Da erscholl das Signal. Das
5981 Licht wurde so schwach, daß man eben nur noch die Stellen sah, wo
5982 die Lampen hingen.
5984 Es erfolgte ein dumpfer Knall. Die Insassen der Kugel erlitten eine
5985 leichte Erschütterung und fühlten sich kräftig gegen den Boden
5986 gedrückt. Unter die Kugel war nämlich ein Behälter mit stark
5987 komprimierter Luft gebracht worden, durch deren Entspannung der
5988 Flugwagen mit einer Geschwindigkeit von 30 Metern pro Sekunde in
5989 dem abarischen Feld aufwärtsgeschleudert wurde. Gleichzeitig wurde
5990 die Schwere im Feld vollständig kompensiert. Während bisher die
5991 Schwerkraft innerhalb der Kugel, der Gewohnheit der Martier
5992 entsprechend, immer noch ein Drittel der Erdschwere betragen hatte,
5993 war sie jetzt gänzlich aufgehoben.
5995 Das Gefühl, welches die Menschen ergriff, war nicht unangenehm und
5996 keineswegs stark, ähnlich wie in einem Bad, nur daß die
5997 Berührungsempfindung des Wassers fehlte. Man gewöhnte sich schnell
5998 daran und gewahrte nur einen schwachen Blutandrang nach dem Kopf.
6000 Die Lampen wurden wieder hell, und ein Teil der Martier kam
6001 vorsichtig aus den Gestellen hervor. Sie machten sich das
6002 Vergnügen, in dem absolut schwerelosen Raum durch einen leichten
6003 Stoß gegen den Boden bis zur Decke in die Höhe zu schwingen und
6004 sich von dort wieder abzustoßen oder eine Zeitlang ohne jede
6005 Unterstützung völlig frei in der Luft zu schweben.
6007 Saltner hätte dies gern auch einmal probiert, aber La riet ihm
6008 dringend, sein Gestell noch nicht zu verlassen, da es längerer
6009 Übung bedürfe, ehe man sich in dem schwerelosen Raum geschickt
6010 bewegen könne. Dagegen forderte sie zwei Damen, welche die Fahrt
6011 mitmachten, zu einem kleinen Tänzchen auf, und die drei graziösen
6012 Figuren schwebten nun, indem sie mit geschickten Bewegungen sich
6013 vom Boden und den Wänden abstießen, Hand in Hand um das Zimmer. In
6014 ihren wehenden Schleiern glichen sie den Elfen des Märchens, die in
6015 der Mondnacht ihren luftigen Reigen führen. Darauf zogen sie sich
6016 wieder auf ihre Plätze zurück.
6018 Grunthe nahm sein Fernrohr aus der Tasche, streckte die Hand aus
6019 und öffnete sie dann. Das Fernrohr blieb frei in der Luft schweben,
6020 ohne zu fallen. Er konnte es sich nicht versagen, selbst einmal zu
6021 versuchen, wie es sich ohne Schwere gehe, und trat aus seinem
6022 Gestell. Sobald er aber dasselbe losgelassen und den Fuß zum ersten
6023 Schritt erhob, verlor er das Gleichgewicht und focht mit Händen und
6024 Füßen in der Luft herum, ohne wieder auf den Boden kommen zu
6025 können. Es sah ungeheuer possierlich aus, wie der ernste Mann hin-
6026 und herstrampelte, und Saltner war sehr froh, daß er Las Rat
6027 gefolgt war, sich nicht von seinem festen Punkt fortzuwagen. Erst
6028 durch Hilfe einiger Martier kam Grunthe wieder auf den Boden zu
6029 stehen und wurde in sein Gestell zurückgeführt.
6031 „Es schadet nichts“, sagte er, „man muß alles versuchen.“
6033 Jetzt erscholl ein neues Signal, worauf alle sich schleunigst in
6034 ihre Gestelle begaben. Gleich darauf wurde es ganz dunkel bis auf
6035 den matten Schimmer einer Lampe, welche genau die Mitte des Zimmers
6036 einnahm. Doch reichte ihr Schein nur aus, ihre Stelle zu
6037 bezeichnen, nicht aber, irgendwelche andere Gegenstände zu
6038 erkennen.
6040 „Was kommt denn nun?“ fragte Saltner.
6042 Hil antwortete ihm. „Bis jetzt“, sagte er, „sind wir ohne Schwere
6043 durch den gegebenen Anstoß mit gleichmäßiger Geschwindigkeit
6044 gestiegen, und zwar sechs Minuten lang. Wir haben dadurch eine Höhe
6045 von ungefähr 10.000 Metern erreicht. Die Luft ist hier dünn genug,
6046 daß wir eine größere Geschwindigkeit annehmen können. Das Feld wird
6047 jetzt überkompensiert, das heißt, die ›Gegenschwere‹ überwiegt nun
6048 die Schwere, und wir ›fallen‹ nach oben, nach dem Ring zu. Sie
6049 werden bald merken, daß unsere Geschwindigkeit stark zunimmt, denn
6050 unser Fall nach dem Ring beschleunigt sich natürlich rasch.“
6052 In der Tat bemerkten Grunthe und Saltner bald dasselbe Gefühl,
6053 welches sie bei sehr beschleunigtem Fallen des Ballons zu haben
6054 pflegten. Es war, als würde ihnen der Boden unter den Füßen
6055 entzogen.
6057 „Was ist denn das?“ rief Saltner. „Wir stürzen ja ab!“
6059 „Freilich fallen wir“, lachte La, „aber nach oben, das heißt, von
6060 der Erde fort.“
6062 „Ich fühle doch, daß der Boden unter den Füßen sich senkt.“
6064 „Ganz richtig, aber wo, glauben Sie, daß die Erde sich befindet?“
6066 „Nun, doch unter uns!“
6068 „Fehlgeschossen! Sie stehen jetzt auf dem Kopf wie ein Antipode.
6069 Die Erde ist über Ihrem Scheitel, unsre Füße sind dem Ring der
6070 Außenstation zugekehrt, wohin jetzt die Richtung der Fallkraft
6071 hinweist.“
6073 „Ach, liebste La, wollen Sie mich denn vollständig verdreht
6074 machen?“
6076 Als Antwort hörte er ihr leises Lachen.
6078 Es wurde wieder hell. Nichts im Zimmer hatte sich verändert.
6080 Die Martier verließen nun ihre Gestelle und bewegten sich wie
6081 gewöhnlich im Zimmer.
6083 Auch Grunthe und Saltner bemerkten, daß sich das eigentümliche
6084 Gefühl des Fallens ziemlich verloren hatte. Doch kam dies nur
6085 daher, daß sie sich daran gewöhnt hatten. Tatsächlich flog die
6086 Kugel mit immer größerer Geschwindigkeit auf ihr Ziel zu, von der
6087 Erde fort, und diese Geschwindigkeit sollte sich allmählich bis auf
6088 die kolossale Zahl von gegen zweitausend Meter in der Sekunde
6089 steigern.
6091 Der untere Teil der Kugel, unter dem Fußboden, war beschwert, so
6092 daß sich die Kugel je nach der Richtung der Fallkraft immer mit dem
6093 Boden des Zimmers nach unten einstellte. Diese Drehung hatte sich
6094 sofort vollzogen, als das Feld überkompensiert wurde und die
6095 Beschleunigung nach oben begann. Aber die Insassen hatten gar
6096 nichts davon bemerkt, da sie fest in ihren Gestellen ruhten und die
6097 Wirkung der Schwere im Anfang so gering war, daß es zu ihrer
6098 Aufhebung keiner merklichen Muskelkraft bedurfte. Sie standen
6099 jetzt, im Vergleich zu ihrem Aufenthalt am Pol, tatsächlich auf dem
6100 Kopf; im Vergleich zu der auf sie wirkenden Anziehungskraft
6101 befanden sie sich jedoch in der normalen Lage; sie standen auf
6102 ihren Füßen. Immerhin mußten sich Grunthe und Saltner vorsichtig
6103 bewegen, da das Feld nur um ein Drittel der Erdschwere
6104 überkompensiert war, das heißt so, daß die Insassen der Kugel unter
6105 einer anziehenden Kraft standen, wie sie sie auf dem Mars gewohnt
6106 waren. Die Menschen zogen es daher vor, sich auf den Sesseln am
6107 Tisch niederzulassen und dort zu bleiben. Es fehlte nicht an
6108 Unterhaltung mit den Martiern, die jetzt zu ihren Piks gegriffen
6109 hatten. Hil hatte sich überzeugt, daß die Menschen die
6110 Schwerelosigkeit leicht ertrugen. Saltner saß Hand in Hand mit La
6111 in vertraulichem Gespräch. Niemand kümmerte sich um sie.
6113 Eine halbe Stunde etwa nach der Abfahrt von der Erde mußten die
6114 Insassen des Wagens auf das gegebene Signal noch einmal ihre Plätze
6115 in den seitlichen Verschlägen einnehmen. Der Wagen hatte jetzt
6116 seine größte Geschwindigkeit erreicht und über die Hälfte seines
6117 Weges zurückgelegt. Es kam nunmehr darauf an, seine Geschwindigkeit
6118 zu vermindern und so zu regulieren, daß er gerade innerhalb des
6119 Ringes zur Ruhe kam. Dies geschah, indem man die Erdschwere wieder
6120 wirken ließ. Diese besaß jedoch in dieser Höhe nicht mehr die volle
6121 Stärke wie am Pol, sondern war nur noch etwa so groß wie auf dem
6122 Mars, ja auf dem Ring selbst betrug sie nur ein Viertel der unten
6123 herrschenden Schwere. Der Wagen glich jetzt einem Körper, den man
6124 mit großer Geschwindigkeit in die Höhe geworfen hat und der sich
6125 nun mit abnehmender Geschwindigkeit dem höchsten Punkt seiner Bahn
6126 nähert. Der Fußboden des Wagens mußte sich demnach wieder der Erde
6127 zuwenden, und diese Drehung wartete man bei verdunkeltem Wagen in
6128 den schützenden Gestellen ab. Den übrigen Teil der Fahrt über
6129 konnte man sich nach Belieben im Wagen bewegen, nur kurz vor der
6130 Ankunft wurden die Gestelle wieder aufgesucht. Denn der letzte Teil
6131 des Weges mußte mit gleichmäßiger, nicht sehr bedeutender
6132 Geschwindigkeit zurückgelegt werden, um das Anhalten des Wagens im
6133 richtigen Zeitpunkt zu regulieren. Dazu aber war es notwendig,
6134 diese Strecke abarisch, ohne jede Schwere zu durchlaufen, bis das
6135 Wiedereinstellen der Schwere in der letzten Sekunde den Wagen
6136 anhielt.
6138 Man bemerkte kaum das Anhalten des Wagens, so allmählich war es
6139 geschehen. Das Fallnetz hatte sich unter ihm geschlossen und war
6140 nach der Befestigung des Wagens wieder entfernt worden. Die Tür im
6141 Boden wurde geöffnet.
6143 Ehe die Reisenden den Wagen verließen, versahen sich alle mit
6144 Schutzbrillen für die Augen, da hier oben das direkte Sonnenlicht
6145 durch keine Atmosphäre gemildert war und alle Gegenstände, auf die
6146 es traf, in blendendem Glanz erscheinen ließ, während sich die
6147 Schatten tiefschwarz abhoben. Nun trat man in die mittlere Galerie
6148 des Ringes.
6150 Die Martier durchschritten dieselbe und begaben sich sogleich durch
6151 die Tür, welche die Überschrift trug ›Vel lo nu‹ – ›Raumschiff nach
6152 dem Mars‹ –, nach der oberen Galerie, über welcher das Raumschiff
6153 ruhte. Grunthe und Saltner dagegen wurden von Hil und La zunächst
6154 durch eine andere Tür nach der unteren Galerie geleitet, und zwar
6155 nach derjenigen, welche den Ring auf seiner äußeren Seite umzog.
6157 Eine zweite solche untere Galerie umgab den Ring auf der inneren
6158 Seite und enthielt die Apparate, durch welche das abarische Feld
6159 kontrolliert wurde. Hier befanden sich auch die Arbeitsräume der
6160 Ingenieure. Um nach der äußeren Galerie durch einen Verbindungsweg
6161 zu gelangen, mußte man zunächst die innere durchschreiten, und La
6162 begrüßte ihren Vater Fru, dem die Leitung der Außenstation oblag.
6163 Die äußere, sechs Meter breite Galerie sprang noch etwa zwei Meter
6164 über die Seitenwand des Ringes vor, so daß man an dieser vorüber in
6165 die Höhe blicken konnte. Sie diente als Aussichtsraum, von welchem
6166 aus der Blick auch nach der inneren Seite des Ringes frei war, so
6167 daß man nach unten den ganzen Horizont beherrschte.
6169 Ihrer vollen Länge nach hatte man nach Art eines Balkons eine
6170 Brüstung angebracht, so daß man glaubte, von diesem erhabenen
6171 Standpunkt aus direkt ins Freie zu sehen. Tatsächlich war man durch
6172 den vollkommen durchsichtigen Stoff der Außenwand vom luftleeren,
6173 eisigen Weltraum geschieden. Aber die in weiten Zwischenräumen sich
6174 folgenden Träger dieser Galerie hinderten ebensowenig die Aussicht
6175 wie der weiter oberhalb sich drehende durchbrochene Schwungring.
6176 Die Stelle, an welcher Grunthe und Saltner mit ihren Begleitern die
6177 Galerie betraten, lag von der Sonne abgewendet, so daß die Strahlen
6178 derselben, trotz ihres niedrigen Standes, durch die ganze Breite
6179 des über der Galerie befindlichen Ringes abgeblendet wurden. Sie
6180 standen in einer geheimnisvollen Dämmerung, die nur durch den
6181 Reflex des Mondlichtes auf dem einen Rand der Galerie und durch
6182 denjenigen des Erdlichtes an der Decke über ihnen erhellt wurde.
6184 Tiefschwarz lag der Himmel ringsum, über ihnen, an den Seiten, zu
6185 ihren Füßen; auf dem schwarzen Grund glänzten die Sterne in nie
6186 geschauter Klarheit, ohne zu funkeln, als tausend ruhig leuchtende
6187 Punkte. Im ersten Augenblick glaubten die Forscher in einen tiefen
6188 See zu blicken, in welchem der Himmel sich spiegele. Dann erst
6189 erkannten sie, daß sie zu ihren Füßen einen großen Teil der
6190 Sternbilder des südlichen Himmels vor sich hatten. Denn ihr Blick
6191 beherrschte den Himmel bis zu sechzig Grad unter den Horizont des
6192 Nordpols.
6194 In der Mitte zu ihren Füßen schwebte die Erde als eine glänzende
6195 Scheibe. Sie hatte die Gestalt des zunehmenden Mondes kurz nach
6196 seinem ersten Viertel, doch erblickte man auch den von der Sonne
6197 nicht beleuchteten Teil, da ihn das Licht des Mondes in einen
6198 schwachen Schimmer hüllte. Die ganze Scheibe der Erde erschien
6199 unter einem Gesichtswinkel von sechzig Grad und erfüllte somit
6200 gerade den dritten Teil des Himmels unterhalb des Horizontes. Die
6201 Schattengrenze schnitt das Eismeer in der Nähe der Jenisseimündung,
6202 so daß der größte Teil Sibiriens und die Westküste Amerikas im
6203 Dunkel lagen. Hell glänzten die Gletscher an der Ostküste Grönlands
6204 im Schein der Mittagssonne, und als ein strahlender weißer Fleck
6205 hob sich Island aus den dunklen Fluten des Atlantischen Meeres. Der
6206 westliche Teil des Ozeans und der amerikanische Kontinent waren
6207 nicht zu erkennen. Über ihnen ruhte eine nur selten unterbrochene
6208 Wolkenschicht, deren obere Seite die Sonnenstrahlen in blendendem
6209 Weiß zurückwarf, so daß ihr Anblick ohne die schützenden
6210 Augengläser unerträglich gewesen wäre. Dagegen lag die Karte von
6211 ganz Europa, wenigstens in seinem nördlichen Teil, in günstigster
6212 Beleuchtung vor den entzückten Blicken. Unter dem Einfluß eines
6213 ausgedehnten Hochdruckgebiets war die Luft dort völlig klar und
6214 rein, so daß man die nördlichen Inseln und Halbinseln und die tief
6215 eingeschnittenen Meeresbuchten deutlich erkannte. Weiterhin
6216 verschwammen die Formen der Ebenen in einem bläulich-grünlichen
6217 Luftton, aber als feine helle Linien blitzten für ein scharfes Auge
6218 die Ketten der Alpen und selbst des Kaukasus auf. In matterem Licht
6219 schimmerte der Rand des beleuchteten Teils der Scheibe, und nur an
6220 der Schattengrenze bezeichneten einige helle Lichtpunkte den
6221 Untergang der Sonne für die Schneegipfel des Tianschan und des
6222 Altai.
6224 In tiefem Schweigen standen die Deutschen, völlig versunken in den
6225 Anblick, der noch keinem Menschenauge bisher vergönnt gewesen war.
6226 Noch niemals war es ihnen so klar zum Bewußtsein gekommen, was es
6227 heißt, im Weltraum auf dem Körnchen hingewirbelt zu werden, das man
6228 Erde nennt; noch niemals hatten sie den Himmel unter sich erblickt.
6229 Die Martier ehrten ihre Stimmung. Auch sie, denen die Wunder des
6230 Weltraums vertraut waren, verstummten vor der Gegenwart des
6231 Unendlichen. Die machtvollen Bewohner des Mars und die schwachen
6232 Geschöpfe der Erde, im Gefühl des Erhabenen beugten sich ihre
6233 Herzen in gleicher Demut der Allmacht, die durch die Himmel waltet.
6234 Aus der Stille des Alls sprach die Stimme des einen Vaters zu
6235 seinen Kindern und füllte ihre Seelen mit andächtigem Vertrauen.
6237 La hatte Saltners Hand ergriffen, sanft lehnte sie sich an seine
6238 Schulter, und mit der Rechten auf den hellsten der Sterne weisend,
6239 der unterhalb des Horizonts des Pols leuchtete sagte sie leise:
6240 „Dort ist meine Heimat.“
6242 Saltner zog sie an sich und sprach: „Und dort meine Erde, ist sie
6243 nicht schön?“
6245 Grunthe holte sein Relieffernrohr hervor und trat dicht an den
6246 inneren Rand der Galerie, welcher den Blick auf den Nordpol
6247 gestattete. Auch ihn hatte die Erinnerung an die so greifbar nahe
6248 vor ihm ausgebreiteten und doch so unerreichbaren fernen Lande
6249 seiner Heimat weichgestimmt. Aber er wollte nichts wissen von dem,
6250 was La und Saltner sich zu sagen hatten. Ihn beschäftigte jetzt,
6251 nachdem das Überwältigende des ersten Eindrucks vorüber war, vor
6252 allem der Gedanke, wie er es ermöglichen könne, die Reise über die
6253 Eisfelder und Meere des Polargebiets zurückzulegen. Und er wollte
6254 die günstige Gelegenheit benutzen, von hier oben den Weg zu
6255 überblicken, den er auf den Karten der Martier schon wiederholt
6256 studiert hatte. Ein kleiner dunkler Fleck direkt unter ihm stellte
6257 das Binnenmeer am Pol vor, und mit seinem Glas konnte er die Insel
6258 in der Mitte desselben erkennen. Er wandte sich mit einer Frage an
6259 Hil, der ihn an eine andere Stelle der Galerie führte.
6261 „Sie können hier“, sagte er, „die Erde bequemer mit einem unsrer
6262 Apparate betrachten, der Ihnen eine hundertfache Vergrößerung gibt.
6263 Später sollen Sie im Laboratorium unser großes Fernrohr mit
6264 tausendfacher Annäherung kennenlernen.“
6266 La blickte lange nach der Erde hinab. Dann sagte sie in ihrer
6267 langsamen, tiefen Sprechweise: „Größer und schöner mag eure Erde
6268 sein, aber ich müßte dort sterben in eurer Schwere. Und schwer wie
6269 die Luft sind eure Herzen. Ich aber bin eine Nume.“
6271 Sie ließ das schützende Augenglas herabfallen und wendete ihm voll
6272 das Gesicht zu. In ihrem Blick flammte wieder jene unbeschreibliche
6273 Überlegenheit, welche den Menschenwillen brach. Aber es war nur ein
6274 Moment. Dann wechselte der Ausdruck ihrer Züge, ihre Wimpern
6275 senkten sich über die Sterne ihrer Augen, und Saltner fühlte, wie
6276 ein Strom von Wärme ihrem Antlitz entstrahlte, das sie nun zur
6277 Seite wandte.
6279 Vom Zauber ihrer Nähe hingerissen, beugte er sich ihr entgegen und
6280 drückte seine Lippen auf ihren Hals.
6282 La zuckte zusammen. Schon fürchtete Saltner, sie beleidigt zu
6283 haben, aber sie wandte sich mit einem glücklichen Lächeln und
6284 duldete seinen Kuß auf ihren Mund.
6286 „Geliebte La“, flüsterte er, „wie glücklich machst du mich! Ist es
6287 denn möglich, du Wunderbare, daß ein armer Mensch eine Nume lieben
6288 darf?“
6290 Sie sah ihn freundlich an und antwortete: „Ich weiß es nicht, was
6291 ihr Liebe nennt und was ein Mensch darf. La aber darf dem Menschen
6292 nicht zürnen, ohne den sie den Nu nicht wiedersehn würde – – doch,
6293 mein Freund –“, und ihr Blick wurde ernst, „– vergiß nicht, daß ich
6294 eine Nume bin.“
6296 „Aber ich liebe dich!“
6298 „Ich will es nicht verbieten, nur vergiß niemals –“
6300 „Das verstehe ich nicht, wenn ich nur dein sein darf –“
6302 „Die Liebe der Nume macht niemals unfrei“, sagte La.
6304 „Und wenn du mich lieb hast –“
6306 „Wie Nume lieb haben. Und du mußt wissen, wenn sie es tun, daß dies
6307 niemand etwas angeht als sie selbst, und daß –. Ich weiß es auf
6308 deutsch nicht recht zu sagen –“
6310 „Auf martisch versteh ich’s ganz gewiß nicht, aber ich weiß –“, und
6311 Saltner zog ihre Hand an seine Lippen, „– ich weiß, daß du –“ Seine
6312 beredten Schmeichelworte wurden durch die Annäherung Hils
6313 unterbrochen.
6315 „Wenn wir vor dem Abgang noch einen Blick in das Schiff werfen
6316 wollen“, sagte er, „so ist es jetzt Zeit.“
6318 „Schon?“ rief La. „Wir haben die Erde noch gar nicht durchs
6319 Fernrohr betrachtet.“
6321 „Das können wir noch vor der Rückfahrt.“
6323 „Aber dann ist es vielleicht in Deutschland schon Abend“, sagte
6324 Saltner, „ich möchte doch gern –“
6326 „Durchaus nicht“, erwiderte Hil. „In einer halben Stunde ist alles
6327 vorüber, und dann haben Sie erst ein Viertel nach drei Uhr. – Aber
6328 lassen Sie uns jetzt eilen!“
6330 \section{16 - Die Aussicht nach der Heimat}
6332 Die vier Besucher des Ringes begaben sich über die mittlere Galerie
6333 nach der Treppe zur oberen. Hier gelangten sie in die weite Halle,
6334 von welcher aus die Abfahrt der Raumschiffe stattfand. Das rege
6335 Leben, das hier geherrscht hatte, begann sich jetzt zu beruhigen.
6336 Denn die Einschiffung der Abreisenden war vollendet, und ihre
6337 Begleiter verließen soeben das Schiff. Die Luke sollte geschlossen
6338 werden.
6340 Hil mit seiner Begleitung hatte sich doch verspätet, und so mußten
6341 Grunthe und Saltner sich diesmal darauf beschränken, das Raumschiff
6342 von außen zu betrachten. Sie trösteten sich damit, daß in drei
6343 Tagen bereits eine neue Abfahrt stattfände; überdies fesselte sie
6344 der Anblick, der sich ihnen darbot, zur Genüge.
6346 Die riesige Halle besaß einen Radius von 60 Meter. An ihrer Decke,
6347 und zwar rings um den Rand herum, befanden sich kreisförmige
6348 Einschnitte. Auf fünf von ihnen ruhte je ein Raumschiff, so daß das
6349 untere Segment desselben in die Halle hineinragte und von hier aus
6350 zugänglich war. Der überwiegende Teil jedes Raumschiffs befand sich
6351 natürlich oberhalb der Decke nach außen, wodurch die Halle, wenn
6352 man sie von oben her hätte betrachten können, wie von fünf
6353 Riesenkuppeln gekrönt erschienen wäre. Bei vollbesetzter Station
6354 hätten sich acht Kuppeln über der Halle erhoben. Die Martier waren
6355 imstande, acht Raumschiffe gleichzeitig auf der Station zu halten.
6356 Die vorhandenen fünf Schiffe sollten in dreitägigen Zwischenräumen
6357 die Station verlassen; sie vermochten sämtliche anwesende Martier
6358 fortzufahren, so daß also der Aufenthalt der Martier auf der Insel
6359 in fünfzehn Tagen beendet sein mußte. Man konnte durch die
6360 vollständig durchsichtige Decke die Außenseite der Schiffe genau
6361 betrachten. Sie stellten vollkommene Kugeln dar, die mit ihrem
6362 größten Umfang noch weit über den Rand der Galerie hinausragten.
6363 Auch nicht der geringste Vorsprung, nicht die kleinste Unebenheit
6364 war an ihnen zu entdecken. Die äußeren Hüllen dieser Kugeln waren
6365 durchsichtig. Man erblickte hinter ihnen die innere Kugel, den
6366 eigentlichen Schiffsraum, von welchem aus eine Reihe von Öffnungen
6367 in den Zwischenraum zwischen beiden Kugeln hineinführte. Dieser
6368 über zwei Meter breite Raum trug in regelmäßiger Anordnung allerlei
6369 Gerüste, die den verschiedenen Zwecken der Raumfahrt dienten. Jetzt
6370 waren sie zum größten Teil von den Martiern besetzt, die mit ihren
6371 Freunden in der Abfahrtshalle noch Abschiedsgrüße austauschten.
6373 An der tiefsten Stelle der Kugel befand sich ein abgegrenzter Raum,
6374 der die Kommandobrücke bildete. Hier erschien jetzt Jo. Er warf
6375 einen Blick auf die Apparate, die rings um seinen Platz angeordnet
6376 waren. Dann grüßte er mit einer Handbewegung in die Halle hinein
6377 und drückte auf einen Knopf. In diesem Augenblick leuchtete zu
6378 seinen Füßen auf der Innenseite der durchsichtigen Kugel das Bild
6379 eines Kometen und der Name des Schiffes, das der ›Komet‹ hieß, in
6380 bläulichem Fluoreszenzlicht auf. Dies war das Zeichen, daß der
6381 ›Komet‹ bereit war, seine Reise anzutreten.
6383 Man hatte schon vorher die ganze Galerie, die sich um ihre
6384 vertikale Achse drehen ließ, für die Abfahrt passend eingestellt.
6385 Genau in der Sekunde, in welcher diese stattfinden sollte, mußte
6386 der Punkt der Galerie, wo das Schiff sich befand, von der Sonne
6387 abgewendet stehen. Denn sobald das Schiff bei seiner Abfahrt völlig
6388 schwerelos gemacht wurde, bewegte es sich in der Tangente der
6389 Erdbahn. Da aber die Erde gleichzeitig in ihrer Bahn fortlief, so
6390 hatte dies zur Folge, daß das Schiff in bezug auf die Erde sich auf
6391 einer Linie entfernte, welche genau von der Sonne fortwies. Nach
6392 dieser Richtung hin also mußte die Bahn frei sein. Die Sonne hatte
6393 den niedrigen Stand von gegen sieben Grad über dem Horizont, die
6394 Bewegung wich somit von der horizontalen wenig ab.
6396 Die Martier im Innern der Abfahrtshalle fuhren jetzt auf Schienen
6397 eine eigentümliche Hebemaschine unter das Schiff. Sie bestand in
6398 einem oben offenen, unten geschlossenen Zylinder, welcher dazu
6399 diente, das Schiff aus seinem Lager zu heben und gleichzeitig die
6400 Öffnung der Abfahrtshalle luftdicht zu schließen. Der Zylinder
6401 wurde in die Höhe geschraubt und hob dadurch auf seinem oberen
6402 Rande das fast schon schwerelos gemachte und darum leicht
6403 bewegliche Schiff empor. Als das Schiff so hoch gebracht war, daß
6404 sein tiefster Punkt höher stand als das Dach der Halle, wurde der
6405 Hebungszylinder angehalten. Auf ein gegebenes Zeichen mußte er
6406 herabfallen und damit das Schiff freigeben.
6408 Der entscheidende Augenblick nahte. Die vollkommene Diabarie des
6409 Schiffes mußte genau in dem berechneten Moment eintreten, wenn
6410 nicht die Disposition der ganzen Raumreise dadurch verändert werden
6411 sollte.
6413 Jo hatte seinen Blick auf die Uhr gerichtet, während seine Hand den
6414 Griff des diabarischen Apparats umfaßt hielt. Mit größter
6415 Aufmerksamkeit beobachtete ihn der Ingenieur im Innern der Halle,
6416 um das Zeichen zum Fallen des Stütz-Zylinders zu geben.
6418 Jetzt blickte Jo hinab und drückte auf den Griff. Zugleich sank der
6419 Zylinder nach unten. Die riesige Kugel schwebte, vollständig frei,
6420 dicht über dem Dach der Halle.
6422 Die Martier im Schiff und in der Halle schwenkten grüßend Hände und
6423 Tücher. Mit angehaltenem Atem folgten Grunthe und Saltner dem
6424 wunderbaren Schauspiel, das so gar keine Ähnlichkeit mit dem
6425 Aufstieg eines Luftballons hatte. Es schien den Menschen, als müßte
6426 die freischwebende Riesenmasse sie im nächsten Augenblick
6427 zerschmettern.
6429 In den ersten Sekunden bemerkte man kaum, daß das Raumschiff sich
6430 bewege, denn die Abweichung von der Erdbahn, welche in der ersten
6431 Sekunde nur 3 Millimeter beträgt, steigt nach 10 Sekunden erst auf
6432 30 Zentimeter. Nach einer Minute aber war die Entfernung schon auf
6433 11 Meter gewachsen. Die Kugel passierte jetzt den Rand der Galerie
6434 und schwebte frei über der unendlichen Tiefe, 6.300 Kilometer hoch
6435 über der Erde. Selbst die geübten Luftschiffer Grunthe und Saltner
6436 überkam ein beängstigendes Gefühl, als sie das Schiff so ganz
6437 langsam, ohne jede bemerkbare Triebkraft, über den Abgrund ziehen
6438 sahen. Schon wuchs die Entfernung merklicher. Nach zwei Minuten war
6439 es 44, nach drei Minuten 100 Meter entfernt, und immer mehr
6440 verschwanden die wehenden Tücher. Genau in der Richtung der
6441 Sonnenstrahlen, sanft nach unten geneigt, hart am Rand des –
6442 übrigens im leeren Raum nicht sichtbaren – Schattens des Ringes zog
6443 das Schiff hin. Die Kugel wurde sichtlich kleiner; nach zehn
6444 Minuten hatte sie einen Abstand von 1.100 Metern erreicht.
6446 „Es ist nun hier weiter nichts mehr zu sehen“, sagte Hil zu
6447 Saltner. „Wenn es Ihnen recht ist, werfen wir jetzt einen Blick auf
6448 die Erde durch unsern großen Apparat.“
6450 „Wie lange kann man den ›Komet‹ noch erblicken?“ fragte Grunthe.
6452 „Mit dem Fernrohr“, erwiderte Hil, „können wir ihn so lange sehen,
6453 bis er Richtschüsse gibt und durch den Erdschatten geht. Wie mir Jo
6454 sagte, beabsichtigt er dies zu tun, sobald er 1.000 Kilometer von
6455 hier entfernt ist. Das wird in 5 Stunden der Fall sein. Nachher
6456 entfernt er sich natürlich mit viel größerer Geschwindigkeit, weil
6457 er von der Erdbahn abbiegt.“
6459 „Kann man die Lösung der Richtschüsse von hier beobachten?“
6461 „Davon sehen Sie gar nichts. Ich will Ihnen jetzt etwas
6462 Interessanteres zeigen, und Sie sollen mir mancherlei erklären.“
6464 In der inneren auf der Unterseite des Ringes befindlichen Galerie
6465 traf die kleine Gesellschaft auf Las Vater, der erst jetzt Saltner
6466 und Grunthe freundlich begrüßte, da er bisher zu sehr mit der
6467 Expedition des Schiffes beschäftigt gewesen war. Hil bat um
6468 Erlaubnis, das große Instrument der Station benutzen zu dürfen. Fru
6469 erklärte sich gern bereit, selbst die Einstellung zu übernehmen.
6471 „Aber du mußt die ganz starke Vergrößerung anwenden“, sagte La
6472 schmeichelnd zu ihrem Vater, „der arme Bat hier möchte einmal
6473 sehen, wo er zu Hause ist.“
6475 „Und die neugierige La auch, nicht wahr? Nun, du weißt, es kommt
6476 alles auf die Beleuchtung an.“
6478 Es gesellten sich noch einige andere Martier hinzu, die ebenfalls
6479 die Gelegenheit wahrnehmen wollten, sich die Erde von ihren
6480 Bewohnern erklären zu lassen.
6482 „Ach“, sagte Saltner leise zu La, „das wird eine große
6483 Gesellschaft, da werden wir wohl nicht viel zu sehen bekommen.“
6485 „Warte nur ab“, antwortete sie ebenso, „das wird gerade hübsch. Du
6486 weißt ja gar nicht, wie man bei uns ins Fernrohr sieht.“
6488 Man sammelte sich vor einer geschlossenen Tür.
6490 „Sie denken vielleicht“, sagte La, „daß bei uns jeder für sich
6491 durch ein Rohr guckt. O nein, das ist viel bequemer.“
6493 Fru öffnete die Tür. Man trat in ein vollständig verdunkeltes
6494 Zimmer, das nur künstlich durch eine Lampe beleuchtet war. Die eine
6495 Wand war rein weiß, alle übrigen schwarz angestrichen. Man
6496 gruppierte sich vor der weißen Wand, im Vordergrund La, Saltner und
6497 Grunthe als Gäste neben ihr. Hinter den Zuschauern befand sich ein
6498 Gestell mit verschiedenen Apparaten und Meßinstrumenten, von
6499 welchem aus schwarz angestrichene Rohre nach der Decke liefen. Hier
6500 stellte sich Fru auf. Das Licht verlosch. Nur die Schrauben und
6501 Skalen der Apparate phosphoreszierten in schwachem Eigenlicht.
6503 Als Fru den Verschluß des Suchers öffnete, projizierte sich auf der
6504 Wand ein Teil des südlichen Sternenhimmels, und nach einigen
6505 Verschiebungen erschien das Bild der Erde, nicht vergrößert, aber
6506 sehr scharf in allen Umrissen. Es nahm fast die ganze Fläche der
6507 Wand ein, und man konnte deutlich die Abnahme der Beleuchtung an
6508 der Schattengrenze beobachten, die jetzt schon etwas weiter nach
6509 Westen gerückt war. Zum Glück zeigte sich der Himmel über
6510 Deutschland ganz klar, so daß Fru nicht zweifelte, die stärkste
6511 Vergrößerung anwenden zu können. Fru ersuchte Grunthe, ihm auf dem
6512 Bild an der Wand die Stelle zu bezeichnen, an welcher ungefähr die
6513 Hauptstadt seines Landes zu suchen sei. Grunthe deutete auf einen
6514 Punkt in Norddeutschland und Fru stellte nun den Projektionsapparat
6515 so ein, daß dieser Punkt genau in die Mitte des Bildes kam. Jetzt
6516 wandte er hundertfache Vergrößerung an, um die Stadt Berlin
6517 erkennen zu lassen. Die Entfernung von der Außenstation bis nach
6518 Berlin betrug 8.600 Kilometer; bei der angewandten Vergrößerung
6519 wurden also die Gegenstände bis auf 86 Kilometer nahegerückt, und
6520 es war somit möglich, Ausdehnungen von etwa hundert Meter Länge zu
6521 unterscheiden und bei besonders heller Beleuchtung auch noch
6522 kleinere. Der Kreis an der Wand, der jetzt freilich sehr viel
6523 lichtschwächer erschien, zeigte sich von bräunlichen und grünlichen
6524 Streifen und Vierecken bedeckt, die an zahlreichen Stellen von
6525 dunkleren, unregelmäßigen Flecken unterbrochen waren; jene waren
6526 die bebauten Felder, diese die dazwischen liegenden Wälder und
6527 Seen.
6529 Grunthe hatte richtig geschätzt. An der rechten Seite des Bildes
6530 waren die ausgedehnten Seen der Havel bei Potsdam unverkennbar,
6531 links erschien noch der Lauf der Oder bei Frankfurt auf dem Bild.
6532 Eine verwaschene Stelle nach rechts unten zeigte die von Rauch
6533 erfüllte Atmosphäre der Millionenstadt an. Diese wurde nun in die
6534 Mitte der Projektion gebracht und nochmals um das Zehnfache
6535 vergrößert. Dadurch rückte die Stadt bis auf kaum neun Kilometer an
6536 den Standpunkt des Beschauers heran. Es war, als ob man sie aus
6537 einem dreitausend Meter über dem Nordende der Stadt schwebenden
6538 Luftballon betrachtete, nur freilich bei einer außerordentlich
6539 matten Beleuchtung. Der auf der Wand abgebildete Kreis umfaßte in
6540 Wirklichkeit einen Durchmesser von zehn Kilometern.
6542 Dem Mangel an Licht, welcher eine Folge der Projektion bei starker
6543 Vergrößerung war, konnten die Martier durch eine ihrer genialen
6544 Erfindungen abhelfen; sie schalteten in den Gang der Lichtstrahlen
6545 ein sogenanntes optisches Relais ein. Die Strahlen passierten dabei
6546 eine Vorrichtung, durch welche sie neue Energie aufnahmen, und zwar
6547 jede Farbengattung genau Licht derselben Art und im Verhältnis
6548 ihrer Helligkeit. Dadurch erhielt das ganze Bild, ohne seinen
6549 Charakter zu verändern, die erforderliche Lichtstärke. Eins aber
6550 konnte freilich nicht entfernt werden – der über der ganzen Stadt
6551 lagernde Dunst und Qualm. Die Felder nördlich von der Stadt und ein
6552 Teil der Vororte waren zu erkennen. Man bemerkte die feinen Linien,
6553 von einem Rauchwölkchen gekrönt, welche die der Hauptstadt
6554 zustrebenden Eisenbahnzüge vorstellten. Das Häusermeer selbst aber
6555 verschwamm in einem grauen Nebel, über den nur die Türme und
6556 Kuppeln der Kirchen hervorragten. Deutlich erkannte man den Reflex
6557 der Sonne an dem Dach des Reichstagsgebäudes und an der
6558 Siegessäule.
6560 Grunthe und Saltner hatten natürlich schon öfter Gelegenheit
6561 gehabt, bei ihren Gesprächen mit den Martiern die wichtigsten
6562 geographischen und politischen Aufklärungen über die Menschen zu
6563 geben. Sie würden noch besseres Verständnis dafür gefunden haben,
6564 wenn nicht die Inselbewohner als Techniker hauptsächlich
6565 mathematisch-naturwissenschaftlich gebildet gewesen wären, so daß
6566 ihre historischen Kenntnisse nur der allgemeinen Bildung der
6567 Martier entsprachen. So wußten diese bloß im allgemeinen zu sagen,
6568 daß ihnen die Einrichtungen der Erde auf dem Standpunkt zu stehen
6569 schienen, den man auf dem Mars als Periode der Kohlenenergie
6570 bezeichnete. Sie lag für die Geschichte der Martier um mehrere
6571 hunderttausend Jahre zurück. Rassen, Staaten und Stände in heißem
6572 Konkurrenzkampf um Lebensunterhalt und Genuß, die ethischen und
6573 ästhetischen Ideale noch nicht rein geschieden von den
6574 theoretischen Bestimmungen, der Energieverbrauch ganz auf das
6575 Pflanzenreich angewiesen, ob diese Energie nun von der
6576 Landwirtschaft aus den lebenden oder von der Industrie aus den
6577 begrabenen Pflanzen, den Kohlen, gezogen wurde.
6579 „Woher kommen diese Nebel über Ihren großen Städten?“ fragte einer
6580 der Martier.
6582 „Hauptsächlich von der Verbrennung der Kohle“, erwiderte Grunthe.
6584 „Aber warum nehmen Sie die Energie nicht direkt von der
6585 Sonnenstrahlung? Sie leben ja vom Kapital statt von den Zinsen.“
6587 „Wir wissen leider noch nicht, wie wir das machen sollen. Übrigens
6588 sind die Kohlen doch nur zurückgelegte Zinsen, die unsere geehrten
6589 Vorfahren im Tierreich nicht aufzehren konnten.“
6591 „Die Wolken sind häßlich, man kann ja nichts deutlich sehen“, sagte
6594 „Ich wünschte“, sprach Hil mehr für sich als zu den andern, „wir
6595 hätten bei uns einen Teil Ihrer Wolken. Welch gewaltige
6596 Wasserbecken haben Sie auf der Erde!“
6598 „Es ist aber hier an der Stadt wirklich nichts zu sehen“, bemerkte
6599 Fru. „Die Luft ist zu unruhig in größerer Höhe über der Stadt, wir
6600 bekommen keine klaren Bilder.“
6602 „Lassen Sie uns einmal meine Heimat schauen“, rief Saltner. „Bitt’
6603 schön! Da ist die Luft klar wie auf dem Mars.“
6605 „Das wollen wir sehen“, sagte La. „Aber Heimweh dürfen Sie nicht
6606 bekommen.“
6608 „Ich will Ihnen sagen, wie Sie reisen müssen. Drehen Sie einmal so,
6609 daß wir nach Westen kommen –“
6611 „Wie weit ist es bis nach Ihrer Heimat?“
6613 „Von Berlin? Nun so siebenhundert Kilometer oder etwas mehr
6614 werden’s wohl sein.“
6616 „Nun, da kommen wir doch rascher zum Ziel, wenn wir erst noch
6617 einmal die hundertfache Vergrößerung nehmen und dann einstellen.
6618 So, jetzt dirigieren Sie. Das Bild faßt nunmehr hundert Kilometer
6619 im Durchmesser.“
6621 „Also westlich bitte – aber nicht zu schnell, sonst erkenn ich
6622 nichts. Das ist Potsdam, nun weiter –. Das ist die Elbe – meinen
6623 Sie nicht, Grunthe? Das dort muß Magdeburg sein – halt! Nun immer
6624 direkt südlich.“
6626 Fru ließ die Karte von Deutschland über die Tafel wandern. Der
6627 Harz, die Hügel- und Waldlandschaften Thüringens und des
6628 fränkischen Jura zogen schnell vorüber, die bayerische Hochebene
6629 beherrschte das Bild.
6631 „Das dort muß München sein, da ist’s schön!“ rief Saltner. „Bitte,
6632 machen Sie einmal groß. Und dann erst weiter, dann kommen die
6633 Alpen.“
6635 Fru stellte den Apparat wieder auf tausendfache Vergrößerung und
6636 schaltete das optische Relais ein. Die Hauptstadt Bayerns zeigte
6637 ihre Kuppeln.
6639 „Jetzt dachte ich doch wirklich einen Augenblick“, rief La, „dort
6640 eine Frau zu erkennen. Aber das müßte ja eine seltsame Riesin
6641 sein.“
6643 „Das ist sie auch“, sagte Saltner lachend. „Es ist die Bildsäule
6644 der Bavaria, die Sie sehen.“
6646 „Bavaria? Wodurch hat sich die Frau so verdient gemacht, daß man
6647 ihr Bildsäulen setzt? Hat sie ein Problem gelöst?“
6649 „Die Bierfrage“, sagte Saltner.
6651 „Die Bildsäule stellt die Personifikation eines unsrer Staaten
6652 vor“, erklärte Grunthe.
6654 „Warum nehmen Sie aber dazu nicht einen Mann?“ fragte La wieder.
6656 „Das hätte Grunthe auch sicher getan, wenn er gefragt worden wäre“,
6657 neckte Saltner.
6659 „Ich denke“, sagte Grunthe, „es ist Zeit weiterzureisen.“
6661 „Nun immer weiter nach Süden!“ rief Saltner.
6663 Die Vorberge der Alpen erschienen im klaren Licht der
6664 Nachmittagssonne. Ein dunkler Bergsee erfüllte die Wand, dahinter
6665 erhoben sich die Spitzen der bayerischen Alpen –
6667 „Der Walchensee!“ rief Saltner.
6669 „Das ist schön – so schön gibt es nichts bei uns –“, sagte La.
6671 „Wartens nur“, rief Saltner, der jetzt alles um sich und beinahe
6672 selbst La vergaß. „Es kommt noch schöner. Nun drehens nur
6673 langsam!“
6675 Es war ein wunderbares Wandelpanorama, das sich jetzt entfaltete.
6676 Je höher die Gebirgswelt anstieg, um so klarer und reiner wurde die
6677 Luft und damit die Schärfe der Bilder. Man betrachtete das Gebirge
6678 aus einer Entfernung von neun Kilometern und unter einem
6679 Neigungswinkel von annähernd zwanzig Grad, also wie aus einer Höhe
6680 von dreitausend Metern, doch so, daß man unter dieser Neigung stets
6681 einen Umkreis von zehn Kilometern Durchmesser vor sich hatte,
6682 entsprechend einem Flächenraum von achtzig Quadratkilometern. So
6683 sah man jetzt gerade den Nordabfall der Karwendelwand vor sich,
6684 aber man blickte darüber hinweg auf die dahinterliegenden
6685 Gebirgsketten. Alles dies erschien im höchsten Grade plastisch,
6686 genau wie ein Relief der Gegend; denn das Fernrohr wirkte durch
6687 seine Konstruktion wie ein Stereoskop.
6689 So schob sich die Gegend nach und nach vor den Blicken der
6690 Zuschauer vorüber, als ob dieselben in einem Luftballon schnell
6691 darüber hinschwebten. Der Einschnitt des Inntals wurde passiert,
6692 und nun leuchteten hell im Sonnenstrahl die Ferner der Ötztaler
6693 Alpen. Fru war bei der Drehung des Fernrohrs nach Westen
6694 abgewichen. Wieder erblickte man den schmalen Streifen eines tief
6695 eingeschnittenen Tales, und dahinter erschien eine herrliche
6696 Berggruppe, alle Gipfel mit glänzendem Weiß bedeckt.
6698 „Was ist denn das“, rief Saltner, „da sind wir von der Richtung
6699 abgekommen. Das ist der Ortler! Nun müssen Sie wieder nach Osten
6700 drehen – so – immer weiter! Sehen Sie, immer an diesem Streifen
6701 hin, das ist nämlich das Etschtal, und jetzt können Sie gerad
6702 hineinschauen, hier schwenkt es nach Südost ab. Noch immer weiter,
6703 bis es ganz nach Süden geht – da – da schaun Sie hin – ah, wie
6704 schade, aus dem Tal steigt die Luft so unruhig in die Höhe, aber
6705 die Etsch können Sie durchschimmern sehn. Und jetzt, ganz langsam,
6706 noch ein bißchen, hier, die Berge am linken Ufer, hier ist’s wieder
6707 klar – nun bitte, halt!“
6709 Er beugte sich ganz dicht vor, daß der Schatten seines Kopfes auf
6710 die Wand fiel und die andern nicht mehr gut sehen konnten.
6712 „Da, da ist’s“, rief er jubelnd, „ich kann’s deutlich erkennen. Das
6713 ist die alte Burg, links daneben liegt das Haus, mein Haus – Jesus
6714 Maria – ich kann’s wahrhaftig sehen, wie ein kleines, weißes
6715 Pünktchen! Da wohnt mein Mutterl.“
6717 Jetzt beugte auch La sich vor.
6719 „Wo?“ fragte sie.
6721 Mit der Spitze einer Nadel bezeichnete Saltner den Punkt.
6723 Ihre Köpfe berührten sich. Lange betrachtete La die Gegend, als
6724 wollte sie sich jede Einzelheit einprägen. Saltner trat beiseite.
6726 „Ich hab nun genug geschaut, mir tun die Augen weh“, sagte er und
6727 zog sich auf einen der Stühle zurück. Er bedeckte die Augen mit der
6728 Hand und saß schweigend. La setzte sich neben ihn und drückte leise
6729 seine Linke.
6731 Nach längerer Pause, während deren Fru die Schattengrenze der Erde
6732 betrachten ließ, die jetzt schon bis an den Ural vorgerückt war,
6733 sagte La zu Saltner: „Du möchtest wohl jetzt den Mars nicht mehr
6734 sehen?“
6736 „Warum nicht?“ entgegnete Saltner. „Ich will ihn auch liebgewinnen
6737 – aber du mußt verzeihen! Es ist ein bissen viel auf einmal, was
6738 jetzt durch meinen dummen Menschenverstand geht.“
6740 „Ja, ihr armen Menschen“, sagte La, „es wird wohl noch ein Weilchen
6741 dauern, eh ich recht begreife, wie es in solchem Kopf aussieht. Die
6742 Heimat liebhaben und die Eltern und die Freunde, das ist gut. Und
6743 was gut ist, wie kann das traurig machen?“
6745 „Wenn man es nicht hat –“
6747 „Nicht hat? Wie kann man das nicht haben, was doch nur vom Willen
6748 abhängt? Wer kann dir die Treue nehmen, die du für recht hältst?
6749 Diese Liebe hast du doch, ob hier oder dort, weil du sie selbst
6750 bist.“
6752 „Aber La, kennt ihr Nume die Sehnsucht nicht?“
6754 „Die Sehnsucht? Siehst du, du törichter Lieber, was wirfst du doch
6755 durcheinander! Also bist du gar nicht gut aus reinem Willen,
6756 sondern dich treibt das Verlangen nach dem Besitz. Und aus diesem
6757 Widerstreit bist du traurig. Oh, was seid ihr für Wilde!“
6759 „So würdest du dich nie nach mir sehnen?“
6761 „Nach dir? Das ist doch ganz etwas anderes. Ich hab dich doch nicht
6762 lieb, weil es Pflicht ist, weil es gut ist, sondern lieb hab ich
6763 dich, weil es schön ist zu lieben und geliebt zu werden. Deine Nähe
6764 wünsche ich, wie ich den Ton des Liedes wünsche, um mich an seiner
6765 Schönheit zu erfreuen – aber nein, das ist auch noch nicht richtig,
6766 du könntest denken, das sei nur ein Mittel zur ästhetischen Lust –
6767 nein, so brauch ich deine Liebe und Nähe, wie der Künstler die
6768 eigne Seele braucht, um das Schöne zu schaffen. – Ach, ich komme
6769 mit eurer Sprache nicht zurecht. Ihr sprecht von Liebe in
6770 hundertfachem Sinn. Ihr liebt Gott und das Vaterland und die Eltern
6771 und die Kinder und die Gattin und die Geliebte und den Freund, ihr
6772 liebt das Gute und das Schöne und das Angenehme, ihr liebt euch
6773 selbst, und das sind doch absolut verschiedene Zustände des Gemüts,
6774 und immer habt ihr nur das eine Wort.“
6776 „Ich will dich ja ohne alle Worte lieben, du kluge La –“
6778 Sie blickte tief in seine Augen und sprach: „Wie nennt ihr das, was
6779 niemals wirklich ist, was man nur in der Phantasie sich vorstellt,
6780 und indem man es sich vorstellt, ist das Glück wirklich in uns? Wie
6781 nennt ihr das?“
6783 Saltner zauderte mit der Antwort, und La fuhr fort: „Und das, was
6784 man wollen muß, ob es auch nicht glücklich macht, und was im Wollen
6785 erfreut, wenn es auch nicht wirklich wird, wie nennt ihr das?“
6787 „Ich glaube“, erwiderte Saltner, „das erste nennen wir schön, und
6788 das zweite gut.“
6790 „Und wenn ihr eine Frau liebt, rechnet ihr das zum Schönen oder zum
6791 Guten?“
6793 Es kam zu keiner Antwort.
6795 „Was ist das?“ hörte man plötzlich Fru laut rufen. Eine Bewegung
6796 entstand bei den Martiern. Sie drängten sich nahe an die Wand und
6797 hefteten ihre Augen auf eine bestimmte Stelle des Bildes, das
6798 soeben vom Fernrohr projiziert wurde.
6800 Grunthe hatte Fru gebeten, ihm die Einrichtung des Apparats zu
6801 erklären. Hierbei hatte Fru die Schrauben hin und her gedreht, das
6802 Bild der Erde war nicht mehr im Gesichtsfeld, zahllose Sterne
6803 liefen infolge der Umdrehung der Erde über den projizierten Teil
6804 des Himmels. Jetzt setzte Fru, weiter demonstrierend, das Uhrwerk
6805 in Gang, welches das Fernrohr der Erdbewegung entgegen drehte, so
6806 daß die Sterne auf dem Bild stillstanden. Fru warf einen Blick auf
6807 den Teil des Himmels, der sich zufällig eingestellt hatte. Es war
6808 ein Stückchen der ›südlichen Krone‹, das sich abbildete. Verwundert
6809 blickte er schärfer hin. Er kannte die Stelle zu genau, als daß ihm
6810 nicht ein Stern hätte auffallen sollen, der sich sonst nicht hier
6811 befand. Einer der Asteroiden konnte es nicht sein. Er änderte die
6812 Einstellung ein wenig und erkannte daran, daß der fragliche Körper
6813 sich in verhältnismäßig großer Nähe befinden müsse.
6815 Dies hatte ihn zu dem lauten Ausruf veranlaßt. Aufmerksam prüften
6816 alle den Lichtpunkt, der sich deutlich von den Bildern der
6817 Fixsterne als eine kleine rötliche Scheibe unterschied.
6819 „Es ist ein Schiff!“ rief endlich einer der Martier.
6821 „Der ›Komet‹?“ fragte Grunthe.
6823 „Das ist nicht möglich“, sagte Fru. „Es ist der ›Glo‹! Kein
6824 Zweifel, er ist an seiner roten Farbe kenntlich, es ist das
6825 Staatsschiff.“
6827 „Die Ablösung!“ hieß es in den Reihen der Martier.
6829 „Und Instruktionen von der Regierung“, rief Fru.
6831 „Wie lange Zeit braucht das Schiff noch bis zur Ankunft?“ fragte
6832 Grunthe.
6834 „Darüber können noch Stunden vergehen. Aber trotzdem muß ich leider
6835 um Entschuldigung bitten, daß ich Ihnen heute den Mars nicht mehr
6836 zeigen kann. Ich hoffe, es wird nächstens Gelegenheit dazu sein.
6837 Denn ich muß sofort die Vorbereitungen zur Landung treffen. Und
6838 deshalb, so leid es mir tut, muß ich auch den Flugwagen früher als
6839 beabsichtigt hinabgehen lassen. Sie müssen also die Güte haben,
6840 sich zur Rückfahrt nach der Insel bereitzuhalten.“
6842 Fru verabschiedete sich herzlich von Grunthe, Saltner und La, und
6843 diese wie die übrigen Martier begaben sich nach der Abfahrtsstelle
6844 der Flugwagen, um auf die Insel zurückzukehren.
6846 \section{17 - Pläne und Sorgen}
6848 Als Saltner am folgenden Morgen in Grunthes Zimmer trat, fand er
6849 diesen bereits eifrig mit Schreiben beschäftigt.
6851 „Schon so fleißig?“ fragte Saltner. „Sie haben wohl noch nicht
6852 einmal gefrühstückt?“
6854 „Nein“, sagte Grunthe, „ich warte auf Sie. Ich habe nicht schlafen
6855 können und unsere Lage nach allen Seiten hin erwogen. Wir haben
6856 Wichtiges zu besprechen.“
6858 Beide pflegten, ohne sich um die martische Sitte des Alleinspeisens
6859 zu bekümmern, ihre Mahlzeiten gemeinschaftlich in ihren
6860 Privatzimmern einzunehmen. Hier bot sich ihnen fast die einzige
6861 Gelegenheit, sich völlig ungestört auszusprechen.
6863 „Nun“, sagte Saltner, nachdem sie sich aus den Automaten die Teller
6864 und Becher gefüllt hatten, die zu ihrer Reiseausrüstung gehörten –
6865 denn es war ihnen bequemer, nach europäischer Art zu speisen –,
6866 „nun, schießen Sie los, Grunthe! Ich höre.“
6868 Grunthe sah sich um, ob die Klappen des Fernsprechers geschlossen
6869 seien. Dann sagte er leise:
6871 „Ich habe die Überzeugung, daß sich unser Schicksal heute
6872 entscheiden wird. Und nach allem, was ich aus den Gesprächen der
6873 Martier entnommen habe, insbesondere gestern bei der Rückfahrt,
6874 erwartet man, daß das Staatsschiff den Befehl mitbringen wird, uns
6875 nach dem Mars zu transportieren.“
6877 „Ich glaube, Sie haben recht“, erwiderte Saltner. „Soweit ich mit
6878 La darüber gesprochen habe, sieht sie es als bestimmt an, daß wir
6879 beide mit nach dem Mars gehen, und wir werden wohl schließlich
6880 einfach dazu gezwungen werden.“
6882 Grunthe sah starr geradeaus. Dann sprach er langsam: „Ich gehe nach
6883 Europa zurück.“
6885 Seine Lippen zogen sich zu einer geraden Linie zusammen. Sein
6886 Entschluß war unabänderlich.
6888 Saltner blickte ihn erstaunt an.
6890 „Na“, sagte er, „ich gebe zu, daß wir alle Kräfte daranzusetzen
6891 haben, unsrer Instruktion nachzukommen, das heißt, nach Auffindung
6892 des Nordpols auf dem kürzesten Wege heimzukehren. Und wenn ich auch
6893 eine Reise nach dem Mars in schöner Gesellschaft nicht so übel
6894 fände, so habe ich doch einen gewissen Horror vor Balancierkünsten
6895 und insbesondere vor diesen furchtbar fetten Speisen – ich denke
6896 noch mit Entsetzen an die flüssige Butter oder was es war, das wir
6897 neulich zum Frühstück erhielten – und bei dem Klima bleibt einem ja
6898 nichts übrig, als früh, mittags und abends ein Pfund Fett zu
6899 verschlingen –“
6901 Grunthe runzelte die Stirn.
6903 „Ja, Ihnen tut das nichts, Sie wissen ja nie, was Sie essen –“, er
6904 klopfte ihn auf die Schulter. „Seien Sie nicht böse, ich kann es
6905 nur nicht leiden, wenn Sie dieses fürchterlich ernste Gesicht
6906 machen. Aber ohne Scherz, was ich sagen wollte, ist dies: Wie
6907 stellen Sie sich denn das vor, gegen den Willen der Martier von
6908 hier fort- oder woanders hinzukommen, als wo man Sie freundlichst
6909 hinkomplimentiert?“
6911 „Der Gewalt muß ich weichen“, erwiderte Grunthe. „Aber verstehen
6912 Sie, nur der Gewalt. Ich werde mich ihr indessen zu entziehen
6913 suchen.“
6915 „Denken Sie die Nume zu überlisten?“
6917 „Ich würde selbst das versuchen, wenn sie wirklich Gewalt
6918 brauchten, denn ich würde dann meinen, mich im Zustand der Notwehr
6919 zu befinden. Aber nach alledem, was ich von ihnen weiß, glaube ich
6920 nicht, daß sie so unwürdig und barbarisch handeln. Sie werden nur
6921 keine Rücksicht auf uns nehmen und uns dadurch in die Lage
6922 versetzen, ihnen freiwillig auf den Mars zu folgen.“
6924 „Wie meinen Sie das?“
6926 „Ich habe mir überlegt, sie werden uns nicht mit Gewalt
6927 einschiffen; das wäre ein Bruch des Gastrechts. Aber sie werden uns
6928 nicht erlauben, länger auf der Insel zu bleiben, als bis dieselbe
6929 für die Wintersaison geräumt wird. Und das kann man ihnen nicht
6930 verdenken, wenn sie uns nicht im Winter hierlassen wollen, während
6931 die Wirte selbst bis auf ein paar Wächter das Haus verlassen. Und
6932 somit werden wir vor die Alternative gestellt werden, entweder mit
6933 nach dem Mars zu ziehen oder die Heimreise mit unzulänglichen
6934 Mitteln bei Beginn des Polarwinters und wahrscheinlich bei widrigen
6935 Winden anzutreten. Und das ist es, was ich Ihnen sagen wollte. Wir
6936 müssen auf diesen Fall vorbereitet sein und genau wissen, was wir
6937 wollen; und ich muß wissen, wie Sie darüber denken. Denn ich bin
6938 überzeugt, daß der heutige Tag nicht ohne Ultimatum vorübergeht.“
6940 „Das ist eine kitzlige Sache, liebster Freund. Unter diesen
6941 Umständen könnte es sicherer sein, auf dem kleinen Umweg über den
6942 Mars nach Berlin oder Friedau zurückzukehren. Nehmen Sie an, wir
6943 kommen glücklich über das Eismeer und geraten nicht in einen der
6944 Ozeane, aber wir gelangen nach Labrador oder Alaska oder nach
6945 Sibirien oder sonst einer dieser lieblichen Sommerfrischen – wenn
6946 wir dann überhaupt wieder herauskommen, so ist doch vor dem Sommer
6947 an keine Heimkehr zu denken; und für den Sommer haben uns die
6948 Martier ja sowieso versprochen, uns wieder herzubringen.“
6950 „Die Gefahren kann ich leider nicht leugnen, aber wir müssen sie
6951 auf uns nehmen. Es ist doch immer die Möglichkeit vorhanden, daß
6952 wir nach Hause kommen oder wenigstens bis zu einem Ort, von welchem
6953 aus wir Nachricht geben können. Und das scheint mir das
6954 Entscheidende. Wir dürfen nichts unterlassen, die Kunde von der
6955 Anwesenheit der Martier am Pol den Regierungen der Kulturstaaten zu
6956 übermitteln, ehe jene selbst in unsern Ländern eintreffen. Man muß
6957 in Europa wie in Amerika vorbereitet sein.“
6959 Saltner nickte nachdenklich. „Wenn wir unsre Brieftauben noch
6960 hätten! Aber die armen Dinger sind alle ertrunken.“
6962 „Sehen Sie“, fuhr Grunthe noch leiser fort, „ich fürchte, wir
6963 können die Sachlage nicht ernst genug nehmen. Wir haben eine
6964 wissenschaftliche Pflicht; in dieser Hinsicht könnte man vielleicht
6965 sagen, daß wir ein Recht hätten, die sicherste Heimkehr zu wählen,
6966 auch daß der Besuch des Mars eine so unerhörte Tat wäre, daß sie
6967 die Übertretung unserer Instruktion entschuldigen könnte, obwohl
6968 sie dies für mein Gewissen nicht tut. – Bitte, lassen Sie mich
6969 aussprechen. Wir haben aber nach meiner Überzeugung außerdem eine
6970 politische und kulturgeschichtliche Pflicht, wenn man so sagen
6971 darf, die uns zwingt, alles daranzusetzen, selbst den geringsten
6972 Umstand auszunutzen, der uns eine Chance bietet, der Ankunft der
6973 Martier zuvorzukommen. Wer garantiert Ihnen, was die Vereinigten
6974 Staaten des Mars beschließen, wenn sie erst im vollen Besitz der
6975 Nachrichten über die Erdbewohner sind? Und selbst, wenn sie uns
6976 Wort halten, durch welche unbekannten Einflüsse können sie uns
6977 nicht verhindern, das zu tun, was für die Menschen das Richtige
6978 wäre? Wenn wir erst zugleich mit ihnen in Europa ankommen, wenn die
6979 Regierungen überrascht werden, ist es vielleicht zu spät, die
6980 geeigneten Maßregeln zu treffen.“
6982 „Ich hätte unsre Stellung nicht für so verantwortlich gehalten“,
6983 sagte Saltner.
6985 „Und ich sage Ihnen“, sprach Grunthe weiter, „nach reiflicher
6986 Überlegung – Sie wissen, daß ich keine Phrasen mache – ist es mir
6987 klar geworden, daß, solange die Menschheit existiert, von dem
6988 Entschluß zweier Menschen noch niemals so viel abgehangen hat wie
6989 von dem unsrigen.“
6991 Saltner fuhr in die Höhe. „Das ist ein großes Wort –“
6993 „Ein ganz bescheidenes. Wir sind durch Zufall in die Lage versetzt
6994 worden, einen Funken zu entdecken, der vielleicht einen Weltbrand
6995 entfacht. Unsere Entscheidung gleicht nicht der des Machthabers,
6996 der über Völkerschicksale bestimmt, sondern der des Soldaten, der
6997 sein Leben aufs Spiel zu setzen hat, um eine wichtige Meldung zur
6998 rechten Zeit zu überbringen. Sie werden mir zugeben, daß es noch
6999 niemals für die zivilisierte Menschheit ein bedeutungsvolleres
7000 Ereignis gegeben hat, als es die Berührung mit den Bewohnern des
7001 Mars sein muß. Die Europäer haben so viele Völker niederer
7002 Zivilisation durch ihr Eindringen vernichtet, daß wir wohl wissen
7003 können, was für uns auf dem Spiel steht, wenn die Martier in Europa
7004 Fuß fassen.“
7006 „So wollen Sie überhaupt verhindern, daß die Martier in Europa
7007 aufgenommen werden?“
7009 „Wenn ich es könnte, würde ich es tun. Aber wir sind einfache
7010 Gelehrte, wir haben keine politischen Entscheidungen zu fällen. Und
7011 eben darum dürfen wir unter keinen Umständen auf eigene Faust den
7012 Martiern die Hand bieten, dürfen nicht mit ihnen zugleich nach
7013 Europa gelangen, sondern wir müssen versuchen, den Großmächten die
7014 Nachricht von dem Bevorstehenden so zeitig zu bringen, daß sie sich
7015 über ihr gemeinsames Vorgehen entschließen können, ehe die
7016 Luftschiffe der Martier über Berlin und Petersburg, über London,
7017 Paris und Washington schweben.“
7019 „Um Gottes willen, Sie sehen die Sache zu tragisch an. Die paar
7020 hundert Martier werden uns nicht gleich zugrunde richten; und wenn
7021 sie uns gefährlich werden, ist es immer noch Zeit, sie wieder
7022 hinauszuwerfen. Aber es ist doch viel wahrscheinlicher, daß wir sie
7023 als Freunde aufnehmen und den unermeßlichen Vorteil ihrer
7024 überlegenen Kultur für uns ausbeuten.“
7026 „Die Frage ist zu schwer, um sie jetzt zu diskutieren, und wir eben
7027 müssen dafür sorgen, daß sie an den entscheidenden Stellen zur
7028 rechten Zeit erwogen werden kann. Nur unterschätzen Sie ja nicht
7029 die Macht der Martier. Denken Sie an Cortez, an Pizarro, die mit
7030 einer Handvoll Abenteurer mächtige Staaten zerstörten. Und was will
7031 die Kultur der Spanier gegenüber den Mexikanern oder Peruanern
7032 bedeuten im Vergleich zu dem Fortschritt von Hunderttausenden von
7033 Jahren, durch welchen die Martier uns überlegen sind? Das eben ist
7034 meine größte Sorge, daß man diese Überlegenheit überall
7035 unterschätzen wird, wenn nicht wir, die wir das abarische Feld und
7036 die Raumschiffe gesehen haben, soviel an uns ist, darüber
7037 Aufklärung verbreiten.“
7039 „Sehen Sie nicht zu schwarz, Grunthe?“
7041 „Ich will es von Herzen hoffen. Aber das sage ich Ihnen als meine
7042 Überzeugung: Mit dem Augenblick, in welchem das erste Luftschiff
7043 der Martier über dem Lustgarten erscheint, ist das deutsche Reich
7044 ein Vasall, der von der Gnade der Martier, vielleicht von der Gnade
7045 irgendeines untergeordneten Kapitäns lebt, und so alle übrigen
7046 Staaten der Erde.“
7048 „Daran habe ich noch nicht gedacht.“
7050 „Was wollen Sie gegen diese Nume tun? Ich will gar nicht von ihrer
7051 moralischen Überlegenheit und ihrer höheren Intelligenz reden;
7052 durch diese werden sie wahrscheinlich Mittel finden, uns nach ihrem
7053 Willen zu lenken, ehe wir es merken. Denken Sie allein an ihre
7054 technische Übermacht.“
7056 „Man wird ihnen ihre Luftschiffe, die übrigens noch gar nicht
7057 fertig sind, einfach mit Granaten entzweischießen, oder man wird
7058 sie auf der Erde, wo sie nur kriechen können, gefangennehmen.“
7060 „Das kann vielleicht mit der ersten Abteilung geschehen, die zu uns
7061 kommt; aber der Mars hat doppelt soviel Bewohner als die ganze
7062 Erde. Das zweite Luftschiff würde uns vernichten. Lieber Saltner,
7063 Sie haben vorgestern gehört, was Jo von der Raumschiffahrt
7064 erzählte. Durch ihre Repulsitschüsse erteilen die Martier einer
7065 Masse, die auf der Erde zehn Millionen Kilogramm wiegt,
7066 Geschwindigkeiten von 30, 40, ja bis 100 Kilometern. Wissen Sie,
7067 was das heißt? Leute, die das können, werden aus Entfernungen,
7068 wohin kein irdisches Geschütz trägt, ganz Berlin in wenigen Minuten
7069 in Trümmer legen, falls sie dies wollen. Die Europäer können dann
7070 einmal erleben, was sie sonst an den Wohnstätten armer Wilden getan
7071 haben. Freilich werden die Martier zu edel dazu sein. Sie hätten es
7072 wohl auch nicht nötig. Sie können die Schwerkraft aufheben. Was
7073 nützt uns die größte, tapferste, glänzend geführte Armee, wenn auf
7074 einmal Bataillone, Schwadronen und Batterien zwanzig, dreißig Meter
7075 in die Luft fliegen und dann wieder herunterfallen? Ich weiß, ich
7076 werde die Regierungen nicht überzeugen, aber die Pflicht habe ich,
7077 unsre Erfahrungen mitzuteilen. Schon die Freundschaft der Martier
7078 halte ich für gefährlich, ihre Feindschaft für verderblich. Kommen
7079 sie vor oder mit uns zu den Menschen, so werden sie dieselben so
7080 für sich einnehmen, daß unsere Warnung, unsere Beschreibung ihrer
7081 Macht zu spät kommt. Deshalb ist mir der Entschluß gereift, daß
7082 unsere Abreise so bald wie möglich vor sich geht. Ich werde sofort
7083 zur Instandsetzung des Ballons schreiten.“
7085 „Es versteht sich von selbst, daß ich Ihnen dabei helfe.“
7087 „Das nehme ich natürlich an. Aber es ist eine andere Frage, Saltner
7088 – es ist vielleicht richtiger, daß ich allein zurückgehe, während
7089 Sie die Studien auf dem Mars fortsetzen.“
7091 „Das ist unmöglich, allein können Sie nicht –“
7093 „Doch, ich kann sogar besser allein zurück. Der Ballon ist kaum
7094 noch für zwei Personen tragfähig. Fahre ich allein, so kann ich
7095 mich auf viel längere Zeit verproviantieren, ich gewinne dadurch an
7096 Wahrscheinlichkeit, bis in bewohnte Gegenden zu gelangen.
7097 Beobachtungen will ich jetzt natürlich nicht mehr machen, also
7098 genügt eine Person vollständig zur Leitung des Ballons. Und
7099 andererseits ist es vielleicht von größter Wichtigkeit zu erfahren,
7100 was die Martier inzwischen vorgenommen haben –“
7102 „Nein, Grunthe, ich kann und will mich nicht von Ihnen trennen.“
7104 „Ich sage Ihnen, es wird das beste sein. Überlegen Sie sich die
7105 Sache. Und nun an die Arbeit.“
7107 Sie räumten unter ihrem Gepäck auf.
7109 Die Klappe des Fernsprechers erklang. Saltner wurde in das
7110 Sprechzimmer gerufen.
7112 „Sehen Sie zu“, rief ihm Grunthe nach, „daß Sie unsern Ballon
7113 herausbekommen. Wie ich bemerkt habe, hat man ihn unter Verschluß
7114 gebracht, was auch ganz vernünftig war. Lassen Sie ihn auf das
7115 Inseldach hinaufschaffen.“
7117 Saltner hatte gestern mit La nicht mehr ungestört sprechen können.
7118 Es war den ganzen Abend über viel Besuch im gemeinsamen Zimmer
7119 gewesen, man erwartete eine Nachricht über die Landung des
7120 Staatsschiffes. Doch hatte man sich trennen müssen, ehe eine solche
7121 eingelaufen war. Daß Se nicht mehr zum Vorschein gekommen war,
7122 hatte Saltner kaum bemerkt. Der Gedanke an La erfüllte ihn ganz,
7123 und dennoch sagte er sich selbst, daß er in seinem Liebesglück nur
7124 einen Traum sehen dürfe, dem jeden Augenblick ein unerwartetes
7125 Erwachen folgen könne. Aber warum nicht träumen?
7127 Diesen Feen gegenüber konnte er, der ›arme Bat‹, gewiß kein Unglück
7128 anrichten, sie würden ihn aufwachen lassen, wann sie wollten. Doch
7129 wie hätte er ihnen widerstehen können?
7131 Es war ihm wie eine Enttäuschung, daß er jetzt nicht La, sondern Se
7132 im Sprechzimmer vorfand. Sie begrüßte ihn mit derselben
7133 Liebenswürdigkeit und Vertraulichkeit wie gestern La, doch aber
7134 wieder anders, ihrem lebhafteren Wesen entsprechend. Und als er
7135 nach den ersten Minuten der Unterhaltung neben ihr saß, zog es ihn
7136 mit so unwiderstehlicher Macht zu ihr hin, daß er sein Gefühl gegen
7137 La gar nicht von dem gegen Se zu unterscheiden wußte. Nur einen
7138 neuen, eigentümlichen Reiz hatte es durch die Veränderung der
7139 Persönlichkeit gewonnen.
7141 Wundersamerweise war es ihm nun gar nicht möglich, nach La zu
7142 fragen, und Se erwähnte ihrer mit keinem Wort. Aber er konnte es
7143 nicht unterlassen, ihr zu sagen, wie glücklich es ihn mache, neben
7144 ihr zu weilen, ihr ins Auge zu sehen und ihre Stimme hören zu
7145 dürfen.
7147 Sie ließ ihn ausreden und antwortete dann mit einem hellen Lachen,
7148 das aber durchaus nichts Beleidigendes für ihn hatte.
7150 „Das freut mich ja sehr“, sagte sie, „daß wir nun so gute Freunde
7151 geworden sind. Sie haben mir gleich von Anfang an gut gefallen. Es
7152 ist merkwürdig, ihr Menschen seid so ganz anders, und doch – oder
7153 vielleicht darum habt ihr etwas, wodurch man sich zu euch
7154 hingezogen fühlt.“
7156 Saltner ergriff ihre Hand.
7158 „Freilich kennt man euch auch noch zu wenig. Vielleicht verdient
7159 ihr gar nicht –“
7161 „Ich hoffe, liebste Freundin, mich werden Sie immer bereit finden,
7162 ihnen zu dienen.“
7164 „Daran zweifle ich gar nicht“, lachte Se, „man weiß nur nicht, ob
7165 Sie nicht einmal vergessen, daß wir Nume doch in vielem anders
7166 denken –“
7168 „Es ist nicht schön, mich sogleich daran zu erinnern, daß ich armer
7169 Mensch es gewagt habe –“
7171 „Sie verstehen mich nicht, Sal, wie könnt’ ich mich überheben
7172 wollen? Nur – doch das führt zu nichts, jetzt auseinanderzusetzen,
7173 was erst erfahren sein will. Ich bin ja auch zu ganz anderem Zweck
7174 hierhergekommen. Obwohl aus wirklicher Freundschaft“, setzte sie
7175 hinzu.
7177 Jetzt erst fiel es Saltner wieder aufs Herz, vor welch wichtiger
7178 Entscheidung er stünde. Er wurde sehr ernst. Er wußte nicht, was er
7179 zuerst sagen sollte.
7181 Se kam ihm zuvor.
7183 „Sie wissen, daß der ›Glo‹ angekommen ist?“ fragte sie.
7185 „Ist er schon gelandet?“
7187 „Diese Nacht. Er bringt wichtige Nachrichten für Sie mit. Und
7188 deshalb bin ich hierhergekommen.“
7190 „Sie wollen mir einen Rat geben, liebe Se? Und Sie werden uns Ihre
7191 Hilfe nicht versagen?“
7193 „Soweit ich darf. Amtlich habe ich nichts erfahren, sonst wäre ich
7194 nicht hier. Aber was jedermann bei uns weiß, darf ich auch Ihnen
7195 sagen. Machen Sie sich darauf gefaßt, daß Sie mit uns nach dem Nu
7196 reisen.“
7198 Saltner schwieg nachdenklich.
7200 „Ich habe so etwas erwartet“, sagte er dann. „Ich bin in einer
7201 fatalen Lage.“
7203 „Sie machen ein erschrecklich böses Gesicht“, sagte Se, indem sie
7204 ihm mit ihrer Hand freundlich über die Stirn strich. „Ich weiß ja
7205 schon, daß Sie sehr gern mit uns kämen und doch Ihren Freund nicht
7206 verlassen wollen. Aber er wird auch mit uns kommen.“
7208 „Das wird er nicht“, platzte Saltner heraus. „Das heißt“, fuhr er
7209 fort, „wenn Sie uns mit Gewalt zwingen –“
7211 „Zwingen? Wie meinen Sie das?“
7213 „Nun, Sie sind die Stärkeren. Sie können uns einfach als Gefangene
7214 auf Ihr Schiff bringen.“
7216 „Können? Ich weiß nicht, ich verstehe Sie nicht recht, liebster
7217 Freund. Man kann doch immer nur das, was nicht Unrecht ist. Ihre
7218 Sprache ist so unklar. Sehen Sie diesen Griff? Sie sagen, ich kann
7219 ihn drehen, und meinen, ich habe die physische Möglichkeit dazu.
7220 Wenn ich aber drehe, so versinkt der Sessel unter Ihnen, und so
7221 kann ich ihn nicht drehen, das heißt, ich kann es nicht wollen.
7222 Diese moralische Möglichkeit oder Unmöglichkeit können Sie auch
7223 nicht anders ausdrücken. Könnte es denn bei Ihnen vorkommen, daß
7224 Sie Menschen aus dem Wasser erretten und ihnen dann das Leben
7225 nehmen? Und die Freiheit, ist das nicht noch schlimmer?“
7227 „Ich weiß nicht“, sagte Saltner, „wie man bei uns verfahren würde,
7228 wenn Europäer auf einer Insel in einem fremden Weltteil, wo noch
7229 keine zivilisierte Macht Fuß gefaßt hat, ein reiches Goldlager
7230 entdeckten und, um dasselbe zu sichern, eine Befestigung anlegten;
7231 wenn dann Kundschafter der Eingeborenen in diese Befestigung
7232 gerieten – ich weiß nicht, ob wir uns nicht das Recht zuschreiben
7233 würden, diese Wilden um unserer eigenen Sicherheit willen an der
7234 Rückkehr zu verhindern. Das scheint mir ungefähr die Lage zwischen
7235 Ihnen und uns. Vielleicht würden wir auch sagen, wir schicken diese
7236 Leute wieder zurück, damit sie uns als Boten und Vermittler dienen;
7237 aber erst führen wir sie nach Europa, damit sie unsere ganze
7238 Machtfülle kennenlernen und ihren heimatlichen Häuptlingen sagen,
7239 daß diese unsern Kanonen nicht würden widerstehen können; und wir
7240 entlassen sie erst, wenn unsre Befestigungen soweit fertig sind,
7241 daß wir von dort aus die ganze Insel beherrschen und wir Herren der
7242 Lage sind.“
7244 Se nickte ernsthaft. „Sie erkennen die Sachlage ganz richtig“,
7245 sagte sie. „Ich glaube, daß wir unser Verhältnis zu Ihnen in der
7246 Tat so auffassen, nur mit dem Unterschied, daß wir diese
7247 Kundschafter nicht gegen ihren Willen festhalten können.“
7249 „Dann ist doch die Sache sehr einfach – wir reisen eben ab.“
7251 „Nein, nein – so einfach ist das nicht. Ich weiß nur nicht, wie ich
7252 es Ihnen klarmachen soll. Sie verstehen unter ›Willen‹ allerlei
7253 Gemütskräfte, die bloß individuelle Triebe sind; diese können wir
7254 bezwingen, gegen diesen Willen können wir Sie festhalten. Zum
7255 Beispiel, ich binde Ihnen mit diesem Schleier wieder die Hände. Nun
7256 wollen Sie fort, weil Sie gern etwas Interessanteres tun möchten,
7257 als hier zu sitzen. Daran kann ich Sie verhindern.“
7259 „Dazu brauchten Sie mich gar nicht zu binden.“
7261 „Oder es entstände draußen ein Lärm, Sie erschrecken plötzlich,
7262 Ihre Sinne verwirren sich, und Sie wollen deshalb fort – daran
7263 hindert Sie dieser Knoten. Nun, wenn Sie in dieser Weise fort
7264 wollen, nur weil es Ihnen lieber ist, heimzukehren als auf den Mars
7265 zu gehen, dann wird man Sie hindern. Wenn aber nicht Ihr
7266 individueller Wille, sondern Ihr sittlicher Wille im Spiel ist,
7267 Ihre freie Selbstbestimmung als Persönlichkeit, oder wie Sie das
7268 nennen, was wir als Numenheit bezeichnen – dann gibt es keine
7269 Macht, die Sie hindern kann.
7271 Sehen Sie, liebster Freund“, fuhr sie fort und löste den Knoten,
7272 den sie im Spiel geschlungen, „das wollte ich Ihnen sagen. Ihr
7273 Wille ist nichts gegen den unsern, nur das Motiv des Willens gilt.
7274 Gibt es eine gemeinsame Bestimmung der sittlichen Würde zwischen
7275 Numen und Menschen, so werden Sie Freiheit haben; gibt es für
7276 Menschen nur Motive der Lust, so werden Sie uns nie widerstehen.
7277 Ich weiß ja nicht, wie Ihr Bate im Grunde seid. Und noch dies.
7278 Glauben Sie niemals, Sal, daß ich an Ihrer Neigung zweifle, aber
7279 vergessen Sie nicht, daß ich eine Nume bin; Liebe darf niemals
7280 unfrei machen. Und daran denken Sie!“
7282 „Ich will“, sagte Saltner. „Aber sehen Sie, das eben ist für uns
7283 Menschen das Schwere und dem einzelnen oft unmöglich, diese
7284 Trennung zu vollziehen, die Ihnen selbstverständlich ist. Unser
7285 Denken vermag nicht immer Neigung und Pflicht auseinanderzuhalten,
7286 oft erscheint die eine im Gewand der andern. Was darf ich um
7287 Ihretwillen tun, was bin ich Ihnen schuldig und was darf ich nicht
7288 mehr tun? Sie Glücklichen haben gelernt, wie Götter ins eigene Herz
7289 zu schauen, wir armen Menschen aber wenden uns in solchen Fällen an
7290 unser Gefühl. Wir nennen es zwar Gewissen, sittliches Gefühl, weil
7291 es das umfaßt, was uns allen als Menschen gemeinsam sein soll. Aber
7292 als Gefühl bleibt es doch immer so eng verwachsen mit dem
7293 Einzelgefühl, daß wir nur zu leicht für Pflicht halten, was im
7294 Grunde Neigung ist; und wenn nicht unsre Neigung, vielleicht die
7295 Neigung, die Gewohnheit unsres Stammes, unsrer Zeitgenossen. Und
7296 wir tun aus bester Absicht das Unrechte. Auch der Indianer folgt
7297 seinem Gewissen, wenn er den Feind skalpiert. Wir irren, weil wir
7298 blind sind.“
7300 „Sie mischen schon wieder einen anderen Irrtum dazwischen, Sal.
7301 Nicht darauf kommt es an, ob wir das Richtige treffen, sondern
7302 darauf, ob wir aus den richtigen Motiven wollen. Wer das kann,
7303 besitzt Numenheit. Wenn der Indianer den Feind skalpiert, so wird
7304 er von der höheren Gesittung eines Besseren belehrt oder
7305 vernichtet. Aber dies trifft nur seinen Irrtum, nämlich die Folgen,
7306 die daraus in der Welt entstehen. Doch die Heiligkeit seines
7307 Willens bleibt unberührt, wenn er lieber zugrunde geht, als das
7308 aufgibt, was er für sittliche Pflicht hält. Sie brauchen also nicht
7309 darum zu sorgen, ob Sie bei Ihrer Entscheidung das Richtige treffen
7310 in dem, was Sie tun, sondern nur, ob Ihr Motiv rein ist in dem, was
7311 Sie wollen.“
7313 „Das meinte ich ja; eben auch darin können wir uns täuschen. Se,
7314 ich muß Ihnen gegenüber ganz offen sein. Wir wollen, daß unsere
7315 Mitmenschen von dem Besuch der Martier nicht überrascht werden;
7316 diese Überraschung zu verhüten, halten wir für unsere Pflicht. Wir
7317 irren vielleicht darin, daß wir den Menschen damit zu nützen
7318 glauben; aber unser Motiv ist rein. Meinen Sie es nicht auch so?“
7320 „Ganz richtig.“
7322 „Aber damit ist es nicht entschieden, wie ich zu handeln habe. Und
7323 hier spielt unsere theoretische Unwissenheit in die ethische Frage
7324 hinein. Wenn nun zum Beispiel einer von uns allein den Erfolg
7325 leichter erreichte, hätten wir nicht die Pflicht uns zu trennen?
7326 Und wenn nicht, ist es nicht Pflicht, daß wir zusammenhalten auf
7327 alle Fälle? Wie also soll ich hier entscheiden, was meine Pflicht
7328 erfordert?“
7330 „Aber Sal! Ich hatte mich schon gefreut, daß Sie auch so vernünftig
7331 reden können, und nun urteilen Sie wieder wie ein Wilder!“
7333 „Sie sind grausam, Se!“
7335 „Was reden Sie denn da von Pflicht? Das ist doch einzig eine Frage
7336 der Klugheit. Was Ihre Klugheit erfordert, das können Sie fragen.
7337 Die Pflichtfrage ist schon längst mit dem Willen entschieden, nur
7338 das Klügste hier zu tun. Die dürfen Sie gar nicht mehr in Betracht
7339 ziehen.“
7341 „Wenn ich mit Ihnen nach dem Mars ginge und mein Freund allein nach
7342 Europa, und er verunglückte unterwegs, würde ich mir nicht immer
7343 Vorwürfe machen, daß ich nicht mit ihm gegangen bin? Würde man mich
7344 nicht pflichtvergessen nennen?“
7346 „Was die Menschen tun würden, weiß ich nicht und geht mich auch
7347 nichts an. Sie aber können sich höchstens den Vorwurf machen,
7348 unklug gehandelt zu haben.“
7350 „Also meinen Sie, ich müßte ihn begleiten?“
7352 „Das habe ich nicht gesagt. Ich habe nur unter Ihrer Voraussetzung
7353 gesprochen, daß er mit Ihnen sicherer reise. Das ist aber doch erst
7354 zu untersuchen.“
7356 „Was raten Sie mir?“
7358 „Zunächst die Entscheidung der Martier abzuwarten. Sie wissen ja
7359 noch gar nicht, ob Ihnen die Mittel zur Abreise gewährt werden
7360 können. Erst wenn Sie diese Mittel kennen, vermögen Sie zu
7361 entscheiden, ob Ihre Begleitung entbehrlich ist. Und wenn sie
7362 entbehrlich ist, so würde ich mich sehr freuen, Sie mit zu uns zu
7363 nehmen.“
7365 „Ich rechne auf Ihre Hilfe. Lassen sie unsern Ballon auf das innere
7366 Inseldach schaffen!“
7368 „Das geht nicht, bevor Sie die Erlaubnis der Regierung haben –“
7370 „Und die Ihrige würde ich erhalten? Ich meine, Sie würden mich
7371 nicht für unwürdig Ihrer Freundschaft halten, wenn ich Ihrem Wunsch
7372 nicht entspräche, nach dem Mars –“
7374 „Was habe ich Ihnen gesagt, Saltner? Das wäre keine Liebe, die
7375 unfrei machte.“
7377 „Se, wie glücklich machen Sie mich!“ Saltner ergriff zärtlich ihre
7378 Hände.
7380 „Jetzt sind Sie wieder der alte Saltner! Kaum ist die Angst von ihm
7381 genommen, ich könnte ihm böse werden, wenn er etwas Vernünftiges
7382 tut, so ist er wieder seelenvergnügt. Und ich habe wirklich
7383 geglaubt, Sie wären so ernsthaft, weil es sich um Ihre Pflicht
7384 handelt –“
7386 „Das ist nicht Ihr Ernst, Se, Sie kennen mich besser!“
7388 „Gar nicht kennt man euch Menschen! Wozu denn überhaupt erst
7389 traurig? Was wollen Sie übrigens über dem Strich?“
7391 „Sehen Sie, Se, Sie sind auch nicht vollkommen – ich meine, nicht
7392 so absolut vollkommen –“
7394 „Ich begreife!“
7396 „Sie haben gar nicht gemerkt, daß ich schon eine Viertelstunde lang
7397 neben Ihnen sitze – ich habe gestern das Balancieren gründlich
7398 gelernt.“
7400 „Ach, gestern! Bei La?“
7402 „Ja, sagen Sie, was ist das? Wo ist sie heute? Wo waren Sie
7403 gestern? Was ist das mit dem Spiel, von dem Sie sprachen? Ich bitte
7404 Sie, Se –“
7406 Aber seine weiteren Fragen wurden abgeschnitten. Ra, der Leiter der
7407 Station, trat in das Zimmer. Er hatte eine amtliche Mitteilung zu
7408 machen. Der Regierungskommissar, welcher mit dem ›Glo‹ angekommen
7409 war, ließ Grunthe und Saltner zu einer offiziellen Konferenz
7410 bitten, um drei Uhr. Er würde sich vorher beehren, den Herrn seine
7411 private Aufwartung zu machen.
7413 Saltner erklärte sich natürlich bereit. Er werde sofort seinen
7414 Freund benachrichtigen. Schnell verabschiedete er sich von Ra und
7417 „Ein ganz ehrliches Spiel!“ flüsterte Se ihm zu, als sie ihm die
7418 Hand zum Abschied reichte. „Und nun Kopf oben! Einschüchtern
7419 brauchen Sie sich nicht zu lassen!“
7421 Eilig teilte Saltner das Wesentlichste aus seiner Unterredung mit
7422 Se Grunthe mit und benachrichtigte ihn von dem bevorstehenden
7423 Besuch.
7425 Kaum hatte Grunthe Zeit gefunden, seine Toilette einigermaßen in
7426 Ordnung zu bringen, als auch die Deutschen schon gebeten wurden,
7427 sich im Empfangszimmer einzufinden. Fast gleichzeitig mit ihnen
7428 trat der Kommissar, von Ra geleitet, ein.
7430 Seine Persönlichkeit machte auf Grunthe und Saltner einen tiefen
7431 Eindruck. Er war größer als alle Martier, die sie bisher gesehen
7432 hatten, und überragte sogar um ein weniges noch die lange Gestalt
7433 Grunthes. Ein stattlicher weißer Bart gab ihm ein ehrwürdiges
7434 Aussehen. Seiner Haltung und seinem Blick war zu entnehmen, daß man
7435 es mit einem vornehmen Mann zu tun hatte, der gewohnt war, sowohl
7436 zu repräsentieren als zu dirigieren. Aber aus seinen großen dunklen
7437 Augen sprach ein Vertrauen erweckendes Wohlwollen, man war
7438 überzeugt, daß dieser Mann bei seinen Anordnungen niemals an sich
7439 selbst dachte, sondern nur an das Wohl derer, die er zu vertreten
7440 hatte.
7442 Ill, dies war sein Name, zeigte sich bis in alle Einzelheiten über
7443 die bisherigen Vorgänge auf der Insel unterrichtet. Er bat um
7444 Entschuldigung, daß er sich seiner Muttersprache bedienen müsse und
7445 erkundigte sich in der liebenswürdigsten Weise nach dem
7446 persönlichen Wohlergehen der Gäste. Insbesondere sprach er in
7447 warmen Worten sein Bedauern über das Verschwinden des Leiters der
7448 Expedition aus. Es schien ihm unbegreiflich, daß man keine weiteren
7449 Spuren von Torm gefunden habe, und er meinte, daß das Binnenmeer
7450 und womöglich seine Umgebung noch einmal genauer durchsucht werden
7451 müsse. Er kam dann auf die Methode zu sprechen, wie sich die
7452 Deutschen das Martische angeeignet hätten, und nun flocht er einige
7453 sehr interessierte Fragen nach Ell ein, wie alt er sei, woher er
7454 stamme, wie Grunthe ihn kennengelernt habe, wo er jetzt lebe.
7456 Grunthe antwortete ausführlich, soweit er vermochte. Ell mochte
7457 etwa gleichaltrig mit ihm sein, einige dreißig Jahre. Er sei in
7458 Südaustralien geboren, wo Ells Vater große Besitzungen gehabt habe.
7459 Seine Mutter sei eine in Australien eingewanderte Deutsche gewesen.
7460 Nach dem Tod der Eltern habe sich Ell nach Deutschland begeben, um
7461 seine Studien, die sich hauptsächlich auf Astronomie und technische
7462 Fächer bezogen, fortzusetzen. Damals, vor etwa zehn Jahren, habe
7463 ihn Grunthe in Berlin kennengelernt und viel mit ihm verkehrt,
7464 obwohl Ell stets ein fremdartiges und zurückhaltendes Wesen eigen
7465 war. Kurze Zeit darauf war Ell plötzlich verschwunden, man hörte
7466 nichts von ihm und nahm an, er sei in seine australische Heimat
7467 zurückgekehrt. So verhielt es sich auch. Seit etwa vier Jahren war
7468 Ell wieder in Deutschland erschienen. Er hatte sein jedenfalls
7469 bedeutendes Vermögen flüssig gemacht und sich in Mitteldeutschland
7470 eine Privatsternwarte erbaut, auf der er sich mit Vorliebe
7471 Marsbeobachtungen widmete. Hier hatte Grunthe eine Zeitlang bei ihm
7472 gearbeitet und bei dieser Gelegenheit Torm kennengelernt. Ell war
7473 es gewesen, der durch eine großartige Geldspende die Errichtung der
7474 Abteilung für wissenschaftliche Luftschiffahrt ermöglicht und Torm
7475 an ihre Spitze gezogen hatte. Der Sitz derselben war Friedau, eine
7476 mitteldeutsche Residenz, die durch ihre wissenschaftlichen
7477 Institute berühmt ist.
7479 Nachdem sich Ill noch die Lage von Friedau und die der
7480 Privatsternwarte Ells genau hatte beschreiben lassen, brach er das
7481 Gespräch ab. Irgendwelche Fragen nach den bevorstehenden
7482 Ereignissen wurden nicht berührt, und Ill verabschiedete sich bald
7483 mit dem Wunsch, daß die Verhandlungen, zu denen er die Herren
7484 erwartete, zur beiderseitigen Befriedigung verlaufen möchten.
7486 Nach dem Fortgang der Martier zogen sich Grunthe und Saltner in
7487 ihre Zimmer zurück und besprachen noch einmal die Sachlage; Grunthe
7488 brachte ihre Ansichten zu Papier. Beide aber sahen jetzt der
7489 Verhandlung mit besserer Zuversicht entgegen.
7491 \section{18 - Die Botschaft der Marsstaaten}
7493 Punkt drei Uhr öffnete sich die Tür, die das Zimmer der Gäste mit
7494 dem Konferenzsaal verband, und der Vorsteher Ra lud Grunthe und
7495 Saltner mit einer höflichen Handbewegung zum Eintreten ein. Sie
7496 stutzten beim ersten Anblick des Saales, denn derselbe erschien
7497 vollständig verändert. Um Platz zu gewinnen, hatte man die Grenze
7498 der Schwere bis dicht an die Tür gerückt, durch welche die Menschen
7499 den Saal betraten, und die Tafel in der Mitte entsprechend
7500 verlängert, so daß nur die beiden Plätze am untern Ende des
7501 Tisches, die sich aber jetzt nahe der Tür befanden, noch innerhalb
7502 des Gebietes der Erdschwere lagen. Der ganze übrige Teil des Raumes
7503 war von festlich gekleideten Martiern erfüllt, die sich beim
7504 Eintritt der Gäste erhoben. Nachdem Ra an seinen Sessel am oberen
7505 Ende der Tafel neben dem Präsidenten Ill gelangt war, gab dieser
7506 ein Zeichen mit der Hand, und alle nahmen wieder schweigend Platz.
7507 Grunthe und Saltner folgten ihrem Beispiel.
7509 Durch die geöffneten Fernsprechklappen des Saales ertönte eine
7510 leise Musik, wie sie die Menschen noch nie vernommen hatten. Sie
7511 bewirkte eine feierliche, aber zugleich freudig erhebende Stimmung.
7512 Es herrschte vollständige Ruhe, während deren Grunthe und Saltner
7513 die Versammlung erwartungsvoll musterten.
7515 Das Tageslicht war durch dichte Vorhänge abgeschlossen. Die sehr
7516 helle, aber für menschliche Augen zu stark ins Bläuliche
7517 schimmernde Beleuchtung ging von der Decke aus, deren Arabesken in
7518 fluoreszierendem Schein glühten. Am Ende des Zimmers war das große
7519 Banner des Mars in selbstleuchtenden Farben entfaltet. Es zeigte
7520 auf schwarzem Grund den Planeten als eine weiße Scheibe, die in der
7521 Mitte einen Kranz trug; bei näherer Betrachtung konnte man darin
7522 die Symbole der 154 Staaten des Mars unterscheiden. Vor dem Banner,
7523 an der Spitze der Tafel saß zwischen den beiden ersten Beamten Ra
7524 und Fru der Kommissar der Marsstaaten Ill, an den Seiten reihten
7525 sich die Vorsteher der einzelnen Abteilungen der Station an.
7526 Seitlich von der Haupttafel, in der Mitte des Zimmers, war ein
7527 phonographischer Apparat aufgestellt, der von einer Dame bedient
7528 wurde. Auf der andern Seite saßen La und eine zweite Martierin vor
7529 ihren Schreibmaschinen als Schriftführerinnen. Der übrige Raum des
7530 Zimmers war dicht von Martiern und Martierinnen erfüllt, die der
7531 öffentlichen Verhandlung beiwohnen wollten. Auch Se befand sich
7532 unter ihnen und hatte sich in der Nähe Saltners niedergelassen, der
7533 ihr einen dankbaren Blick zuwarf. Das Lächeln, mit welchem Saltner
7534 anfänglich die Versammlung überflog, verschwand bald unter dem
7535 Eindruck der Musik und der Haltung der schweigenden Martier. Alle
7536 trugen heute über ihrer anschließenden metallisch glänzenden
7537 Rüstung einen leichten, in malerischen Falten geworfenen Mantel.
7538 Ihre Blicke waren ruhig und ernst, aber erfüllt von einem freudigen
7539 Stolz; sie fühlten sich als die freien Mitglieder ihrer großen und
7540 mächtigen Gemeinschaft, die sie zum ersten Mal den Menschen in
7541 ihrem festlichen Glanz zeigten. Sie wußten, daß sie heute nicht nur
7542 als Wirte ihren Gästen, sondern als Vertreter der Numenheit den
7543 Männern gegenüberstanden, die für sie die Vertreter der Menschheit
7544 waren. Und dieses Bewußtsein, das den ganzen Charakter der
7545 Versammlung beherrschte, wirkte sehr bald auf Grunthe und Saltner
7546 zurück; sie fühlten, wie sie der übermächtigen Gegenwart der
7547 Martier in ihrem Willen zu erliegen drohten. Grunthe preßte die
7548 Lippen zusammen und starrte auf sein Notizbuch, das er krampfhaft
7549 in der Hand hielt, um sich dem Einfluß zu entziehen, den das
7550 Äußerliche der Versammlung auf ihn machte.
7552 Nur wenige Minuten hatte die musikalische Einleitung gedauert.
7553 Jetzt erhob sich Ill. Absolute Stille herrschte im Saal, als er
7554 seine großen, strahlenden Augen auf die Versammlung richtete und
7555 dann wie in weite Ferne blickte. Darauf sprach er klangvoll die
7556 einfachen Worte:
7558 „Den wir im Herzen tragen, Herr des Gesetzes, gib uns deine
7559 Freiheit.“
7561 Wieder erfolgte eine Pause, in welcher jeder mit sich selbst
7562 beschäftigt war.
7564 Jetzt ließ sich Ill auf seinem Stuhl nieder und begann:
7566 „Gesandt bin ich, Grüße zu bringen den Numen von der Heimat, Grüße
7567 vom Nu und seinem Bund!“
7569 „Sila Nu!“ hallte der gedämpfte Gegengruß der Martier durch den
7570 Saal.
7572 „Grüße vom Nu auch den Bewohnern der leuchtenden Ba, des
7573 benachbarten Planeten, den Menschen, die wir zum ersten Mal heute
7574 in der Festversammlung zu sehen uns freuen. Eine alte Sehnsucht zog
7575 uns Nume durch den Weltraum hinüber zum lichten Abendstern, und es
7576 gelang uns Fuß zu fassen auf der Erde. Aber noch immer war es uns
7577 versagt, diejenigen kennenzulernen, die diesen mächtigen Planeten
7578 beherrschen als vernünftige Wesen. Da kam zu uns vor wenigen Wochen
7579 die erste frohe Kunde, daß zwei willkommene Gäste unserer Station
7580 am Pol genaht, daß die ersten zivilisierten Bewohner der Erde
7581 entdeckt seien. Ausführliche Lichtdepeschen meldeten uns bald, was
7582 wir bisher wohl vermutet, aber doch aus direkter Anschauung nicht
7583 gekannt hatten, daß unser Nachbarstern bewohnt ist von
7584 hochgebildeten Völkern, mit denen wir uns verständigen können in
7585 den Aufgaben der Kultur. Eine unbeschreibliche Aufregung ging auf
7586 diese Nachricht durch die verbündeten Staaten des Mars. Die
7587 öffentliche Meinung drang darauf, keine Zeit zu verlieren, unsern
7588 Brüdern auf der Erde die Hand zu reichen. Und da der Winter auf
7589 diesem Nordpol bevorsteht, der unsre Verbindung unterbricht, so
7590 beschloß der Zentralrat des Nu, ohne die Ankunft der Raumschiffe
7591 abzuwarten, sich in direkten Verkehr mit den Bürgern der Erde zu
7592 setzen. Wir schätzen es von unermeßlicher Wichtigkeit für die
7593 beiden Planeten, welche allein im ganzen Sonnensystem in der Art
7594 und der Kultur ihrer Bewohner sich berühren, daß diese in
7595 gemeinsamem Einverständnis ihre Interessen fördern. Das erste
7596 Zusammentreffen mit den hier anwesenden Vertretern der Menschheit
7597 halten wir daher für einen Akt von höchster kulturgeschichtlicher
7598 Bedeutung. Wir sehen darin den ersten Schritt zum unmittelbaren
7599 Verkehr mit den Regierungen der
7600 Erde,
7601 von denen uns gegenwärtig noch technische
7602 Schwierigkeiten trennen, die wir indessen bald zu überwinden hoffen.
7603 In gerechter
7604 Würdigung der Wichtigkeit dieser ersten Begegnung und um bei dieser
7605 Gelegenheit zugleich zu zeigen, welch hohen Wert die Marsstaaten
7606 auf die freundschaftlichen Beziehungen mit den Staaten der Erde
7607 legen, endlich um von seiten der Nume in feierlicher Handlung die
7608 ganze Menschheit bei der ersten Begrüßung zu ehren, hat der
7609 Zentralrat beschlossen, eines seiner Mitglieder in eigener Person
7610 auf die Erde zu senden.“
7612 Eine allgemeine Bewegung gab sich bei diesen Worten unter den
7613 Zuhörern zu erkennen. Man sah sich erwartungsvoll an, leise Fragen
7614 flogen herüber und hinüber. Grunthe warf Saltner einen Blick zu,
7615 und dieser flüsterte: „Sie behalten recht.“ Er blickte nach Se
7616 hinüber, aber ihre Augen waren auf Ill gerichtet. Dieser erhob
7617 langsam und feierlich die rechte Hand und sprach:
7619 „Kraft des Amtes, das der Wille der Nume mir übertragen hat,
7620 enthülle ich das heilige Symbol der Numenheit als das Zeichen des
7621 Gesetzes in Vernunft und Arbeit, dem wir gehorchen.“
7623 Die Martier erhoben ihre Augen in andächtigem Aufblick nach einem
7624 Punkt, den Ills Hand ihnen zu weisen schien. Vergebens strengten
7625 Grunthe und Saltner sich an, das zu erblicken, was alle andern
7626 ehrfurchtsvoll erschauten. Sie vermochten nichts wahrzunehmen, wo
7627 die Wissenden in würdevollem Schweigen einer geheimnisvollen
7628 Erscheinung huldigten, die ihnen den Gedanken ihres Weltbürgertums
7629 repräsentierte.
7631 Der Schauer des Unbegreiflichen erfaßte das Gemüt der Menschen.
7632 Grunthe starrte auf die ehrwürdige Gestalt, und wieder kam die
7633 Erinnerung an Ell über ihn. Saltner fühlte sich von dem Eindruck
7634 der ganzen Szene wie berauscht, er merkte, daß er die Gewalt über
7635 seine Entschlüsse verlieren würde, und richtete einen
7636 hilfesuchenden Blick auf Se.
7638 Da ließ Ill seine Hand sinken, und die Martier begannen wieder sich
7639 zu bewegen. Nach kurzer Pause hob Ill ein Schriftstück in die Höhe
7640 und begann:
7642 „Vernehmen Sie, Nume und Menschen, den Beschluß des Zentralrats.“
7644 Jetzt blitzte Ses Auge zu Saltner hinüber. Instinktiv verstand er
7645 die Mahnung. Er stieß Grunthe an und flüsterte: „Reden Sie, ehe er
7646 liest!“
7648 Aber auch dieser hatte schon begriffen, daß er sofort handeln
7649 müsse, und war bereits aufgesprungen. Alles dies vollzog sich
7650 momentan in der kurzen Pause, während deren Ill das Schriftstück
7651 entfaltete, und ehe er zu lesen begann, rief Grunthe: „Ich bitte
7652 ums Wort!“
7654 Er hatte in der Erregung deutsch gesprochen. Seine laute Stimme
7655 tönte grell über den Saal, im Gegensatz zu dem auch in der
7656 feierlichen Rede halblauten Organ der Martier. Die ganze
7657 Versammlung wandte sich unwillig nach Grunthe um, und Ill warf
7658 einen erstaunten Blick auf ihn.
7660 „Ich bitte ums Wort“, wiederholte Grunthe jetzt in der Sprache der
7661 Martier. „Ich bitte um Verzeihung, wenn ich Sie ersuche, mich vor
7662 der Verlesung des Beschlusses eines hohen Zentralrats der
7663 Marsstaaten zu hören, und ich bitte im voraus um Verzeihung, wenn
7664 ich aus Unkenntnis der Sprache mich vielleicht nicht völlig
7665 angemessen auszudrücken vermag.“
7667 Ill nickte langsam mit dem Haupt. „Es liegt kein Grund vor“, sagte
7668 er, „unsern Gästen das Wort zu verweigern, wenn ich auch Ihre
7669 Antwort erst nach der Verlesung erwartet habe.“
7671 „Ich aber und mein Freund“, fiel Grunthe schnell ein, „wir
7672 beantragen, die Verlesung zu unterlassen; wir protestieren gegen
7673 die Verlesung; wir fühlen uns nicht als kompetent, Beschlüsse des
7674 Zentralrats der Marsstaaten entgegenzunehmen.“
7676 Auf den Gesichtern der Martier malte sich deutlich das Erstaunen
7677 über diese unerwartete Erklärung. Es herrschte ein bedeutsames
7678 Schweigen. Keinerlei Urteil machte sich geltend. Die Mißbilligung
7679 des kühnen Eingriffs, welchen ein armseliger Bat sich gegen die
7680 Beschlüsse der höchsten Behörde des Mars erlaubte, stritt bei den
7681 Martiern mit der Achtung vor der Entschiedenheit dieses offenen
7682 Bekenntnisses, doch überwog bei den meisten ein Gefühl des
7683 Mitleids. Diese armen Menschen wußten offenbar nicht, was sie sich
7684 erlaubten; man konnte sie wohl nicht ernst nehmen. Nur die nächsten
7685 Freunde der Deutschen ermutigten sie durch ihre beipflichtenden
7686 Blicke.
7688 Ill richtete sein ruhiges Auge auf Grunthe und Saltner, der sich
7689 ebenfalls erhoben hatte, und fragte:
7691 „Wollen die Menschen ihren Protest begründen?“
7693 „Ich will es“, sagte Grunthe sofort. „Ich fühle tief die große
7694 Ehre, welche die Vertreter des Mars durch ihr freundliches
7695 Entgegenkommen den Bewohnern der Erde erweisen. Auch ich bin
7696 überzeugt, daß die Berührung der Bewohner dieser beiden großen
7697 Kulturplaneten ein weltgeschichtliches Ereignis ersten Ranges sein
7698 wird. Und mein Freund und ich sind allen Numen, denen wir bisher zu
7699 begegnen das Glück hatten, den herzlichsten Dank schuldig für die
7700 Rettung vom Untergang und für die gastfreundliche Aufnahme in ihrer
7701 Kolonie. Wir werden das nie vergessen.“
7703 „Niemals“, sagte hier Saltner dazwischen.
7705 Bei diesen warm gesprochenen Worten wurden die Blicke der Martier
7706 freundlicher. Grunthe fuhr sogleich fort:
7708 „Als Menschen sprechen wir auch unsern ehrerbietigen Dank der
7709 Regierung der Vereinigten Staaten des Mars aus für die Beachtung,
7710 welche sie den Mitgliedern der Tormschen Polarexpedition zuteil
7711 werden läßt, indem sie durch ihren Repräsentanten in eigener Person
7712 uns eine Botschaft entbieten will. Aber diese Ehre müssen wir
7713 ablehnen.
7715 Wir sind nicht Vertreter irgendeiner Regierung. Wir haben kein
7716 Recht, diplomatische Erklärungen entgegenzunehmen oder abzugeben.
7717 Wir sind einfache Privatleute, die in ihrer Heimat keine andere
7718 Geltung haben, als ihr Ruf als Gelehrter ihnen verschafft, und
7719 diese ist nach den Sitten unsrer Heimat in politischer Hinsicht
7720 verschwindend. Und selbst wenn wir uns als Boten betrachten
7721 wollten, die ihrer Regierung eine Mitteilung zu überbringen hätten,
7722 so habe ich zu betonen, daß, wie dem Herrn Repräsentanten bekannt
7723 sein wird, außer dem Deutschen Reich noch fünf andre europäische
7724 Großmächte, außerdem die Vereinigten Staaten von Nordamerika die
7725 politische Macht über die Erde in Händen haben, daß wir demnach
7726 nicht in der Lage sind, für die Staaten der Erde Aufträge zu
7727 übernehmen.“
7729 Hierauf sprach Ill, da Grunthe eine kleine Pause machte, mit
7730 unveränderter Höflichkeit, aber sehr überlegen:
7732 „Die Worte unseres werten Gastes sagen uns nichts Neues. Sie haben
7733 keinen Einfluß auf die mitzuteilende Botschaft, und es wäre daher
7734 einfacher gewesen, dieselbe erst anzuhören, da sie sich allein auf
7735 die beiden hier anwesenden Personen unserer Gäste bezieht.“
7737 Grunthe biß die Lippen aufeinander. Er ärgerte sich über die
7738 Zurechtweisung, zumal er auf den Gesichtern der Martier wieder das
7739 mitleidige Lächeln erscheinen sah. Er rief daher etwas erregter:
7741 „Wir müssen es aber auch für unsre Personen ablehnen, irgendwelche
7742 Bestimmungen seitens der Regierung des Mars entgegenzunehmen, und
7743 zwar aus formellen Gründen. Wir dürfen es prinzipiell nicht
7744 geschehen lassen, daß die Regierung des Mars hier irgendwelche
7745 offizielle Anordnungen treffe über die Bürger eines Staates der
7746 Erde. Über unser Tun und Lassen kann nur diejenige Regierung
7747 Verordnungen geben, auf deren Gebiet wir uns befinden. Wir stehen
7748 aber hier auf der Erde, nicht auf dem Mars. Und wenn Sie hier die
7749 Flagge der Marsstaaten entfaltet haben, so können wir derselben
7750 doch nur eine dekorative, aber keine staatsrechtliche Bedeutung
7751 zusprechen. Mit welchem Recht Sie hier eine Niederlassung begründet
7752 haben, darüber mögen die Regierungen der Erde bestimmen, es ist
7753 nicht unseres Amtes; aber unseres Amtes ist es, dagegen zu
7754 protestieren, daß auf Grund dieser noch nicht anerkannten
7755 Niederlassung Rechte über uns ausgeübt werden.“
7757 „Kann mir der Herr Redner vielleicht sagen“, fiel Ill ein, „auf dem
7758 Gebiet welches Erdenstaates wir uns seiner Ansicht nach hier
7759 befinden?“
7761 Das war eine heikle Frage. War der Nordpol schon von einer
7762 zivilisierten Macht in Besitz genommen? Grunthe wich der Frage aus,
7763 er sagte schnell:
7765 „Jedenfalls nicht im Gebiet der Marsstaaten. Auf der Erde gibt es
7766 bis jetzt keine völkerrechtlich anerkannte Ansiedlung der
7767 Martier.“
7769 Die Blicke der Martier waren drohend geworden. Ill richtete sich
7770 hoch auf und sprach mit leuchtenden Augen und erhobener Stimme:
7772 „Meines Wissens gibt es keine Organisation der Staaten der Erde,
7773 mit welcher wir über den Besitz des Nordpols verhandeln könnten,
7774 oder wenigstens war eine solche Verhandlung bisher nicht möglich.
7775 Wir sind an dieser Stelle des Sonnensystems die ersten Ankömmlinge
7776 gewesen, wir also bestimmen über dieselbe. Es gibt kein
7777 interplanetarisches Recht, wonach die Besitzergreifung von Gebieten
7778 sich auf einen einzelnen Planeten beschränken müsse. Die Nume sind
7779 die einzigen Wesen, welche zwischen den Planeten verkehren; sie
7780 schaffen damit das Recht dieses Verkehrs. Kraft dieses Rechtes hat
7781 die Regierung der Marsstaaten Besitz von diesem Teil der Erde
7782 ergriffen. Kraft dessen gilt hier das Gesetz des Mars. Und kraft
7783 dieses Gesetzes und des Beschlusses des Zentralrats vom 603. Tag
7784 des Jahres 311770 werde ich hiermit den Beschluß vom gleichen Tag
7785 verkünden.“
7787 Grunthe fühlte, wie ihm das Herz pochte. Er vermochte nichts zu
7788 erwidern. Die Menschen waren geschlagen, ihr erster Versuch der
7789 Opposition gegen die Übermacht der Martier war gescheitert. Sie
7790 mußten die Befehle der Regierung des Mars anhören, auf ihrem
7791 eigenen Planeten, an der Stelle, welche sie zuerst von den Menschen
7792 erreicht hatten. Und das Schlimmste war, daß beide, Grunthe wie
7793 Saltner, ihre Widerstandskraft erlahmen fühlten. Gegen diesen
7794 Willen, der aus den großen Augensternen des Repräsentanten
7795 leuchtete, der sich in den Blicken der ganzen Versammlung
7796 widerspiegelte, vermochten sie nicht aufzukommen.
7798 Und schon begann Ill, die kurzen Worte vorzulesen, welche über ihr
7799 Schicksal bestimmen sollten. Er las:
7801 „Der Zentralrat des Nu, im Namen der Vereinigten Staaten des Mars,
7802 hat beschlossen, wie folgt: Die beiden an der Station des Mars auf
7803 dem Nordpol der Erde angelangten Menschen, namens Grunthe und
7804 Saltner, stehen unter dem Schutz der Marsstaaten. Die Freiheit
7805 ihrer Person, ihres Verkehrs und Eigentums wird ihnen gewährleistet
7806 im gesamten Gebiet des Mars. Sie werden eingeladen, innerhalb sechs
7807 Tagen nach Verlesung dieser Botschaft auf einem der Raumschiffe der
7808 Erdstation sich nach dem Mars zu begeben. Sie sind Gäste der
7809 Marsstaaten, denen jede Förderung zuteil werden soll, Einrichtungen
7810 und Gesinnungen der Nume zu studieren. Sie werden ersucht, im
7811 Frühjahr der Nordhalbkugel der Erde nach derselben zurückzukehren,
7812 um alsdann eine nach den Hauptstädten der Erde aufbrechende
7813 Expedition zu begleiten. Der Repräsentant Ill wird mit der
7814 Überbringung dieser Botschaft nach der Erde beauftragt.
7816 Gezeichnet Del. Em. An.“
7818 Die Martier ließen sich auf ihren Sitzen nieder, auch Grunthe und
7819 Saltner sanken in ihre Sessel.
7821 \section{19 - Die Freiheit des Willens}
7823 Nach der Verlesung der Botschaft faltete Ill das Dokument zusammen
7824 und sprach mit liebenswürdigster Miene:
7826 „Nachdem die Menschen den Willen des Zentralrats vernommen haben,
7827 darf ich annehmen, daß sie der Einladung und dem Ersuchen der
7828 Martier Folge leisten werden. Ich bitte Sie daher, Ihre
7829 Vorbereitungen so treffen zu wollen, daß Sie mit dem am fünften Tag
7830 von heute abgehenden Schiff Ihre Reise antreten können.“
7832 Da weder Grunthe noch Saltner sogleich antwortete, erhob sich Ra
7833 und hielt eine versöhnliche Rede. Aus dem Inhalt der Botschaft,
7834 führte er aus, würden sich die Gäste gewiß überzeugt haben, daß sie
7835 gar keinen Grund hätten, gegen die Verlesung zu protestieren. Er
7836 wüßte wohl, daß man ihnen mit der Reise nach dem Mars ein
7837 ungewöhnliches und anstrengendes Unternehmen zumute. Er verstünde,
7838 daß sie es vorziehen würden, alsbald in ihre Heimat zurückzukehren.
7839 Dies – und damit deckte er offen ihre Motive auf – wäre wohl auch
7840 der eigentliche Grund des Protestes gewesen, da die Menschen die
7841 Einladung nach dem Mars erwartet und sich der Verlegenheit hätten
7842 entziehen wollen, sie abzulehnen. Und dann stellte er ihnen die
7843 Reise und den Aufenthalt auf dem Mars in verlockenden Farben vor.
7845 Grunthe und Saltner wußten nicht recht, ob sie diese Rede zu ihren
7846 Gunsten deuten dürften, da sie die Schwäche ihres Protestes
7847 enthüllte und ganz geeignet schien, ihnen die Ablehnung zu
7848 erschweren. Aber Saltner erkannte an dem stillen Lächeln in Ses
7849 Zügen, daß Ra ihnen tatsächlich zu Hilfe kommen wollte, daß er sie
7850 wohl nur warnen wollte, neue Fehler zu begehen. In der Tat schloß
7851 er mit den Worten:
7853 „Der Zentralrat garantiert Ihnen volle Freiheit. Er kommandiert Sie
7854 nicht nach dem Mars, er lädt Sie ein; er befiehlt nicht, daß Sie
7855 uns nach Europa geleiten sollen, er ersucht Sie darum. Er setzt
7856 dabei voraus, daß es keine berechtigten ethischen Motive gibt,
7857 weshalb Sie diesen Wünschen nicht nachkommen sollten, und er
7858 erwartet daher, daß Sie ihnen Folge leisten.“
7860 Während Grunthe finster vor sich hinblickte und darüber nachsann,
7861 in welche Form er seine Weigerung kleiden sollte, erhob sich
7862 Saltner. Obwohl er sich sagte, daß er mit seinen Worten den
7863 Entschluß der Martier nicht würde ändern können, wollte er doch
7864 versuchen, etwas Näheres über ihre Pläne zu hören, und die
7865 Ablehnung der Einladung aus Zweckmäßigkeitsgründen motivieren. Er
7866 legte dar, daß der Besuch auf dem Mars gegenwärtig für beide Teile
7867 keine besonderen Vorteile biete. Sein Freund und er hätten bereits
7868 vollständig die Überzeugung von der Macht und Leistungsfähigkeit
7869 der Martier gewonnen. Was sie vom Mars wüßten, wäre schon so viel,
7870 daß sie Mühe haben würden, es ihren Mitbürgern begreiflich zu
7871 machen. Es wäre daher sicherlich das beste, wenn sie sogleich in
7872 ihre Heimat zurückkehrten, um den Erdbewohnern ihre Erfahrungen
7873 mitzuteilen und sie durch die Presse allmählich auf das Erscheinen
7874 der Martier vorzubereiten. Das gegenseitige Verständnis zwischen
7875 Mars und Erde würde auf diese Weise am sichersten gefördert; die
7876 Überraschung durch die Bewohner des Mars könnte die Erdbewohner,
7877 bei ihrer mangelhaften Kenntnis der Verhältnisse auf dem Mars,
7878 vielleicht zu falschen Maßregeln verleiten, unter denen alsdann
7879 beide Teile zu leiden hätten. Deswegen müßten sie darauf dringen,
7880 nach Europa zurückzukehren, ehe die Martier dahin kämen. Sie zu
7881 begleiten, könnte für die Martier jedenfalls von viel geringerem
7882 Nutzen sein. Im übrigen wäre es ihnen, den Menschen, vom größten
7883 Interesse, zu erfahren, welche Vorteile eigentlich die Martier sich
7884 vom Verkehr mit der Erde versprächen und was sie etwa von den
7885 Menschen zu erlangen wünschten.
7887 Die Martier hatten unter wachsender Aufmerksamkeit zugehört. Ills
7888 Antlitz war wieder ernster geworden. Nachdem er die Mitteilung des
7889 Zentralratsbeschlusses durchgesetzt, hatte er geglaubt, daß die
7890 Menschen nicht länger wagen würden, sich zu weigern. Aus Saltners
7891 Worten erkannte er jedoch, daß es keinen Sinn mehr hätte, den
7892 eigentlichen Kernpunkt der Frage zu verschleiern. Die Deutschen
7893 hatten offenbar die Absicht der Martier durchschaut, eine Warnung
7894 der Großmächte zu verhindern. Der Hilfe der Menschen bedurften die
7895 Martier nicht; aber sie wollten bei dem ersten Besuch in den
7896 zivilisierten Staaten der Erde sogleich in einer Weise auftreten,
7897 die sie zum unbedingten Herren der Situation machte. Die
7898 Vorbereitungen dazu waren schon in viel höherem Maß getroffen, als
7899 Grunthe und Saltner wußten. Ihre Landung am Nordpol und die
7900 Kenntnis, welche die Martier dadurch von den zivilisierten Staaten
7901 der Erde erhielten, hatte den Zentralrat nur in der Ansicht
7902 bestärkt, daß man mit den Bewohnern der Erde in sehr ernsthafter
7903 Weise zu rechnen haben würde und daß alles darauf ankäme, sich bei
7904 der ersten Begegnung keine Blöße zu geben. Dies wäre aber sehr
7905 leicht möglich gewesen, wenn die Erdbewohner zu früh erfuhren, mit
7906 welchen Schwierigkeiten die Martier auf der Erde zu kämpfen hatten.
7907 Diese zu heben war daher ihr Hauptaugenmerk bei den Vorbereitungen
7908 zur Expedition und zugleich der Grund ihrer langen Verzögerung
7909 gewesen. Nun hatte der Zentralrat beschlossen, die Vorbereitungen
7910 aufs äußerste zu beschleunigen, ehe die Besitznahme des Nordpols
7911 auf der Erde bekannt wurde, und vorläufig die Rückkehr der Menschen
7912 zu verhindern. Doch konnte er sich dazu nach der sittlichen
7913 Weltanschauung der Martier keiner Mittel bedienen, die das Recht
7914 der Persönlichkeit der Menschen verletzt hätten.
7916 Es wäre unter der Würde der Martier gewesen, wenn sie sich hinter
7917 Vorwänden hätten verstecken wollen, nachdem der Versuch, die
7918 Menschen durch bloße Autorität zu leiten, gescheitert war. Ill
7919 sagte daher:
7921 „Es ist allerdings unsre Absicht, den Erdstaaten unsre Ankunft
7922 nicht eher bekanntwerden zu lassen, als bis dieselbe wirklich
7923 erfolgt. Und zwar aus demselben Grund, welcher unsere Gäste
7924 wünschen läßt, das Entgegengesetzte herbeizuführen und die
7925 Erdstaaten vorzubereiten. Wir fürchten, daß gerade die lückenhaften
7926 Nachrichten, welche sie durch die hier anwesenden Menschen erhalten
7927 würden, sie dazu veranlassen könnten, falsche Maßregeln zu
7928 ergreifen und unser gegenseitiges Verständnis zu erschweren. Denn
7929 wenn Sie auch, meine Herren Gäste, mancherlei von unserer äußeren
7930 Macht kennengelernt haben, so kennen Sie doch noch zu wenig die
7931 Grundsätze unsres Handelns, um Ihre Freunde belehren zu können, wie
7932 sie sich gegen uns zu verhalten haben. Die traurigsten
7933 Mißverständnisse sind leicht möglich. So müssen wir denn darauf
7934 bestehen, daß Sie uns zuerst nach dem Mars begleiten, da wir,
7935 unmittelbar vor Beginn des Polarwinters, noch nicht in der Lage
7936 sind, mit Ihnen zusammen nach Europa aufzubrechen.“
7938 „Ich bin dem Herrn Repräsentanten sehr dankbar“, erwiderte Saltner,
7939 „daß er uns so offen die Gründe des hohen Zentralrats für seine
7940 Botschaft dargelegt hat. Sie konnten uns aber nicht überzeugen, um
7941 so weniger, da wir über die eigentlichen Absichten der Martier
7942 gegen die Erdbewohner nicht näher unterrichtet wurden. Wir müssen
7943 daher darauf bestehen, nach der Heimat zurückzukehren, um den
7944 Unsrigen Gelegenheit zu geben, sich ihrerseits schlüssig zu machen,
7945 wie sie den Martiern zu begegnen haben.“
7947 Ill entgegnete ziemlich scharf.
7949 „Nach dem, was wir soeben gehört haben“, sagte er, „scheinen uns
7950 die anwesenden Menschen wenig geeignet, ihren Landsleuten als
7951 Berater zu dienen, wie sich letztere gegen uns verhalten sollen.
7952 Wenn Sie ihnen vielleicht zu raten gedenken, unserm Aufenthalt auf
7953 der Erde Schwierigkeiten entgegenzusetzen, so würden Sie eben das
7954 erreichen, was wir zu vermeiden hoffen, Mißtrauen und Spannungen
7955 zwischen den Bewohnern beider Planeten, während wir ein friedliches
7956 Verhältnis zu gemeinsamer Arbeit anstreben. Die Menschen haben von
7957 uns nichts zu befürchten, sobald sie gelernt haben werden, uns zu
7958 verstehen. Wir bedürfen der Erdbewohner nicht; wir kommen zu ihnen,
7959 um ihnen die Segnungen unsrer Kultur zu bringen. Ich bin überzeugt,
7960 daß auch wir im Eintausch der Produkte der Erde viel Neues und
7961 Nützliches gewinnen werden. Aber das wirtschaftliche Bedürfnis
7962 welches uns außer dem allgemeinen wissenschaftlichen Interesse nach
7963 der Erde trieb, erfordert nicht die Beteiligung der Menschen. Wir
7964 können es vollauf hier am Nordpol befriedigen, und ich stehe nicht
7965 an, es Ihnen zu sagen, was wir von der Erde holen wollen, damit Sie
7966 Ihre Mitbürger und Regierungen über unsre Absichten beruhigen. Wir
7967 wollen nichts anderes als Luft und Sonne, atmosphärische Luft und
7968 Strahlung, die Sie ja in ausreichendem Maß besitzen und die niemand
7969 gehört. Wir haben sie bereits reichlich exportiert und werden sie
7970 weiter exportieren.
7972 Was uns aber nun veranlaßt, die Menschen selbst aufzusuchen, das
7973 sind Beweggründe rein idealen Charakters. Es ist nicht möglich, sie
7974 Ihnen, als Menschen, hier in Kürze zum Verständnis zu bringen. Wir
7975 sind Nume. Wir sind die Träger der Kultur des Sonnensystems. Es ist
7976 uns eine heilige Pflicht, das Resultat unsrer
7977 hunderttausendjährigen Kulturarbeit, den Segen der Numenheit, auch
7978 den Menschen zugänglich zu machen.“
7980 Grunthe machte eine ungeduldige Bewegung. Er wollte sprechen, aber
7981 Ill fuhr fort:
7983 „Fürchten Sie nichts für Ihre Überzeugung und ihre Freiheit. Ihre
7984 Freiheit werden wir achten, denn sie ist die Grundbedingung zur
7985 Numenheit. Die Kultur kann nicht aufgedrängt und nicht geschenkt
7986 werden, denn sie will erarbeitet sein. Aber zu dieser Arbeit kann
7987 man erzogen werden. So war es auch auf Ihrem Planeten; die
7988 vorgeschrittenen Nationen haben die barbarischen zur Kulturarbeit
7989 erzogen. Dazu bieten wir nun vermöge unsrer so viel älteren
7990 Erfahrung uns Ihnen als Lehrer an. Weisen Sie uns nicht in falschem
7991 Stolz zurück. Nachdem einmal die Erde von uns betreten ist, läßt
7992 sich die Berührung der beiden Planetengeschlechter nicht vermeiden.
7993 Sie ist eine Notwendigkeit. Erwecken Sie also nicht erst die
7994 Täuschung, als könnte die Menschheit unsrem Einfluß sich entziehen.
7995 Vertrauen Sie unsern Maßregeln und bewahren Sie die Menschen vor
7996 dem Fehler, uns aufgrund kurzsichtiger menschlicher Überlegungen
7997 Schwierigkeiten zu bereiten, die nur zum Nachteil für sie
7998 ausschlagen könnten. Erfahren die Menschen von unserer Ankunft,
7999 ohne zugleich dem vollen Gewicht unsres unmittelbaren Einflusses
8000 ausgesetzt zu sein, so begehen sie sicherlich eine Torheit. Auch
8001 Ihr Rat, meine Herren Gäste, würde sie nicht davor bewahren, zumal
8002 Sie uns selbst Ihre Einflußlosigkeit eingestanden. Überlassen Sie
8003 uns also ganz allein die Verantwortung für die Gestaltung der
8004 Verhältnisse, indem Sie sich dem entschieden ausgesprochenen Wunsch
8005 des Zentralrats fügen.“
8007 Grunthe fühlte aufs neue, daß er der Macht dieser Gründe zu
8008 unterliegen drohte. Hatte er sich zunächst aufgebäumt gegen die
8009 stolze Sprache des Martiers, so mußte er sich jetzt doch fragen, ob
8010 er nicht durch eine Warnung das Schicksal der Menschen nur
8011 verschlimmern würde. Was konnten sie gegen die Martier tun? Ihnen
8012 feindlich begegnen? Es wäre ja wohl das Klügste gewesen, sich der
8013 Verantwortung zu entziehen und den Martiern zu folgen. Aber nein!
8014 Das Klügste hatte er nicht zu tun, sondern seine Pflicht. Und es
8015 war ihm kein Zweifel, daß er die Verantwortung nicht übernehmen
8016 durfte, sein Vaterland ohne Nachricht zu lassen.
8018 Er erhob sich in tiefem Ernst. Er sah weder Ill noch die Martier
8019 an, sondern heftete sein Auge vor sich auf den Tisch. Seine Lippen
8020 zogen sich fest zusammen. Dann öffnete er sie mit einem festen
8021 Entschluß. Er warf einen Blick auf Saltner. Auch dieser hatte in
8022 sich verloren mit ähnlichen Gedanken gesessen. Als Grunthe ihn
8023 ansah, sagte er leise: „Ablehnen.“
8025 Grunthe begann. Erst stockend und leise. Allmählich hob sich seine
8026 Stimme.
8028 „Wir sind als Menschen nicht so eingebildet“, sagte er, „daß wir
8029 glauben, von einer älteren Kultur nicht lernen zu können. Es kann
8030 ein hohes Glück sein, den Martiern zu folgen. Es kann auch unser
8031 Unglück sein. Ich wage darüber nicht zu entscheiden. Und eben
8032 darum, weil ich nicht darüber entscheiden kann, darf ich, soviel an
8033 mir liegt, nicht zugeben, daß mein Verhalten einer Entscheidung
8034 gleichkommt; die Menschen, die Erdbewohner, müssen sich eine
8035 Meinung bilden können. Dies zu ermöglichen, ist meine Pflicht.
8036 Dadurch ist meinem Freund und mir unsere Handlungsweise klar und
8037 deutlich vorgeschrieben. Unsre Instruktion lautet dahin, nach
8038 Erreichung des Nordpols so schnell als möglich nach Hause
8039 zurückzukehren. Schon dies verbietet uns, auf Ihre Aufforderung
8040 einzugehen. Doch es könnten Zweifel entstehen, ob nicht unser
8041 kürzester Weg über den Mars führe. Diese Zweifel erledigen sich nun
8042 durch unsere gegenseitige Aussprache. Sie wollen uns nicht vor
8043 Ihrer eigenen Ankunft bei den Unseren heimkehren lassen. Das müssen
8044 wir verhüten. Es ist keine Frage der Klugheit, es ist eine Frage
8045 des Gewissens. Mag daraus entstehen, was da wolle, wir müssen unsre
8046 ganze Kraft und unser Leben einsetzen, um die Nachricht von der
8047 Ankunft der Martier auf der Erde sofort in die Heimat zu bringen.
8048 Dies erfordert die Pflicht gegen das Vaterland und gegen die
8049 Menschheit. Jedes weitere Wort ist überflüssig. Mein Freund und ich
8050 werden mit Hilfe unsres von Ihnen geborgenen Ballons sobald als
8051 möglich abreisen. Wenn Sie wirklich jene erhabene Gesinnung der
8052 Nume besitzen, nach der die Freiheit der Persönlichkeit unbedingte
8053 Achtung erfordert, so erwarte ich von Ihnen, daß Sie uns Ihre
8054 Beihilfe zu unsrer Abreise nicht versagen. Wir bitten, uns zu
8055 entlassen.“
8057 Grunthe und Saltner, der sich ebenfalls erhoben hatte, verließen
8058 ihre Plätze und wandten sich nach der Tür.
8060 Tiefes Schweigen herrschte in der Versammlung der Martier. Die
8061 meisten blickten finster vor sich hin, nur die näheren Freunde der
8062 Menschen zeigten ihnen durch ihre Mienen, daß sie ihr Verhalten
8063 billigten. Saltner sah im Fortgehen, daß ihm Se freundlich mit den
8064 Augen folgte, während er von La vergeblich noch einen Blick zu
8065 erhaschen suchte. Schon hatte Grunthe die Tür geöffnet. Niemand
8066 hielt die beiden auf. Sie verließen den Saal.
8068 Die Martier setzten ihre Beratung fort. Sie waren in ihrer
8069 Majorität sichtlich durch den Mißerfolg verstimmt, ja es wurden
8070 Stimmen laut, ob man die Menschen nicht auch gegen ihren Willen zur
8071 Reise nach dem Mars zwingen könne. Der junge Kapitän Oß warf die
8072 Frage auf, ob nicht den Menschen das Recht der Persönlichkeit
8073 abzusprechen sei, da sie nicht das genügende Verständnis für das
8074 Wesen der Numenheit gezeigt hätten. La blickte ihn sehr erstaunt
8075 an, und Fru erhob sich darauf, um diesen Vorwurf zurückzuweisen.
8076 Daß sie die Fähigkeit gehabt hatten, ihren Willen gegen den der
8077 Martier zu behaupten, sei der genügende und allerdings einzig
8078 mögliche Beweis dafür, daß ihnen die Selbstbestimmung der
8079 sittlichen Person zukomme. Man könne sie also nicht zur Mitreise
8080 zwingen, ja man müsse sogar ihrer Abreise jetzt jede Unterstützung
8081 angedeihen lassen.
8083 Ill entschied dahin, daß die Frage nach dem Recht der Menschen auf
8084 freie Entschließung nicht mehr zur Diskussion stehen könne, da der
8085 Zentralrat ihnen dasselbe bereits zugesichert habe. Dagegen brauche
8086 man nicht soweit zu gehen, ihre Rückreise geradezu zu fördern, wenn
8087 man sie auch nicht verhindern könne. Man müsse aber wohl oder übel
8088 sich damit abfinden, daß die Menschen von der Anwesenheit der
8089 Martier früher erführen, als die ursprüngliche Absicht war.
8090 Andrerseits jedoch läge ihm auch sehr viel daran, wenigstens einen
8091 der Menschen nach dem Mars mitzunehmen, damit dieser den Martiern
8092 später als Augenzeuge dienen könne. Dies könne indessen nur mit
8093 seiner freien Einwilligung geschehen. Dazu bemerkte Ra, vielleicht
8094 würde sich Saltner zur Mitreise bereit erklären, wenn man dafür
8095 Grunthe die vollständige Sicherheit der Heimkehr gewährleisten
8096 könne. Aber eine solche Garantie könne man doch wohl nicht
8097 übernehmen.
8099 Ill sagte darauf nach kurzem Besinnen:
8101 „Ich glaube die Gewähr übernehmen zu können, Grunthe nach Europa zu
8102 bringen, und zwar, wenn es sein müßte, binnen vierundzwanzig
8103 Stunden.“
8105 Bei der Mehrzahl der Martier erweckte diese Äußerung das
8106 lebhafteste Erstaunen. Wie konnte man Grunthe die Rückkehr
8107 garantieren? Hätte man dann nicht selbst sogleich nach Europa
8108 aufbrechen können?
8110 Ill ließ sich zunächst überzeugen, daß Grunthe und Saltner von der
8111 weiteren Verhandlung nichts vernehmen könnten. Sie hatten sich
8112 bereits an die Arbeit an ihrem Ballon gemacht und befanden sich auf
8113 dem Dach der Insel, wo sie genügenden Raum hatten, um den Ballon
8114 einer Untersuchung zu unterziehen. Man hatte ihnen denselben ohne
8115 weiteres zur Verfügung gestellt, da auch die im Dienst befindlichen
8116 Beamten durch den Fernhörer von dem Resultat der Versammlung
8117 bereits unterrichtet waren.
8119 Ill ließ nun die Klappen der Fernsprecher schließen und den
8120 phonographischen Apparat außer Tätigkeit setzen. Gespannt lauschten
8121 die Martier den näheren Mitteilungen, welche ihnen Ill jetzt über
8122 die Fortschritte machte, die in der Vorbereitung der Expedition
8123 nach Europa geglückt waren. Sie hatten bisher von den mit Ill auf
8124 dem ›Glo‹ angekommenen Martiern nur im allgemeinen gehört, daß auf
8125 dem Mars neue wichtige Entdeckungen in bezug auf die Luftschiffahrt
8126 gelungen seien. Die schleunige Absendung des ›Glo‹ hatte
8127 vornehmlich den Zweck, diese neuen Entdeckungen und Apparate in der
8128 Atmosphäre der Erde, für welche sie berechnet und konstruiert
8129 waren, praktisch zu erproben, um alsdann bis zum Frühjahr den Bau
8130 zahlreicher Luftschiffe für die Erde auszuführen. Die Überbringung
8131 der Botschaft des Zentralrats war mit dem Transport dieser neuen
8132 Apparate verbunden worden. Andernfalls hätte man sich
8133 wahrscheinlich damit begnügt, sie durch den Lichttelegraphen zu
8134 übermitteln oder die Ankunft des nächsten Raumschiffs von der Erde
8135 vor der Absendung abzuwarten. Aber die letzten Tage des
8136 Sonnenscheins am Nordpol mußten ausgenutzt werden, um Erfahrungen
8137 über die Brauchbarkeit der neuen Erfindung zu machen. Ill gab nun
8138 Aufklärungen über seine weiteren Absichten. Daran schloß sich eine
8139 längere Beratung der Martier, so daß die Feierstunde herangekommen
8140 war, als die Martier auseinandergingen.
8144 Grunthe und Saltner kehrten sehr entmutigt von ihrer Tagesarbeit
8145 zurück. Die Untersuchung des Ballons hatte ergeben, daß er in
8146 seiner ursprünglichen Gestalt nicht wieder herstellbar sei.
8147 Glücklicherweise waren die Ventile und das Netzwerk unverletzt. Vom
8148 Stoff des Ballons war jedoch ein großer Teil unbrauchbar geworden.
8149 Der Rest konnte indessen ausreichen, einen kleineren Ballon
8150 zusammenzunähen, vorausgesetzt, daß die Martier bei dieser Arbeit
8151 ihre Hilfe leisten wollten, denn die beiden Gelehrten allein hätten
8152 damit nicht zustande kommen können. Aber die Tragkraft dieses
8153 Ballons, bei dem man Proviant und Ballast sehr reichlich mitnehmen
8154 mußte, um auf eine lange Fahrt gerüstet zu sein, hätte dann nicht
8155 ausgereicht, um beide Forscher aufzunehmen. Grunthe kam deshalb
8156 wieder auf seinen Plan zurück, allein abzureisen und Saltner die
8157 Fahrt nach dem Mars mitmachen zu lassen. Vielleicht, so meinte er,
8158 würden die Martier ihnen ihre Hilfe bei der Herstellung des Ballons
8159 nicht versagen, wenn sie ihnen insoweit entgegenkämen, daß
8160 wenigstens einer von ihnen ihre Einladung nach dem Mars
8161 nachträglich annähme. Endlich dürfe man die Chance nicht aus der
8162 Hand geben, daß, wenn der Ballon verunglücke, wenigstens Saltner
8163 seine Erfahrungen auf dem Umweg über den Mars nach Europa bringe,
8164 wiewohl dies dann freilich nicht vor Ankunft der Martier geschehen
8165 könne.
8167 Saltner überzeugte sich schließlich, daß dieser Ausweg in der Tat
8168 der vorteilhafteste sei, da unter den gegebenen Verhältnissen ein
8169 Luftschiffer die Fahrt sicherer zurücklegen könne als zwei.
8170 Persönlich war er ja überhaupt nicht abgeneigt, die Martier zu
8171 begleiten. Auch Grunthe wäre, was seinen Forschereifer anbetraf,
8172 gern nach dem Mars gegangen, aber einer von ihnen mußte notwendig
8173 als Bote nach Europa. Freilich hatte sich auch Saltner zu dieser
8174 gefährlichen Fahrt erboten, aber es verstand sich von selbst, daß
8175 Grunthe, als der erfahrenere Luftschiffer, die Fahrt unternahm. So
8176 beschlossen denn beide, am nächsten Morgen mit den Martiern in
8177 diesem Sinn zu verhandeln. Für heute war die Verkehrsstunde schon
8178 vorüber.
8180 \section{20 - Das neue Luftschiff}
8182 Grunthe erwachte aus einem unruhigen Schlummer und sah nach der
8183 Uhr. Sie zeigte auf 9,6, das entsprach nach mitteleuropäischer Zeit
8184 ein Uhr früh; es war also noch mitten in der konventionellen
8185 Nacht.
8187 Er legte sich daher wieder auf sein Lager zurück. Während er sich
8188 seinen Gedanken hingab, vernahm er ein eigentümliches Zischen. Es
8189 unterschied sich deutlich von dem leichten, gleichmäßigen Rauschen
8190 des Meeres, das in den Schlafräumen nur schwach durch die Stille
8191 der Nacht hörbar war. Auch schien es aus der Luft herzukommen, nahm
8192 erst zu, um dann allmählich schwächer zu werden und schließlich zu
8193 verschwinden. Nach einiger Zeit begann das Zischen wieder, kam aber
8194 deutlich von einer andern Seite her. Sollten es Windstöße sein, die
8195 sich um die Insel erhoben? Aber auf diese Weise hätten sie sich
8196 wohl nicht geäußert. Als sich das Geräusch mehrfach wiederholte,
8197 stand Grunthe auf, und die Läden der Decke schoben sich, als sein
8198 Fuß den Boden berührte, an einer Stelle automatisch beiseite. Ein
8199 schräger rötlicher Sonnenstrahl schlich sich in das Zimmer, und ein
8200 Streifen des Himmels wurde sichtbar. Es war also noch immer klares
8201 Wetter, nur stand die Sonne bereits so tief, daß sie nur schwach
8202 durch die Atmosphäre hindurchdrang. Plötzlich verdunkelte sich der
8203 sichtbare Streifen des Himmels auf einen Moment, es war, als ob ein
8204 großer Gegenstand mit namhafter Geschwindigkeit über die Insel
8205 fortgeflogen wäre. Zugleich war das Zischen besonders laut
8206 geworden.
8208 Da das Zimmer keine seitlichen Fenster hatte, konnte Grunthe keinen
8209 Rundblick gewinnen. Er wußte aber, daß man an einigen Stellen die
8210 Hartglasbedachung der Decke öffnen konnte. Nur mußte man dazu die
8211 genügende Höhe erreichen, um bis zur Decke zu gelangen. Eine Leiter
8212 hatte er nicht zur Verfügung, er wollte deshalb zunächst versuchen,
8213 ob er nicht durch die Fenster des Sprechzimmers eine genügende
8214 Aussicht finden könne. Zu seiner Überraschung fand er die
8215 Verbindungstür von außen gesperrt. Dies ließ darauf schließen, daß
8216 bei den Martiern etwas im Werk sei, wobei sie von den Menschen
8217 nicht beobachtet zu werden wünschten. Um so mehr steigerte sich bei
8218 Grunthe das Verlangen, seine Wißbegier zu befriedigen.
8220 Er betrachtete sorgfältig die Decke in der Nähe der Luken und
8221 erkannte, daß sich dort verschiedene, zu den Apparaten der Martier
8222 gehörige Haken befanden, an denen man sehr gut Stricke befestigen
8223 konnte. Solche waren zur Genüge an den Körben vorhanden, die zur
8224 Ausrüstung des Ballons gedient hatten und in seinem Zimmer
8225 lagerten. Aus einem der leeren Körbe und zwei Seilen ließ sich eine
8226 Art schwebendes Trapez herstellen, das, an der Decke angehängt,
8227 gestatten mußte, den Kopf bis über das Dach zu erheben. Aber wie
8228 hinaufkommen? Er entschloß sich, Saltner zu wecken. Der räsonnierte
8229 eben ein wenig über die nächtliche Störung, als sich das Zischen in
8230 der Entfernung wieder hören ließ. Nun sprang er mit einem Satz in
8231 die Höhe und fuhr in seine Kleider. Auf Grunthes Schultern stehend,
8232 gelang es ihm, zwei Seile an der Decke zu befestigen, und nun war
8233 es nicht mehr schwer, einen Beobachtungsposten einzurichten.
8235 Vorsichtig steckten die beiden indiskreten Beobachter ihre Köpfe
8236 aus der Luke und wandten sich nach der Richtung, in welcher sich
8237 jetzt deutlich, aber in der Ferne, ein gleichmäßiges leises Sausen
8238 vernehmen ließ. Zu ihrem grenzenlosen Erstaunen sahen sie, daß
8239 dieses Geräusch von einem riesigen Vogel herzurühren schien, der
8240 mit ausgebreiteten Schwingen in ruhigem Segelflug durch die Luft
8241 glitt und in geringer Höhe über dem Wasser rings um die Insel
8242 schwebte. Jetzt näherte er sich derselben und schoß mit rasender
8243 Geschwindigkeit vielleicht zwanzig Meter über dem Dach der Insel
8244 hinweg. Trotz der kurzen Zeit, in welcher die beiden Männer den
8245 seltsamen Vogel beobachten konnten, sahen sie doch, daß er weder
8246 Kopf noch Füße besaß. Sein langgestreckter Körper hatte die Gestalt
8247 einer nach vorn und hinten konisch zulaufenden Zigarre, am hinteren
8248 Ende befand sich ein langer, flacher Schwanz als Steuerruder.
8249 Natürlich war den Beobachtern sofort klar, daß sie eine neue
8250 Erfindung der Martier vor sich hatten, ein den Verhältnissen der
8251 Erde angepaßtes Luftschiff. Die Martier stellten damit Übungen und
8252 Versuche an, wobei sie von den Menschen nicht beobachtet sein
8253 wollten.
8255 Das Luftschiff entfernte sich, kehrte dann in einem kurzen,
8256 eleganten Bogen um, brauste zurück und hielt plötzlich direkt über
8257 der Insel an. Man konnte beobachten, wie der ganze Schiffskörper in
8258 Schwingungen geriet, als der äußerst schnelle Flug binnen drei
8259 Sekunden zum Stillstand kam. Und nun geschah etwas noch
8260 Merkwürdigeres. Die Flügel und das Steuerruder waren plötzlich
8261 verschwunden. Etwa zehn Meter über dem Dach der Insel, aber so weit
8262 vom Standpunkt der beiden Deutschen entfernt, daß ihre eben nur aus
8263 der Luke hervorblickenden Köpfe kaum bemerkt werden konnten,
8264 schwebte der Schiffskörper frei in der Luft. Seine Länge mochte
8265 etwa zehn, sein Durchmesser gegen vier Meter betragen. Das Material
8266 zeigte dasselbe glasartige Aussehen wie die Raumschiffe der
8267 Martier, gestattete aber keine Durchsicht. Den Boden wie das
8268 Verdeck bildeten zwei glatte, nach oben und unten gewölbte Schalen,
8269 zwischen denen ein nur vorn und hinten geschlossener, etwa
8270 meterhoher Streifen freiblieb. Durch denselben konnte man
8271 beobachten, daß das Luftboot von zwölf Martiern bemannt war.
8273 Jetzt senkte sich das Boot auf das Dach der Insel langsam herab, wo
8274 es ohne Verankerung liegenblieb. Die Besatzung stieg aus, und
8275 andere Martier traten an ihre Stelle. Nur die beiden Männer, die an
8276 den beiden Enden des Bootes sich befunden hatten, nahmen ihre
8277 Plätze wieder ein. Sie waren Grunthe und Saltner unbekannt, und
8278 diese schlossen daher, daß es die mit dem ›Glo‹ angekommenen
8279 Konstrukteure des neuen Luftschiffes seien, die hier die Martier
8280 mit der Behandlung des Bootes bekannt machten. Die Galerien der
8281 Insel waren von zuschauenden Martiern besetzt, doch konnte man
8282 diese von dem tiefen Standpunkt Grunthes und Saltners aus nicht
8283 erblicken; auch der untere Teil des Luftschiffes blieb ihnen
8284 verborgen, und sie konnten die Bemannung nur in dem Augenblick
8285 sehen, in welchem sie das Schiff verließ oder betrat, was durch das
8286 Verdeck desselben zu geschehen schien.
8288 Ein neues Manöver begann. Ohne Flügel und Steuer, horizontal
8289 liegend, stieg das Boot mit zunehmender Geschwindigkeit senkrecht
8290 in die Höhe. Da war kein Luftballon sichtbar, keine Schraube, kein
8291 Flügelschlag hob es. In wenigen Minuten war es so hoch gestiegen,
8292 daß es dem bloßen Auge nur als ein Pünktchen mit Mühe wahrnehmbar
8293 erschien. Plötzlich vergrößerte sich der Punkt schnell. Das Schiff
8294 stürzte herab. Aber jetzt entfaltete es seine Flügel und sein
8295 Steuer, und wie ein riesiger Raubvogel sauste es in weitem Kreis um
8296 die Insel, streifte fast an der Meeresoberfläche hin und erhob sich
8297 dann wieder in einer Spirale. Dabei wurden offenbar Signale mit den
8298 Martiern der Insel gewechselt, die aber für Grunthe nicht
8299 verständlich waren. Man sah nun, daß das Schiff seine Flügel
8300 verkürzte oder zurücklegte, das Steuer stellte sich gerade, eine
8301 weiße Dampfwolke brach aus dem Hinterteil des Schiffes hervor, der
8302 ein kanonenschußartiger Knall und ein gewaltiges Brausen folgte –
8303 das Boot schoß schräg aufwärts steigend wie aus einem Geschütz
8304 geschleudert in die Ferne und war nach weniger als einer Minute in
8305 der Richtung des zehnten Meridians dem Auge entschwunden.
8307 Aus der Bewegung, welche sich jetzt auf der Insel bemerkbar machte,
8308 schlossen Grunthe und Saltner, daß das Schiff eine Fernfahrt
8309 angetreten habe und fürs nächste nicht wieder zu erwarten sei. Sie
8310 verließen daher ihren unbequemen Posten und zogen sich in ihr
8311 Zimmer zurück, jedoch entschlossen, die Rückkehr des Schiffes zu
8312 erwarten. Zu diesem Zweck wollten sie sich im Wachen ablösen.
8314 Diese Mühe hätten sie sich freilich sparen können, wenn sie gewußt
8315 hätten, wie weit das Schiff seine Aufklärungsfahrt ausdehnen
8316 sollte. Es wurde erst in der folgenden Nacht von den Martiern
8317 zurückerwartet.
8319 Die Versuche der Martier waren vollständig gelungen. Ihre auf dem
8320 Mars in Berücksichtigung der terrestrischen Verhältnisse
8321 ausgeführten Konstruktionen bewährten sich in überraschender Weise.
8322 Sie waren nun im Besitz eines Luftschiffs, welches sie nach
8323 Belieben in der Erdatmosphäre lenken konnten und mit welchem sie
8324 selbst einem Sturm zu widerstehen vermochten. Was die Menschen so
8325 lange vergeblich angestrebt hatten, die Techniker des Mars hatten
8326 es in verhältnismäßig kurzer Zeit erreicht.
8328 Allerdings besaßen ja die Martier vor allem ein Mittel, sich in die
8329 Luft zu erheben, das den Menschen fehlt, die Anwendung der
8330 Diabarie. Der Fortschritt der Luftschifffahrt bei den Menschen war
8331 früher immer daran gescheitert, daß man das aerostatische und das
8332 dynamische Luftschiff nicht in geeigneter Weise verbinden konnte.
8333 Wandte man den Luftballon an, um Lasten in die Höhe zu heben, so
8334 mußte der Apparat riesige Dimensionen annehmen, und es war dann
8335 unmöglich, ihn gegen die Windrichtung zu bewegen, weil er dem Wind
8336 eine zu große Angriffsfläche bot oder nicht genügend
8337 widerstandsfähig gegen seinen Druck gemacht werden konnte. Wählte
8338 man aber die dynamische Form des Luftschiffs, wobei durch Schrauben
8339 oder Flügel die Erhebung bewerkstelligt wurde, so fehlte es an
8340 Maschinen, um die erforderliche große Kraft zu entwickeln; denn um
8341 dies zu leisten, mußten die Maschinen selbst zu schwer werden.
8343 Diesen Schwierigkeiten waren nun die Martier dadurch enthoben, daß
8344 sie diabarische Fahrzeuge zu bauen vermochten, das heißt Fahrzeuge,
8345 für welche die Anziehungskraft der Erde nahezu ganz aufgehoben
8346 werden konnte. Bei der Luftschiffahrt geschah diese Aufhebung
8347 natürlich nicht so vollständig wie bei der Raumschiffahrt, sondern
8348 nur soweit, daß das Gewicht des Schiffes samt seinem Inhalt
8349 geringer wurde als das Gewicht der von ihm verdrängten Luft. Nach
8350 dem archimedischen Gesetz mußte es dann in der Luft in die Höhe
8351 steigen, und, je nachdem man seine Schwere vergrößerte oder
8352 verkleinerte, konnte man es senken oder heben. Man bedurfte dazu
8353 keiner Riesenballons und keiner Ballastmassen. Das Probeschiff der
8354 Martier wog mit seinem ganzen Inhalt etwa fünfzig Zentner und besaß
8355 eine Luftverdrängung von über hundert Kubikmeter. Es genügte also
8356 eine Erniedrigung des Gewichts bis auf fünf Prozent des
8357 eigentlichen Betrages, das heißt bis auf 125 Kilogramm, um zu
8358 bewirken, daß das Schiff in der Nähe der Erdoberfläche schwebte,
8359 denn soviel beträgt hier ungefähr das Gewicht der verdrängten
8360 hundert Kubikmeter Luft. Was aber die Martier bisher verhindert
8361 hatte, sich mit ihren Raumschiffen in die Atmosphäre zu wagen, war
8362 die mangelhafte Widerstandsfähigkeit des Stellits. Es galt somit
8363 für die Martier vor allem, einen Stoff zu finden, der sich
8364 diabarisch machen ließ und dabei doch die genügende Festigkeit
8365 besaß, um eventuell nicht nur den gewaltigen Druck eines
8366 Sturmwindes auszuhalten, sondern auch mit großer Geschwindigkeit
8367 gegen die Luft anzufliegen. Das war jetzt gelungen. Das neue
8368 Luftschiff vermochte einer mit 400 Metern Geschwindigkeit gegen
8369 dasselbe bewegten Luftmasse Widerstand zu leisten, ohne eine
8370 schädliche Verbiegung seiner Umhüllung zu erleiden. Dieser Stoff
8371 führte den Namen Rob.
8373 Diabarie und Rob fanden nun ihren dritten Verbündeten zur
8374 Vollendung der Aerotechnik in einer Modifikation des Repulsit. Man
8375 konnte natürlich in der Luft der Erde nicht wie im leeren Raum
8376 Repulsitbomben schleudern. Aber man hatte dafür eine Vorrichtung
8377 ersonnen, den kondensierten Äther des Repulsits so allmählich zu
8378 entspannen, daß man den unmittelbaren Rückstoß zur Fortbewegung
8379 benutzen konnte. So bedurfte es keiner Schrauben oder Flügel, die
8380 nicht nur viel Raum einnahmen, sondern auch leicht der Havarie
8381 ausgesetzt waren; man schoß sich direkt durch Reaktion, wie eine
8382 Rakete, durch die Luft. Die beiden großen Flügel und das Steuer,
8383 welche das neue Luftschiff trug, konnten unter Umständen gänzlich
8384 zusammengeschoben und eingezogen werden; sie dienten nur dazu, um
8385 das Gleichgewicht bei plötzlicher Änderung der Richtung zu bewahren
8386 und um nicht die großen Vorteile zu verlieren, welche der Segelflug
8387 bei günstigem Wind darbietet.
8389 Ill hatte das Schiff vom Mars mitgebracht und sich jetzt von seiner
8390 Tauglichkeit überzeugt. Die Versuche geschahen in der Nacht, das
8391 heißt während der Schlafenszeit, weniger, weil man die neuen
8392 Erfolge vor den Menschen verbergen wollte, als weil man bei einem
8393 etwaigen Mißerfolg keinerlei Zeugen zu haben wünschte. Immerhin
8394 beabsichtigte Ill nicht, die Menschen in die Fortschritte
8395 einzuweihen, welche die Martier gemacht hatten; da aber noch
8396 weitere Übungen angestellt werden sollten und man höchstens noch
8397 auf zwei Wochen Tageslicht rechnen konnte, so lag ihm selbst daran,
8398 Grunthe, wenn dieser auf seiner Weigerung beharren sollte,
8399 möglichst schnell von der Insel zu entfernen. Die Aufklärungsfahrt
8400 des Luftschiffs in der Richtung nach Europa hing mit dieser Absicht
8401 zusammen. Es stellte sich heraus, daß mit Anwendung des Repulsits
8402 Geschwindigkeiten von 200 Metern in ruhiger Luft mit Leichtigkeit
8403 erreicht werden konnten. Man bewegte sich dabei in Höhen von
8404 ungefähr zehn Kilometern, bei einer Luftverdünnung, welche
8405 allerdings von Menschen nur bei künstlicher Sauerstoffatmung
8406 ertragen werden konnte, den Martiern aber, wenn sie nur von Zeit zu
8407 Zeit etwas Sauerstoffzuschuß erhielten, keine besonderen
8408 Beschwerden verursachte. Heftige Luftströmungen konnten hier die
8409 Geschwindigkeit des Luftschiffs wohl zeitweise um die Hälfte
8410 steigern oder mindern, im Mittel jedoch vermochte man in der Stunde
8411 siebenhundert Kilometer zurückzulegen. Auf diese Weise konnte man
8412 vom Nordpol nach Berlin in sechs Stunden gelangen.
8414 Als die Lichtdepesche über das Gelingen dieser Probefahrten nach
8415 dem Mars gelangte, bewilligte der Zentralrat die Mittel zum Bau von
8416 hundertvierundvierzig Erd-Luftschiffen, welche bis zum nächsten
8417 Erd-Nordfrühjahr fertigzustellen seien – – – –
8419 Es war noch früh am Tage, und Saltner wollte sich eben von seinem
8420 Posten, auf dem er vergeblich nach der Rückkehr des Luftschiffes
8421 ausgeschaut hatte, nach dem Dach der Insel begeben, um Grunthe bei
8422 der Arbeit am Ballon zu helfen, als er in das Sprechzimmer gerufen
8423 wurde.
8425 Dort erwartete ihn La. Der kühle Ernst, welchen sie gestern gezeigt
8426 hatte, die fremde Haltung war verschwunden. Mit einem Lächeln auf
8427 den Lippen, in der ganzen hinreißenden Anmut ihres Wesens schwebte
8428 sie ihm entgegen und begrüßte ihn mit einer Zärtlichkeit, die ihn
8429 wehrlos machte. Sie zog ihn neben sich auf einen Sitz und sagte,
8430 seine Hand haltend:
8432 „Sei nur nicht gar so verwundert, Sal, heute ist wieder mein Tag,
8433 und was gestern war, geht uns nichts an. Oder hast du schon
8434 vergessen –?“
8436 „Wie könnte ich! Aber ich begreife nur nicht –“
8438 „Aber liebster Freund, das ist doch ganz einfach! Haben wir uns
8439 lieb?“
8441 „La!“
8443 „Und hab ich dir nicht schon gesagt, Liebe darf nicht unfrei
8444 machen? Und hast du nicht auch Se lieb?“
8446 „Ich bitte dich.“
8448 „Ich weiß es, und es ist ein Glück, sonst dürften wir uns so nicht
8449 sehen.“
8451 „Was ihr für seltsame Sitten habt!“
8453 „Können wir uns gehören für immer? Kannst du dauernd auf dem Mars
8454 leben oder ich auf der Erde? Oder irgendwo zwischen den Planeten?
8455 Und was hat das überhaupt mit der Liebe zu tun? Das sind ganz
8456 andere Fragen. Wir aber wollen uns der Schönheit freuen und des
8457 Glücks, das wir im freien Spiel des Gefühles genießen. Liebtest du
8458 mich allein, du wärest bald unfrei, über dich herrschte die
8459 Leidenschaft, der das Herzeleid folgt, und ich müßte mich dir
8460 entziehen. Wohl gibt es ein Glück zwischen Mann und Frau, das kein
8461 Spiel ist, sondern Ernst; doch davor stehen viele Prüfungen, und ob
8462 es möglich ist zwischen Nume und Mensch, das weiß noch niemand. Und
8463 damit wir nicht vergessen, daß Liebe ein Spiel ist, dürfen wir
8464 nicht ganz allein es führen, und doch allein, wann wir wollen. Und
8465 nun zerbrich dir nicht den törichten Kopf! Ich habe dir etwas
8466 Ernstes zu sagen.“
8468 „Noch etwas Ernsteres? Ich werde Mühe haben, mich in das eine zu
8469 finden. Aber es ist wahr, allgemeineres dürfen wir nicht über
8470 unserem – Spiel vergessen.“
8472 „Ich glaube, du verstehst mich noch immer nicht – Spiel heißt doch
8473 Kunstwerk, ein Trauerspiel ist auch ein Spiel, nur daß man nicht
8474 selbst dabei umkommt, sondern der Held, mit dem man fühlt. Und den
8475 Wert unseres Gefühls setzen wir nicht herab, nein, wir machen ihn
8476 reiner und höher, wenn wir ihn in die Freiheit des Spiels, in das
8477 Reich des selbstgeschaffenen schönen Scheines erheben. – Du Tor!
8478 Ist dieser Kuß ein Schein? – Nein, Schein ist nur, daß ich damit
8479 die Freiheit meines Selbst verliere. Und nun höre! Du kommst mit
8480 uns auf den Mars, damit du endlich einmal verständig wirst.“
8482 „Sprichst du so als meine geliebte La? Dann muß ich dir zeigen, daß
8483 ich dein gelehriger Schüler bin, indem ich meine Freiheit bewahre.
8484 Du weißt, warum ich nicht mit euch kommen kann.“
8486 „Ich weiß es, und du bist brav, und ich hab dich darum nur lieber.
8487 Ihr wart gestern Männer. Aber wenn wir nun die Bedingung erfüllen,
8488 daß ihr eure Nachrichten überbringen könnt, wenn wir einem von euch
8489 die Mittel zur Heimkehr verschaffen, will dann nicht der andere mit
8490 uns kommen?“
8492 „Und wer soll der andere sein?“
8494 „Das wird sich ja finden. Doch im Ernst, ich bin beauftragt, bei
8495 euch anzufragen, ob ihr darauf eingehen wollt. Sobald sich einer
8496 von euch beiden bereiterklärt, nach dem Mars mitzugehen, schaffen
8497 wir den andern sofort in seine Heimat.“
8499 „Merkwürdig! Und ich wollte euch heute denselben Vorschlag machen.
8500 Es hat sich gezeigt, daß der Ballon nur eine Person wird tragen
8501 können, das muß natürlich Grunthe sein. Wollt ihr uns eure Hilfe
8502 leihen, den Ballon herzustellen, so daß Grunthe abreisen kann, so
8503 bin ich bereit, mit euch nach dem Mars zu gehen.“
8505 „Das ist herrlich, liebster Freund, dafür muß ich dir danken. Und
8506 wegen des Ballons mache dir keine Sorge – wir haben einen
8507 sichereren Weg nach Deutschland –“
8509 „Das Luftschiff?“
8511 „Ihr habt gelauscht?“
8513 „Gesehen. Und damit wollt Ihr uns – aber dann könnte ich ja auch
8514 mit zurück?“
8516 „Nein, das ist Bedingung. Du mußt mit uns kommen –“
8518 „Ach, La, ich sträube mich ja nicht.“
8520 „So komm, wir wollen mit Ra und deinem Freund sprechen.“
8522 „Aber zuvor dürfen wir wohl noch ein wenig hier plaudern?“
8526 Es war sieben Uhr, zwei Stunden nach Feierabend, als das Luftschiff
8527 von seiner Fahrt zurückkehrte. Nachdem Ill den erstatteten Bericht
8528 mit großer Zufriedenheit entgegengenommen hatte, wurde das Schiff
8529 sofort zu einer neuen Fernfahrt in Bereitschaft gesetzt.
8531 Grunthe und Saltner hatten sich bereits in ihre Zimmer
8532 zurückgezogen, als das Schiff ankam, und daher nichts mehr von
8533 demselben bemerkt. In einer Unterredung mit Ill und Ra hatte
8534 Grunthe eingewilligt, die Fahrt auf dem Luftschiff der Martier
8535 anzutreten. Er bereitete sich darauf vor, indem er alle Gegenstände
8536 zusammenpackte, die er mitzunehmen wünschte. Man hatte ihm Gepäck
8537 im Gewicht von einem Zentner bewilligt, und außer seinen Büchern
8538 und Instrumenten packte er noch eine Anzahl Kleinigkeiten ein,
8539 welche seinen Landsleuten die Industrie der Martier verdeutlichen
8540 sollten. Darauf legte er sich zur Ruhe.
8542 Am folgenden Morgen, am zweiten Tag nach der Beratung mit den
8543 Martiern, hatten Grunthe und Saltner eben ihr Frühstück beendet,
8544 und Saltner hatte sich nach dem Sprechzimmer begeben, als Hil bei
8545 Grunthe eintrat. Dieser war damit beschäftigt, seine Effekten auf
8546 einen Platz zusammenzustellen.
8548 „Das ist Ihr Gepäck?“ fragte Hil. „Wünschen Sie sonst noch etwas
8549 mitzunehmen?“
8551 „Nichts weiter – es ist alles vollständig und wird das Gewicht von
8552 einem Zentner nicht überschreiten.“
8554 „So sind Sie also reisefertig?“
8556 „Ganz und gar – Sie sehen, ich bin sogar schon in meinem
8557 Reiseanzug, und da liegt mein Pelz. Wann soll die Fahrt beginnen?“
8559 „Sehr bald, vielleicht schon in dieser Stunde. Haben Sie Ihrem
8560 Freund noch etwas mitzuteilen?“
8562 „Nein, wir haben uns hinreichend ausgesprochen, hier sind seine
8563 Briefe und Tagebücher für die Heimat.“
8565 „Sie wären also bereit, sogleich aufzubrechen?“
8567 „Ich bin bereit.“
8569 Hil trat dicht an ihn heran und faßte seine Hände, als wollte er
8570 sich verabschieden. Dabei sah er ihm fest in die Augen. Grunthe
8571 fühlte sich von diesem Blick eigentümlich betroffen. Er konnte die
8572 Augen nicht fortwenden, und doch begann die Umgebung vor seinen
8573 Blicken zu verschwimmen. Er sah nur noch die großen, glänzenden
8574 Pupillen des Arztes.
8576 Dieser legte ihm jetzt langsam die Hände auf die Stirn und sagte
8577 bedeutsam:
8579 „Sie schlafen!“
8581 Grunthe stand starr, bewußtlos, mit offenen Augen. Hil drückte
8582 leise seine Augenlider herab und winkte mit dem Kopf rückwärts.
8583 Zehn Martier, die sich bereitgehalten hatten, traten ein. Sechs von
8584 ihnen nahmen Grunthe behutsam in die Arme, legten ihn auf ein
8585 Tragbett und schafften ihn aus dem Zimmer. Die vier andern folgten
8586 mit dem Gepäck. Grunthe wurde in das Luftschiff gebracht und
8587 sorgfältig in seinen Pelz gehüllt. Das Rohr des Sauerstoffbehälters
8588 wurde in seinen Mund geführt.
8590 Wenige Minuten darauf erhob sich das Luftschiff senkrecht in die
8591 Höhe. Nachdem es tausend Meter gestiegen war, schlossen sich die
8592 seitlichen Öffnungen. Der Reaktionsapparat spielte. Schräg aufwärts
8593 schoß es in der Richtung des zehnten Meridians nach Süden.
8595 Ra begab sich zu Saltner in das Sprechzimmer und sagte:
8597 „Wundern Sie sich nicht, daß Sie Ihren Freund nicht mehr vorfinden
8598 werden. Ich hoffe, daß wir Ihnen bald die Nachricht seiner
8599 glücklichen Ankunft in der Heimat melden können. Wir hielten es für
8600 notwendig, die Abreise zu beschleunigen.“
8602 Saltner sprang an das Fenster. Fern am Horizont leuchtete ein
8603 schwaches Dampfwölkchen auf, um alsbald zu verschwinden.
8605 Er war jetzt der einzige Europäer am Nordpol.
8607 Se trat zu ihm.
8609 „Seien Sie guten Muts, lieber Freund“, sagte sie. „Morgen geht
8610 unser Raumschiff nach dem Nu!“
8612 \section{21 - Der Sohn des Martiers}
8614 Auf der Nordseite der Stadt Friedau dehnt sich ein langgestreckter
8615 Hügelrücken. Sorgsam gepflegte Gärten ziehen sich an seinen
8616 Abhängen in die Höhe, aus deren Grün schmucke Villen hervorlugen.
8617 Vom Gipfel hernieder glänzt über den Baumkronen eines parkartigen
8618 Gartens ein weißes Landhaus, das ein erhöhter Kuppelbau auf den
8619 ersten Blick als eine Sternwarte erkennen läßt.
8621 Der wunderbar klare Septembertag, an dem die Besucher jenes über
8622 dem Nordpol schwebenden Ringes mit ihrem tausendmal vergrößernden
8623 Projektionsfernrohr die Karte von Deutschland durchmusterten,
8624 neigte sich seinem Ende zu. Sein mildes Licht lag über den
8625 zierlichen Gärten Friedaus, in denen großblumige Georginen den
8626 Rosenflor verdrängten, über den alten Bäumen des weiten fürstlichen
8627 Parks, der vom Fuß des Hügels beginnend fast die ganze Stadt umzog,
8628 und spiegelte sich dort im ruhigen Wasser des Teiches.
8630 Den breiten Kiesweg, welcher vom Hügel herab zwischen den Vorgärten
8631 der Villen nach dem Eingang des Parkes führte, schritt in Gedanken
8632 verloren der Besitzer jener Privatsternwarte. Im Schatten der Bäume
8633 angelangt, nahm er den weichen hellfarbigen Filzhut ab, und man
8634 sah, daß volles graues Haar seinen Kopf bedeckte. Aber es war nicht
8635 ergraut von der Last des Alters, es hatte stets diese Farbe gehabt.
8636 Unter der hohen Stirn leuchteten zwei mächtige tiefdunkle Augen.
8637 Sie waren jetzt nicht mehr sinnend zur Erde gerichtet, sondern
8638 spähten erwartungsvoll durch die Gänge des Parkes.
8640 Zwischen den Büschen am Ufer des Teiches schimmerte ein heller
8641 Sonnenschirm. Beim Geräusch der nahenden Schritte erhob sich von
8642 einer Bank unter dem Schatten einer breitästigen Linde eine
8643 anmutige Frauengestalt in eleganter Sommerkleidung. Der
8644 nachdenkliche Ernst, der über ihren feinen Zügen gelegen hatte,
8645 wich einem freundlichen Lächeln, als sie jetzt Ell entgegentrat,
8646 und in ihren dunkelblauen Augen blitzte es auf wie von einem
8647 stillen Glück, als sie ihm die Hand reichte.
8649 „Verzeihen Sie“, sagte Ell, indem er an ihrer Seite den Parkweg am
8650 Ufer des Teiches entlangwandelte, „ich habe mich verspätet,
8651 natürlich ohne meine Schuld.“
8653 „Auch ich bin eben erst gekommen“, erwiderte Isma Torm. „Ich habe
8654 Besuch gehabt. Frau Anton hat mir sehr weise Reden gehalten. Sie
8655 konnte gar kein Ende finden.“
8657 „Ich kann es mir denken, aber machen Sie sich nichts daraus. Sie
8658 können tun, was Sie wollen, den Menschen werden Sie es doch nicht
8659 recht machen.“
8661 Isma seufzte leise. „Sie sehen, ich bin doch gekommen!“
8663 Ell dankte ihr durch einen Blick. „Es ist die einzige Stunde am
8664 Tag, Isma, in der einmal der Weltärger verschwindet und ich frei
8665 und glücklich bin.“
8667 „Und Ihre Arbeit?“
8669 „Selbst diese ist nicht frei von Enttäuschung. Beschränktheit und
8670 Engherzigkeit, wohin Sie sehen. Sie wissen, daß ich mich über Kampf
8671 und Streit nicht beklage, denn das ist die Form, wodurch wir
8672 weiterkommen. Aber diese Unfähigkeit, das Ziel zu sehen, dieser
8673 Eigensinn, daß die Dinge nicht auch anders gingen!“
8675 „Was hat Sie denn heute geärgert, Ell? Schütten Sie nur das Herz
8676 aus.“
8678 „Es ist ja nichts Neues. Sie wissen, daß ich mich vor Jahresfrist
8679 entschlossen habe, meine Theorie der Gravitation zu
8680 veröffentlichen. Grunthe redete mir zu, obwohl er sagte, es wird
8681 niemand begreifen.“
8683 „Ich erinnere mich sehr gut. Es war –“
8685 „Ja damals –“
8687 „Und damals sagten Sie, das wäre Ihnen ganz gleichgültig.“
8689 „Das ist auch wahr. Was meine Person angeht, meinen Ruhm oder wie
8690 Sie es nennen wollen, das ist mir auch ganz gleichgültig. Aber um
8691 der Sache willen tut es mir leid. Was die Menschheit dadurch
8692 verliert, das schmerzt mich, und ich sehe, daß ihr so nicht zu
8693 helfen ist. Erst wird das Buch totgeschwiegen, die Gelehrten wissen
8694 nicht, was Sie damit anfangen sollen, dann kommt einer und
8695 behauptet, das wäre eine phantastische Hypothese, durch nichts
8696 bewiesen. Dabei habe ich aufgrund meiner Theorie das sogenannte
8697 Drei-Körper-Problem gelöst und die Richtigkeit bis auf die
8698 Hundertstelsekunden an der Störung der Marsmonde nachgewiesen. Aber
8699 glauben Sie, daß ein einziger Astronom meine Methode der Rechnung
8700 verstanden hat?“
8702 „Ko Bate“, sagte Isma lächelnd. „Das wollten Sie doch wohl sagen?
8703 Wahrscheinlich haben Sie sich nicht klar genug ausgedrückt.“
8705 „Allerdings, ich hätte darüber ein besonderes Buch schreiben müssen
8706 – ich glaubte nicht, daß man so schwerfällig sein würde. Ich habe
8707 die Methode gar nicht selbst erfunden, sondern schon in meinem
8708 achtzehnten Jahr von meinem Vater erlernt –“
8710 „Aber warum haben Sie das alles so lange geheimgehalten?“
8712 „Sie sehen ja, daß es noch immer zu früh ist. Könnten die andern
8713 mit mir in der gleichen Richtung weiterarbeiten, man würde auch
8714 technisch zu Resultaten kommen, die eine ganz neue Welt eröffnen
8715 müßten. Ach, dann würden wir vielleicht einmal frei von dieser
8716 schweren Erde.“
8718 „Immer wieder dieselbe Sehnsucht. Es ist ja doch hier ganz
8719 leidlich. Sie müssen Geduld haben. Und dies hat Sie heute verstimmt
8720 und aufgehalten?“
8722 „Dies weniger. Heute waren es praktische Sachen, Ärger mit den
8723 Behörden. Das ist eine Schwerfälligkeit – vornehmlich drüben im
8724 Nachbarstaat –, ein Reglementieren – alles muß in eine Schablone
8725 gepreßt werden. Und das hat mich mißmutig gemacht, ganz besonders,
8726 weil es auch Sie angeht.“
8728 „Mich? Ist etwas vorgefallen?“ fragte Isma ängstlich.
8730 „Nein, ich meine unsere Luftschifferstation. Man will sie
8731 verstaatlichen, neben die militärische unter das Kriegsministerium
8732 stellen, wahrscheinlich dann auch von hier fort verlegen.
8733 Jedenfalls verlangt man eine Staatsaufsicht – obwohl der Staat noch
8734 nicht einen Pfennig dazu gegeben hat.“
8736 „Aber warum denn?“
8738 „Ich glaube, man traut mir nicht. Im Falle eines Krieges will man
8739 wohl Sicherheiten haben. Sie wissen, die Abteilung ist eine
8740 internationale Gründung. Ich selbst habe meine besonderen Ansichten
8741 über Patriotismus.“
8743 „Ich bitte Sie, Ell, Sie sind doch ein Deutscher. Im Kriegsfall
8744 müssen wir uns selbstverständlich zur Verfügung stellen – aber, wer
8745 wird denn an Krieg denken. Ach, machen Sie mir nicht noch mehr
8746 Sorge!“
8748 „Ich bin ein Deutscher mit meinen Sympathien, staatsrechtlich bin
8749 ich es nicht, man kann mich also im Notfall ausweisen. Die Sache
8750 ist doch so – Deutschland oder Frankreich oder England, irgendeine
8751 Nation oder ein Staat ist ja kein Selbstzweck; Selbstzweck kann nur
8752 die Menschheit als Ganzes sein. Die einzelnen Völker und Staaten
8753 sind Mittel, im gegenseitigen Wettbewerb die Idee der Menschheit zu
8754 erfüllen. Wenn nun einmal der Staat, dem ich angehöre, durch seinen
8755 Erfolg nicht das zweckentsprechende Mittel wäre in Rücksicht auf
8756 die Idee der Menschheit, so wäre es unmoralisch, wenn ich als freie
8757 Persönlichkeit mich nur darum für ihn entschiede, weil ich ihm viel
8758 verdanke. Die ethische Forderung ist eine andere. Aber bei den
8759 Menschen wird immer nach dem unmittelbaren Gefühl entschieden, und
8760 das nennt man dann Patriotismus und hält für Pflicht, was doch bloß
8761 Neigung ist.“
8763 Isma blieb stehen. „Aber dann“, sagte sie langsam, „mit welchem
8764 Recht gehen wir hier spazieren? Ist das auch Pflicht?“
8766 „Gewiß, wenn sie auch mit der Neigung zusammenfällt. Sie werden
8767 sich selbst doch nicht danach beurteilen, was die Friedauer für
8768 richtig halten?“
8770 „Nein“, sagte Isma, indem sie lächelnd zu ihm aufblickte, „kommen
8771 Sie ruhig mit durch die Stadt. Glauben Sie nicht, daß wir bald eine
8772 Nachricht erwarten können?“
8774 „Die Depesche von Spitzbergen sagt uns, daß die Fahrt am 17. August
8775 angetreten ist. Es ist wohl möglich, daß in den nächsten Tagen eine
8776 Nachricht eintrifft.“
8778 „Sie sind noch immer guten Muts?“
8780 „Ich hoffe zuversichtlich. Glauben Sie mir, ich hätte Ihrem Mann
8781 nicht so aufrichtig zugeredet, wenn ich nicht überzeugt wäre, daß
8782 ihm die Expedition in besonderer Weise glücken wird.“
8784 „Ell, Sie denken noch an irgend etwas Unerwartetes; ich bitte Sie,
8785 seien Sie offen, fürchten Sie eine bestimmte Gefahr?“
8787 „Nichts, was zu fürchten ist, ich versichere Sie, Isma! Etwas
8788 Unerwartetes vielleicht, aber nichts zu fürchten!“
8790 „O bitte, was denken Sie? Ich habe schon oft bemerkt, daß Sie mir
8791 noch etwas verschweigen.“
8793 „Wahrhaftig, Isma, ich verschweige Ihnen nichts, was ich weiß, aber
8794 verlangen Sie nicht, daß ich Vermutungen Ausdruck gebe, die
8795 vielleicht völlig nichtig sind. Ich setze eine große Hoffnung auf
8796 die glückliche Wiederkehr der Expedition, und ich rechne mit
8797 Sicherheit darauf. So sicher, daß ich mir größte Mühe gebe, eine
8798 Stellung für Saltner ausfindig zu machen. Denn was soll er dann
8799 tun, wenn er zurückkehrt? Und sehen Sie, das hat mich auch heute
8800 gekränkt – glauben Sie, daß die Regierung den Mann anstellt, der
8801 eine so ruhmvolle Expedition mitmacht? Er ist ja ein Ausländer und
8802 hat seine Prüfungen nicht bei uns abgelegt!“
8804 „Lassen Sie ihn nur erst zurück sein. Mich beunruhigt dieses
8805 Unerwartete, wie Sie es nennen.“
8807 „Wirklich, es ist nur eine Art Ahnung, daß uns mit der Auffindung
8808 des Nordpols mehr gegeben werden wird als eine geographische
8809 Entdeckung.“
8811 „Das müssen Sie mir noch erklären.“
8813 „Vielleicht bald. Aber heute haben wir noch nicht einmal von Ihnen
8814 gesprochen. Was haben Sie getan, gelesen, erfahren?“
8816 „Herzlich wenig. Die Polarkarte habe ich wieder einmal studiert.“
8818 Im lebhaften Gespräch durchschritten sie die belebteren Teile der
8819 Anlagen. Hinter den Bäumen sank die Sonne, rot und golden leuchtete
8820 der Abendhimmel. Öfter begegneten sie jetzt Spaziergängern. Den
8821 meisten waren sie bekannt, man grüßte die beiden höflich, aber
8822 hinterher drehte man sich um und sah ihnen nach. Man warf sich
8823 Blicke zu oder zischelte eine Bemerkung.
8825 „Sie haben gut spazierengehen“, näselte ein kleiner Herr mit
8826 breitem, schnüffligem Gesicht seinem Begleiter zu, „er hat den Mann
8827 nach dem Nordpol geschickt.“
8829 „Das ist die Torm“, sagte ein junges Mädchen. „Jeden Tag geht sie
8830 mit dem Doktor Ell hier vorüber.“
8832 Die Friedauer waren sehr stolz darauf, daß alle Zeitungen von ihrer
8833 Nordpolexpedition erfüllt und die Lebensbeschreibungen ihrer
8834 Mitbürger überall zu lesen waren. Darum waren sie glücklich, auch
8835 über sie reden zu können. Sie taten es nach Herzenslust in ihrer
8836 menschenfreundlichen und liebevollen Weise und um so mehr, je
8837 weniger sie von ihnen wußten.
8839 Ell und Isma hatten die Anlagen verlassen und waren in eine der
8840 breiten mit Vorgärten vor den Häusern versehenen Alleen
8841 hineingeschritten. Sie standen vor der Tormschen Wohnung. Ell hatte
8842 schon Isma die Hand zum Abschied gereicht, und beide zögerten nur
8843 noch einen Augenblick, sich zu trennen. Da öffnete sich die Haustür
8844 und ein Telegraphenbote kam ihnen entgegen.
8846 „Guten Abend, Frau Doktor“, sagte er. „Da treff ich Sie ja noch. Es
8847 war oben niemand zu Hause.“
8849 Isma griff nach dem Telegramm. Sie riß es auf.
8851 „Von ihm! Aus Hammerfest!“ rief sie fieberhaft.
8853 „Das ist die Brieftaubenstation“, sagte Ell.
8855 Es dunkelte schon. Sie konnte die Buchstaben nicht mehr recht
8856 erkennen. Die Leute sahen ihr von den Fenstern aus zu.
8858 „Kommen Sie mit hinauf, Ell“, sagte sie. „Die Sache ist nicht so
8859 kurz. Das ist eine Ausnahme, heute dürfen Sie kommen!“
8861 Isma eilte voran. Als Ell in das Wohnzimmer trat, stand sie schon
8862 unter der elektrischen Lampe und las das Telegramm. Ihren Hut, der
8863 ihr das Licht nahm, hatte sie herabgerissen.
8865 „Da“, sagte sie, Ell das Papier reichend. „Er lebt! Er ist gesund!
8866 Lesen Sie, lesen Sie vor. Ich werde nicht daraus klug.“ Sie ließ
8867 sich in einen Sessel sinken und begann ihre Handschuhe
8868 abzustreiten.
8870 Ell warf einen Blick auf das Telegramm. Seine Hände bebten
8871 sichtlich. Er setzte sich.
8873 „Um Gottes willen, Ell, was ist – Sie zittern –“
8875 „Nicht aus Sorge, nein, nein – es war nur ein Augenblick der
8876 Überraschung. Hören Sie, Isma.“
8878 Er las:
8880 „Hammerfest, 5. September, 3 Uhr 8 Minuten. Soeben Brieftaube mit
8881 dem Stempel ›Ballon Pol‹ zurückgekehrt, brachte folgende
8882 Nachricht:
8884 Frau Isma Torm, Friedau, Deutschland.
8886 19. August, 5 Uhr 34 Minuten M.E.Z., nachmittags. Alle gesund. Nach
8887 dreißigstündiger direkt nördlicher, günstiger Fahrt schweben wir
8888 über dem Pol. Gewirr von Inseln in meist eisfreiem, nicht sehr
8889 ausgedehntem Bassin. Kleine, kreisrunde Insel, etwa fünfhundert
8890 Meter Durchmesser, von unbekannten Bewohnern als Pol markiert,
8891 trägt unerklärliche Apparate. Ihre Oberfläche enthält im größten
8892 Maßstab stereographische Polarprojektion der Nordhalbkugel bis
8893 gegen den dreißigsten Breitengrad. Bewohner nicht sichtbar. Da
8894 Landung nicht ratsam, setzen wir Reise fort. Innigsten Gruß.
8896 Torm.“
8898 Ell las die Depesche noch einmal sorgfältig durch, während Isma ihn
8899 erwartungsvoll ansah. Dann sprang er auf und machte einige Schritte
8900 durch das Zimmer. Auch Isma hatte sich erhoben.
8902 „Wir setzen die Reise fort! Das heißt, wir kommen wieder – nicht
8903 wahr, Ell, das heißt es doch? Es ist gelungen? O Gott sei Dank!“
8905 „Ja, es ist gelungen“, sagte Ell bedeutungsvoll.
8907 Isma trat auf ihn zu und ergriff seine beiden Hände.
8909 „Ich danke Ihnen, lieber Freund“, sagte sie, ihre tränenfeuchten
8910 Augen zu ihm aufschlagend, „ich danke Ihnen, es ist Ihr Werk!“
8912 Er zog sie sanft an sich, sie lehnte weltvergessen ihren Kopf an
8913 seine Schulter.
8915 „Isma!“ sagte er. Seine Lippen berührten ihre Stirn.
8917 Sie schüttelte leise den Kopf und trat zurück. „Setzen Sie sich“,
8918 sagte sie. „Und nun sprechen Sie, erklären Sie mir – das
8919 Rätselhafte, das Unerwartete –“
8921 „Es ist da.“
8923 „Aber was bedeutet es – ich verstehe nicht, ich bin ganz verwirrt.
8924 Ist es eine Gefahr?“
8926 „Es bedeutet – Isma, Sie werden es nicht glauben wollen, was es
8927 bedeutet – für uns alle. Wie soll ich es Ihnen sagen?“
8929 Er zog seinen Sessel an den ihrigen und ergriff ihre Hand.
8931 „Was ist Ihnen?“ fragte sie, ihn ängstlich anblickend.
8933 „Es bedeutet, daß die Bewohner des Planeten Mars auf dem Nordpol
8934 der Erde gelandet sind. Es, bedeutet, daß sie mit ihren Apparaten
8935 und Maschinen festen Fuß auf der Erde gefaßt haben. Es bedeutet,
8936 daß die Erde, die Menschheit binnen kurzem unter ihrer Leitung
8937 stehen wird – daß ein goldenes Zeitalter des Glückes und des
8938 Friedens die Not der Menschheit ablösen soll – und daß wir es
8939 erleben!“
8941 Seine Stimme hatte sich gehoben, er hatte mit Begeisterung
8942 gesprochen, seine Augen flammten tief, groß, dunkel und hafteten
8943 wie in weiter Ferne.
8945 Isma wußte nicht, was sie denken sollte.
8947 „Ell“, sagte sie schüchtern, „ich bitte Sie, Sie können in dieser
8948 Stunde nicht scherzen – wie soll ich das verstehen?“
8950 „Es ist die Wahrheit.“
8952 Es war mit einem Ausdruck gesprochen, daß ein Zweifel nicht möglich
8953 war.
8955 Isma schwieg. Sie lehnte sich zurück und strich das lichtbraune
8956 Haar aus der schmalen Stirn. Dann faltete sie ihre Hände und sah
8957 ihn bittend an.
8959 „Hören Sie, Isma, geliebte Freundin“, sprach Ell langsam, „hören
8960 Sie, was noch niemand weiß, noch niemand wissen durfte, und was
8961 ihnen manches erklären wird, das Ihnen an mir rätselhaft war. Es
8962 ist eine lange Geschichte.“
8964 Er verfiel in Schweigen.
8966 „Erzählen Sie“, bat sie innig. „Sie bleiben über Abend – ich kann
8967 heute nicht allein sein, und andere mag ich heute nicht sehen – ich
8968 muß alles wissen.“
8970 Ell erzählte. Er sprach vom Mars, von seinen Bewohnern, von ihrer
8971 Kultur, ihrer Güte, ihrer Macht. Er erklärte, wie sie zur Erde zu
8972 gelangen hofften, um die Menschheit ihrer Kultur, der Numenheit,
8973 entgegenzuführen, wie er sein Leben lang auf die Nachricht gehofft
8974 habe, daß der Pol im Besitz der Martier sei, wie er hauptsächlich
8975 darum die Polarforschung und Ausrüstung der Expedition betrieben
8976 habe. Und nun habe er keinen Zweifel mehr.
8978 Isma hatte ihm schweigend zugehört. Ihre Fassungskraft schien zu
8979 Ende.
8981 Als er schwieg, sagte sie:
8983 „Sie erzählen ein Märchen, ein schönes Märchen. Ich würde das alles
8984 für ein Märchen halten, wäre nicht die Depesche, und wären Sie
8985 nicht mein lieber, treuer Freund. So muß ich Ihnen glauben, obwohl
8986 ich nicht begreife, woher Sie das alles wissen und warum Sie
8987 niemals davon gesprochen haben. Wenn Sie es wußten, was am Pol zu
8988 erwarten war, so mußten Sie doch meinen Mann darauf vorbereiten.“
8990 Ell lächelte jetzt. „Das hab ich auch“, sagte er, „soweit ich
8991 durfte. Ich wußte ja nicht, ob meine Vermutung eintreffen würde,
8992 also durfte ich auch nicht davon sprechen. Denn eben haben Sie
8993 selbst gesagt, daß Sie mir ohne die Depesche nicht geglaubt hätten.
8994 Man hätte mir nicht geglaubt, man hätte mich für einen Narren
8995 gehalten, und ich hätte meine ganze Tätigkeit diskreditiert. Aber
8996 ich habe für alle Fälle gesorgt. Erinnern Sie sich der drei
8997 Flaschen Champagner, die Sie durch Saltner in den Korb schmuggeln
8998 ließen? Sie gingen durch meine Hände. Unter denselben befindet sich
8999 ein von mir entworfener Sprachführer – deutsch und martisch –, der
9000 beim Zusammentreffen mit den Marsbewohnern am Pol, auf das ich
9001 hoffte, gefunden werden mußte.“
9003 Isma reichte ihm lächelnd die Hand und sagte kopfschüttelnd: „Und
9004 nun sagen Sie mir das eine und Hauptsächlichste. Woher konnten Sie
9005 alles das wissen – wenn es wirklich wahr ist?“
9007 „Sie sollen auch dies wissen. Mein Vater war ein Nume. Er war kein
9008 Engländer, wie es hieß, kein auf der Erde Geborener. Ich stamme
9009 väterlicherseits von den Bewohnern des Mars.“
9011 Isma sah ihn sprachlos an. Sie konnte nicht zweifeln. Das
9012 Fremdartige seines Wesens, selbst seiner Erscheinung, das sie
9013 anfänglich abgestoßen, später so viel stärker gefesselt hatte, als
9014 sie sich selbst gestehen mochte – alles wurde ihr auf einmal
9015 erklärlich.
9017 Das Mädchen erschien an der Tür.
9019 „Kommen Sie“, sagte sie. „Wir wollen uns wenigstens zu Tisch
9020 setzen, es ist Zeit. Ich muß aber noch mehr hören, viel mehr.“
9022 „Wie oft haben wir Sie geneckt“, sagte Isma bei Tisch, „wenn Sie
9023 hier bei uns saßen und von den Marsbewohnern phantasierten. Es ist
9024 mir nie der Gedanke gekommen, daß Sie Ihre Erzählungen ernst meinen
9025 könnten.“
9027 „Ich habe mich auch gehütet, es so erscheinen zu lassen. Dann säße
9028 ich wohl im Irrenhaus. Und doch ist es so. Ich werde Ihnen die
9029 Aufzeichnungen meines Vaters zeigen, wenn Sie wieder einmal auf
9030 meinen Berg steigen. Und das meiste weiß ich aus seinem eigenen
9031 Mund. Sie sehen mich ungläubig an?“
9033 „Seien Sie nicht böse – ich glaube Ihnen, aber es will mir noch
9034 nicht in den Kopf, das Unerhörteste, was je geschehen ist – und
9035 mir, mir soll es begegnen –“
9037 „Zwischen uns soll sich nichts ändern, Isma! Aber ich hoffe, Ihnen
9038 jetzt erst ganz zeigen zu können, wie lieb ich Sie habe. Meine
9039 Pläne sind groß.“
9041 „Lassen Sie mich nur erst das Vergangene verstehen. Ihr Vater –“
9043 „Mein Vater hieß All. Er war Kapitän des Raumschiffes ›Ba‹, das
9044 heißt ›Erde‹, mit dem er bereits mehrere Fahrten nach dem Nordpol
9045 wie nach dem Südpol der Erde gemacht hatte, als er infolge eines
9046 Unglücksfalls mit sechs Gefährten auf dem Südpol zurückgelassen
9047 wurde. Als das Schiff in den nächsten Tagen nicht zurückkehrte,
9048 wußten sie, daß sie vor dem nächsten Frühjahr keine Hilfe zu
9049 erwarten hatten. Den Polarwinter am Südpol zu durchleben, war
9050 unmöglich. Unter unsäglichen Strapazen schleppten sie sich nach
9051 Norden bis an das Meeresufer. Mein Vater allein gelangte dort an,
9052 die übrigen waren den Anstrengungen erlegen. Es glückte ihm, von
9053 einem verspäteten Walfischjäger aufgenommen zu werden. Man hielt
9054 ihn für einen Schiffbrüchigen, der den Verstand verloren hatte. Er
9055 aber benutzte die Zeit der Überfahrt nach Australien, um die
9056 Sprache zu erlernen, ohne daß die Seeleute es wußten. Man brachte
9057 ihn in ein Hospital. Durch unerschütterliche Energie gewöhnte er
9058 sich an die Erdschwere und machte sich mit menschlichen
9059 Verhältnissen vertraut. Dann gewann er Freunde, die ihm die Mittel
9060 gaben, seine technischen Kenntnisse zu verwerten. Einige
9061 Erfindungen, die auf dem Mars längst bekannt waren, machten
9062 ungeheures Aufsehen. Es dauerte nicht lange, so war mein Vater ein
9063 reicher Mann. Er lernte meine Mutter kennen, die als deutsche
9064 Erzieherin in einem englischen Haus lebte. So wurde ich in
9065 deutscher Bildung aufgezogen. Außer meiner Mutter und mir erfuhr
9066 niemand das Geheimnis der Herkunft meines Vaters. Aber in mir
9067 pflegte er den Stolz, als Sohn eines Martiers teilzuhaben an der
9068 Numenheit. Immer habe ich den roten Planeten als meine eigentliche
9069 Heimat betrachtet, und einmal auf ihn zu gelangen, war mein
9070 Jugendtraum. Aber mein Vater starb, ehe ich das zweiundzwanzigste
9071 Jahr erreichte, ohne daß den Menschen eine Nachricht vom Mars
9072 gekommen war. Und das Vermächtnis meines Vaters – meine Mutter war
9073 noch vor ihm dahingegangen – stellte mir eine größere Aufgabe: die
9074 Erde den Martiern zu erschließen, die Menschheit teilnehmen zu
9075 lassen am Segen der martischen Heimat.
9077 Ich ging nach Deutschland, ich studierte und lernte den ganzen
9078 Jammer dieses wilden Geschlechtes kennen an der Stelle, wo die
9079 höchste Zivilisation des Planeten sich zeigen soll. Auch ein
9080 großes, herrliches Glück trat mir entgegen, aber es sollte mir
9081 nicht beschieden sein. Ich lernte Isma Hilgen kennen –“
9083 „Sie wissen –“
9085 „Ja, ja, Isma, Sie haben recht gehabt damals. Sie wären unglücklich
9086 geworden, wie ich es war. Ich ging nach Australien zurück. Aber
9087 meine Pläne, die Martier am Nordpol aufsuchen zu lassen, konnte ich
9088 nur von Europa aus verfolgen. Ich kaufte mich hier an – das andere
9089 wissen Sie.“
9091 Sie reichte ihm die Hand über den Tisch hinüber.
9093 „Ich nehme Sie bei Ihrem Wort“, sagte sie herzlich, „zwischen uns
9094 soll sich nichts ändern. Nein, ich fange an, vieles zu verstehen,
9095 was mich manchmal von Ihnen zurückschreckte. Wie konnte ich mir
9096 anmaßen, Ihnen das sein zu können, was Sie bei den Menschen
9097 suchten?“
9099 „Ich habe Sie niemals mehr geliebt, als wenn Sie mich für wandelbar
9100 hielten.“
9102 „Lassen Sie – wir dürfen jetzt nicht von uns sprechen. Was werden
9103 Sie zunächst tun?“
9105 „Das Telegramm muß natürlich veröffentlicht werden. Ich nehme es
9106 gleich mit. Aber die Aufklärung, welche ich Ihnen gegeben habe,
9107 bleibt vorläufig unter uns. Die Presse wird sogleich ihre Zweifel,
9108 Vermutungen und weisen Bemerkungen laut werden lassen. Dann gebe
9109 ich den Hinweis auf die Martier als eine Hypothese, ganz
9110 vorsichtig, nur um vorzubereiten.“
9112 „Aber sind Sie denn auch Ihrer Sache ganz sicher? Ich meine, daß es
9113 wirklich Ihre Landsleute sind, die sich am Pol befinden?“
9115 „Ich habe keinen Zweifel. Ich kann Ihnen noch etwas sagen, was ich
9116 selbst erst seit einigen Tagen weiß. Es wird sicherlich ebenfalls
9117 öffentlich zur Sprache kommen, sobald die Nachricht von der
9118 Expedition bekannt wird. Sie müssen wissen – mein Vater hat es mir
9119 erklärt –, daß die Martier nur am Nordpol oder am Südpol auf der
9120 Erde landen können. Ihre Raumschiffe suchen, sobald sie der Grenze
9121 der Atmosphäre sich nähern, genau in der Richtung der Erdachse
9122 heranzukommen. Es ist aber für sie gefährlich, in die Atmosphäre
9123 einzudringen. Deswegen ging man auf Anregung meines Vaters mit dem
9124 Plan um, in der Verlängerung der Erdachse außerhalb der Atmosphäre
9125 eine Station zu errichten, auf welcher die Schiffe bleiben und von
9126 der aus man dann auf andere Weise nach unten gelangt – ich erkläre
9127 Ihnen das ein andermal genauer, auch weiß ich ja nicht, ob die
9128 Pläne so ausgeführt worden sind, wie sie damals, vor mehr als
9129 vierzig Erdenjahren, bestanden. Sicherlich aber haben die Martier
9130 in irgendeiner Weise ihre Absicht durchgesetzt und eine
9131 Außenstation gegründet. Danach habe ich mit meinem Instrument
9132 gesucht, aber nur einmal einen Lichtpunkt bemerkt, den ich für die
9133 Station halten konnte, da er sich nicht mit den übrigen Sternen um
9134 die Weltachse drehte. Ich habe ihn seitdem nicht wieder finden
9135 können, obgleich ich die Stelle genau gemessen hatte; aber das
9136 wundert mich auch nicht, denn die Martier werden schon dafür
9137 sorgen, daß die Station möglichst wenig Licht ausstrahlt, und es
9138 sind gewiß nur vereinzelte Stunden, in denen die Station einmal auf
9139 so große Entfernung – ich berechne sie auf gegen 9.000 Kilometer –
9140 sichtbar wird. Nun wurde vor einigen Tagen von der Zentralstation
9141 für Kometen in Kiel ein Telegramm versendet, daß in Helsingfors ein
9142 Stern entdeckt wurde, der kein Stern sein kann, weil er am Umlauf
9143 des Himmels nicht teilnimmt und doch nicht im Pol steht, dagegen
9144 genau im Meridian in 36 Grad Höhe. Daraus läßt sich leicht
9145 berechnen, daß sich auf der Erdachse, genau in der Entfernung des
9146 Erdradius über dem Pol, ein leuchtender Körper befinden muß.
9147 Allerdings konnte dieser wegen leichten Nebels, vielleicht auch,
9148 weil er schwächer leuchtend wurde, bisher nicht wiedergefunden
9149 werden, aber die Angabe stimmt genau mit meiner früheren
9150 Beobachtung. Ein Körper, der an dieser Stelle über dem Nordpol
9151 stillsteht, kann gar nichts anderes sein als die geplante Station
9152 der Marsbewohner; eine andere Erklärung ist undenkbar. Diese
9153 Entdeckung wird meine Hypothese bestätigen, sobald sie bekannt
9154 werden wird. Man hat sie nur von Helsingfors aus mit so großer
9155 Vorsicht weitergegeben, weil man keine Erklärung dafür weiß und
9156 daher an eine Täuschung denken mußte. Wir werden also vorbereitet
9157 sein, wenn die Expedition zurückkommt –“
9159 „Wann, wann glauben Sie, daß dies möglich ist?“
9161 „Jeden Tag, jede Stunde kann die Nachricht eintreffen, daß sie
9162 bewohnte Gegenden erreicht haben, ja –“
9164 Ell unterbrach sich und sann nach.
9166 „Sie wollten noch etwas sagen, Ell! Sie wollten sagen, es müßte
9167 schon Nachricht da sein, wenn alles gut gegangen? Nicht wahr?“
9169 „Allerdings, es könnte schon Nachricht da sein, aber es ist auch
9170 durchaus kein Grund zur Beunruhigung, daß sie noch nicht da ist.
9171 Bedenken Sie – wir haben heute den fünften – also siebzehn Tage,
9172 nachdem die Expedition den Pol verlassen hat – sie können in
9173 Gegenden gelandet sein, von denen aus ein Bote Wochen braucht, um
9174 die nächste Telegraphenstation zu erreichen.“
9176 Isma preßte die Hände an ihre Stirn.
9178 „Es ist so seltsam“, sagte sie nachdenklich, „wie sehnte ich mich
9179 nach einer Nachricht, alle Gedanken gingen um die Expedition – und
9180 nun, nachdem Sie mir dies gesagt haben, dies Ungeheuerliche, das
9181 uns bevorsteht – wie schrumpft das alles zusammen, was Menschen
9182 tun. Ach, Ell, es ist eigentlich Unrecht –“
9184 „Durfte ich länger schweigen?“
9186 „Nein, mein Freund, ich danke Ihnen ja doch – aber – Sie müssen mir
9187 noch mehr sagen, vom Mars –. Sie müssen mich lehren –“
9189 „Was Sie wollen, Isma.“
9191 „Doch nicht heute – es ist schon spät.“
9193 „Wirklich, in der zehnten Stunde. Ich muß Sie verlassen. Aber auf
9194 Wiedersehen! Morgen wie gewöhnlich?“
9196 „Wie gewöhnlich – wenn nicht – – Nein doch, wir haben zu viel zu
9197 sprechen – kommen Sie hierher –“
9199 „Ich gehe jetzt auf die Redaktion und zur Post, das Telegramm steht
9200 morgen in allen Zeitungen, Sie werden den ganzen Tag über von
9201 Besuchen belagert sein.“
9203 „Dann flüchte ich lieber –. Ich komme hinaus zu Ihnen, bald nach
9204 Tisch. Ich will martisch lernen“, setzte sie mit einem halb
9205 komischen Seufzer hinzu. „Ach, Ell, was werden die nächsten Zeiten
9206 bringen?“
9208 „Großes für die Menschen!“ war seine ernste Antwort.
9210 Ell ging.
9212 \section{22 - Schnelle Fahrt}
9214 Auf die Veröffentlichung der Depesche Torms folgten heiße Tage für
9215 Isma. Glückwünsche, Anfragen und Besuche, teilnahmsvolle und
9216 neugierige, drängten sich. Einige Zeitungen schickten ihre
9217 Reporter, um ihren Lesern möglichst genau die Ansicht von Frau Torm
9218 über die Zustände auf dem Nordpol auseinanderzusetzen. Soweit Isma
9219 die Besuche nicht ablehnen konnte, beschränkte sie sich darauf zu
9220 sagen, sie teile die Vermutungen, welche Friedrich Ell sogleich am
9221 Tag nach dem Erscheinen des Telegramms in der Vossischen Zeitung
9222 ausgesprochen habe.
9224 Über die Möglichkeit einer Besiedelung des Pols durch die
9225 Marsbewohner erhob sich ein heftiger Streit in den Tagesblättern.
9226 Ein großer Teil des Publikums fand die Aussicht höchst interessant,
9227 welche sich für einen Verkehr mit den Martiern eröffnete. Andere
9228 hätten am liebsten die ganze Depesche für Schwindel erklärt; da
9229 dies aber nicht anging, behaupteten sie, Torm müsse sich jedenfalls
9230 getäuscht haben. Es wäre ja möglich, daß es Bewohner des Mars gebe,
9231 sie könnten aber nicht auf die Erde gelangen. Und selbst wenn sie
9232 das könnten, so wäre nicht einzusehen, warum sie nicht nach Berlin
9233 oder Paris kämen, sondern sich das Vergnügen machten, eine
9234 Riesenerdkarte am Nordpol zu konstruieren. Ein berühmter Physiker
9235 erklärte es als absolut unmöglich, daß menschenähnliche Wesen
9236 jemals von einem Planeten nach dem andern durch den Weltraum
9237 hindurchdringen könnten. Darauf stellte ein Geologe eine höchst
9238 geistreiche Hypothese auf, derzufolge sich notwendigerweise am Pol
9239 ein Vulkan bilden müsse, aus welchem von Zeit zu Zeit ein Teil des
9240 Erdinnern herausquelle. Die Lavaablagerungen seien infolge einer
9241 zufälligen Ähnlichkeit von Torm für eine Karte gehalten worden.
9242 Endlich erklärte sich der Redakteur der ›Geographischen
9243 Mitteilungen‹ dahin, daß es keinen Zweck habe, Vermutungen
9244 aufzustellen, weil man überhaupt erst weitere Nachrichten abwarten
9245 müsse. Der Mann hatte recht, fand aber am wenigsten Beifall.
9247 Die Friedauer fühlten sich mehr wie je befriedigt. Die Beachtung,
9248 welche ihre Stadt in der ganzen Welt fand, gab eine erhabene
9249 Veranlassung, um Glossen über Frau Torm daran zu knüpfen, wenn sie
9250 ihr in der Nähe der Ellschen Besitzung begegneten oder Ell an ihrer
9251 Seite durch die Gänge des Parkes wandelte; das taten sie zwar schon
9252 seit Jahren, aber jetzt war es doppelt schön, noch dieses
9253 Privatwissen über das allgemeine hinaus zu haben. Isma selbst
9254 kümmerte sich darum nicht. Mehr wie je war ihr das Urteil der
9255 Menschen gleichgültig geworden, während ihr der tägliche Verkehr
9256 mit Ell allein einigermaßen Beruhigung gewähren konnte. Ell hatte
9257 sie schon geliebt und um sie geworben, als sie noch als Isma Hilgen
9258 bei ihrer früh verwitweten Mutter in Berlin lebte. Damals hatte sie
9259 seine Bewerbung zurückgewiesen. Die Neigung des seltsamen Mannes
9260 konnte sie zwar nicht unberührt lassen, aber von der Fremdartigkeit
9261 seines Wesens war sie immer wieder abgestoßen worden. Als sie mit
9262 Torm sich verlobte, war Ell in die Fremde gegangen. Nach seiner
9263 Rückkehr hatte er sich ihr in uneigennützigster Freundschaft
9264 genähert. Sie wußte, daß er sie liebte, und sie ahnte die Kämpfe,
9265 die er im stillen mit seiner Leidenschaft führte. Aber sie hing an
9266 ihrem Mann mit inniger Zuneigung, und sie hatte Ell bald im Anfang
9267 gesagt, daß daran eine Änderung niemals eintreten würde. Damals gab
9268 er ihr das Versprechen, daß sie niemals durch ihn eine Störung
9269 ihres Glückes, ja nur eine trübe Stunde erfahren solle. Und dies
9270 Versprechen hatte er die Jahre hindurch gehalten. Wohl hatte manche
9271 andere sein Interesse gewonnen, und obwohl Isma sein gutes Recht
9272 dazu anerkannte, hatte sie sich dann doch eines schmerzlichen
9273 Gefühls nicht erwehren können. Aber sie wollte sich über ihr Gefühl
9274 keine Rechenschaft geben. Sie wußte, daß er ihrer Nähe, ihrer
9275 Freundschaft und ihres Glückes bedurfte, und jene seltsame
9276 Abstraktionsgabe, das Erbteil der Martier, in seiner Vorstellung
9277 sein Gefühl zu trennen von den harten Pflichten der Wirklichkeit,
9278 ermöglichten es Ell, als ein treuer und aufopfernder Freund ihr zu
9279 dienen. So herrschte zwischen beiden ein unbedingtes Vertrauen, das
9280 Isma die volle Sicherheit gab, auch sein Freundschaftsverhältnis
9281 mit Torm könne unter ihrem Verkehr nicht leiden. Zum Glück waren
9282 alle in der Lage, über das Gerede derer, die sie nicht kannten, die
9283 Achseln zucken zu können.
9285 Es war am achten September, am dritten Tag nach der Ankunft des
9286 Tormschen Telegramms. Gegen Abend hatte Ell seinen gewohnten
9287 Spaziergang mit Isma gemacht, die über das Ausbleiben jeder
9288 weiteren Nachricht lebhaft beunruhigt war. Auch Ell war es schwer
9289 geworden, ihr Mut zuzusprechen. Denn er sagte sich, daß man
9290 allerdings eine Nachricht hätte erwarten dürfen. Die Expedition
9291 hatte eine Anzahl Brieftauben mit, und man mußte annehmen, daß sie
9292 alsbald über die weitere Richtung ihrer Reise eine Depesche
9293 absenden würde. Doch die geflügelten Boten konnten auf dem weiten
9294 Wege leicht verunglücken. Es ließ sich zunächst gar nichts tun als
9295 geduldig warten.
9297 Eine milde Spätsommernacht lag über der Stadt, alles in tiefe
9298 Dunkelheit begrabend. Der Mond war noch nicht aufgegangen, ein
9299 leichter Wolkenschleier verhüllte das Sternenlicht. Regungslos
9300 streckten die hohen Bäume ihre dichtbelaubten Zweige aus und
9301 deckten mit undurchdringlicher Finsternis die Rasenplätze, die sich
9302 zwischen ihnen auf dem Hügel hinbreiteten, wo Ell seine Warte
9303 erbaut hatte. Es war schon spät, und nur aus der hohen geöffneten
9304 Tür, die von Ells Arbeitszimmer nach der weinumlaubten Veranda
9305 führte, schimmerte noch Licht. Von dort ging eine Freitreppe in den
9306 Garten. Ell war an seinem Schreibtisch mit einer Arbeit
9307 beschäftigt, die er schon seit Jahren betrieb, einer Darstellung
9308 der Verhältnisse der Marsbewohner und einer Anleitung, ihre Sprache
9309 zu erlernen. Er wollte diese Bücher in dem Augenblick
9310 veröffentlichen, in welchem die ersten Martier mit den Menschen
9311 zusammenträfen.
9313 In seine Arbeit vertieft, vernahm er nicht, daß langsame Schritte
9314 über den Kiesweg des Gartens sich nahten, daß jemand die Treppe der
9315 Veranda erstieg. Erst als der Tritt auf der Veranda selbst erklang,
9316 drehte er sich um. In der Tür stand die Gestalt eines Mannes.
9318 „Wie kommen Sie in den verschlossenen Garten?“ fuhr Ell auf, indem
9319 er nach der Waffe auf seinem Schreibtisch griff.
9321 Seine vom Licht des Arbeitstisches geblendeten Augen konnten nicht
9322 sogleich erkennen, wen er vor sich habe.
9324 „Ich bin es!“ sagte eine ihm wohlbekannte Stimme.
9326 Ell zuckte zusammen und sprang empor. Er faßte mit den Händen nach
9327 seinem Kopf.
9329 „Eine Halluzination“, war sein Gedanke.
9331 Die Gestalt trat näher. Ell wich zurück.
9333 „Ich bin es wirklich, Herr Doktor, es ist Karl Grunthe.“
9335 „Grunthe!“ rief Ell. „Ist es möglich? Wo kommen Sie her?“
9337 „Direkt vom Nordpol, den ich heute gegen Mittag verließ.“
9339 Ell hatte ihm die Hände entgegengestreckt. Bei diesen Worten trat
9340 er wieder zurück.
9342 „Ich will Ihnen etwas sagen, Grunthe“, begann er. „Ich bin bei der
9343 Arbeit eingeschlafen, ich träume – Sie können es ja nicht sein. Das
9344 sehen Sie doch ein. Das Tor ist ja auch verschlossen, Sie können
9345 nicht über die Mauer klettern.“
9347 Grunthe trat jetzt auf ihn zu. Er schüttelte ihm die Hände.
9348 „Glauben Sie’s!“ sagte er. „Sie träumen nicht, Sie wachen. Es ist,
9349 wie ich sage. Erlauben Sie mir ein Glas Wasser, richtiges, frisches
9350 Quellwasser, das habe ich vermißt. Hier, trinken Sie auch. Kommen
9351 Sie, setzen Sie sich. Ich will Ihnen alles erklären. Aber so
9352 schnell geht das nicht.“
9354 Ell faßte Grunthe an den Schultern und schüttelte ihn. Er lachte.
9355 Dann setzte er sich und starrte Grunthe noch einmal an.
9357 Grunthe zog seine Uhr und verglich sie mit dem Chronometer in Ells
9358 Zimmer.
9360 „Keine Abweichung“, sagte er.
9362 „Sie sind es doch, Grunthe!“ rief Ell. „Jetzt glaube ich es.
9363 Verzeihen Sie, aber nun bin ich wieder klar. Um Gottes willen,
9364 sprechen Sie, schnell! Wo ist Torm?“
9366 „Torm ist nicht zurückgekehrt“, sagte Grunthe langsam, indem sich
9367 die Falte zwischen seinen Augen vertiefte.
9369 Ell sprang wieder auf.
9371 „Er ist verunglückt?“
9373 „Ja.“
9375 „Tot?“
9377 „Wahrscheinlich. Der Ballon wurde in die Höhe gerissen. Wir
9378 verloren das Bewußtsein. Als wir wieder zu uns kamen, war Torm
9379 verschwunden. Er ist bis jetzt nicht wiedergefunden worden.“
9381 „Bis jetzt? Das heißt, Sie haben noch eine Hoffnung?“
9383 „Auch der Fallschirm fehlte, es ist möglich, daß er sich damit
9384 gerettet hat – aber sehr unwahrscheinlich. Wohin sollte er gekommen
9385 sein?“
9387 Ell trat an die Tür und starrte in die Nacht, wortlos – dann drehte
9388 er sich plötzlich um.
9390 „Und Sie, Grunthe?“ rief er. „Und Saltner?“
9392 „Wir wurden von den Bewohnern der Polinsel gerettet. Mich brachten
9393 sie hierher in einem Luftschiff. Saltner ist noch am Pol, er reist
9394 morgen auf den Mars. Da sind seine Briefe, da sein Tagebuch.“ Er
9395 legte zwei Päckchen auf den Tisch.
9397 „So sind sie da?“ fragte Ell fast jubelnd.
9399 „Sie sind da. Wir haben Ihren Sprachführer gefunden. Und wenn Sie
9400 sich gefaßt haben, so kommen Sie mit mir. Ich bin nicht allein,
9401 meine Begleiter sind hier.“
9403 „Wo? Wo?“
9405 „Auf dem mittleren Rasenplatz neben dem Sommerhäuschen liegt das
9406 Luftschiff. Man erwartet Sie!“
9408 Ell wollte hinausstürzen. Die Füße versagten ihm. Er setzte sich
9409 wieder.
9411 „Ich kann noch nicht. Bitte, erzählen Sie mir erst noch etwas. Dort
9412 steht Wein, geben Sie mir ein Glas!“
9414 Grunthe holte den Wein. Dann schilderte er kurz ihr Schicksal am
9415 Pol, die Aufnahme bei den Martiern, die Station des Ringes.
9416 Allmählich wurde Ell ruhiger.
9418 Er holte eine Laterne.
9420 „Gehen wir!“ sagte er.
9422 Grunthe nahm die Laterne. Sie durchschnitten die dunkeln Gänge des
9423 Gartens. An dem bezeichneten Rasenplatz angekommen, blieb Grunthe
9424 stehen und erhob die Laterne. Ein dunkler Körper zeigte sich
9425 undeutlich in der Mitte des Platzes. Grunthe gab die Losung: „Bate.
9426 Grunthe it Ell.“
9428 Darauf setzte er in der Sprache der Martier hinzu: „Wir sind
9429 vollständig ungestört und sicher. Sie können Licht machen.“
9431 Seit dem Tod seines Vaters hatte Ell kein martisches Wort mehr
9432 vernommen. Die Laute berührten ihn überwältigend. Jetzt sollte er
9433 den Numen, den Stammesgenossen des Vaters entgegentreten.
9435 Ein mattes Licht durchglänzte den Bau des Luftschiffs und ließ eine
9436 Falltreppe erkennen, welche auf das Verdeck führte. Ell folgte dem
9437 vorankletternden Grunthe. Oben erwartete sie der wachhabende
9438 Steuermann und geleitete sie in das Innere des Schiffes hinab.
9439 „Warnen Sie den Herrn“, sagte er zu Grunthe, „wir haben
9440 Marsschwere.“
9442 „Ich danke“, versetzte Ell, „ich passe auf.“
9444 Der Steuermann sah den martisch redenden Menschen verwundert an,
9445 ging aber schweigend voran. Sie durchschnitten einen schmalen Gang,
9446 zu dessen beiden Seiten die Mannschaften in Hängematten nach ihrer
9447 anstrengenden Fahrt ausruhten, und befanden sich vor der Tür der
9448 Kajüte. Sie öffnete sich. Der Steuermann trat zurück; Grunthe und
9449 Ell standen in dem hellerleuchteten Raum.
9451 Ell schrak zusammen und drohte das Gleichgewicht zu verlieren, da
9452 er seine Bewegungen der geringen Schwere noch nicht anzupassen
9453 vermochte. Von Grunthe gestützt, starrte er sprachlos mit
9454 weitgeöffneten Augen auf die hohe Gestalt, die ihm gegenüberstand.
9456 „Vater“, wollte es sich auf seine Lippen drängen – –
9458 „Mein Freund, Dr. Friedrich Ell“, sagte Grunthe vorstellend. „Der
9459 Herr Repräsentant der Marsstaaten, Ill.“
9461 „Ill re Ktohr, am gel Schick – Ill, Familie Ktohr aus dem
9462 Geschlechte Schick“, sagte Ill mit Betonung, indem er Ell scharf
9463 beobachtete. Auch ihm klopfte das Herz, er sah seine Vermutung
9464 bestätigt. „Ich bin“, setzte er hinzu, „der jüngste Bruder des
9465 Kapitän All, der im Jahre –“
9467 „Mein Vater!“ rief Ell. „Er war mein Vater! Und so sah er aus, nur
9468 gebeugter vom Druck –“
9470 Ill schloß seinen Neffen in die Arme und ließ ihn dann sanft auf
9471 den Diwan gleiten.
9473 „Ich dachte es mir“, sagte er, „als die erste Nachricht zu uns kam,
9474 daß ein Ell auf der Erde unsre Sprache kenne. Darum erbot ich mich
9475 freiwillig hierherzugehen, als einer von uns den Auftrag übernehmen
9476 sollte. Laß dich noch einmal ansehen! Welch ein Glück, dich zu
9477 finden! Und nicht bloß für uns. Nun habe ich die Hoffnung, daß sich
9478 die Planeten verstehen werden.“
9482 Stunden vergingen, und noch immer saßen der Oheim und sein Neffe in
9483 der Kajüte des Raumschiffes in eifrige Besprechungen vertieft.
9484 Grunthe hatte sich sogleich nach der Erkennungsszene zurückgezogen.
9485 Er war nach Torms Arbeitszimmer gegangen. Das Bedürfnis nach Schlaf
9486 fühlte er nicht, denn fast während der ganzen Fahrt hatte er in
9487 Schlummer gelegen. Erst in der Abenddämmerung hatte man ihn
9488 geweckt. Er sah unter sich das Häusermeer von Berlin, welches das
9489 Luftschiff in weitem Bogen umkreiste. Man ließ sich jetzt
9490 Erklärungen von ihm über die Bedeutung der hervorragenden Gebäude
9491 geben und dann den Weg nach Friedau zeigen, das man von Berlin aus
9492 mit dem Luftschiff in 25 Minuten erreichen konnte. Man hatte jedoch
9493 im Dunkeln zu der Fahrt absichtlich eine Stunde gebraucht. Längere
9494 Zeit nahm dann die Landung in Anspruch, weil diese ganz langsam und
9495 geräuschlos vor sich gehen sollte. Die Martier wollten dabei nicht
9496 bemerkt werden, um nicht während ihrer Anwesenheit im Land
9497 irgendwie die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
9499 Sie wußten ja nicht, ob man sie nicht bei der Abfahrt stören
9500 könnte, und wollten auf alle Fälle jeden Konflikt vermeiden. Ob sie
9501 dagegen bei ihrer freien Fahrt in der Luft zufällig einmal gesehen
9502 wurden, darauf kam es ihnen jetzt nicht mehr an. Nachdem sie
9503 Grunthe zurückgebracht, mußte es ja doch bekannt werden, daß sie da
9504 waren und mit ihren Luftschiffen über die Erde fuhren. Nur ihre
9505 volle Freiheit wollten sie nicht aufs Spiel setzen.
9507 Grunthe hatte sich in Torms Zimmer die Zeitungen der letzten Wochen
9508 zusammengesucht. Es war ihm ein Bedürfnis, sich über die Vorgänge
9509 bei den Menschen während der Zeit seiner Abwesenheit zu
9510 unterrichten. Aber wie engherzig und beschränkt kam ihm jetzt alles
9511 vor! Und dennoch, er war entschlossen, das Mögliche zu tun, um den
9512 Einfluß der Martier abzuwehren.
9514 Die ersten Spuren der Dämmerung zeigten sich im Osten, als Ell mit
9515 fieberhaft leuchtenden Augen wieder eintrat.
9517 „Sind sie schon fort?“ fragte Grunthe, sich erhebend.
9519 „Noch nicht.“
9521 „Aber es wird bald hell.“
9523 „Ill bleibt noch bis zur Nacht. Ich soll ihn begleiten, er will
9524 über die Hauptstädte Europas einen Überblick gewinnen. Aber ich
9525 kann heute früh noch nicht fort. In der Sache ist es eigentlich
9526 nicht recht zu zögern, aber ich kann nicht.“
9528 „Sie dürfen freilich jetzt nicht fort. Wir müssen die Resultate der
9529 Expedition bekanntmachen. Sie sind dabei unentbehrlich.“
9531 „Wir haben uns schon geeinigt. Ich will nur eben Anordnung treffen,
9532 daß heute niemand im Garten zugelassen wird. Auf den alten Schmidt
9533 können wir vertrauen, er wird die Tür geschlossen halten und wie
9534 ein Cerberus wachen. Mein Oheim ist mit dem Ruhetag einverstanden,
9535 den die Mannschaft wie er selbst nötig hat. Jetzt will er mir nur
9536 einmal die Leistungsfähigkeit des Luftschiffs bei größter
9537 Geschwindigkeit zeigen. Die Luft ist ganz still. Wir wollen uns
9538 Wien betrachten. In einer Stunde, noch vor Sonnenaufgang, sind wir
9539 zurück. Wir fahren jetzt nach Osten, über Wien wird es schon hell
9540 genug sein. Kommen Sie mit, wir können die Zeit zum Erzählen
9541 benutzen. Nachher frühstücken wir zusammen.“
9543 Er sprach in großer Aufregung und suchte dabei nach seinem Mantel.
9545 „Sie brauchen weiter nichts mitzunehmen“, sagte Grunthe. „Pelze
9546 sind im Schiff. Instruieren Sie nur Schmidt, daß er niemand
9547 einläßt. Ich aber will lieber hierbleiben.“
9549 Ell weckte den Kastellan. Es dürfe niemand in den Garten. Auch die
9550 Sternwarte bleibe heute geschlossen. In besonderen Fällen oder wenn
9551 Bekannte kämen, solle man ihn selbst rufen. Er verlasse sich auf
9552 sein unbedingtes Schweigen über alles, was er etwa
9553 Außergewöhnliches sehe.
9555 Der alte Mann, der schon seinem Vater gedient hatte und mit Ell
9556 nach Deutschland gekommen war, versprach sein Bestes. Seine Frau,
9557 welche auch die häusliche Bedienung für Ell führte, kam niemals
9558 über ihr eigenes kleines Gemüsegärtchen, das außerhalb der
9559 Gartenmauer lag, hinaus. Von ihr war keine Störung zu befürchten.
9561 Ell begab sich nach dem Rasenplatz. Das Luftschiff war zur Abfahrt
9562 bereit. Die Lichter wurden gelöscht. Geräuschlos hob es sich
9563 senkrecht in die Höhe. Die Stadt lag im Schlummer, niemand bemerkte
9564 den dunkeln Körper, der in wenigen Augenblicken in der Dämmerung
9565 entschwunden war.
9567 Ell saß stumm in seinen Pelz gehüllt und blickte durch die
9568 Robscheiben dem schnell emporsteigenden Frührot entgegen.
9570 „Ein neuer Tag“, sagte er leise, „wirklich ein Tag! Ich fliege! O
9571 heiliger Nu!“
9573 Aber sie, Isma, was würde sie sagen? Er vergaß seine Umgebung. Das
9574 Herz krampfte sich ihm schmerzhaft zusammen. Wie sollte er ihr das
9575 Schreckliche mitteilen? Da ihm alles geglückt, da seine höchste
9576 Sehnsucht erfüllt, seine Heimat wiedergefunden war, da sollte ihr
9577 das Lebensglück entrissen werden? Er suchte sich in ihre Seele zu
9578 versetzen und vermochte es nicht. Er trauerte um den Freund, und
9579 inniges Mitgefühl mit der Freundin drängte die Tränen in sein Auge.
9580 Er sah sie die schmalen Hände ringen, er sah, wie ihre großen
9581 dunkelblauen Augen starr wurden. Er hätte sein Leben dafür gegeben,
9582 diesen Schmerz ihr abzunehmen, ihr den Verlorenen zu retten und
9583 wiederzubringen. Es war aussichtslos. Was vermochte er für sie zu
9584 tun? Und in allem Schmerz konnte er es nicht hindern, daß es wie
9585 eine leise Hoffnung ihn durchzog, ob es ihm nicht möglich sei, ihr
9586 das entschwundene Glück zu ersetzen. Er drängte den Gedanken
9587 zurück. Er dachte an seine nahen, großen Aufgaben. Aber die nächste
9588 war ja doch – sie zu benachrichtigen.
9590 Eine Frage Ills riß ihn aus seinen Grübeleien.
9592 Zur Rechten erglänzte die Kette der Alpen im Licht der aufgehenden
9593 Sonne. Das Luftschiff breitete seine Schwingen aus und umkreiste,
9594 sich tiefer senkend, in weitem Bogen die Kaiserstadt an der Donau.
9595 Drei-, viermal strich es bis dicht über den Spitzen der Türme hin,
9596 dann erhob es sich wieder und floh vor den Strahlen der Morgensonne
9597 nach Nordwesten. Es erreichte Friedau, noch bevor der erste
9598 Sonnenstrahl die Kuppel der Sternwarte, des höchsten Punktes der
9599 Umgebung, vergoldete, und ließ sich langsam auf den Rasenplatz
9600 nieder.
9602 Einige Arbeiter, die aufs Feld gingen, liefen herzu, aber da sie
9603 das Schiff hinter den Bäumen des Gartens verschwinden sahen,
9604 setzten sie ihren Weg wieder fort. Sie waren gewohnt, die
9605 Übungsballons der Luftschiffer bei Friedau aufsteigen zu sehen, und
9606 wunderten sich daher nicht weiter, daß einmal ein so sonderbarer
9607 Ballon hier niederging.
9609 \section{23 - Ismas Entschluß}
9611 Um dieselbe Zeit wurde Frau Isma Torm durch heftiges Läuten aus dem
9612 Schlummer geweckt.
9614 Man brachte ihr ein Telegramm. Mit klopfendem Herzen las sie:
9616 „Hammerfest, den 9. September.
9618 Brieftaube ›Ballon Pol‹ brachte folgende Nachricht:
9620 Frau Isma Torm. Friedau. Deutschland, 21. August, 2 U. 30 Min.
9621 nachm. M.E.Z.
9623 Ballon durch unbekannte Kraft in die Höhe gerissen. Ich verlor das
9624 Bewußtsein. Erwachte, als der Ballon auf dichte Wolkendecke schnell
9625 abstürzte. Korb gekentert. Ballon nur durch stärkste Erleichterung
9626 zu retten. Grunthe und Saltner bewußtlos, nicht transportierbar.
9627 Ich verließ den Ballon mit dem Fallschirm, konnte Brieftauben
9628 mitnehmen. Ich fiel langsam durch
9629 Wolken, trieb vom Pol in unbekannter Richtung ab, konnte mich auf
9630 Festland retten. Entdeckte Spuren von wandernden Eskimos und fand
9631 ihr Lager. Ziehe mit ihnen nach Süden, habe noch zwei Tauben. Hoffe
9632 auf glückliche Heimkehr. Sei unbesorgt. Ich bin unverletzt und bei
9633 Kräften. Torm.“
9635 Sie klammerte sich an die letzten Worte. „Hoffe auf glückliche
9636 Heimkehr. Sei unbesorgt. Ich bin unverletzt und bei Kräften.“ Aber
9637 wo? Wo? Jenseits unzugänglicher Meere und Eiswüsten, kurz vor
9638 Beginn der ewigen Nacht, angewiesen auf das Mitleid einiger
9639 armseliger Eskimos! Der Ballon gescheitert – die gehofften, stolzen
9640 Resultate verloren! Wie konnte er heimkehren – und wann?
9642 Und sie – sie hatte ihn ermutigt, ihm zugeredet, als er darum
9643 sorgte, sie allein zurückzulassen. War sie nicht mitschuldig an
9644 seinem Unglück? Hatte sie nicht zu sehr dem Freund vertraut, der
9645 des Gelingens so sicher schien? Eine furchtbare Angst erfaßte sie.
9646 Hätte sie ihn nicht beschwören müssen, das gefährliche Unternehmen
9647 um ihretwillen zu unterlassen? Sie hatte sich eingebildet, der
9648 großen Sache, der Wissenschaft mutig das Opfer ihres häuslichen
9649 Glückes zu bringen, aber nun kam es über sie wie eine schreckliche
9650 Anklage – hätte sie den Mut auch gehabt, wenn nicht Ell sie gebeten
9651 hätte? Wenn sie nicht dem Freund zuliebe, dem sie das eine
9652 Lebensglück versagt, nun zur Erreichung seines innigsten Wunsches
9653 ein Opfer hätte bringen wollen? Und wenn das Opfer angenommen war?
9654 Sie schauderte zusammen. Nein, nein, sie wollte nicht mutlos sein.
9655 Das durfte sie sich ja sagen, sie hatte sich nie verhehlt, daß sie
9656 jeden Augenblick auf das Schlimmste gefaßt sein mußte. Aber was sie
9657 dann tun würde? Das hatte sie niemals sich zur vollen Klarheit
9658 gebracht. Jetzt mußte es sein. Sie wollte handeln. Wenn Hilfe
9659 möglich war – es gab von den Menschen nur einen, der hier helfen
9660 konnte. O, er würde ihr helfen! Sie glaubte an ihn.
9662 Eine Stunde später zog sie die Klingel an dem großen eisernen
9663 Gitter, das den Vorgarten des Wohngebäudes neben der Sternwarte von
9664 der Straße abschloß.
9666 „Ist der Herr Doktor schon zu sprechen?“ fragte sie den öffnenden
9667 Kastellan.
9669 Der Alte nahm sein Käppchen ab und kratzte sich verlegen hinter dem
9670 Ohr.
9672 „Ei, ei, die Frau Doktor sind es? Hm! Hm! Na, ich will gleich
9673 einmal fragen. Kommen Sie nur inzwischen herein. Es ist freilich –
9674 Hm! –“
9676 „Sagen Sie, ich müßte den Herrn Doktor sofort sprechen, es sind
9677 wichtige Nachrichten angekommen.“
9679 Der Alte schlurfte ins Haus.
9681 Ell beriet mit Grunthe die Form, welche den ersten Mitteilungen zu
9682 geben sei, als ihm Frau Torm gemeldet wurde.
9684 Er sprang auf und warf die Feder weg.
9686 „Führen Sie die gnädige Frau sogleich in die Bibliothek.“
9688 „Es sind wichtige Nachrichten da, sagte die Frau Doktor.“ Mit
9689 diesen Worten ging der Kastellan ab.
9691 „Sie hat Nachrichten!“ rief Ell erbleichend. „Und sie kommt selbst,
9692 um diese Zeit! Woher kann sie es wissen?“
9694 Er stürzte hinaus. Vor der Tür des Bibliothekzimmers hielt er an.
9695 Er mußte sich erst sammeln. Dann trat er ein, ruhig, gefaßt. Aber
9696 das Herz schlug ihm. Sein Gesicht war bleich und übernächtig.
9698 Isma stand mitten im Zimmer und stützte ihre Hand auf den großen
9699 Tisch, der mit aufgeschlagenen Kartenwerken und Tabellen bedeckt
9700 war. Sie fand keine Worte.
9702 „Isma“, sagte er, „Sie haben – was wissen Sie?“ Sie brach in
9703 Schluchzen aus. Er eilte an ihre Seite. Wieder lehnte sie an seiner
9704 Schulter. Er führte sie an das Sofa.
9706 „Fassen Sie sich, liebste Freundin, fassen Sie sich!“
9708 „Ich weiß nicht, was ich tun soll“, sagte sie unter Tränen. Sie zog
9709 die Depesche aus ihrer Tasche und reichte ihm das zerknitterte
9710 Papier.
9712 Ell las.
9714 Er atmete tief auf.
9716 „Gott sei gedankt!“ rief er aus tiefstem Herzen.
9718 Isma sprang auf und wich zurück. Ihr Blick fiel feindlich auf ihn.
9719 ihre Augen wurden starr. Sie drohte zusammenzubrechen.
9721 „Was ist Ihnen, Isma?“
9723 „Ich – ich –“, sagte sie, die Hand auf das Herz pressend, „ich habe
9724 wohl nicht recht verstanden – oder – oder – sagten Sie nicht –?“
9726 „Gott sei Dank, sagte ich, denn Ihr Mann ist gerettet.“
9728 „Gerettet?“
9730 „Ja, hier steht es ja.“
9732 „Gerettet?“
9734 „Ihre Nachricht ist jünger als die meinige, ist von ihm selbst“,
9735 fuhr Ell fort. „Ich aber empfing diese Nacht durch Grunthe die
9736 Nachricht, daß der Ballon abgestürzt und Ihr Mann verschwunden sei.
9737 Ich glaubte ihn tot und wußte nicht, wie ich Ihnen, Isma – aber was
9738 ist Ihnen?“
9740 Isma ergriff seine Hände. „O, Ell, Ell, verzeihen Sie mir!“
9742 Er sah sie erstaunt an.
9744 „Sie halten ihn für gerettet?“ rief sie, indem ihr das Blut in die
9745 Wangen stieg. „Im ewigen Eis, in der Polarnacht? Wie soll er
9746 gerettet werden?“
9748 „Da er glücklich aus dem Ballon auf die Erde gelangt ist und im
9749 Schutz der Eskimos steht, so droht ihm unmittelbar keine Gefahr.“
9751 „Aber der Winter?“
9753 „Wo die Eskimos überwintern, wird es Ihrem Mann auch gelingen. Es
9754 ist gewiß keine angenehme Aussicht, aber wie viele Forscher haben
9755 schon einen Winter in den Schneehütten der Eskimos zugebracht. Und
9756 darauf war er, mußten wir alle gefaßt sein, daß ein solcher Unfall
9757 eintrat. Nein, Isma, liebste Freundin, ängstigen Sie sich nicht.
9758 Wir werden dafür sorgen, daß im Frühjahr auf allen Seiten des Pols
9759 nach ihm gesucht wird. Vielleicht erhalten wir noch eine Nachricht.
9760 Er hat ja noch Tauben. Sehen Sie –“, er streichelte ihre Hand und
9761 versuchte zu lächeln, „verzeihen Sie mir, aber die Depesche, die
9762 Ihnen nur Trauriges meldete, für mich war sie eine Erlösung. Alles,
9763 was Grunthe und Saltner von Ihrem Mann wußten, bestand darin, daß
9764 er aus dem Ballon verschwunden war, als sie von ihrer Ohnmacht
9765 erwachten. Der Fallschirm wurde im Meer gefunden, von Torm keine
9766 Spur. Sie können sich denken, Isma, was ich in Ihrer Seele fühlte,
9767 wie mir zumute war, als ich Sie jetzt vor mir sah. Da atmete ich
9768 auf, als ich Ihre Depesche las. Nach dem, was ich wußte, ist es
9769 vielleicht die beste Nachricht, die sich überhaupt erhoffen ließ.
9770 Ich brauche nicht zu sagen, wie sehr ich den Unfall Ihres Mannes
9771 bedauere; Sie aber dürfen stolz sein. Er hat sich selbst geopfert
9772 und die Gefährten dadurch gerettet. Alle Resultate der Expedition
9773 sind geborgen, selbst meine kühnsten Hoffnungen erfüllt.“
9775 Isma starrte in die Ferne. Das Schicksal Torms nahm noch alle ihre
9776 Gedanken in Anspruch.
9778 „Und ist Ihnen denn dies alles gleichgültig geworden?“ fragte Ell.
9779 „Sie fragen nicht einmal, woher ich meine Nachricht habe?“
9781 „Wie können wir uns des Erreichten freuen, und er, dem wir es
9782 verdanken, hat nichts von alledem? Den langen Winter – ach, wohl
9783 noch ein Jahr. – Ist es denn nicht möglich, noch jetzt, gleich,
9784 etwas für ihn zu tun?“
9786 Ell sah sie schmerzlich enttäuscht an und schüttelte nur den Kopf.
9788 Sie verstand seinen vorwurfsvollen Blick. Eine feine Röte überzog
9789 ihr Gesicht, und sie schlug ihre großen, sanften Augen wie bittend
9790 zu ihm auf. Sie sah entzückend aus. Ell wendete sich ab, er konnte
9791 den Anblick nicht länger ertragen.
9793 Isma legte ihre Hand auf seinen Arm.
9795 „Verzeihen Sie mir, mein lieber Freund“, sagte sie herzlich.
9796 „Erzählen Sie mir! Ich sehe ja selbst ein, daß ich mich in Geduld
9797 fassen muß. Aber es hätte mich so glücklich gemacht, sogleich etwas
9798 tun zu können.“
9800 Ell schwieg noch immer. Er stützte den Kopf in seine Hand.
9802 „Ich hab Sie darum nicht weniger lieb“, sagte Isma einfach.
9804 Beide sahen sich tief in die Augen.
9806 Ell sprang auf und machte einige Schritte durch das Zimmer. Dann
9807 blieb er vor Isma stehen.
9809 „Ich dachte einen Augenblick – eine Möglichkeit, aber nein, es geht
9810 nicht. Es geht nicht.“
9812 Er setzte sich ihr gegenüber.
9814 „Hören Sie zu“, sagte er. „Was ich Ihnen jetzt sage, wird Ihnen
9815 unglaublich erscheinen. Aber die Beweise sollen Sie selbst sehen.
9816 Grunthe ist hier. Und Saltner ist auf der Reise nach dem Mars. Oben
9817 in meinem Garten liegt ein Luftschiff der Martier. Mein Oheim Ill,
9818 der Bruder meines Vaters, hat Grunthe darin hierhergebracht. Die
9819 Fahrt nach dem Pol dauert sechs Stunden –“
9821 „Um Gottes willen, Ell, hören Sie auf!“ rief Isma zurückweichend,
9822 die gefalteten Hände nach ihm ausstreckend. In ihren Augen malte
9823 sich Angst. Sie fürchtete für seinen Verstand. War das seine fixe
9824 Idee, die jetzt mit ihren Wahnvorstellungen zum Ausbruch kam?
9826 Er stand auf und ging zur Tür. Isma blieb ratlos sitzen. Nur wenige
9827 Augenblicke, dann sprang sie auf.
9829 Grunthe trat in das Zimmer. Er machte seine steife Verbeugung.
9831 Isma starrte auf ihn wie auf eine Erscheinung.
9833 „Lesen Sie diese Depesche“, sagte Ell zu Grunthe. „Frau Torm hat
9834 sie heute früh empfangen.“
9836 Grunthe las, sah noch einmal nach dem Datum, und sagte dann: „Das
9837 ist eine sehr günstige Nachricht, unter den einmal vorhandenen
9838 Umständen.“
9840 „Und nun bitte, Grunthe“, rief Ell, „tun Sie mir den Gefallen und
9841 geben Sie Frau Torm einen kurzen Bericht über Ihre Erlebnisse.
9842 Kommen Sie, setzen wir uns.“
9844 Grunthe sprach in seiner knappen, fast trockenen Weise. Da war
9845 nichts übertrieben, keine Vermutungen, kein subjektives Urteil,
9846 alles klar wie ein mathematischer Beweis.
9848 Isma saß regungslos. Ihre weitgeöffneten Augen hingen an Ell. Es
9849 überkam sie wie ein Gefühl der Ehrfurcht.
9851 „Und nun ich hier bin“, schloß Grunthe, „darf ich keine Minute
9852 versäumen, den Bericht fertigzustellen. Wir haben alle unsre Kräfte
9853 anzustrengen, das zu beweisen, was uns niemand wird glauben wollen.
9854 Ich darf daher wohl auf Entschuldigung rechnen, wenn ich mich jetzt
9855 wieder zurückziehe. Würden Sie mir noch einen Augenblick schenken?“
9856 setzte er zu Ell gewendet hinzu.
9858 Er verbeugte sich gegen Isma und wollte gehen.
9860 Da sprang Isma auf und trat dicht vor Grunthe, der mit
9861 zusammengekniffenen Lippen stehenblieb.
9863 „Ist es wahr“, fragte sie, „das Luftschiff liegt noch draußen?“
9865 „Gewiß.“
9867 „Und in sechs Stunden kann man zum Nordpol gelangen?“
9869 Grunthe nickte bestätigend.
9871 „Ich bin heute früh selbst in einer Stunde nach Wien und wieder
9872 zurückgefahren“, setzte Ell hinzu.
9874 „Ich danke Ihnen“, sagte Isma zurücktretend.
9876 „Entschuldigen Sie mich auf einen Augenblick – ich bin sogleich
9877 wieder hier“, sagte Ell zu Isma, indem er mit Grunthe das Zimmer
9878 verließ.
9880 Sie nickte schweigend. Ihre Gedanken waren bei dem Luftschiff. In
9881 sechs Stunden konnte man am Nordpol sein – nur sechs Stunden! So
9882 lange braucht der Schnellzug nach Berlin. Das ist eine
9883 Spazierfahrt. Sechs Stunden nur trennten sie von Hugo. – – Wenn das
9884 Glück günstig war, wenn das Schiff die richtige Bahn beschrieb, so
9885 mußte man ihn bemerken, so konnte man ihn aufnehmen und
9886 zurückbringen – noch heute konnte er in Friedau sein –
9888 Ach, aber ihn scheiden die Wüsten des Eises, die unzugänglichen
9889 Meere, die noch kein Forscher zu durchqueren vermochte – dort sitzt
9890 er in der kläglichsten Schneehütte, Monat auf Monat, ohne Licht,
9891 ohne Tat – in ewiger Nacht trauernd und sich sehnend nach der
9892 Heimat, umgeben von den Gefahren des furchtbaren Winters. – – Und
9893 hier daheim, hier reifen die Früchte seiner kühnen Fahrt, hier
9894 drängt sich von Stunde zu Stunde neues, lebendiges Schaffen, hier
9895 vollzieht sich das Unerhörte, noch nie Gewesene – von den Sternen
9896 steigen die Götter herab, um die Menschen zu laden zu ihrem seligen
9897 Wandel – hier, in dieser Stadt, in diesem Hause wird ein neues
9898 Zeitalter geboren, und er weiß nichts davon, kann nicht teilnehmen
9899 an dem Großen, was die ganze Erde erfüllt, an dem Höchsten, was
9900 erlebt wurde und was ihr Herz so erwartungsvoll schlagen macht –
9901 und sie muß es allein erleben –
9903 Und vielleicht nur sechs Stunden –
9905 Allein – den ganzen Winter allein in solcher Zeit, wo Seele zu
9906 Seele gehört – allein? Ja, wenn sie allein wäre! Aber der Freund?
9907 Wo bleibt er? Er ist länger draußen aufgehalten, aber er wird
9908 kommen – er wird kommen so wie heute, dann jeden Tag, der einzige
9909 Vertraute, mit dem sie alles teilen muß, was das Herz bewegt – mit
9910 ihm wird sie allein sein, der ihr so wert ist, so lieb, und nun vor
9911 ihr steht in einem neuen, geheimnisvollen Licht, der Sohn einer
9912 höheren Welt, zu dem sie aufblickt – –
9914 Nein, nein! Sie will nicht allein sein, und nicht allein mit ihm –
9916 Sie ringt die Hände und geht auf und ab im Zimmer. Sie blickt nach
9917 der geschlossenen Tür und glaubt seine Stimme zu hören. Sie blickt
9918 nach der Uhr – und der Gedanke läßt sie nicht los: Nur sechs
9919 Stunden! In sechs Stunden kann alles entschieden sein –
9921 Ja, wenn sie mitfahren könnte, durch die Lüfte reisen nach dem
9922 Reich des Eises, wo er weilt – sie würde ihn finden, sie würde ihn
9923 ausspähen, wo er sich auch bärge, im Boot von Seehundsfell, in der
9924 Hütte von Schnee – bis in die Gletscherspalte würde ihr Auge
9925 dringen – sie schauerte zusammen. Vielleicht schon lag er – sie
9926 mochte das Schreckliche nicht denken. Diese furchtbare Ungewißheit
9927 – nein, das konnte, das wollte sie nicht ertragen. Und die Fragen,
9928 die ewigen, und das Mitleid – und das höhnische Zischeln, ob sie
9929 sich wohl tröstet – – oh!
9931 Sie stampfte mit dem Fuß auf und preßte die Hände krampfhaft
9932 zusammen. Dann stand sie still wie ein Bild aus Stein. Und nun
9933 wußte sie es. Sie atmete tief auf. Die Starrheit löste sich. Ihr
9934 Entschluß war gefaßt.
9936 Nur sechs Stunden!
9938 Das Luftschiff zog sie mit magischer Gewalt an. Sie wollte fort,
9939 sie wollte an den Pol, sie würde ihn finden, den Verlorenen, sie,
9940 Isma Torm. Wenn es ein Unrecht war, daß sie um des Wunsches des
9941 Freundes willen den Mann nicht zurückhielt, so mochte dies ihre
9942 Buße sein, und die seinige!
9944 Sie setzte sich und überdachte alles noch einmal in voller Ruhe.
9946 Es war das Richtige, es mußte so sein.
9948 Isma erhob sich und schritt auf die Tür zu, als ihr Ell aus
9949 derselben entgegentrat.
9951 Er stutzte bei ihrem Anblick. Die Trauer und Angst aus ihren Zügen
9952 war verschwunden. Sie stand aufgerichtet vor ihm. Aus ihren
9953 tiefblauen Augen sprach jene Innigkeit des Gefühls, die ihn immer
9954 hingerissen hatte. Auf ihren Lippen lag es wie ein leises Lächeln.
9956 „Ell“, sagte sie – sie stockte einen Augenblick wie verlegen „bei
9957 Ihrer Freundschaft, wenn Sie mich liebhaben –“
9959 „Isma!“
9961 „Wollen Sie mir eine Bitte erfüllen?“
9963 „Was Sie wollen!“
9965 „Sprechen Sie bei Ihrem Oheim für mich, daß er mich in seinem
9966 Luftschiff mit nach dem Pol nimmt und mich wieder hierherbringt,
9967 wenn wir Hugo gefunden haben – ja, ja – ich werde ihn finden, wenn
9968 ich mit dem Luftschiff ihn suchen darf – o, weigern Sie sich nicht
9969 –“
9971 Sie faßte seine Hände und sah ihn flehend an. Zwei Tränen traten in
9972 ihre Augen.
9974 „Und – kommen Sie selbst mit!“ setzte sie hinzu.
9976 Ell fand nicht sogleich Worte. Das hatte er nicht erwartet.
9978 „O Isma, Isma“, rief er endlich. „Was verlangen Sie? Diese Reise
9979 ist nichts für Sie. Die Nume werden selbst suchen, sie suchen
9980 schon, und was die nicht finden, werden auch Sie nicht finden.“
9982 „Ich werde es. Was sind fremde Augen gegen die der Frau? Ich werde
9983 sehen, wo andere nicht hinblicken. Es sind nur sechs Stunden – so
9984 nahe –, und ich soll hier müßig sitzen – den Gedanken ertrage ich
9985 nicht –“
9987 „Ich bitte Sie, Isma, bedenken Sie meine Lage. Jetzt darf ich, kann
9988 ich nicht von hier fortgehen. Jetzt gilt es, die Menschheit auf den
9989 Besuch der Martier vorzubereiten. Was ich seit Jahren erwartet, ich
9990 muß nun die Konsequenzen ziehen –“
9992 „Es handelt sich vielleicht nur um wenige Tage.“
9994 „Die habe ich meinem Oheim zu andern Zwecken versprochen. Und dann
9995 muß ich wahrscheinlich nach Berlin.“
9997 „Dann bin ich also ganz allein“, sagte Isma leise.
9999 „Nein, nein – ich komme bald wieder.“
10001 Isma wandte sich schweigend ab. Dann kehrte sie plötzlich zurück
10002 und sagte fast hart:
10004 „Führen Sie mich zu Ihrem Oheim, ich will ihn bitten. Und wenn Sie
10005 nicht fortkönnen, lassen Sie mich allein mitgehen. Lassen Sie mich
10006 hingehen, Ell!“
10008 Ell kämpfte mit sich. Mit düstern Blicken starrte er durchs
10009 Fenster.
10011 „Wo ist das Schiff?“ fragte Isma. „Ich will die Nume bitten, sie
10012 werden einer verlassenen Frau nicht abschlagen, was der einzige
10013 Freund ihr nicht gewähren will.“
10015 „Isma, seien Sie vernünftig!“
10017 „Das Vernünftige ist die Pflicht. Und dies ist der einzige Weg, sie
10018 zu erfüllen.“
10020 „Und meine Pflicht ist die Versöhnung der Planeten. Dagegen muß das
10021 Geschick des einzelnen zurücktreten.“
10023 „Darum eben gehe ich allein.“
10025 „Das werde ich nie zugeben.“
10027 „Ich will“, sagte Isma finster. „Ich will zu meinem Mann.“
10029 Ell stöhnte. Er sah, wie sie entschlossen der Tür zuschritt. Sie
10030 drehte sich noch einmal um, mit tiefer Trauer im Antlitz.
10032 „Bleiben Sie, Isma“, rief er. „Ich bringe Ihnen Hugo, wenn es in
10033 der Macht der Menschen steht und der Nume!“
10035 „Nehmen Sie mich mit!“
10037 „Kommen Sie zu Ill. Alles hängt von seiner Entscheidung ab.“
10039 Ell brachte Isma zu seinem Oheim. Es hätte ihr wenig genutzt, ihre
10040 Sache bei Ill zu vertreten, wenn nicht Ell sie zu der seinigen
10041 gemacht hätte. Denn Ill verstand nicht deutsch, Ell mußte daher die
10042 Verhandlungen führen. Ill, der Isma mit herzlichster Teilnahme
10043 begegnete, versprach sofort, daß nach seiner Rückkehr mit Hilfe des
10044 Luftschiffes die sorgfältigste Durchforschung des arktischen
10045 Gebietes vorgenommen werden solle, so lange die Martier dazu noch
10046 Zeit hätten. Dazu wäre er ohnehin entschlossen gewesen, und nur die
10047 Zurückführung Grunthes und die Aufsuchung Ells hätten zuvor
10048 erledigt werden müssen. Übrigens würde schon jetzt nach Torm
10049 gesucht, da noch ein kleineres Luftboot, freilich zu weiteren
10050 Reisen nicht verwendbar, in Dienst gestellt werde. Er sähe daher
10051 nicht ein, wozu es notwendig sei, daß Ell oder gar Isma zu diesem
10052 Zweck ihm an den Pol folgen sollten. Ersterer wäre jetzt in
10053 Deutschland nicht zu entbehren, um Grunthe in der Darstellung der
10054 Resultate der Expedition zu unterstützen. Man würde ihn auch
10055 jedenfalls seitens der Regierung zu Rate ziehen.
10057 Ell gab dies gern zu; es war ja vollständig seine Ansicht. Er
10058 sagte, daß er nur den innigsten Wunsch von Frau Torm vertrete. Isma
10059 brachte nun selbst ihre Bitte vor, mit rührendem Ton, in Ills
10060 Gegenwart. Ell, der jetzt erst hörte und im übrigen erriet, was
10061 Isma zur Reise antrieb, fühlte seinen Widerstand gebrochen. Er
10062 unterstützte nunmehr ihre Bitten und wollte sie unter keinen
10063 Umständen verlassen. Er stellte daher Ill vor, daß sich seine Reise
10064 wohl mit seinen Pflichten gegen die Martier vereinen lasse, da sie
10065 doch nicht länger als acht bis zehn Tage dauern würde. Denn
10066 gleichviel, ob Torm gefunden werde oder nicht, vor ihrer Abreise
10067 nach dem Mars würden ja die Martier ihn und Isma zurückbringen. In
10068 dieser Zeit aber sei er um so eher entbehrlich, als sich die erste
10069 Aufregung über das Erscheinen der Martier erst einigermaßen legen
10070 müsse, ehe es zu ernsthaften Entschlüssen der Regierungen kommen
10071 könne. Bis dahin sei er wieder zu Hause; inzwischen reiche Grunthe
10072 vollständig aus, die erforderliche Auskunft zu geben. Es stehe also
10073 dabei eigentlich weiter nichts in Frage, als daß die Martier sich
10074 der Mühe unterzögen, noch einmal eine Fahrt vom Pol nach Friedau
10075 und zurück zu machen. Das aber sei doch in zwölf Stunden erledigt.
10077 Ell führte dies, hin und wieder von seinem Oheim unterbrochen, in
10078 eifriger Rede aus. Isma hörte dem Gespräch, von dem sie kein Wort
10079 verstand, geduldig zu. Sie erschrak, wenn sie aus Ills Augen auf
10080 eine ablehnende Antwort schließen zu müssen glaubte. Jetzt aber
10081 lächelte Ill und sagte:
10083 „Die Transportfrage, euch beide mitzunehmen und wieder
10084 herzubringen, ist für uns kein Hindernis. Persönlich würde es mich
10085 sehr freuen, dich bei mir zu haben, und sogar sachlich könnte es
10086 von Vorteil sein, da Fälle denkbar sind, in denen wir unser Schiff
10087 verlassen müssen, um das Land zu betreten; und dann würdest du mit
10088 den Eskimos, die wir mitnehmen werden, mehr leisten können als wir.
10089 Ich wundere mich aber, warum du für den Wunsch der Frau Torm so
10090 eifrig eintrittst, der eigentlich nur einer Stimmung, man möchte
10091 fast sagen, einer Einbildung entspringt.“
10093 „Sie hegt nun einmal den Wunsch“, erwiderte Ell etwas verlegen,
10094 „sie hält die Reise für ihre Pflicht, und es ist der einzige Trost,
10095 den ich ihr gegenwärtig geben kann, wenn ich ihren Wunsch zu
10096 erfüllen suche.“
10098 Ill blickte seinem Neffen mit Herzlichkeit ins Auge. „Du liebst
10099 diese Frau.“
10101 Ell schwieg.
10103 „Und du willst sie mitnehmen und begleiten, um ihr den Gatten
10104 wiederzugeben?“
10106 „Ja.“
10108 „So machst du ihren Wunsch zu dem deinen?“
10110 „Vollständig.“
10112 „Ich möchte dir deine erste Bitte nicht abschlagen. Aber es ist
10113 noch ein prinzipielles Bedenken. Zugegeben, deine Abwesenheit von
10114 hier für kurze Zeit wäre allenfalls belanglos. Es könnte aber ein
10115 unglücklicher Zufall eintreten, der uns verhindert, hierher
10116 zurückzukehren. Deine Abwesenheit könnte sich auf den ganzen Winter
10117 ausdehnen. Dann übernehmen wir eine furchtbare Verantwortung. Das
10118 Verständnis zwischen den Planeten steht auf dem Spiel.“
10120 „Ich weiß es. Es ist der Gedanke, der mich zuerst der Bitte von
10121 Frau Torm widerstehen ließ, der mich in Konflikt mit mir selbst
10122 brachte. Aber gerade, weil wir nicht allwissend sind, dürfen wir
10123 einen solchen Umstand nicht in die Berechnung ziehen; er ist nur
10124 als Zufall zu behandeln; ich kann morgen tot sein, auch wenn ich
10125 nicht aus meinem Zimmer gehe. Ich habe mich nun einmal um Ismas
10126 willen entschlossen; was daraus wird, muß ich mit meinem Gewissen
10127 abmachen. Daß ich nicht eigennützig handle, weißt du.“
10129 „Sonst hätte dein Wunsch für uns nicht existiert.“
10131 „So aber, da es sich nur um Chancen des Gelingens oder Mißlingens
10132 handelt, dürfen wir auch nicht vergessen, daß mit der größeren
10133 Wahrscheinlichkeit unsre Reise das Verständnis zwischen den
10134 Planeten fördern wird. Wenn es uns gelingt, Torm zu retten, wenn er
10135 durch die Nume hierhergebracht wird, so haben wir das Zutrauen der
10136 Menschen und ihren Glauben an uns in viel höherem Grad gewonnen,
10137 als sie selbst durch mein Fernsein verloren werden könnten. Ich
10138 glaube also, daß wir im Interesse der Planeten selbst wirken, wenn
10139 wir Torm suchen. Dieser Grund ist mir allerdings erst jetzt
10140 eingefallen.“
10142 Ill lächelte wieder. „Er würde auch gelten, wenn Frau Torm uns
10143 nicht begleitete. Wir gewinnen aber durch sie eine Zeugin, die uns
10144 von Nutzen sein kann. Doch gleichviel. So will ich denn einen
10145 Vorschlag machen, das Äußerste, was ich zugeben kann. Ich beurlaube
10146 dich von der Begleitung nach Rom, Paris und London. Dagegen kürze
10147 ich unsern Aufenthalt in Europa ab und komme von Petersburg aus
10148 nicht erst hierher zurück, sondern gehe sogleich von dort nach
10149 Norden. Wollt Ihr also mit, so müßt ihr – wir haben heute, nach
10150 eurer Zeitrechnung –?“
10152 „Den 9. September.“
10154 „Nun gut. So haltet euch bereit, im Laufe des 11. Septembers mit
10155 uns aufzubrechen.“
10157 Ell sprang in die Höhe. Er dankte Ill und sagte freudig zu Isma:
10158 „Wir dürfen mit. Aber wir müssen übermorgen reisefertig sein.“ Und
10159 mit ernsterem Ausdruck setzte er hinzu: „Wollen Sie nicht lieber
10160 von Ihrem Vorhaben abstehen? Sie können gewiß sein, daß die Nume
10161 alles tun werden, um Hugo aufzufinden. Bleiben Sie hier, Isma!“
10163 Isma stand einen Augenblick unschlüssig. Sie sah sich in der Kajüte
10164 des Luftschiffes um, in welcher sie saßen.
10166 Ill drückte auf einen Griff. Auf beiden Seiten der Kajüte öffnete
10167 sich je eine Tür.
10169 „Hier sind noch zwei Kabinen, je für einen Gast“, sagte er. „Sie
10170 werden es etwas eng, aber sonst ganz bequem haben. Es versteht sich
10171 von selbst, daß ihr meine Gäste seid“, setzte er zu Ell gewendet
10172 hinzu.
10174 Isma verstand nicht seine Worte, aber seine Handbewegung. Sie
10175 streckte Ill schüchtern ihre Hand entgegen, die er zwischen die
10176 seinigen nahm.
10178 „Ich danke Ihnen“, sagte sie, „von ganzem Herzen.“ Dann wandte sie
10179 sich zu Ell. Sie sah ihn mit einem Blick an, dem er nicht
10180 widerstehen konnte.
10182 „O zürnen Sie mir nicht, mein lieber, treuer Freund. Ich werde es
10183 Ihnen nie vergessen, was Sie heute für mich taten. Ich kann nicht
10184 hierbleiben, ich will hinaus. Und wenn Sie mitgehen, so danke ich
10185 ihnen, denn unter diesen Fremden allein – es ist mir alles so
10186 beängstigend – und keiner versteht mich – aber mit Ihnen – o Ell,
10187 ich weiß, welches Opfer Sie mir bringen, und ich habe es nicht um
10188 Sie verdient.“
10190 Mit Tränen in den Augen reichte sie ihm die Hände.
10192 „Also übermorgen.“
10194 „Noch eins“, sagte Ill, „eine Bedingung, die ich machen muß. Unsere
10195 Nachforschungen werden am 12. September beginnen. Sie müssen aber
10196 am 20. unter allen Umständen aufhören. Sind wir bis dahin nicht
10197 glücklich gewesen, so müssen Sie es tragen. Am Morgen des 21.
10198 September setzt Sie dieses Schiff wieder hier ab. Und so Gott will,
10199 schon früher und – zu dreien.“
10201 Ell übersetzte Isma die Worte.
10203 „Gott sei uns gnädig!“ sagte sie leise.
10205 „Und wie ist es mit der Reise nach den Hauptstädten?“ fragte Ell.
10207 „Die mache ich morgen. Ich habe es mir nach deinen Karten und
10208 Angaben schon berechnet. Die ganze Fahrt von hier nach Rom, über
10209 Paris nach London und von dort zurück könnten wir in kaum fünf
10210 Stunden zurücklegen. Wir werden uns aber viel mehr Zeit nehmen. Nur
10211 hier breche ich ungesehen auf, vor Sonnenaufgang. Denn da wir
10212 wieder hierher zurückkommen, würde ich dir und uns die ganze
10213 Bevölkerung auf den Hals ziehen und vielleicht ernstliche
10214 Schwierigkeiten haben, wenn man von unserm Hiersein wüßte. Dagegen
10215 werden wir unsere Fahrt, wenn wir erst jenseits der Alpen sind, und
10216 dann in Frankreich und England, zum Teil absichtlich langsam und
10217 möglichst vor aller Augen ausführen. Die Menschen sollen sehen, was
10218 wir können, sie werden dann Grunthe eher glauben. Auf irgendeinem
10219 unzugänglichen Alpengipfel werden wir einige Stunden ungestört
10220 Mittagsruhe halten. Paris, London, Amsterdam, Brüssel besuchen wir
10221 im Lauf des Nachmittags und Abends. Sobald es dunkel genug ist,
10222 landen wir wieder hier. Und nun besorge deine Geschäfte und bereite
10223 alles vor.“
10225 Ell führte Isma aus dem Schiff. Sie zitterte an seinem Arm.
10227 „Sie muten sich zuviel zu, liebste Freundin.“
10229 „Nein, nein“, sagte sie. „Ich weiß, was ich kann. Es ist nur die
10230 ungewohnte geringe Schwere in dem Schiff – aber ich werde mich
10231 daran gewöhnen. Es ist schon wieder besser in der freien Luft.“
10233 „Ill wird es gewiß arrangieren können, daß Sie nicht immer in der
10234 Marsschwere zu sein brauchen.“
10236 „Das ist ja alles gleichgültig. Nun will ich nur schnell nach
10237 Hause. Sie können sich denken, daß ich viel zu tun habe“, sagte sie
10238 mit schwachem Lächeln.
10240 „Warten Sie, ich will einen Wagen holen lassen.“
10242 „Das dauert zu lange. Können Sie mich nicht hier aus dem
10243 Parkpförtchen lassen? Dann spare ich Weg.“
10245 „Gewiß, ich habe den Schlüssel hier.“
10247 Ell öffnete die kleine Tür in der Mauer. Sie führte auf einen
10248 Promenadenweg, der von den Friedauern vielfach benutzt wurde, da er
10249 zu einem beliebten Spazierort führte. Es war inzwischen neun Uhr
10250 geworden.
10252 Isma zog den Schleier vor das Gesicht. Noch ein herzlicher
10253 Händedruck, und sie schritt schnell den Weg nach der Stadt hinab.
10255 Zwei Herren begegneten ihr, die sie scharf ansahen und sich dann
10256 etwas zuflüsterten.
10258 Ell war noch einen Augenblick stehen geblieben und hatte ihr
10259 nachgeblickt. Als er in die Tür zurücktreten wollte, waren die
10260 beiden Spaziergänger herangekommen.
10262 „Ach, guten Morgen, Herr Doktor“, sagte der eine mit näselnder
10263 Stimme. „Was macht der Nordpol?“
10265 „Schon so früh interessanten Besuch gehabt? Wie?“ sagte der andere.
10266 „Wohl sehr besorgt um den Herrn Gemahl?“
10268 Ell sah den Sprecher von oben bis unten an und drehte ihm, ohne ein
10269 Wort zu sagen, den Rücken. Vor dem Blick Ells wich er erschrocken
10270 zurück, und aus Ärger über seine eigene Verlegenheit rief er Ell
10271 protzig nach:
10273 „Na, na, man wird doch wohl fragen dürfen?“
10275 Ell drehte sich um. „Nein, Herr von Schnabel, was einen nichts
10276 angeht, wird man nicht fragen dürfen. Adieu.“
10278 „Ich bitte doch, soll das vielleicht eine Zurechtweisung sein? Dann
10279 möchte ich allerdings noch um eine Aufklärung bitten.“
10281 „Tun Sie, was Sie wollen“, sagte Ell. „Ich habe keine Zeit.“ Er
10282 schloß die Tür hinter sich und ging zu Grunthe zurück.
10284 \section{24 - Die Lichtdepesche}
10286 Sobald die Redaktion der ersten Berichte beendet war, begab sich
10287 Grunthe nach dem Ministerium, um seine Anwesenheit in Friedau und
10288 die vorgelegten Dokumente beglaubigen zu lassen. Von dort trug er
10289 die Depeschen sogleich nach dem Telegraphenamt. Die Beamten hatten
10290 ihn verwundert angestarrt. Einige Friedauer erkannten ihn unterwegs
10291 und versuchten, ihn auszuforschen. Aber auf alle Fragen hüllte er
10292 sich in Schweigen, und so gelang es ihm, noch ziemlich ohne
10293 Aufsehen nach der Sternwarte zurückzugelangen, während sich in der
10294 Stadt bereits das Gerücht von der Rückkehr der Expedition und
10295 wunderbare Fabeln von den Bewohnern des Mars verbreiteten.
10297 Noch ehe Grunthe zurückkehrte, erhielt Ell den Besuch eines ihm
10298 befreundeten Oberlehrers des Friedauer Gymnasiums, Dr. Wagner. Der
10299 elegant gekleidete Herr trat mit einem etwas gezwungenen Lächeln
10300 ein und sagte, nach der ersten Begrüßung verlegen sein
10301 Schnurrbärtchen drehend: „Ich habe da einen etwas fatalen Auftrag,
10302 den ich aber nicht ablehnen konnte. Weil wir uns ja kennen, dachte
10303 ich, ich könnte die Sache am besten beilegen. Weißt du, du hast da
10304 heute früh mit dem Herrn von Schnabel –“
10306 Ell machte eine abwehrende Bewegung.
10308 „Na ja“, sagte Wagner, „es ist ein nicht sehr angenehmer Herr, hä,
10309 außerdem so etwas“ – er klopfte mit dem Finger an die Stirn –
10310 „seinerseits taktlos und dabei furchtbar empfindlich. Du hast ihn
10311 ja wahrscheinlich ganz mit Recht abfallen lassen, aber er fühlt
10312 sich von dir brüskiert, und ich soll da eine Art von Erklärung
10313 fordern.“
10315 „Mit dem größten Vergnügen“, erwiderte Ell lächelnd, „ich habe ihm
10316 verwiesen, naseweise Bemerkungen zu machen über Dinge, die ihn
10317 nichts angehen. Ich habe ihn vielleicht etwas schroff behandelt,
10318 aber einerseits hat er es verdient, andrerseits hatte ich den Kopf
10319 wirklich mit wichtigeren Dingen voll, als sie die Neugier von Herrn
10320 Schnabel erregen. Wenn es ihn tröstet, so sage ihm, daß mir nichts
10321 ferner gelegen hat als ihn beleidigen zu wollen.“
10323 „Hm – ich weiß nicht, ob ihm das genügen wird, er verlangt, daß du
10324 deine Äußerungen formell zurücknimmst.“
10326 „Ich habe nichts zurückzunehmen, da ich nur die Wahrheit gesagt
10327 habe, er muß sich also schon an der Erklärung genügen lassen, daß
10328 ich ihn nicht beleidigen wollte. Eine Unhöflichkeit ist noch keine
10329 Beleidigung. Wenn er sich aber seiner Fragen wegen entschuldigen
10330 will, so bin ich auch bereit, wegen der unhöflichen Form meiner
10331 Antwort um Entschuldigung zu bitten. Ich dächte, die Angelegenheit
10332 wäre erledigt.“
10334 „Ich fürchte“, sagte Wagner verlegen, indem er aufstand, „es werden
10335 sich da wohl noch weitere Folgen daran knüpfen. Ich kenne ja deine
10336 Ansichten über dergleichen Affären, ich bin auch ganz deiner
10337 Meinung, aber, hä, in meiner Stellung, ich muß da Rücksichten
10338 nehmen, weißt du, du wirst mir’s also zugutehalten – ich wollte nur
10339 vermitteln und werde ihm zureden. Wenn es nur nützt! Er wird dir
10340 wohl da noch einen Kartellträger schicken.“
10342 „Er soll sich nur die Mühe sparen, ich würde den Herrn an die Luft
10343 setzen. Aber ich danke dir für deine Bemühung. Also, wie gesagt,
10344 erkläre ihm in aller Form, daß mir jede Absicht einer Beleidigung
10345 ferngelegen hat, daß ich mir aber das Recht vorbehalten müßte, mir
10346 unberufene Fragen zu verbitten, und er sich in bezug hierauf
10347 zunächst selbst zu entschuldigen hätte. Und nun entschuldige du
10348 auch mich, alter Freund, du wirst heute noch merkwürdige Dinge von
10349 mir hören.“
10351 Wagner wollte weiter fragen, aber Ell verabschiedete sich
10352 freundschaftlich, und Wagner ging kopfschüttelnd ab.
10354 Schon eine Stunde später – Grunthe war eben zurückgekommen, und Ell
10355 wollte sich mit ihm zu Tisch setzen – Ill hatte die Einladung
10356 abgelehnt, er wollte ruhen –, erschien der Kartellträger des Herrn
10357 von Schnabel und überbrachte Ell eine Forderung.
10359 Der Herr, ein junger Assessor, hatte sich seines Auftrages kaum in
10360 feierlichster Weise erledigt, als Ell ihm mit blitzenden Augen
10361 entgegentrat und ihn anfuhr:
10363 „Wie können Sie sich unterstehen“, rief er, „mich durch eine
10364 derartige Zumutung zu beleidigen? Wofür halten Sie mich? Bin ich
10365 ein rauflustiger Bruder Studio oder ein pflichtvergessener Narr?
10366 Ich bin ein Mann, der seine Arbeitskraft ernsten Dingen schuldet.
10367 Übrigens bedauere ich Sie“, sagte er milder, „Sie haben sich
10368 jedenfalls nicht klargemacht, was Sie tun. Ich wünsche von der
10369 Sache nichts mehr zu hören.“
10371 Der Assessor wollte auffahren, aber auf eine Handbewegung Ells
10372 machte er kehrt und verließ das Zimmer.
10374 Ell setzte sich mit Grunthe zu Tisch.
10376 „Das wird auch Zeit“, sagte er, noch etwas erregt von dem letzten
10377 Auftritt, während er seine Serviette entfaltete, „daß mit diesem
10378 Unfug einmal aufgeräumt wird. Das ist so einer von den Punkten, in
10379 denen die Martier keinen Spaß verstehen. Ich will hoffen, daß es
10380 nicht zu Konflikten kommt.“
10384 Im Lauf des Nachmittags wurden von allen Zeitungen, nicht bloß in
10385 Deutschland, sondern in ganz Europa, Extrablätter ausgegeben.
10387 „Neues vom Nordpol!“ – „Die Bewohner des Mars auf der Erde!“ – „In
10388 sechs Stunden vom Nordpol!“
10390 So und ähnlich lauteten die Ausrufe auf den Straßen. Man riß sich
10391 die Blätter aus der Hand. Vom Erlös für dieselben hätte man allein
10392 eine neue Nordpolexpedition ausrüsten können.
10394 Die Blätter enthielten zuerst die Depesche Torms an Isma. Sodann
10395 folgten ein knapper Bericht Grunthes über die weiteren Erlebnisse
10396 der Expedition und kurze Angaben über die Martier und seine
10397 Heimkehr. Endlich eine Bestätigung der letzteren durch Ell und die
10398 Beglaubigung seitens des fürstlichen Staatsministeriums in
10399 Friedau, daß Grunthe die im Bericht erwähnten Dokumente und
10400 Effekten persönlich vorgelegt habe.
10402 Nur eines war mit Stillschweigen übergangen, nämlich daß sich das
10403 Luftschiff noch in Friedau befinde. Dagegen war die Abstammung Ells
10404 kurz erwähnt worden, weil sie dazu dienen konnte, das
10405 Unbegreifliche einigermaßen der menschlichen Vorstellungskraft
10406 näherzurücken.
10408 Ein ausführlicher schriftlicher Bericht war noch vormittags an den
10409 Reichskanzler abgegangen. Am Abend schon traf eine telegraphische
10410 Depesche ein, durch welche Grunthe und Ell ersucht wurden, sich
10411 sobald als möglich mit allen Beweisstücken persönlich in Berlin
10412 einzustellen. Se. Majestät habe sofortigen Bericht eingefordert.
10413 Eine Stunde später erhielt Grunthe ein Glückwunsch-Telegramm des
10414 Kaisers, ebenso Frau Torm eine in sehr liebenswürdiger Form
10415 ausgesprochene Beileidsbezeugung, in welcher das Vertrauen auf die
10416 glückliche Heimkehr ihres Gatten ausgedrückt war.
10418 Von dem Augenblick an, in welchem die Extrablätter ausgegeben
10419 wurden, war die Sternwarte Ells von Besuchern bestürmt. Das
10420 Läutwerk des Telephons kam so wenig zur Ruhe wie die Türklingel,
10421 und bald häuften sich Telegramm auf Telegramm, Glückwünsche und
10422 Anfragen. Da dies vorauszusehen war, hatte Ell einige seiner
10423 persönlichen Freunde in Friedau gebeten, ihn zu unterstützen. Sie
10424 ordneten die Eingänge der Depeschen und empfingen die Besuche. Ell
10425 und Grunthe ließen sich nicht sehen. Beide trafen die
10426 Vorbereitungen zu ihren Reisen. Grunthe mußte allein nach Berlin
10427 gehen, was ihm nicht sehr angenehm war. Ell gab ihm die
10428 fertiggestellten Manuskripte mit. Ein Berliner Verleger hatte ihm
10429 bereits telegraphisch einen hohen Preis geboten für alles, was er
10430 über die Martier schreiben wolle. Ell verlangte das Zehnfache und
10431 erhielt es sofort zugestanden, da der Verleger wußte, daß man von
10432 London aus das Zwanzigfache geben würde. Ell bestimmte das Honorar
10433 für die Teilnehmer der Expedition.
10435 Isma hatte auf Ells Rat ihre Besorgungen sogleich am Vormittag
10436 gemacht, soweit sie dazu in die Stadt gehen mußte. Denn es ließ
10437 sich erwarten, daß sie keine Ruhe mehr finden würde, sobald die
10438 Nachricht bekannt geworden sei. Sie fühlte sich zu angegriffen, um
10439 die sich drängenden Besuche anzunehmen, fand aber ebenfalls einige
10440 Freundinnen, die ihr diese Mühe abnahmen und sich ein Vergnügen
10441 daraus machten, ihr spezielles Wissen immer wieder aufs neue
10442 mitzuteilen. Von ihrer Absicht, zu verreisen, sagte sie nichts. Nur
10443 ihrem Mädchen teilte sie mit, daß sie in den nächsten Tagen auf
10444 etwa eine Woche von Friedau fortgehen würde; sie konnte ihr
10445 vertrauensvoll die Wohnung überlassen.
10447 Am folgenden Tag reiste Grunthe frühzeitig, bald nachdem sich das
10448 Luftschiff der Martier unbemerkt entfernt hatte, nach Berlin ab.
10449 Die Flut der Anfragen bei Ell nahm noch zu. Es kamen jetzt auch
10450 auswärtige Besucher, und nicht alle durfte er abweisen. Vor dem
10451 Gittertor der Sternwarte stand den ganzen Tag über eine Menge
10452 Neugieriger und guckte in den Hof, als ob dort etwas zu sehen wäre.
10453 Gegen Abend verließ Ell durch die Parkpforte sein Grundstück und
10454 begab sich zu Isma, um sie zu fragen, ob er ihr noch irgendwie
10455 behilflich sein könne. Isma dankte.
10457 „Es ist ja nur eine kurze Reise“, sagte sie wehmütig lächelnd.
10459 Man verabredete, daß sie am andern Morgen frühzeitig an der
10460 Parkpforte sein solle. Ihren kleinen Handkoffer konnte das
10461 Dienstmädchen tragen.
10463 Auf dem Rückweg besorgte Ell noch einigen Proviant, den er auf
10464 Grunthes Rat mitnehmen wollte, weil die Lebensmittel der Martier
10465 für den Anfang vielleicht Isma und ihm nicht zusagen würden. Er
10466 nahm daher seinen Weg durch die Stadt. Hier aber heftete sich bald
10467 die Straßenjugend neugierig an seine Fersen und folgte ihm auf
10468 jedem Schritt. Anfänglich hielten die Kinder sich scheu zurück,
10469 dann brachte ein Witzbold das Wort auf: „Das ist der vom Monde, der
10470 Mann vom Monde! Guck här, ’s kummt eener vom Monde!“ Ell beeilte
10471 sich, nach Hause zu gelangen. Er nahm sich nicht Zeit, eines der
10472 Extrablätter zu kaufen, zu denen sich das ›Friedauer
10473 Intelligenzblatt‹ in Ermangelung einer Abendausgabe aufgerafft
10474 hatte.
10476 Das Extrablatt brachte bereits einen Bericht über den Empfang
10477 Grunthes beim Reichskanzler, der indessen offenbar der Phantasie
10478 eines Berliner Korrespondenten entsprungen war. Dann aber enthielt
10479 es Depeschen aus Rom, Florenz, von der meteorologischen Station des
10480 Montblanc, aus Paris und London über die Beobachtung eines
10481 Luftschiffs. Das Luftschiff war zuerst in Rom wahrgenommen worden,
10482 wo es am Morgen schon um sieben Uhr auftauchte, die Stadt umkreiste
10483 und nach allen Richtungen hin überflog. Es entfernte sich nach
10484 einer Stunde, wurde im Laufe des Vormittags noch in verschiedenen
10485 italienischen Städten gesehen, um 11 Uhr umflog es in unmittelbarer
10486 Nähe die Spitze des Montblanc, so daß die anwesenden Touristen die
10487 Bemannung des Fahrzeugs erkennen konnten. In Paris und London waren
10488 diese Nachrichten schon durch Extrablätter bekanntgegeben, man
10489 achtete also am Nachmittag gespannt darauf, ob sich das Schiff
10490 zeigen würde. Alsbald verbreitete sich in Paris das Gerücht, das
10491 Luftschiff sei eine Erfindung der Preußen und speziell dazu
10492 bestimmt, die Befestigungen von Paris auszukundschaften. In der Tat
10493 erschien das Luftschiff um 3 Uhr nachmittags am Horizont und
10494 umkreiste in langsamem Segelflug die Forts im Südosten der Stadt.
10495 Man wurde unruhig und löste einen Warnungsschuß. Darauf stieg das
10496 Schiff etwas höher und umflog nun den ganzen Kreis von
10497 Befestigungen, aber auf der inneren Seite nach der Stadt zu, so daß
10498 man ihm nichts anhaben konnte, ohne die Stadt selbst zu gefährden.
10499 Um fünf Uhr schoß es in die Höhe und erschien eine halbe Stunde
10500 später in London. Es überschritt die Themse bei Greenwich, zog dann
10501 in einem weiten Halbkreis nördlich um die Stadt, wandte sich am
10502 Hyde Park wieder nach Osten und kreuzte über dem Häusermeer. Auf
10503 allen freien Plätzen standen dichtgedrängte Volksmassen, welche mit
10504 Tüchern winkten und Hurra schrien. Böllerschüsse wurden gelöst, und
10505 die Schiffe auf dem Fluß hißten ihre Flaggen. Das Luftschiff aber
10506 kümmerte sich um nichts. Sobald die Sonne sich zum Untergang
10507 neigte, zog es die Flügel ein und stieg senkrecht so hoch in die
10508 Lüfte, daß es den Blicken entschwand, und man nicht angeben konnte,
10509 wohin es sich gewendet hatte.
10511 Um zehn Uhr abends senkte sich eine dunkle Masse langsam auf den
10512 Garten der Sternwarte von Friedau.
10514 Es war zwischen zwei und drei Uhr nachts, als Ell davon erwachte,
10515 daß die Sonne hell in sein nach Norden gelegenes Schlafzimmer
10516 hineinschien. Verwirrt richtete er sich auf, aber ehe er bis an das
10517 Fenster gelangte, war die Erscheinung verschwunden. Die Nacht war
10518 nur vom matten Schimmer des aufgehenden Mondes erhellt. Plötzlich
10519 aber leuchtete ein beschränkter Bezirk der Landschaft wieder im
10520 Sonnenlicht, und diese erhellte Stelle veränderte ihren Ort, in
10521 gerader Linie von Norden nach Süden laufend, bis sie den Garten der
10522 Sternwarte, jetzt etwas westlich vom Haus, wieder erreichte. Da die
10523 Richtung des in der Luft deutlich erkennbaren Lichtstreifens unter
10524 einer Neigung von etwa 24 Grad direkt nach Norden lief, so war es
10525 Ell sofort klar, daß man die Gegend von der Ringstation der Martier
10526 aus mit einem riesigen Reflektor systematisch absuchte. Denn dieser
10527 Punkt lag für die Friedauer Warte in einer Höhe von 23 Grad 56
10528 Minuten. Ell kleidete sich daher schleunigst an und begab sich nach
10529 dem Garten, wo das Luftschiff lag.
10531 Er bemerkte, daß das Schiff seine Lage verändert hatte. Es befand
10532 sich jetzt auf der Südseite des geräumigen Rasenplatzes, so daß der
10533 Blick nach Norden über die Bäume freier wurde und die Spitzen
10534 derselben tiefer als 24 Grad lagen. Als er auf den Platz trat, war
10535 das Schiff und die südliche Baumwand so stark von der Sonne
10536 beleuchtet, daß er geblendet wurde. Aber noch hatte er das Schiff
10537 nicht erreicht, als das Licht verschwand. Sein Weg wurde jetzt nur
10538 durch den schwachen Schein einer Lampe aus dem Innern des Fahrzeugs
10539 erhellt.
10541 Ill war damit beschäftigt, einen Ell unbekannten Apparat
10542 einzustellen. Ein Offizier des Schiffes war ihm dabei behilflich.
10544 „Entschuldige, wenn ich störe“, sagte Ell, „aber ich glaubte
10545 bemerkt zu haben, daß man Zeichen von der Außenstation gibt.“
10547 „Es ist so“, sagte Ill, „und sie haben uns jetzt gefunden. Es muß
10548 etwas Wichtiges passiert sein. Nimm Platz und gedulde dich ein
10549 wenig. Wir werden sogleich die Unterhaltung beginnen können. Die
10550 Verbindung ist bereits optisch hergestellt, wir müssen jetzt
10551 langwellige unsichtbare Strahlen anwenden, um telephonieren zu
10552 können.“
10554 Ell fragte erstaunt: „Telephonieren? Du willst mit der Station
10555 sprechen?“
10557 „Ja“, sagte Ill, „vermittels der Strahlen. Aber es muß nun
10558 vollständige Ruhe herrschen.“
10560 Ell setzte sich still in den Hintergrund. Eine Hoffnung stieg in
10561 ihm auf. Sollte man vielleicht Torm gefunden haben?
10563 Ill brachte sein Ohr an den Apparat. Ell vermochte nichts zu hören,
10564 auch was Ill sprach, konnte er nicht vernehmen, da es ganz leise in
10565 den telephonischen Apparat gesprochen wurde.
10567 Etwa eine halbe Stunde mochte so vergangen sein. Dann wendete sich
10568 Ill zu seinem Neffen.
10570 „Wir müssen unsern Aufbruch aufs möglichste beschleunigen“, sagte
10571 er. „Meine Anwesenheit auf der Insel ist dringend erforderlich,
10572 voraussichtlich unsere Hilfe.“
10574 „Was ist geschehen? Keine Nachricht von Torm?“
10576 „Bis jetzt nicht. Ich sagte dir bereits, daß wir noch ein kleineres
10577 Luftboot in Betrieb setzen wollten. Das ist geschehen. Es bedarf
10578 nur vier Mann zur Besatzung, kann aber auch nur die halbe
10579 Geschwindigkeit im Mittel erreichen wie hier unser Luftschiff. Für
10580 die Fahrten im Polargebiet hat es sich jedoch, wie ich eben
10581 erfahre, als sehr geeignet erwiesen. Die Unsern sind damit in drei
10582 Stunden bis zum 80. Breitengrad nach Süden gelangt. Mit diesem Boot
10583 sind die Nachforschungen nach Torm aufgenommen worden. Und bei
10584 dieser Gelegenheit ist es zu dem unangenehmen Zwischenfall
10585 gekommen, der meine sofortige Rückkehr erfordert.“
10587 „Ein Unglücksfall?“
10589 „Ein Konflikt mit einem europäischen Kriegsschiff.“
10591 „Nicht möglich! Wo?“
10593 „Auf 81 Grad Breite, 294 Grad Länge ungefähr. Infolge eines
10594 Mißverständnisses jedenfalls – ich sehe darin noch nicht ganz klar
10595 – sind unsre Leute am festen Land, während sie verunglückten
10596 Matrosen des Kriegsschiffs Hilfe zu bringen versuchten, von anderen
10597 überfallen worden. Zwei gerieten in Gefangenschaft der Menschen,
10598 die beiden anderen konnten auf dem Luftboot entfliehen. Das Boot
10599 selbst ist beschossen worden und scheint dabei gelitten zu haben.
10600 Ich muß also mit unserm Schiff hin, um auf jeden Fall die beiden
10601 Leute zurückzuholen. Und so bleibt gar nichts übrig, du mußt dich
10602 sogleich aufmachen und versuchen, Frau Torm zu wecken und
10603 hierherzubringen, wenn sie dabei beharrt, uns zu begleiten. Größte
10604 Eile tut not. Wir machen inzwischen unser Schiff klar.“
10606 Es war für Ell eine recht peinliche Aufgabe, mitten in der Nacht
10607 und möglichst ohne Aufsehen zu erregen Isma zur Reise nach dem
10608 Nordpol abzuholen. Doch es mußte geschehen. Schließlich kam es
10609 jetzt schon nicht mehr darauf an, ob sich die bösen Zungen von
10610 Friedau noch etwas mehr aufregten.
10612 Isma, die in dieser Zeit stets gefaßt war, durch eine Nachricht aus
10613 dem Schlaf geweckt zu werden, eilte ans Fenster, als Ell die
10614 Hausklingel ertönen ließ. Sie erkannte Ell. Wenige Worte genügten
10615 zur Verständigung. Eine halbe Stunde später verließ sie das Haus,
10616 ohne daß ihr Mädchen, das auf der andern Seite der Wohnung schlief,
10617 erwacht wäre. Ein paar Worte, die Isma auf einem Zettel zurückließ,
10618 besagten nur, daß sie ihre Reise unerwartet schnell hätte antreten
10619 müssen. Aus der Dunkelheit tauchte Ell neben ihr auf und nahm ihr
10620 den Handkoffer ab. Ein verschlafener Nachtwächter sah ihnen
10621 verwundert nach.
10623 In tiefer Ruhe, wie ausgestorben lag die Stadt Friedau, als im
10624 ersten Grauen der Morgendämmerung das Luftschiff der Martier sich
10625 erhob, um alsbald mit der größten Anspannung seiner Maschine sich
10626 durch die Höhen des Luftmeers nach Norden zu schnellen.
10628 \section{25 - Engländer und Martier}
10630 Das englische Kanonenboot ›Prevention‹ hatte den Auftrag, die im
10631 Interesse der Polarforschung angelegten Depots im Smith-Sund und
10632 weiter nach Norden, soweit es die Eisverhältnisse ohne Gefährdung
10633 des Schiffes gestatteten, zu revidieren und zu vermehren. Kapitän
10634 Keswick traf die Lage sehr günstig. Die Kane-Bai war in ihrer Mitte
10635 völlig eisfrei, sie wurde in rascher Fahrt passiert, die
10636 ›Prevention‹ dampfte in den Kennedy-Kanal hinein und drang ohne
10637 Schwierigkeiten bis über 80,7 Grad Breite vor; hier legte sie sich
10638 an einer günstigen Stelle vor Anker und schickte ein Boot zur
10639 Aufsuchung eines passenden Ortes aus, um an dem felsigen Ufer eine
10640 Niederlage von 3.600 Rationen zu errichten. Man fand in einer
10641 kleinen Bucht eine natürliche Felsenhöhle, in welcher die Vorräte
10642 sicher geborgen werden konnten. Während die Bemannung des Bootes
10643 zum größten Teile mit dieser Arbeit beschäftigt war, erstieg
10644 Leutnant Prim mit zwei Matrosen den Hügel über der Höhle, um dort
10645 als Signal einen Cairn zu errichten. Die Spitze des Hügels sah auf
10646 eine breite, teilweise mit Eis bedeckte Ebene, so daß der Cairn auf
10647 weithin, sowohl vom Land als vom Wasser aus, zu sehen sein mußte.
10648 Denn dieser zu errichtende ›Steinmann‹ sollte dazu dienen, in
10649 seinem Innern die Dokumente aufzunehmen, welche die Lage der in der
10650 Umgegend niedergelegten Depots bezeichneten, er mußte daher einen
10651 Platz erhalten, wo er für etwa hierher vordringende Reisende auf
10652 weithin wahrgenommen werden konnte. Der Steinmann war soweit
10653 fertig, daß der Offizier die Blechbüchse mit den Papieren darin
10654 deponieren konnte, und die Matrosen waren damit beschäftigt, den
10655 Bau zu schließen und noch mehr zu erhöhen. Als Leutnant Prim
10656 inzwischen auf dem Hügel herumkletterte, bemerkte er in der Ferne
10657 einige dunkle Punkte, die er alsbald als weidende Moschusochsen
10658 erkannte. Sie zogen nach Süden und näherten sich langsam seinem
10659 Standpunkt. Alsbald war die Jagdlust in ihm erwacht, er ergriff
10660 eines der mitgebrachten Gewehre und bedeutete seine Leute, ihre
10661 Arbeit zu vollenden und ihm dann nachzukommen. Er hoffte rasch
10662 einen guten Schuß tun zu können. Bald war er hinter einigen
10663 Felsvorsprüngen verschwunden.
10665 Die Matrosen schlenderten ebenfalls in der Umgebung umher, um noch
10666 einige große Steine aufzusuchen, als sie im Norden, rechts von der
10667 Seite, wohin der Offizier, nur die Moschusochsen im Auge haltend,
10668 gegangen war, einen dunklen Punkt über dem Horizont auftauchen
10669 sahen. Derselbe nahm schnell an Größe zu und erwies sich zu ihrem
10670 nicht geringen Erstaunen als ein riesiger Vogel, der seinen Flug
10671 mit großer Geschwindigkeit direkt auf sie zu nahm. Eine Weile
10672 standen sie still und starrten auf die merkwürdige Erscheinung.
10673 Dann liefen sie nach dem Cairn zurück, um ihre Gewehre zu holen. Da
10674 sich das rätselhafte Tier bereits stark genähert hatte, ergriff sie
10675 Furcht, und sie zogen es vor, so schnell wie möglich den Hügel
10676 hinabzulaufen, um Zuflucht bei ihren Gefährten zu finden. Zwischen
10677 den Felstrümmern, von Zeit zu Zeit nach dem Ungeheuer sich
10678 umblickend, das sich jetzt in weitem Bogen nach dem Steinmann hin
10679 zu senken schien, verfehlten sie jedoch die Richtung und kamen an
10680 eine mit Eis gefüllte, steil abfallende Schlucht. Plötzlich stieß
10681 der Vorangehende einen Schrei aus. Er hatte auf dem steilen Abhang
10682 einen Fehltritt getan und stürzte, auf die Felsvorsprünge
10683 aufschlagend, in die Schlucht. Sein Gefährte blickte ihm mit
10684 Entsetzen nach und wollte den Versuch machen, zu ihm
10685 hinabzuklettern. Mit den Händen sich anklammernd, ließ er sich eben
10686 auf einen tiefer liegenden Felsen nieder, als plötzlich über ihm
10687 der glänzende Leib des Riesenvogels mit eingezogenen Flügeln
10688 erschien. Er bebte in abergläubischer Furcht, seine Glieder
10689 zitterten, er vermochte sich nicht länger zu halten und stürzte
10690 ebenfalls in die Tiefe.
10692 Kaum hatten die vier Martier in dem vom Pol herkommenden Luftboot,
10693 das die Matrosen für ein Luftungeheuer gehalten hatten, das Unglück
10694 erkannt, das sie durch ihr Erscheinen unschuldigerweise angerichtet
10695 hatten, als sie das Luftboot langsam und vorsichtig sich in die
10696 Schlucht hinabsenken ließen. Bald hatten sie die Körper der
10697 Unglücklichen erreicht. Blutüberströmt lagen sie vor ihnen.
10698 Obgleich keine Hoffnung war, die Menschen ins Leben zurückzurufen,
10699 wollten sie doch ihre Leichen nicht in der Schlucht liegen lassen.
10700 Da es unzweckmäßig war, sie in das Boot hineinzunehmen, legten sie
10701 die Verunglückten in das Netz, das sich unter ihrem Boot ausspannen
10702 ließ. Dann erhoben sie sich mit ihnen und dirigierten das Boot nach
10703 der Spitze des Hügels. Sie überzeugten sich hier, daß beide
10704 Menschen tot seien. Sie legten sie am Fuße des Cairn nieder und
10705 brachten dann ihr Luftboot in eine gesicherte Lage in der Nähe.
10706 Zwei von ihnen blieben im Boot zurück, während die beiden andern
10707 noch einmal nach dem Steinmann zurückgingen, um ihn näher zu
10708 untersuchen. Die Öffnung war noch nicht vermauert, und sie
10709 entdeckten bald die Büchse mit den Dokumenten. Sie öffneten diese
10710 und musterten den ihnen unverständlichen Inhalt. Während sie
10711 hiermit beschäftigt waren, kehrte Leutnant Prim zurück. Das Boot
10712 der Martier konnte er von seinem Standpunkt aus nicht sehen, auch
10713 hatte er es vorher, nur auf das Wild und seinen Weg achtend, nicht
10714 wahr genommen. Jetzt erblickte er zwei fremde, seltsam gekleidete
10715 Männer, die sich seiner Papiere bemächtigt hatten. Und neben ihnen
10716 – entsetzt wich er zurück – lagen die beiden Matrosen, entseelt,
10717 mit blutigen, zerschmetterten Stirnen. Er konnte nicht anders
10718 glauben, als daß er ihre Mörder vor sich habe. Er riß das Gewehr in
10719 die Höhe und rief sie an.
10721 Die Martier blickten erstaunt empor. Sie deuteten auf die
10722 verunglückten Matrosen und riefen Prim zu, daß sie sie aus der
10723 Schlucht herausgebracht hätten. Er dagegen befahl ihnen, die
10724 Papiere hinzulegen und sich zu ergeben. Natürlich verstanden sie
10725 sich gegenseitig nicht. Noch einige Rufe hin und her, ohne daß die
10726 Martier Miene machten, sich zurückzuziehen, wie es Prim verlangte,
10727 da knallte sein Gewehr, und die Kugel durchbohrte die blecherne
10728 Büchse, welche der eine der Martier in der Hand hielt. Ein zweiter
10729 Schuß aus dem Repetiergewehr folgte sofort, aber der Martier hatte
10730 sich bereits beiseite geworfen, die Kugel ging fehl. Im nächsten
10731 Augenblick ließ Prim das Gewehr machtlos aus der Hand fallen. Er
10732 war nicht verwundet, aber die Hand war gelähmt, er konnte sie nicht
10733 bewegen. Der andere Martier hatte mit seinem Telelyt-Revolver die
10734 motorischen Nerven der Hand gelähmt.
10736 Inzwischen hatten die mit der Hinterlegung des Depots beschäftigten
10737 Mannschaften ihre Arbeit beendet. Die im Boot zurückgelassene Wache
10738 war auf das Erscheinen des Luftboots, das jedoch bald wieder durch
10739 die Felshöhe über ihnen verdeckt wurde, aufmerksam geworden und
10740 hatte die übrigen Seeleute verständigt. Diese machten sich sofort
10741 unter Führung eines Unteroffiziers daran, den Hügel zu ersteigen.
10742 Da ertönten die beiden Schüsse, welche ihre Schritte
10743 beschleunigten. Im Augenblick darauf rannten sie mit Geschrei auf
10744 den Gipfel des Hügels zu. Prim, der sich von seiner
10745 augenblicklichen Verwirrung erholt hatte, riß mit der linken Hand
10746 seinen Revolver aus dem Gürtel und stürzte auf die Martier zu,
10747 indem er rief: „Hierher, Leute, hier sind die Mörder! Faßt sie!“
10749 Der Martier erhob aufs neue seine Waffe – sein Begleiter war
10750 unbewaffnet –, und auch der Revolver entfiel dem Offizier – er
10751 konnte seine linke Hand ebenfalls nicht mehr bewegen. Gleichzeitig
10752 aber wurde der Martier durch einen Stoß in den Rücken
10753 niedergeworfen. Die Matrosen waren im Sturmlauf herangekommen. Im
10754 Handgemenge waren die Martier ohnmächtig. Sie wußten dies und
10755 machten daher auch keinen weiteren Versuch, sich zu wehren. Auf den
10756 Befehl des wütend gewordenen Offiziers wurden sie gefesselt, und
10757 die Matrosen trieben sie mit Fauststößen vor sich her, um sie in
10758 das Boot zu bringen.
10760 Die Schüsse und das nachfolgende Geschrei hatten die beiden im Boot
10761 zurückgebliebenen Martier aufmerksam gemacht; da sie aber nicht
10762 schnell genug über die Felsen hätten klettern können, die sie vom
10763 Schauplatz des Kampfes trennten, ließen sie das Luftboot so weit
10764 aufsteigen, daß sie beobachten konnten, was geschehen. Sobald sie
10765 ihre Kameraden gefangen sahen, versuchten sie, ihnen mit dem
10766 Luftboot zu Hilfe zu kommen. Aber kaum näherte sich dieses, als die
10767 Engländer ein Schnellfeuer eröffneten. Die Geschosse drangen in die
10768 Rob-Wände des Bootes ein, und wenn sie dieselben auch nicht
10769 durchschlugen, so lag doch die Gefahr nahe, daß sie Stellen trafen,
10770 an denen der feine Mechanismus des Steuerapparates beschädigt
10771 werden konnte. Die Martier stiegen daher mit ihrem Boot schleunigst
10772 so hoch, daß sie von den Kugeln nicht mehr gefährdet waren, und
10773 überlegten, was zu tun sei. Sie besaßen zwei Telelytgewehre, mit
10774 denen sie imstande gewesen wären, aus sicherer Entfernung die ganze
10775 Mannschaft zu vernichten oder wehrlos zu machen, um dann ihre
10776 Kameraden zu befreien. Aber da sie sowohl selbst, der Luftströmung
10777 wegen, nicht völlig ruhig liegen konnten, und auch die Gefangenen
10778 mitten zwischen den Matrosen in Bewegung waren, konnten sie aus so
10779 großer Entfernung nicht auf ein sicheres Zielen und genau
10780 berechenbare Wirkung vertrauen. Während sie zögerten, wurden ihre
10781 Kameraden in das Boot gebracht, das sich mit schnellen
10782 Ruderschlägen vom Ufer entfernte. Sie folgten ihm in der Höhe und
10783 sahen bald das Kriegsschiff in der Ferne. Als sie dieses nun in
10784 schnellem Flug erreichen und umkreisen wollten, bemerkten sie zu
10785 ihrem Schrecken, daß der Mechanismus des Steuerruders nicht mehr
10786 völlig funktionierte. Sie konnten ihr Boot nur langsam und in
10787 beschränkter Weise lenken. Unter diesen Umständen beschlossen sie,
10788 so schnell wie möglich nach der Insel am Pol zurückzukehren. Sie
10789 brauchten dazu die doppelte Zeit wie gewöhnlich. Von hier aus wurde
10790 nach der Außenstation gesprochen, von der aus es möglich war, Ill
10791 mit seinem größeren Luftschiff, das zur Verteidigung wie zum
10792 Angriff mit Repulsitgeschützen ausgerüstet war, zur Hilfe
10793 herbeizurufen.
10795 Kapitän Keswick scheitelte bedenklich den Kopf zum Bericht des
10796 Leutnants Prim, der es übrigens nicht für nötig hielt, sich über
10797 seinen mißglückten Jagdversuch näher auszulassen. Keswick konnte
10798 sich nicht recht vorstellen, wie diese beiden Männer, die sich
10799 offenbar nur mit Mühe aufrecht zu erhalten vermochten, ohne Waffen
10800 die harten Köpfe seiner Matrosen hätten zerschlagen können. Noch
10801 mehr freilich wunderte ihn die Lähmung der Hände seines Leutnants.
10802 Eine nähere Untersuchung erforderte aber vor allem, daß mit den
10803 beiden Fremdlingen ein Verhör angestellt wurde. Diese indessen
10804 sprachen kein Wort.
10806 Keswick trat zu ihnen und betrachtete sie näher. Er redete sie auf
10807 englisch und französisch an und auch in der einzigen Sprache, von
10808 der er noch etwas wußte, auf chinesisch. Sie verstanden ihn
10809 offenbar nicht. Aber sie öffneten jetzt zum erstenmal ihre bisher
10810 halb geschlossen gehaltenen Augen. Finster blickten sie auf ihre
10811 Fesseln und richteten dann ihre Augen voll auf den Kapitän. Es lag
10812 nichts Feindseliges in diesem Blick, aber ein tiefer Vorwurf und
10813 zugleich ein mächtiger Stolz. Unwillkürlich wich Keswick zurück.
10814 Auch die herumstehenden Offiziere und Matrosen fühlten sich seltsam
10815 betroffen.
10817 „Nehmen Sie den Leuten die Fesseln ab“, sagte der Kapitän. „Das ist
10818 hier nicht nötig. Und behandeln Sie sie anständig.“
10820 Sobald die Stricke entfernt waren, begann der ältere der Martier zu
10821 sprechen. Obgleich der Kapitän kein Wort verstand, machte die Rede
10822 doch den Eindruck, daß er hier etwas noch nie Vorgekommenes und
10823 Unerklärliches erfahre. Er wußte nichts zu tun, als die Achseln zu
10824 zucken.
10826 „In dieser Sache entscheide ich nicht allein“, sagte er dann zu
10827 seinem ersten Offizier. „Die Geschichte mit dem Luftschiff ist zu
10828 rätselhaft. Hätten wir nicht selbst in der Ferne so ein Ding
10829 gesehen, ich würde nichts glauben. Die Leute sehen nicht aus, als
10830 ob sie von der Erde stammten. Und verstehen kann man sie nicht. Ich
10831 nehme sie mit nach England. Wir sind überdies hier mit unserer
10832 Aufgabe fertig.“
10834 Die ›Prevention‹ machte Dampf auf und steuerte nach Süden.
10838 Mit rasender Geschwindigkeit jagte Ills Luftschiff in einer Höhe
10839 von zwölf Kilometern über das europäische Nordmeer, der Küste
10840 Grönlands entgegen. Im Osten glänzten schillernde Nebensonnen,
10841 während das Tagesgestirn selbst unterm Horizont blieb. Denn die
10842 Fahrt war nach Nordwesten gerichtet, und die aufgehende Sonne
10843 konnte das Luftschiff nicht einholen. Ein ewiger Dämmerschein
10844 erleuchtete die unter leichtem Cirrusgewölk lagernde Meeresflut,
10845 daß sie wie eine ungeheure Schale von dunklem, mit lichten Streifen
10846 durchzogenem Marmor schimmerte. Still war’s ringsum. Nur das
10847 gleichmäßige Zischen des Reaktionsapparats und das Pfeifen der
10848 durchschnittenen Luft um den zusammengepreßten Robpanzer des
10849 Schiffes ließ seine eintönige Weise vernehmen.
10851 „Luftdruck 170 Millimeter.“ Ell las die Angabe an seinem eigenen
10852 Barometer ab. Er warf einen nachdenklichen Blick auf die Wand,
10853 hinter welcher Isma schlummerte. Ill hatte dort selbst aufs
10854 umsichtigste für ihr Wohlbefinden gesorgt.
10856 „Schlafen Sie“, hatte er gesagt. „Sie müssen jetzt Ruhe haben. Wenn
10857 wir in die hohen Breiten gekommen sind, werden wir unseren Flug
10858 mäßigen und in die Nähe der Erdoberfläche hinabsteigen. Dann wollen
10859 wir Sie wecken.“
10861 In einen warmen Pelz gehüllt ruhte Isma in ihrer Hängematte. Über
10862 Mund und Nase schloß sich die weiche Maske, die mit dem Ventil des
10863 Sauerstoffapparats verbunden war, um ihr Handgelenk war ein
10864 elastischer Ring gelegt, der ihren Pulsschlag auf ein Meßinstrument
10865 übertrug. An der Außenwand ihrer Kabine, die Ell jetzt beobachtete,
10866 zeigten zwei Zifferblätter den Gang, die Frequenz und die Stärke
10867 der Atmung und des Pulses. „Vollständig normal“, sagte Ill
10868 lächelnd, der Ells Augen gefolgt war. Dann blickte er wieder auf
10869 die Orientierungsscheibe. Der Projektionsapparat, welcher auf der
10870 Unterseite des Schiffes angebracht war, bildete auf der Scheibe die
10871 überflogene Gegend ab.
10873 „Im Nordwesten taucht die Küste auf“, begann Ill wieder. „Es ist
10874 die Gegend, die auf euren Karten als ›König-Wilhelms-Land‹
10875 bezeichnet ist. Noch eine Stunde, bis das Festlandeis überflogen
10876 ist, dann wollen wir hinabsteigen. So lange laß sie nur
10877 schlummern.“
10879 „Ich denke“, sagte Ell, „daß wir das Schiff im Kennedy-Kanal oder
10880 in der Kane-Bai treffen. Ich bin nur neugierig, was es für ein
10881 Landsmann ist.“
10883 „Unser Feind, leider“, sagte Ill ernst, „wer es auch sei.“
10885 Ill war längere Zeit schwankend gewesen, ob er zuerst nach dem Pol
10886 fahren solle, um noch nähere Erkundigungen einzuziehen, oder ob er
10887 besser täte, direkt das Kriegsschiff aufzusuchen. Er entschloß sich
10888 für das Letztere. Denn jede Minute konnte kostbar sein, jede mußte
10889 die Leiden der Nume verlängern, jede konnte ihr Leben gefährden.
10890 Dazu stand die Wichtigkeit dessen, was er am Pol erfahren konnte,
10891 in keinem Verhältnis, selbst eine genauere Ortsangabe für den
10892 Schauplatz des Ereignisses hätte nichts ihm genützt. Es waren
10893 seitdem über zwölf Stunden vergangen, und das Schiff konnte
10894 inzwischen seinen Ort um hundert und mehr Kilometer verändert
10895 haben. Er durfte darauf rechnen, von seinem Luftschiff aus die
10896 Fahrstraße in jenen Gegenden verhältnismäßig schnell zu
10897 durchforschen. Schwere Bedenken erregte ihm die Frage, wie er
10898 verfahren solle, wenn man ihm die friedliche Herausgabe der Martier
10899 verweigere. Zwar besaß er die Mittel, selbst ein mächtiges
10900 Kriegsschiff zu vernichten. Aber dazu hätte er sich nie
10901 entschließen können, es sei denn, wenn er die eigene Existenz nicht
10902 anders retten konnte. Mußte er Gewalt anwenden, so sollte es nur so
10903 geschehen, daß die Menschen doch nachträglich imstande waren, mit
10904 ihrem Schiff in ihre Heimat zurückzukehren. Ob es aber möglich sein
10905 würde, bei den Menschen etwas durchzusetzen, ohne sie zuvor schwer
10906 zu schädigen, das war die Sorge, die Ill beschäftigte. Er mußte die
10907 schließliche Entscheidung den Verhältnissen überlassen, wie der
10908 Augenblick sie bieten würde.
10910 Nach einer Stunde war das ewige Eis des grönländischen Festlands
10911 überflogen. Die weiten Felder des Humboldtgletschers senkten sich
10912 zum Meer hinab. Das Luftschiff mäßigte seinen Flug und stieg
10913 abwärts, so schnell es die Rücksicht auf die Insassen gestattete,
10914 die sich an den höheren Luftdruck erst gewöhnen mußten. Jetzt war
10915 die Höhe von 1.500 Metern erreicht.
10917 Ill schob leise die Tür zu Ismas Schlafraum beiseite und entfernte
10918 die Maske von ihrem Gesicht. Sie erwachte und schaute sich erstaunt
10919 um. Er löste den Ring von ihrem Handgelenk und sagte ihr, daß sie
10920 jetzt, falls sie es wünsche, sich erheben könne. Darauf entfernte
10921 er sich und zog die Tür wieder zu.
10923 Wenige Minuten darauf trat Isma in die Kajüte. Ihre Wangen waren
10924 gerötet. Verlegen blickte sie umher.
10926 „Wo sind wir?“ fragte sie.
10928 „An der Westküste von Grönland, auf dem 80. Grad nördlicher
10929 Breite“, sagte Ell, ihr die Hand reichend. Sie ließ sich auf einen
10930 Sessel fallen und bedeckte die Augen mit den Händen. Sie schwieg
10931 lange.
10933 „Lassen Sie mich sehen“, sagte sie dann.
10935 Man trat aus der Kajüte in das Schiff. Die seitlichen Fenster waren
10936 jetzt teilweise geöffnet. Man konnte hinausblicken.
10938 Ein farbenprächtiges Nordlicht entsandte seine zuckenden Strahlen
10939 über das Firmament, während im Nordosten die Morgendämmerung ihren
10940 bleichen Schein entfaltete. Tief unten, in undeutlichen Reflexen
10941 schimmernd, erstreckten sich die zerrissenen Eismassen des
10942 Humboldtgletschers, der als eine Riesenmauer von Eis über dem Meer
10943 abbrach. Am westlichen Horizont erhob sich wie eine dunkle Wand der
10944 eisfreie Meeresspiegel der Kane-Bai.
10946 Isma stand lange in den überwältigenden Anblick versunken.
10948 „Es ist ja noch Nacht?“ sagte sie dann fragend. „Wie spät ist es
10949 denn?“
10951 „Es ist sogar, nach Ortszeit, noch eine Stunde früher, als bei
10952 unsrer Abfahrt in Friedau“, antwortete Ell, „weil wir nach Westen
10953 gefahren sind. Trotzdem sind wir vier Stunden unterwegs. In Friedau
10954 ist es jetzt etwa acht Uhr morgens.“
10956 „In Friedau!“ Isma zog den Pelz dichter um ihre Schultern. Und
10957 unter ihr die Gletscher Grönlands!
10959 Ein Schwindel drohte sie zu erfassen.
10961 „Kommen Sie in die Kajüte“, sagte Ill. „Es ist jetzt erst wenig da
10962 unten zu erkennen, aber wir steigen noch tiefer und reisen nicht
10963 weiter nach Westen. Nun wird die Sonne bald aufgehen, es wird
10964 heller und wärmer werden. Inzwischen lassen Sie uns für ihre
10965 Kräftigung sorgen. Auch in den ungewohntesten Situationen ist
10966 Frühstücken eine empfehlenswerte Handlung. Ell hat daran gedacht,
10967 daß Sie ihren Friedauer Morgenkaffee nicht zu entbehren brauchen.“
10969 Ell übersetzte getreulich die Worte des Oheims.
10971 Ein Lächeln glitt über Ismas Züge. „Sie denken an alles“, sagte
10972 sie, Ell anblickend, „und ich – was werde ich nicht alles vergessen
10973 haben! Hoffentlich hat Luise meinen Zettel gefunden.“
10975 „Etwas habe ich doch vergessen“, sagte Ell zu Ill, „nämlich ein
10976 Signalbuch, für den Fall, daß uns das Schiff Signale macht.
10977 Übrigens würden wir sie doch nicht beantworten können.“
10979 „Richtig, es ist schade“, antwortete Ill, „dafür besitzen wir ein
10980 vorzügliches Sprachrohr, mit dem wir uns verständlich machen
10981 können.“
10983 Sie begaben sich in die Kajüte, und ausnahmsweise, um Isma zu
10984 ehren, wohnte Ill dem gemeinschaftlichen Frühstück bei, obwohl er
10985 sich auf einige Züge aus einem martischen Mundstück beschränkte. Er
10986 verfolgte inzwischen den Gang des Schiffes auf der
10987 Projektionsscheibe.
10989 Als Ell und Isma wieder den offenen Schiffsraum betraten, war es
10990 Tag geworden. Das Schiff strich in mäßiger Bewegung – immerhin noch
10991 mit Schnellzugsgeschwindigkeit – mit weit ausgebreiteten Flügeln in
10992 etwa dreihundert Meter Höhe über die Meeresoberfläche hin. Es hatte
10993 sich der Ostküste von Grinnell-Land genähert und folgte nun dem
10994 offenen Fahrwasser in ihrer Nähe nach Norden. Isma spähte mit Ells
10995 Relieffernrohr eifrig nach der Küste hinüber. Auf den Uferschollen
10996 sonnten sich Seehunde, zahllose Vögel saßen auf den Klippen, selbst
10997 einige Moschusochsen konnte sie auf einer entfernten Ebene mit
10998 Hilfe des vorzüglichen Glases erkennen. Überall glaubte sie
10999 Menschen oder Hütten von Eskimos zu sehen, es war ihr, als müßte
11000 sie jeden Augenblick auf Torms Spuren stoßen, und erst allmählich
11001 begann sie ruhiger zu werden. So also sah die Gegend aus, die er im
11002 Geleit der tranduftenden Gastfreunde durchzog! Ob es wohl glücken
11003 würde?
11005 Der Anruf des Martiers, der den Ausguck im Vorderteil des Schiffes
11006 hielt, unterbrach ihr Sinnen.
11008 \section{26 - Der Kampf mit dem Luftschiff}
11010 Am Horizont zeigte sich eine Rauchwolke, die sich vergrößerte. Das
11011 Dampfschiff, nach Süden steuernd, und das nach Norden fliegende
11012 Luftschiff, das seine Geschwindigkeit sogleich steigerte und die
11013 Flügel verkürzte, näherten sich rasch. Bald konnte man die Formen
11014 des Schiffes durch das Glas unterscheiden. Der Wimpel am Großtopp
11015 ließ es als Kriegsschiff erkennen. Jetzt hatte man auch an Bord der
11016 ›Prevention‹ das Luftschiff gesehen. Dieses senkte sich bis auf
11017 hundert Meter über die Oberfläche des Meeres und schoß direkt auf
11018 das Kanonenboot zu. Dort stieg eine weiße Dampfwolke in die Höhe,
11019 und ein Kanonenschuß donnerte über die Flut. Man konnte jetzt die
11020 Flagge erkennen.
11022 „Es ist ein Engländer“, sagte Ell. „Er fordert uns auf, unsere
11023 Flagge zu zeigen.“
11025 Eine Flagge führte zwar das Luftschiff nicht, man hatte aber diesen
11026 Fall vorgesehen und, um keine besonderen Verwicklungen
11027 hervorzurufen, eine Flagge improvisiert, die dem Banner der
11028 vereinigten Marsstaaten nachgebildet war. Sie bestand einfach in
11029 einem schwarzen Tuch von dreieckiger Gestalt, das in der Mitte
11030 einen großen orangenfarbigen Kreis trug.
11032 Die Flagge wurde jetzt gehißt, das Luftschiff setzte aber seinen
11033 Lauf fort. Ill wollte denselben erst in unmittelbarer Nähe des
11034 Schiffes anhalten. Vorsichtshalber stieg er jedoch schnell in
11035 größere Höhe.
11037 Ell beobachtete mit dem Glas die Vorgänge an Deck des Schiffes.
11039 „Die gefangenen Martier sind jedenfalls unter Deck“, sagte er. „Das
11040 Schiff ist klar zum Gefecht – ich glaube, man will auf uns
11041 schießen. Willst du nicht lieber anhalten?“
11043 „Wie ist das Schiff bewaffnet?“ fragte Ill.
11045 „Es ist, soviel ich davon verstehe, ein sogenannter Torpedo-
11046 Rammkreuzer. Den Rammsteven und die Torpedos haben wir freilich
11047 nicht zu fürchten, aber das 25-Zentimeter-Geschütz auf dem Deck ist
11048 eine furchtbare Waffe. Es schleudert mit einer Geschwindigkeit von
11049 über 600 Metern Granaten, die vielleicht den dritten Teil des
11050 Gewichts unseres ganzen Schiffes haben. Ein einziger Schuß
11051 zerschmettert uns in Atome.“
11053 „Wenn er uns trifft. Aber wie du siehst, sind wir bereits wieder
11054 auf achthundert Meter gestiegen und dem Schiff so nahe, daß sie dem
11055 Geschütz nicht die genügende Erhebung geben können.“
11057 Ein gewaltiger Knall unterbrach ihn. Kapitän Keswick hatte sein
11058 Riesengeschütz sprechen lassen. Aber das Geschoß flog, bedeutend
11059 tiefer als das Luftschiff, unter ihm hin, ohne Schaden zu tun.
11061 „Die Sache ist nicht so gefährlich“, sagte Ill, „selbst wenn wir in
11062 der Schußlinie wären, könnten wir den Schuß aufnehmen – da wir
11063 dreimal so viel Masse haben als das Geschoß, würde es uns nur eine
11064 Geschwindigkeit von höchstens zweihundert Metern geben, und das ist
11065 für uns das Gewöhnliche.“
11067 Ell sah ihn erstaunt an.
11069 „Ich meine, wenn wir den Stoß auffangen.“
11071 „Aber wir werden doch zerschmettert.“
11073 „Keine Sorge! Wir müssen nur aufpassen. Jetzt aber wollen wir
11074 verhandeln.“
11076 „Wollen Sie sich nicht lieber in die Kajüte begeben?“
11078 Diese Frage richtete Ill an Isma, die den Vorgängen mit Herzklopfen
11079 gefolgt war. „Diese Herren sehen mir gerade so aus, als wollten sie
11080 uns mit ihren Flintenschüssen begrüßen.“
11082 „O lassen Sie mich hier“, bat Isma. „Könnte nicht vielleicht – mein
11083 Mann – auf dem Schiff sein?“
11085 „Das werden wir alles erfahren. Ell soll durch das Sprachrohr die
11086 Verhandlung als Dolmetscher führen.“
11088 Wirklich beschoß man das Luftschiff jetzt aus den Gewehren. Es
11089 schwebte aber bereits so hoch und so nahe senkrecht über dem
11090 englischen Kanonenboot, daß die Kugeln ihm keinen Schaden tun
11091 konnten, obwohl sich die Engländer zum Zielen auf den Rücken
11092 legten. Jetzt fiel eines der abgeschossenen Langbleie auf das
11093 Verdeck des Schiffes selbst zurück und durchschlug seine Planken.
11094 Das Feuer mußte eingestellt werden, da die Kugeln die Schützen
11095 selbst zu treffen drohten.
11097 Die Martier entfalteten nunmehr eine große, weiße Fahne als Zeichen
11098 der Freundschaft und des Friedens. Alsdann senkte sich das
11099 Luftschiff, immer mit gleicher Geschwindigkeit senkrecht über dem
11100 Kriegsschiff bleibend, zu diesem herab, erst schnell, dann
11101 langsamer, bis es sich in einer Höhe von etwa fünfzig Metern über
11102 den Spitzen der Masten hielt.
11104 Die Besatzung des Schiffes bestand aus tapferen Männern. Aber bei
11105 diesem Anblick pochte allen das Herz in der Brust. Wenn die Fremden
11106 Verräter waren? Wenn sie jetzt eine Dynamitbombe herabfallen ließen
11107 jeder sagte sich, daß das Schiff dann verloren war. Und sie waren
11108 wehrlos. Aber hätte das Luftschiff feindlich vorgehen wollen, so
11109 hätte es dies sicherer aus der früheren Höhe tun können.
11111 Der Kapitän stand mit finsteren Blicken auf der Kommandobrücke.
11113 Jetzt zuckte er zusammen. Aus der Höhe kam ein Anruf in englischer
11114 Sprache.
11116 „Wer seid Ihr?“ fragte er durch das Sprachrohr entgegen.
11118 Ell versuchte eine Erklärung zu geben. Das Luftschiff habe keine
11119 feindlichen Absichten. Es gehöre demselben Staat an wie die beiden
11120 Gefangenen, die sich auf dem englischen Schiff befänden. Sie seien
11121 Bewohner des Planeten Mars, die auf dem Nordpol der Erde eine
11122 Kolonie angelegt hätten. Die beiden würden zu Unrecht
11123 gefangengehalten, sie hätten sich an den Engländern nicht
11124 vergriffen, vielmehr die in den Abgrund gestürzten heraufbefördert.
11125 Das Luftschiff wolle nichts als die beiden Gefangenen zurückhaben.
11126 Man möge sie in der Nähe ans Land setzen, wo das Luftschiff sie
11127 abholen werde. Außerdem wolle man wissen, ob das Schiff Nachricht
11128 von der deutschen Nordpolexpedition Torm habe.
11130 Kapitän Keswick erwiderte, von der Tormschen Expedition habe er bis
11131 jetzt keinerlei Spuren gefunden. Was die andere Frage beträfe, so
11132 verböte es ihm seine Ehre, mit dem Luftschiff zu verhandeln, so
11133 lange es sich über seinem eigenen Schiff in bedrohender Stellung
11134 befände. Der Kommandant möge zu ihm an Bord kommen; er garantiere
11135 ihm unbehinderte Rückkehr.
11137 Es trat eine Pause ein. Auf beiden Schiffen wurde Kriegsrat
11138 gehalten.
11140 Ill wollte ohne weiteres dem Wunsch des Kapitäns nachgeben und ihn
11141 besuchen, aber Ell riet ihm dringend davon ab.
11143 „Traust du ihm nicht?“ fragte Ill.
11145 „Das nicht“, sagte Ell, „sein Wort wird er halten. Aber nach den
11146 Anschauungen der Menschen würden wir damit anerkennen, daß wir uns
11147 den Bestimmungen des englischen Kriegsschiffs unterordnen. Der
11148 Hochmut der Engländer würde dadurch nur wachsen und die
11149 Verhandlungen erschweren. Wir nehmen für uns selbst den Charakter
11150 eines Kriegsschiffs in Anspruch.“
11152 „Es mag sein, doch liegt kein Grund vor, unsre Stellung über dem
11153 Schiff beizuhalten, wenn sie den Kapitän beunruhigt. Ich habe mich
11154 nur hierhergelegt, um überhaupt zu Wort zu kommen. Wir können ja
11155 auch jeden Augenblick hierher zurückkehren, wenn wir wollen; nur
11156 nützt es uns wenig. Mit einer Vernichtung des Schiffes zu drohen,
11157 geht nicht an, da ich sie doch nicht ausführen würde und auch die
11158 Leute sich sagen dürften, daß wir das Schiff nicht in Grund bohren
11159 werden, so lange unsere Kameraden sich darauf befinden.“
11161 Ell rief nun durch das Sprachrohr hinab, daß sich das Luftschiff in
11162 einiger Entfernung niederlassen werde. Auf demselben befinde sich
11163 einer der höchsten Beamten des Mars, der nicht daran denke, sich
11164 zuerst dem Kapitän vorzustellen. Der Kapitän möge daher entweder zu
11165 ihm an Bord kommen oder eine Stelle am Ufer zur Zusammenkunft
11166 bestimmen. Im übrigen genüge es, wenn der Kapitän die beiden
11167 Martier ans Land sende. Das Luftschiff werde sich dann sogleich
11168 entfernen, sobald es die beiden aufgenommen hätte.
11170 Ohne eine Antwort abzuwarten, ließ Ill das Luftschiff nach dem Land
11171 zu lenken.
11173 Der Engländer hatte inzwischen seinen Lauf angehalten und lag jetzt
11174 still. Ihm gegenüber, etwas über einen Kilometer entfernt, in
11175 geringer Höhe über dem Ufer, schwebte das Luftschiff der Martier in
11176 vollkommener Ruhe. Flügel und Steuer waren eingezogen. Der
11177 Hinterteil des Fahrzeugs war gegen das Kriegsschiff gewendet und
11178 zeigte die Öffnung eines bis dahin nicht sichtbar gewesenen Rohres.
11179 Kapitän Keswick hatte seinen Zweck erreicht, Zeit zu gewinnen und
11180 das unheimliche Fahrzeug über seinem Kopf zu entfernen. Er fühlte
11181 sich wieder sehr erhaben. Er dachte nun erst recht nicht daran, die
11182 Gefangenen auszuliefern. Verhielt es sich wirklich so, daß sie
11183 Marsbewohner waren – und eine bessere Erklärung angesichts des
11184 Luftschiffes wußte keiner seiner Offiziere –, so wollte er sich den
11185 Triumph nicht nehmen lassen, diese seltsamen Geschöpfe nach London
11186 zu bringen. Daß man auf dem Mars auch englisch verstand und sich
11187 nach der deutschen Nordpolexpedition erkundigte, war schließlich
11188 nicht wunderbarer als die Existenz des Luftschiffes überhaupt. Die
11189 Zumutung, einem englischen Kriegsschiff Bedingungen zu stellen,
11190 hielt Kapitän Keswick für eine Frechheit. Seiner Ansicht nach hatte
11191 das fremde Schiff einfach zu gehorchen.
11193 Er signalisierte daher jetzt, das Schiff möge sofort die Flagge
11194 streichen und sich ergeben. Da er sich aber allerdings selbst
11195 sagte, daß man drüben die Signale nicht verstehen würde, so
11196 schickte er einen Offizier in der Jolle soweit vor, bis er durchs
11197 Sprachrohr mit dem Luftschiff reden konnte, und ließ durch ihn
11198 seinen Befehl ausrichten. Das Luftschiff solle landen und die
11199 Besatzung sich von demselben ohne Waffen auf tausend Schritt
11200 zurückziehen. Geschähe das nicht, bis das Boot wieder an Bord sei,
11201 so würde er Gewalt anwenden.
11203 Ill ließ antworten, es würde ihm sehr leid tun, wenn er seinerseits
11204 Gewalt anwenden müßte, um seine Genossen wieder zu erhalten. Bei
11205 der geringsten Feindseligkeit seitens der Engländer würde er sich
11206 jedoch gezwungen sehen, ihr Schiff kampfunfähig zu machen. Sollte
11207 einem der Martier Leides geschehen, so hafteten Kapitän, Offiziere
11208 und Mannschaft mit ihrem Leben.
11210 Der Offizier brachte diese Antwort zurück.
11212 „Wir werden mit den Leuten deutlicher reden“, sagte Keswick.
11214 Leutnant Prim hätte sich gern aus Vergnügen die Hände gerieben,
11215 aber sie waren immer noch steif. Er konnte nicht einmal seinen
11216 Feldstecher halten. Das Luftschiff lag vollkommen ruhig, es konnte
11217 gar kein besseres Ziel für das 25-Zentimeter-Geschütz geben, es
11218 war nicht zu verfehlen.
11220 Ell beobachtete, daß das Boot kaum beim Schiff angekommen war, als
11221 man das Geschütz richtete.
11223 „Wir sind verloren“, rief er Ill zu.
11225 Dieser hatte schon seine Vorkehrungen getroffen. Er sah scharf auf
11226 die Mündung des Geschützes.
11228 „Halte dich fest und befürchte nichts“, sagte er zu Ell gewendet.
11229 Seine Hand lag am Griff des Repulsitapparates. Von dem Moment, in
11230 welchem der Schuß an Bord des Kriegsschiffs gelöst wurde, bis zu
11231 demjenigen, in welchem das Geschoß das Luftschiff treffen konnte,
11232 mußten fast zwei Sekunden vergehen. Das genügte ihm.
11234 Jetzt blitzte drüben der Schuß auf. Das vernichtende Geschoß war
11235 entsandt. Ell fühlte, wie sich ihm die Kehle zusammenschnürte, aber
11236 er vertraute auf die Kraft der Nume. Isma hatte sich auf seine
11237 Bitte schon vorher zurückgezogen und war sich der unmittelbaren
11238 Gefahr glücklicherweise nicht bewußt.
11240 Ill hatte gleichzeitig den Griff des Repulsitgeschützes gedreht.
11241 Das Luftschiff erhielt einen Stoß und sauste durch die Luft. Hinter
11242 ihm, etwa in der Mitte zwischen dem englischen Schiff und dem
11243 martischen, gab es einen ohrenbetäubenden Krach. Die Granate
11244 zersprang in der Luft, als sei sie an eine feste, unsichtbare Mauer
11245 gestoßen. Die Bruchstücke flogen nicht weiter, sie fielen direkt
11246 nach unten und ließen das Meer unter sich aufschäumen.
11248 Im Moment aber spannte das Luftschiff seine Flügel aus, in engem
11249 Kreis kehrte es zurück, binnen zehn Sekunden war es wieder bei der
11250 ›Prevention‹ angelangt, hinter dem Kanonenboot sank es bis zur
11251 halben Höhe seiner Masten. Ein zweiter Repulsitschuß knickte die
11252 eisernen Masten wie Strohhalme, die mit einer scharfen Sense
11253 abgeschnitten werden. Zugleich aber wurden sie wie von einem
11254 Sturmwind fortgetragen, der sie über das Schiff hinwegfegte und
11255 gegen hundert Meter weiter ins Meer fallen ließ. Auf dem Verdeck
11256 selbst wurde nichts direkt von dem Schuß betroffen; nur die
11257 entstehende gewaltige Luftwelle warf die gesamte Mannschaft über
11258 den Haufen und setzte das ganze Schiff in schwankende Bewegung. Ehe
11259 sich die Engländer wieder auf ihre Füße gefunden hatten, war das
11260 Luftschiff, in kurzer Wendung aufsteigend, umgekehrt und ruhte in
11261 etwa tausend Meter Höhe senkrecht über dem Kanonenboot.
11263 Ill hatte nur die Wirkung seiner Waffen zeigen wollen. Der im
11264 Repulsitgeschütz sich entspannende Äther entwich mit einer
11265 Geschwindigkeit, welche der des Lichtes vergleichbar war, und riß
11266 die Luft und alles, was in seinem Weg lag, mit sich fort, obgleich
11267 seine Masse nur wenige Gramm betrug. Er breitete sich kegelförmig
11268 aus und mußte daher das ihm entgegen fliegende Sprenggeschoß
11269 auffangen und zur Ruhe bringen. Ill wollte jetzt das Luftschiff
11270 wieder sich herabsenken lassen, um neue Verhandlungen zu beginnen,
11271 aber die zur Wut gereizten Feinde beschossen es aus ihren Gewehren
11272 ohne Rücksicht auf die Gefahr, von ihren eigenen Kugeln getroffen
11273 zu werden. Wie sollte er nun, ohne Menschenleben zu vernichten und
11274 das Schiff selbst unbrauchbar zu machen, die Herausgabe der
11275 Gefangenen erzwingen?
11277 Ill hätte durch den Telelyten das Geschütz demontieren oder das
11278 Schiff leck machen können. Der Telelyt ist ein Apparat, durch
11279 welchen chemische Wirkung in jeder beliebigen Form erzeugt werden
11280 kann, soweit nur die direkte Bestrahlung des Gegenstandes vom
11281 Apparat aus möglich ist. Wenn man zum Beispiel glühenden Sauerstoff
11282 durch den Telelyten treten ließ, so wurde die chemische Energie
11283 durch Strahlung fortgepflanzt und kam auf dem bestrahlten Körper,
11284 etwa dem Gußstahl des Geschützes, wieder als chemische Energie zum
11285 Vorschein, so daß der Stahl einfach verbrannt wurde.
11287 Ill hätte auch sein Repulsitgebläse auf das Schiff richten und
11288 dieses an beliebiger Stelle auf den Strand treiben können.
11290 Aber er wollte sich nicht dazu entschließen. Das Geschütz konnte
11291 ihm nicht schaden, wenn er sich über dem Schiff hielt, und auch
11292 sonst nicht, wenn er die Abgabe des Schusses rechtzeitig bemerkte.
11293 Und das Schiff selbst wollte er nicht untauglich zur Fortsetzung
11294 der Reise machen. Er versuchte daher nochmals zu verhandeln und
11295 ließ zu diesem Zweck wieder die weiße Fahne aufziehen, obwohl Ell
11296 meinte, daß dieses Entgegenkommen falsch verstanden werden würde.
11298 „Was wollen die Schufte?“ rief der Kapitän wütend, ließ aber das
11299 Feuer einstellen. Das Luftschiff senkte sich. Als es so nahe
11300 gekommen war, daß man sich durchs Sprachrohr verständigen konnte,
11301 fragte Ell, ob man jetzt bereit sei zu kapitulieren.
11303 „Mit euch Freibeutern gibt es keine Verhandlungen“, schrie Keswick
11304 zurück. „Ehe ich meine Flagge streiche, sprenge ich das ganze
11305 Schiff samt euren sauberen Brüdern in die Luft.“
11307 „Wir verlangen nicht, daß ihr die Flagge streicht“, lautete die
11308 Antwort. „Es genügt, wenn ihr die Gefangenen ans Land setzt. Aber
11309 unsere Geduld ist jetzt zu Ende. Stößt das Boot mit unseren
11310 Landsleuten nicht binnen zehn Minuten vom Schiffe ab, so macht euch
11311 auf das Schlimmste gefaßt. Bis jetzt haben wir euch nur eine Probe
11312 gegeben.“
11314 „Der Teufel soll euch holen. Feuer auf die Hunde!“ schrie Keswick
11315 wütend.
11317 Aber schon hatte sich das Luftschiff fortgeschnellt. Nach wenigen
11318 Sekunden war es bereits wieder über einen Kilometer vom Schiff
11319 entfernt, das jetzt mit voller Dampfkraft nach Süden strebte.
11321 Da Ill keine Zeit dadurch verlieren wollte, daß sich die Entfernung
11322 des Schiffes von der Küste vergrößerte, beschloß er zunächst, den
11323 Dampfer aufzuhalten. Er erhob sich so hoch, daß er nicht beschossen
11324 werden konnte, und richtete dann einen Repulsitstrom gegen die
11325 Meeresoberfläche in einiger Entfernung vor dem Schiff. Das Meer
11326 kochte auf, als hätte man einen Berg hineingestürzt. Ein haushoher
11327 Wogenwall wälzte sich von der getroffenen Stelle im Kreise nach
11328 außen und zwang das englische Schiff, seinen Kurs zu ändern.
11329 Alsbald erregte das Luftschiff durch einen zweiten Repulsitschuß an
11330 geeigneter Stelle einen neuen Wirbel, und so zwangen die Martier
11331 ihren Gegner, sich dahin zu wenden, wohin sie ihn haben wollten.
11332 Bald aber war die ganze Umgebung wie von einem Sturm aufgewühlt,
11333 und die ›Prevention‹ hatte die größte Mühe, sich in dem tollen
11334 Wogengang zu halten. Von einem Gebrauch des Geschützes konnte beim
11335 Schwanken des Schiffes jetzt nicht die Rede sein. Inzwischen waren
11336 die zehn Minuten Frist längst abgelaufen. Ill ließ dem Schiff noch
11337 Zeit, um einen Felsenvorsprung herum in ruhigeres Wasser zu
11338 gelangen. Hier erwartete er den Engländer.
11340 Der Kapitän sah nun wohl ein, daß er dem Luftschiff nicht entkommen
11341 könne. Aber er war immer noch zu hartnäckig, um nachzugeben. Das
11342 Luftschiff lag wieder vollständig ruhig und ließ das Kanonenboot
11343 herankommen, während die Vorgänge auf demselben aufs genaueste
11344 beobachtet wurden. Ill konnte mit seinem Sprachrohr sich bis auf
11345 tausend Meter verständlich machen. Er rief nochmals hinüber, wenn
11346 man jetzt nicht gehorche, werde er auf das Schiff selbst schießen.
11348 Der Dampfer machte eine Wendung und stoppte. Die Martier glaubten,
11349 es geschehe, um ein Boot auszusetzen; aber das Manöver hatte nur
11350 den Zweck, zum Schuß zu kommen. Ehe die Martier es erwarten
11351 konnten, blitzte der Schuß auf. Die Entfernung war zu kurz, um den
11352 Gegenschuß der Martier genau abzumessen. Er erfolgte sofort, aber
11353 er war zu heftig. Mit rasender Geschwindigkeit schleuderte der
11354 Rückstoß das Luftschiff fort. Die Insassen wurden von ihren Plätzen
11355 geworfen. Isma stieß einen Schrei aus und klammerte sich
11356 schreckensbleich an die Wand. Zum Glück hatte sie keinen Schaden
11357 genommen. Das Luftschiff gehorchte wieder dem Steuer, die Bewegung
11358 wurde gemäßigt, es kehrte in weitem Bogen zurück und lagerte sich
11359 in einer Entfernung von etwa acht Kilometern vom Kriegsschiff auf
11360 der Spitze eines Hügels, von wo aus man mit dem Fernglas die
11361 Vorgänge auf dem Schiff gut beobachten konnte.
11363 Hier sah es schlimm aus. Unter dem Gegenstoß des Repulsits war das
11364 Sprenggeschoß explodiert, aber die Trümmer waren nicht in das Meer
11365 gefallen, sondern, weil die Wirkung zu stark gewesen war, auf das
11366 Schiff zurück. Ein Teil der Mannschaft und der Kapitän selbst waren
11367 verwundet. Der Verschluß des Geschützes war abgeschlagen. Dichter
11368 Qualm drang aus einem der zertrümmerten Schornsteine.
11370 Ill nahm das Glas vom Auge. Ein finsterer Ernst lagerte über seinen
11371 Zügen.
11373 „Es ist schrecklich“, sagte er. „Ich habe das Meinige getan, um
11374 Blutvergießen zu vermeiden. Auch das jetzige Unglück ist gegen
11375 meine Absicht geschehen, wir hatten bei der Plötzlichkeit des
11376 Überfalls nicht länger Zeit, unsern Schuß abzuwägen. Die Menschen
11377 sind wahnsinnig.“
11379 Er sann lange nach.
11381 „Ich erwäge“, sagte er dann, „ob ich es gegen unsere Genossen
11382 verantworten kann, wenn ich jetzt nachgebe und das Schiff entlasse.
11383 Aber ich bin ja nicht einmal sicher, ob man ihr Leben schonen wird,
11384 nachdem dieses Blut geflossen ist. Das also ist unser erstes
11385 Zusammentreffen mit den Menschen, das ist die Verbrüderung der
11386 Planeten! Ich hatte es mir anders gedacht. Ich höre, die Menschen
11387 haben unsern Planeten nach dem Gott des Krieges genannt; wir
11388 wollten den Frieden bringen, aber es scheint, daß die Berührung mit
11389 diesem wilden Geschlecht uns in die Barbarei zurückwirft. Gott
11390 gebe, daß diese Begegnung kein Vorzeichen ist. Indessen – wir
11391 können nicht mehr zurück. Wir wollen aus dem einen Fall noch keine
11392 Schlüsse ziehen.“
11394 Er wandte sich zu Isma und sagte ihr bedauernde Worte, daß ihre
11395 Reise mit so schrecklichen Ereignissen begönne. Ell wollte eben
11396 seine Äußerungen übersetzen, als der wachthabende Martier meldete:
11398 „Das Schiff setzt ein Boot aus.“
11400 Es war so, man sah, daß die beiden Martier in das Boot
11401 hinabgelassen wurden. Dieses ruderte dem Land zu. In einer kleinen
11402 Bucht, deren Ufer mit Eisschollen bedeckt waren, landeten die
11403 Engländer. Sie warfen die Gefangenen rücksichtslos auf eine
11404 Scholle, feuerten ihre Gewehre in die Luft ab, um ein Signal zu
11405 geben, und kehrten dann schleunigst zurück an Bord ihres Schiffes.
11407 Sofort befahl Ill, daß das Luftschiff aufsteigen solle, um die
11408 Genossen abzuholen. Der Weg war nicht weit, doch lag die kleine
11409 Bucht auf der anderen Seite des Kriegsschiffs, das man in einem
11410 Bogen umgehen mußte, um sich nicht etwaigem Gewehrfeuer
11411 auszusetzen. Dann senkte sich das Schiff mit eingezogenen Flügeln
11412 nahe am felsigen Abhang hinab. Hierbei streifte es einmal bis dicht
11413 an einen Felsen und legte sich stärker nach der Seite, als
11414 beabsichtigt war. Der Ingenieur machte ein bedenkliches Gesicht. Es
11415 kam bei diesen langsamen Bewegungen auf und nieder auf die äußerste
11416 Präzision in der Funktion des diabarischen Apparats an, und es
11417 schien ihm, als ob das Schiff auf der linken Seite nicht mit
11418 derselben Geschwindigkeit seine Schwere ändere wie auf der rechten.
11419 Man war jetzt auf der breiten Eisscholle angelangt.
11421 Die gefangenen, nunmehr befreiten Martier befanden sich in üblem
11422 Zustand. Sie waren zwar nicht gefesselt, aber der Druck der
11423 Erdschwere, dem sie seit achtzehn Stunden – denn es war inzwischen
11424 Mittag geworden – ausgesetzt waren, die beim Kampf und zuletzt beim
11425 Transport erlittenen Mißhandlungen und der Mangel an für sie
11426 genießbarer Nahrung hatten sie körperlich schwer mitgenommen. Sie
11427 atmeten beglückt auf, als im Innern des Luftschiffes ihre Leiden
11428 gemildert wurden. Ill wandte sich betrübt ab, als er erfuhr, welche
11429 Behandlung ihnen zuteil geworden war. Die Strafe der Engländer war
11430 hart, dachte er, aber verdient. Und doch, im Grunde waren sie
11431 unschuldig an ihrem Irrtum.
11433 Und nun vorwärts zum Pol! In anderthalb Stunden konnte er erreicht
11434 sein. Das Luftschiff erhob sich langsam, und wieder bemerkte der
11435 Steuermann die Ungleichmäßigkeit der Diabarie auf den beiden Seiten
11436 des Schiffes. Er machte Ill darauf aufmerksam, doch konnte man die
11437 Ursache nicht sogleich auffinden. Inzwischen war die Höhe des
11438 Felsufers überstiegen. Die Flügel wurden nun ausgebreitet, und vom
11439 Reaktionsapparat getrieben glitt das Schiff auf schiefer Ebene
11440 weiter aufwärts und nordwärts.
11442 Plötzlich vernahm man einige scharfe Schläge gegen die Flügel des
11443 Schiffes.
11445 „Höher!“ rief Ill. „Höher und schneller!“
11447 Mit dem Schiff und den geretteten Gefährten beschäftigt, hatte man
11448 kaum noch auf den Engländer geachtet. Auch war man so weit von ihm
11449 entfernt, daß die Martier außer Schußweite zu sein glaubten. Die
11450 Engländer aber hatten, als sie sahen, daß das Luftschiff sich
11451 entfernte, ihm auf gut Glück noch einige Schüsse aus ihren
11452 weittragenden Gewehren nachgesendet, und einige Kugeln hatten es
11453 erreicht.
11455 „Höher“, lautete der Befehl. Aber als der diabarische Apparat
11456 dementsprechend gestellt wurde, legte sich das Schiff auf die
11457 Seite. Infolge der Flügelstellung beschrieb es sofort eine Spirale
11458 nach rückwärts und kam dadurch nochmals in den Bereich der
11459 feindlichen Geschosse. Man mußte die Diabarie der rechten Seite
11460 wieder vermindern, da die linke nicht folgte. Das Schiff schwebte
11461 zwar, aber man konnte es nur langsam und in engen Grenzen heben und
11462 senken. Der Repulsitapparat war dagegen in Ordnung und trieb das
11463 Schiff vorwärts. Es entfernte sich nun vom Schauplatz des Kampfes
11464 nach Norden, in verhältnismäßig geringer Höhe über der Erde. Ein
11465 Gebirge, das noch zu überwinden war, konnte nur durch das
11466 Vorwärtstreiben mit schräggestellten Flügeln genommen werden.
11467 Infolgedessen nahm die Fahrt bis zum Pol die vierfache Zeit wie
11468 gewöhnlich in Anspruch.
11470 Endlich kam die Polinsel Ara zu Gesicht, und das Schiff senkte sich
11471 vorsichtig auf das Dach derselben. Aufs äußerste ermüdet entstiegen
11472 die Martier dem Fahrzeug, von den Bewohnern der Insel freudig
11473 bewillkommt. Isma wurde der Obhut der Gemahlin Ras übergeben und
11474 von ihr aufs freundlichste aufgenommen. Ehe sie die Treppe in die
11475 Wohnung hinabstieg, warf sie noch einen forschenden Blick auf die
11476 Umgebung und suchte in Gedanken die Stelle zu finden, wo der
11477 Fallschirm des Ballons herabgestürzt war. Dann reichte sie Ell die
11478 Hand. Sie wollte zu ihm sprechen, aber sie fand keine Worte. Nur
11479 ihr Blick dankte ihm. „Auf Wiedersehen!“
11483 Bereits vierundzwanzig Stunden hatte Isma auf der Polinsel
11484 zugebracht, ohne daß die in Aussicht genommenen Entdeckungsfahrten
11485 nach ihrem Mann angetreten wurden. So sehr sie sich danach sehnte,
11486 hatte sie doch keine Zeit, ungeduldig zu werden, denn die Fülle der
11487 neuen Umgebung beschäftigte sie ausreichend. Die Gegenwart Ells gab
11488 ihr die erforderliche Zuversicht in den neuen Verhältnissen.
11489 Saltner mit Se, La und Fru waren bereits nach dem Mars abgegangen,
11490 aber unter den noch anwesenden Martiern befanden sich noch mehrere,
11491 mit denen sie sich deutsch unterhalten konnte, so vor allem der
11492 Vorsteher Ra, dessen Frau und der Arzt Hil. Von ihnen erhielt sie
11493 nicht nur Nachricht über die Verhältnisse des Mars, sondern auch
11494 Einzelheiten über die Schicksale der Gefährten ihres Mannes, die
11495 ihr Gemüt lebhaft bewegten.
11497 Man begab sich eben zu der üblichen Plauderstunde ins
11498 Empfangszimmer, wo Isma und Ell jetzt die Plätze einzunehmen
11499 pflegten, die für Grunthe und Saltner eingerichtet waren, als Ell
11500 mit bekümmertem Antlitz eintrat.
11502 Isma sah ihn erschrocken an.
11504 „Was ist geschehen?“ rief sie.
11506 „Fassen Sie sich, liebste Freundin.“
11508 „Hugo ist –?“
11510 „Nein, nein – wir wissen nichts – aber wir können ihn nicht
11511 suchen.“
11513 „Warum nicht?“
11515 „Das Luftschiff ist unbrauchbar geworden.“
11517 „Um Gottes willen!“
11519 „Der diabarische Apparat hat durch den übermäßigen Luftdruck bei
11520 unserm zweiten Verteidigungsschuß auf das Kanonenboot einen Fehler
11521 erhalten. Außerdem ist eine verirrte Gewehrkugel in denselben
11522 eingedrungen und hat den Differential-Regulator verletzt. Bei der
11523 Untersuchung stellte sich heraus, daß die Reparatur hier nicht
11524 möglich ist. Der auseinandergenommene Apparat läßt sich nur in der
11525 Werkstätte auf dem Mars mit den dortigen Mitteln wieder einsetzen.
11526 Leider ist auch das kleine Luftboot für weitere Fahrten nicht mehr
11527 zu verwenden. Wir müssen die Nachsuchungen aufgeben.“
11529 Isma saß starr. „Mein armer Mann!“ sagte sie tonlos.
11531 „Geben Sie sich um seinetwillen nicht so großer Sorge hin“, suchte
11532 Ell sie zu trösten. „Er wird sicherlich glücklich heimkehren.
11533 Vielleicht früher als wir“, setzte er zögernd hinzu.
11535 Isma sah ihn an. Dann schlug sie die Hände vor das Gesicht und ließ
11536 sie endlich langsam herabsinken.
11538 „Wir können nicht – zurück –?“
11540 „Es ist unmöglich – in diesem Jahr.“
11542 „Und ich – ich glaubte – in acht Tagen – – o ich Törin! Was hab ich
11543 getan! O wäre ich nicht so eigensinnig gewesen.“
11545 „Es ist der Fall, vor dem Ill uns warnte.“
11547 Isma weinte still. Ell saß ratlos neben ihr.
11549 „Was nun?“ fragte sie endlich.
11551 „Es bleibt uns nichts übrig, als mit Ill und Ra nach dem Mars zu
11552 gehen. Im ersten Frühjahr kehren wir mit neuen Luftschiffen zurück.
11553 Bis dahin hilft uns nichts als Fassung.“
11555 „Nach dem Mars!“ flüsterte Isma wie geistesabwesend. Dann stand sie
11556 auf. Sie trat vor Ell. Ihren Schmerz bezwingend, reichte sie ihm
11557 beide Hände.
11559 „Vertrauen Sie mir!“ sagte er.
11561 Sie sahen sich in die Augen.
11563 „Ich werde tun, was Sie verlangen“, erwiderte Isma. „Ich habe das
11564 Geschick herausgefordert. Ich muß es tragen.“
11566 „Ob auf dem Mars oder auf der Erde – wir können dieselben
11567 bleiben.“
11569 \part{Zweites Buch}
11571 \section{27 - Auf dem Mars}
11573 Über dem Südpol des Mars, um den Halbmesser des Planeten von seiner
11574 Oberfläche entfernt, also in einer Höhe von 3.390 Kilometern,
11575 schwebt die ausgedehnte Außenstation für die Raumschiffahrt.
11577 Ungleich gewaltiger ist die Anlage als die am Nordpol der Erde,
11578 denn über siebzig Raumschiffe vermögen gleichzeitig hier Platz zu
11579 finden. Das abarische Feld, das die Außenstation in der Richtung
11580 der Achse mit dem Pol des Planeten verbindet, befördert stündlich
11581 einen geräumigen Flugwagen.
11583 Heute waren die aufsteigenden Wagen bis auf den letzten Platz
11584 besetzt. Nicht nur die Bevölkerung der nächsten Umgebung drängte
11585 sich zu den Flugwagen, selbst aus den entlegeneren Gegenden waren
11586 Neugierige auf den schnellen Bahnwagen herbeigeeilt, um der
11587 Rückkehr des Regierungsschiffes von der Erde beizuwohnen. Denn
11588 heute wurde der ›Glo‹ erwartet. Die Lichtdepesche hatte gemeldet,
11589 daß der Repräsentant Ill auf der Erde den Sohn seines verunglückten
11590 Bruders, des verschollenen Raumfahrers All, aufgefunden habe und
11591 zurückbringe. Man durfte auf merkwürdige Neuigkeiten von der Erde
11592 rechnen. Auch das Raumschiff ›Meteor‹, Kapitän Oß, welches bereits
11593 vor dem ›Glo‹ die Erde verlassen hatte, wurde erwartet. Es sollte
11594 den ersten Menschen von der Erde auf den Mars bringen. Man erzählte
11595 die wunderbarsten Geschichten von seiner furchtbaren Stärke. Zehn
11596 Nume seien notwendig, um ihn in Schranken zu halten.
11598 „Ist es denn wahr“, fragte eine besorgte Mutter, ihr Töchterchen
11599 ängstlich an sich ziehend, „daß die Menschen kleine Kinder
11600 fressen?“
11602 Ihre Nachbarin im Flugwagen antwortete: „Ich weiß es nicht im
11603 allgemeinen, aber der, den wir jetzt erwarten, frißt keine Kinder.
11604 Ich weiß es ganz genau, denn ich erwarte meine Schwester Se, die
11605 ihn kennt; wir haben mit dem ›Kometen‹, Kapitän Jo, Briefe von ihr
11606 bekommen, und sie schreibt, daß er ein ganz netter, beinahe
11607 zivilisierter Mann sei. Sie sehen, ich habe ja auch meinen kleinen
11608 Wast und sogar meine Ern mitgebracht. Haltet euch fest, Kinder, wir
11609 sind gleich da!“
11611 Die weiten Galerien des Ringes der Außenstation waren seit Stunden
11612 dicht mit Zuschauern besetzt, die sich vor den
11613 Projektionsfernrohren drängten und bald die Aussicht auf den Mars
11614 bewunderten, bald den gestirnten Himmel durchmusterten. Mit
11615 besonderer Vorliebe wurde die Erde aufgesucht, doch da sie fast in
11616 derselben Richtung wie die Sonne stand, konnte sie nicht gut
11617 beobachtet werden.
11619 Der ›Glo‹ war bereits nahe herangekommen, sein roter Glanz ließ ihn
11620 im Fernrohr nicht verkennen. Man konnte die Landung in zwei bis
11621 drei Stunden erwarten. Aber auch der ›Meteor‹ war schon
11622 signalisiert. In acht bis zehn Stunden mochte er eintreffen.
11624 Die Reise des ›Glo‹ war so beschleunigt worden, wie man es nie bei
11625 einem Raumschiff gewagt hatte. Die allgemeine Aufregung, die in
11626 allen Marsstaaten aufgrund der neuen Depeschen von der Erde
11627 entstanden war, machte wichtige politische Erwägungen und die
11628 Anwesenheit Ills im Zentralrat notwendig. Ill hatte außerdem das
11629 persönliche Interesse, Isma, der er sehr zugetan war, die
11630 Beschwerden der Reise möglichst abzukürzen. So war, durch die
11631 Stellung der Planeten begünstigt, das Außerordentliche gelungen;
11632 die Reise von der Erde zum Mars, also der Sonnenanziehung entgegen,
11633 war in acht Tagen zurückgelegt worden. Man hatte den ›Meteor‹,
11634 welcher sieben Tage früher von der Erde abgegangen war, überholt.
11635 Freilich durfte er sich nicht die Repulsitverschwendung gestatten
11636 wie das im Auftrag des Zentralrats fliegende Eilraumschiff.
11638 Mit rührender Sorgfalt hatte Ill, den Ratschlägen Ells folgend,
11639 Isma den Aufenthalt im Raumschiff behaglich zu machen gesucht. Die
11640 Raumkrankheit, eine Folge der zeitweiligen Aufhebung der
11641 Gravitation, pflegte selbst erprobten Raumschiffern nicht ganz
11642 fernzubleiben. Auch Isma hatte unter ihr zu leiden. Aber die
11643 Beschwerden, die ihr durch die geringe Schwere innerhalb des
11644 Raumschiffes drohten, waren ihr durch eine sinnreiche Konstruktion
11645 ihres Schlafraumes sehr erleichtert worden. Derselbe stellte zwar
11646 nicht viel mehr als einen durch geeignete Ventile ausreichend
11647 gelüfteten Kasten vor, aber es war darin künstlich Schwere und
11648 Luftdruck der Erde erzeugt. Und so konnte Isma nicht nur während
11649 des Schlafes ganz nach ihrer Gewohnheit ruhen, sondern auch im
11650 Laufe des Tages sich von Zeit zu Zeit zur Erholung dahin
11651 zurückziehen. Sie fühlte sich daher vollkommen wohl, als der ›Glo‹
11652 sich bereits dem Mars näherte.
11654 Wie oft auch ihre Gedanken sehnsüchtig nach der Erde zurückeilten
11655 und sich um das Schicksal ihres Mannes mit Bangen bewegten, so war
11656 doch die Fülle der neuen Eindrücke gewaltig genug, um sie aufs
11657 lebhafteste zu beschäftigen und zu zerstreuen. Die Notwendigkeit,
11658 nun ein halbes Erdenjahr auf dem Mars zuzubringen, ließ sie die
11659 Muße der Reise benutzen, mit Ells Hilfe in die Sprache der Martier
11660 einzudringen, während sich Ill gleichzeitig das Deutsche aneignete.
11661 Auch an weiblicher Gesellschaft während der Überfahrt fehlte es
11662 Isma nicht, da gegen zehn Frauen verschiedenen Lebensalters mit dem
11663 ›Glo‹ von der Erde zurückkehrten.
11665 Längst war die schmale Sichel der Erde als ein lichter Stern unter
11666 die übrigen zurückgesunken, und die Verkleinerung des Sonnenballs
11667 infolge der größeren Entfernung von ihm ließ sich, wenn man die
11668 Strahlung durch ein dunkles Glas abblendete, sichtlich bemerken.
11669 Immer mächtiger trat das Ziel der Reise, der Mars, als hell
11670 leuchtende Scheibe hervor. Jetzt hatte man sich über die Marsbahn
11671 erhoben, um, in unmittelbarer Nähe des Planeten, sich in der
11672 Richtung der Achse auf seinen Südpol hinabsinken zu lassen. Nur
11673 noch etwa 13.000 Kilometer trennten das Raumschiff von der
11674 Außenstation. Aber um diese Strecke zu durchfliegen, die man bei
11675 der vollen Fahrtgeschwindigkeit fern vom Planeten in zwei bis drei
11676 Minuten zurücklegte, bedurfte man jetzt ebenso vieler Stunden. Es
11677 galt, die Geschwindigkeit zuletzt durch Repulsitschüsse so zu
11678 vermindern, daß man gerade auf dem Ring der Außenstation zur Ruhe
11679 kam. Die Schwierigkeit der Landung erforderte die volle
11680 Aufmerksamkeit des Kapitäns Fei.
11682 Als bevorzugte Gäste des Zentralrats konnten sich Isma und Ell bei
11683 Ill auf einer kleinen reservierten Tribüne dicht neben der
11684 Kommandobrücke aufhalten. Isma mit bangem Herzen, Ell in freudiger
11685 Aufregung, die nur durch die Teilnahme am Geschick der Freundin
11686 gedämpft war, hefteten ihre Blicke erwartungsvoll auf die neue
11687 Welt, die sich zu ihren Füßen auftat.
11689 Es war Sommer am Südpol des Mars, und so zeigten sich, hier von der
11690 Achse aus gesehen, etwa zwei Drittel von der Scheibe des Planeten
11691 beleuchtet, während ein Drittel in tiefem Dunkel lag. Auf dem
11692 erhellten Teil vermochte man jetzt die Südhalbkugel bis gegen den
11693 zehnten Grad südlicher Marsbreite zu überblicken. Dieser Horizont
11694 verengte sich mehr und mehr beim Herabsinken des Raumschiffes,
11695 während infolge der größeren Annäherung das Bild des Planeten an
11696 Ausdehnung zunahm und die Einzelheiten immer deutlicher
11697 hervortraten. Infolge der dünnen, durchsichtigen, wolkenlosen
11698 Atmosphäre lag die Gestaltung der Oberfläche bis an den Rand der
11699 sichtbaren Fläche klar vor Augen. In der Nähe des Poles und nach
11700 der Schattengrenze hin dehnten sich weite Gebiete von grauer, ins
11701 Blaugrüne spielender Färbung, das Mare australe der Astronomen der
11702 Erde. Der Pol selbst war eisfrei, aber westlich von ihm lagen
11703 zwischen den dunklen Landesteilen noch langgestreckte Schneeflächen
11704 bis zum 80. Breitengrad hinab. Zwei ausgedehnte große Flecken, die
11705 weiter nördlich zwischen dem 60. und 70. Breitengrad hellrot im
11706 Sonnenschein glänzten, bezeichnete Ill als die Wüsten Gol und Sek;
11707 sie werden auf der Erde die beiden Inseln Thyle genannt. Im übrigen
11708 Teil der sichtbaren Scheibe herrschte diese hellrote Farbe vor,
11709 doch an mehreren Stellen von breiten und ausgedehnten grauen
11710 Gebieten unterbrochen. Alle diese dunkeln Stellen waren
11711 untereinander durch dunkle Streifen verbunden, die sich geradlinig
11712 durch die hellen Gebiete hindurchzogen. Die hellen Teile sind teils
11713 sandige, teils felsige Hochplateaus, trockene und fast
11714 vegetationslose Gegenden, in denen sich nur spärliche Ansiedlungen
11715 zur Gewinnung der Mineralschätze des Bodens befinden. Dicht
11716 bevölkert dagegen sind die dunklen Teile, deren Erdreich von
11717 Feuchtigkeit durchdrungen und mit einem üppigen Pflanzenwuchs
11718 bedeckt ist.
11720 Ein seltsames Farbenspiel entwickelte sich an der Schattengrenze,
11721 an welcher die Sonne für die Marsbewohner im Aufgehen und die Nacht
11722 zu entschwinden im Begriff war. Während der Nacht bedeckte sich die
11723 Oberfläche des Planeten infolge der starken Abkühlung weithin mit
11724 einer Nebelschicht. Wo diese dichter war, dauerte es einige Zeit,
11725 ehe sie von den Strahlen der Sonne aufgesogen wurde, und hier
11726 erschienen glänzende Lichter durch den Reflex der Strahlen auf den
11727 Nebeln. Einzelne der Hochplateaus erhoben sich so weit, daß sie mit
11728 Schnee oder Reif bedeckt waren, der aber bald in den Strahlen der
11729 Sonne verschwand.
11731 Ill wies nach einer Stelle nahe am nördlichen Rand des
11732 Vegetationsgebiets, schon an der Grenze des Horizonts, wo der graue
11733 Grund eine Mannigfaltigkeit von teils helleren, teils dunkleren
11734 Konturen aufwies und wohin durch die benachbarten roten Wüsten eine
11735 besonders große Anzahl dunkler Streifen zusammenliefen.
11737 „Dort liegt Kla“, sagte er, „der Sitz des Zentralrats, und dort
11738 werden wir zunächst wohnen. Nur wenn der Sommer noch weiter
11739 fortgeschritten ist, rücken wir weiter nach dem Südpol vor.“
11741 „Es wird mir leicht werden“, bemerkte Isma mit einem wehmütigen
11742 Lächeln, „denn ich werde nicht viel Gepäck haben.“
11744 „Daran wird es Ihnen nicht fehlen, ich werde es mir nicht nehmen
11745 lassen, Ihnen eine vollständig eingerichtete Wohnung zur Verfügung
11746 zu stellen. Sie werden sich dann wohl bequemen, unsere Tracht
11747 anzunehmen, denn es wird Ihnen nicht angenehm sein, aufzufallen.
11748 Übrigens müssen Sie wissen, daß ein Umzug von einem Ort zum andern
11749 kein Einpacken und Umräumen erfordert. Wir ziehen mit unserm ganzen
11750 Haus. Sie bestellen nur beim nächsten Transportbüro, wann und wohin
11751 Sie befördert sein wollen, legen sich ruhig schlafen und sind am
11752 andern Morgen an Ort und Stelle.“
11754 „Es wird nämlich meistens in der Nacht gezogen“, erklärte Ell
11755 weiter. „Die Häuser stehen auf Rollschlitten und werden auf unsern
11756 Gleitbahnen befördert. Größere Lasten lassen sich vorteilhafter in
11757 der Nacht fortbringen, am Tag würden wir bei der herrschenden
11758 Trockenheit stärkeren Wasserverbrauch haben.“
11760 „Hat denn jede Familie ihr eigenes Haus?“
11762 „In den wohlhabenden Staaten gewiß, und wo man es sich gestatten
11763 kann, sogar jede einzelne Person. Die Häuser sind nicht sehr groß,
11764 es werden aber diejenigen einer Familie zu einer zusammenhängenden
11765 Gruppe verbunden. Sie werden es bald sehen, denn wir nähern uns dem
11766 Ziel. Blicken Sie gerade unter uns. Der glänzende Punkt – es ist
11767 schon eine kleine Scheibe – ist der Ring der Außenstation. Von dort
11768 bringt uns der Fallwagen nach Polstadt, wo wir zunächst
11769 übernachten.“
11771 „Das Letztere“, bemerkte Ill, „ist noch nicht gewiß. Vielleicht
11772 müssen wir unsre Reise sogleich fortsetzen. Doch gehen unsre Wagen
11773 so ruhig und sind so bequem eingerichtet, daß Sie keinerlei
11774 Anstrengung zu fürchten haben.“
11776 An der unteren Wölbung des Raumschiffs flammte das Zeichen der
11777 Marsstaaten auf. Der ›Glo‹ hatte sich bis dicht über die Station
11778 gesenkt, deren Raumschiffe wie eine Stadt aus riesigen Kuppeldomen
11779 im Sonnenschein strahlten. Alle diese Schiffe ließen jetzt ihre
11780 Symbole und Flaggenzeichen an ihren Wölbungen zur Begrüßung
11781 aufleuchten. Fast unmerklich langsam glitt das Schiff auf seinen
11782 Platz nieder. Kein Laut unterbrach die Stille, durch die Leere des
11783 Weltraums pflanzte sich kein Schall fort. Aber hinter den
11784 durchsichtigen Wänden der Galerien sah man eine gedrängte Menge,
11785 die dem nahenden Schiff mit Schleiern ihr Willkommen zuwinkte.
11787 Der aufnehmende Zylinder senkte sich in die Empfangshalle, der
11788 ›Glo‹ ruhte an seinem Ziel; der Stationsbeamte betrat durch die
11789 Eingangsluke das Schiff. Ill mit seinen Gästen zog sich zunächst in
11790 das Innere des Schiffes zurück. Nach Erfüllung der erforderlichen
11791 Förmlichkeiten wurde das Verlassen des Schiffes gestattet. Zunächst
11792 strömten die von der Erde abgelösten Martier heraus und wurden von
11793 ihren Verwandten und Freunden jubelnd bewillkommnet. Erst nachdem
11794 dieses rege Gewühl sich einigermaßen gelegt hatte, nahte sich eine
11795 Deputation von Mitgliedern des Zentralrats und andern offiziellen
11796 Persönlichkeiten und betrat das Innere des Raumschiffs. Hier
11797 erfolgte die Begrüßung und formelle Vorstellung von Ell und Isma,
11798 indem Ill in Kürze die notwendigsten Erklärungen gab. Ein erster
11799 telephotischer Bericht war bereits von der Erde aus vorangegangen.
11801 Obgleich dieser Empfang im Innern des Schiffes ziemlich lange
11802 währte, hatten die Zuschauer es sich doch nicht nehmen lassen, in
11803 der Empfangshalle zu warten. Absperrungen gab es nicht. Es verstand
11804 sich von selbst, daß die Martier den Ausgang des Schiffes und den
11805 Weg nach der Abfahrtshalle des Fallwagens im abarischen Feld
11806 freiließen.
11808 Endlich erschien die Empfangsdeputation wieder und schritt den Weg
11809 nach dem Fallwagen voran. Hinter ihr kam Ill, der Isma führte,
11810 während Ell an seiner linken Seite ging.
11812 Isma hatte den Schleier dicht vor ihr Gesicht gezogen, sie wagte
11813 nicht, sich umzuschauen. Ill und Ell dankten nach martischer Sitte
11814 für die Willkommrufe, die ihnen entgegenschallten. Erst als Isma
11815 bereits auf der Treppe des Fallwagens stand, schob sie ihren
11816 Schleier zurück und warf einen Blick auf das bunte Bild der
11817 bewegten Menge. Ein enthusiastischer junger Mann, der sich bis
11818 dicht an die Treppe gedrängt hatte, warf ihr einen Gegenstand zu,
11819 den sie nicht kannte; doch ahnte sie wohl, daß dies eine Huldigung
11820 sein sollte. Es war allerdings nicht, wie sie vermutete, ein
11821 Blumenstrauß, sondern ein buntes Spielzeug, wie man sie kleinen
11822 Kindern schenkte. Hier auf der Außenstation, um den Marsdurchmesser
11823 vom Mittelpunkt des Planeten entfernt, herrschte nur der vierte
11824 Teil der Marsschwere, also nur ein Zwölftel der Erdschwere. Der
11825 Gegenstand, etwas höher als Ismas Kopf geworfen, schwebte daher so
11826 langsam herab, daß sie ihn bequem mit der Hand ergreifen konnte.
11827 Sie tat es und verneigte sich in ihrer natürlichen Anmut gegen die
11828 Anwesenden, für welche die Fremdartigkeit ihres Grußes einen
11829 besondern Reiz hatte.
11831 „Sila Ba!“ – „Es lebe die Erde!“ rief der Jüngling, und die
11832 Versammlung stimmte in den Ruf ein. „Sila Ill, Sila Ell, Sila Ba!“
11834 In der Tür des Wagens wandte sich Isma nochmals zurück. Sie faßte
11835 Mut und rief: „Sila Nu!“ Sie erschrak über ihre eigene Stimme. Denn
11836 selbst die Hochrufe der Martier klangen tief und halblaut, sie aber
11837 hatte ihre helle Menschenstimme nicht gedämpft, und so hob sich ihr
11838 Gruß deutlich in dem allgemeinen Geräusch ab. Die Martier waren
11839 entzückt.
11843 Der Verkehr auf weite Strecken und mit großer Geschwindigkeit wurde
11844 auf dem Mars durch zwei Arten von Bahnen vermittelt, Gleitbahnen
11845 und Radbahnen. Die Kraftquelle war die Sonnenstrahlung selbst; sie
11846 wurde auf den glühenden, trockenen Hochplateaus in ausgedehnten
11847 Strahlungsflächen gesammelt und den Motoren in Form von
11848 Elektrizität zugeleitet. Bei den Gleitbahnen befand sich zwischen
11849 der Schienenbahn und der Last, die auf Schlittenkufen mit
11850 eingelassenen Kugeln ruhte, eine dünne Wasserschicht, wodurch die
11851 Reibung so vermindert wurde, daß man riesige Massen mit großer
11852 Geschwindigkeit transportieren konnte. Noch viel rascher indessen
11853 fand der Personenverkehr auf den Radbahnen statt. Die zwischen drei
11854 Schienen laufenden Einzelwagen legten in der Stunde 400 Kilometer
11855 zurück. Der Verkehr durch Luftschiffe hatte sich bis jetzt nicht
11856 als vorteilhaft bewährt, doch beabsichtigte man nunmehr nach den
11857 neuen Entdeckungen, zu denen die Fahrten nach der Erde geführt
11858 hatten, den Bau neuer Luftschiffe mit Repulsitmotoren in Angriff zu
11859 nehmen. Ill hatte beim Empfang erfahren, daß er die Reise sogleich
11860 fortsetzen solle. Er bestieg daher mit seinen Gästen den von der
11861 Regierung gestellten Zug, um ohne Aufenthalt nach Kla zu gelangen.
11862 Trotzdem war hierzu eine zwölfstündige Fahrt erforderlich.
11864 Jene Bahnen wurden aber nur dann benutzt, wenn es sich darum
11865 handelte, große Strecken in kürzester Zeit zurückzulegen. Das
11866 Hauptverkehrsmittel war stets der Radschlitten, ein leichter, teils
11867 auf Kufen, teils auf Rädern ruhender Wagen für ein oder zwei
11868 Personen, den ein unter dem Sitz befindlicher kleiner Motor
11869 bewegte. Ferner kamen dazu die Stufenbahnen, die in regelmäßigen
11870 Abständen von etwa zehn Kilometern alle bewohnten Gegenden mit
11871 ihrem dichten Netz überspannten. Diese Stufenbahn war das Ideal
11872 einer Straße, in ihr war jene Phantasie des Märchendichters
11873 realisiert, daß statt des Reisenden die Wege selbst sich bewegten.
11874 Die Breite der eigentlichen Fahrstraße betrug etwa 30 Meter, und
11875 ebenso breit waren die parallellaufenden Zugangsstraßen. Diese
11876 bestanden aus zwanzig eng nebeneinander befindlichen Streifen von
11877 anderthalb Meter Breite, von denen der äußere sich mit einer
11878 Geschwindigkeit von drei Metern in der Sekunde fortschob. Jeder
11879 folgende, nach innen zu, hatte eine um drei Meter größere
11880 Geschwindigkeit, so daß die Bahn in der Mitte, die eigentliche
11881 Fahrstraße, sich mit einer Geschwindigkeit von 60 Metern in der
11882 Sekunde bewegte. Jeder Punkt derselben legte also in der Stunde
11883 über 200 Kilometer zurück. Die Streifen selbst erhielten ihre
11884 Bewegung durch Walzen, über welche sie in der Art von
11885 Transmissionsriemen gezogen waren. Man konnte die Stufenbahn sowohl
11886 zu Fuß als auf dem eigenen Radschlitten benutzen. An jeder Stelle
11887 konnte sie betreten und verlassen werden. Die Geschwindigkeit des
11888 ersten Streifens von drei Metern konnte man auf dem Mars, wo wegen
11889 der geringeren Schwere das Springen eine jedermann geläufige Sache
11890 war, leicht erreichen, noch bequemer mit Hilfe des Radschlittens.
11891 Man sprang oder fuhr also einfach auf diesen Streifen, und da jeder
11892 folgende Streifen zum vorhergehenden dieselbe relative
11893 Geschwindigkeit besaß, so gewann man, von Streifen zu Streifen
11894 schräg vorwärts gehend oder fahrend, die Geschwindigkeit der
11895 Hauptstraße. Diese benutzte man, ebenfalls fahrend oder gehend,
11896 soweit man wollte, um alsdann in derselben Weise sie wieder zu
11897 verlassen. Die linke Seite war zum Aufstieg, die rechte zum Abstieg
11898 bestimmt. Über die Stufenbahn führten alle hundert Meter leichte
11899 Brücken.
11901 Über den Bahnen erhoben sich, die ganze Breite in kühnen Bogen
11902 überspannend, die Riesengebäude des gewerblichen und
11903 Geschäftsverkehrs. Diese stiegen bis zur Höhe von hundert Meter an.
11904 Das leichte, feste Baumaterial gestattete bei der geringen
11905 Marsschwere diese gewaltigen Wölbungen und Säulenmassen. Gleich
11906 Palästen und Domen, in zierlichen Formen und lichten Farben,
11907 stiegen die Gebäude wie spielend in die klare Luft, überall auf
11908 ihren Dächern die Sonnenstrahlen sammelnd, um ihre Kraft zu
11909 verwerten. So zogen diese Hallen ohne Unterbrechung durch das Land,
11910 es in große Abschnitte von durchschnittlich hundert
11911 Quadratkilometer Fläche zerlegend. Eigentliche Städte oder Dörfer
11912 gab es hier nicht, die Orte gingen ineinander über, und nur als
11913 Verwaltungsbezirke schieden sich die Gebäude in zusammengehörige
11914 Gruppen. Diese Bauten überbrückten auch die Kanäle und die Bahnen,
11915 die sich meist in derselben Richtung mit ihnen hinzogen.
11917 Entfernte man sich aber von diesen Industriestraßen nur um einige
11918 hundert Schritte, so befand man sich in einer vollständig anderen
11919 Gegend. Gewaltige Riesenbäume, deren Gipfel zum Teil sogar die
11920 hundert Meter hohen Gebäude noch überragten, verdeckten mit ihren
11921 Zweigen die Nähe der Bauwerke. Es waren teils den Platanen, teils
11922 den Fichten gleichende Pflanzen, mit denen sich kein irdischer
11923 Baum, selbst nicht die berühmten Riesen des Yosemite-Tales,
11924 vergleichen konnte. Erst in einer Höhe von etwa vierzig Metern
11925 begann der Astansatz, und von hier aus bildete das Laubdach eine
11926 natürliche Wölbung, auf den geradlinig aufsteigenden Pfeilern der
11927 Stämme ruhend. Kein direkter Sonnenstrahl vermochte den Boden zu
11928 treffen, aber ein mildes, bläulich-grünes Licht schimmerte von den
11929 Blättern hernieder und verteilte sich gleichmäßig im Raum. Diese
11930 lebendigen Kuppeln ersetzten den Martiern den Schutz einer
11931 dichteren Atmosphäre, sie milderten den Gegensatz der Einstrahlung
11932 am Tag und der Ausstrahlung in der Nacht und schützten den Boden
11933 vor Verdunstung. Der gesamte Raum der von den Industriestraßen
11934 begrenzten Bezirke war eine solche entzückende Waldlandschaft, die
11935 übrigens nach der Mitte der Bezirke zu auch zuweilen von Lichtungen
11936 unterbrochen wurde und eine reiche Abwechslung des Pflanzenwuchses
11937 darbot.
11939 Auf beiden Seiten der Industriestraßen, in einem Streifen von etwa
11940 tausend Metern Breite, erstreckten sich die Privatwohnungen der
11941 Martier. Unter dem Riesendach der Bäume dehnte sich ein reizendes
11942 Gewirr von Garten- und Parkanlagen aus, Blumenbeete und kleine
11943 Teiche wechselten mit Gebüsch und Baumgruppen, deren Höhe das auf
11944 der Erde gewohnte Maß nicht überstieg. Mitten in diesen Gärten, die
11945 bald aufs anmutigste gepflegt, bald als einfache Rasenplätze sich
11946 darstellten, standen die Häuser der Martier, kleine einstöckige
11947 Gebäude, manchmal zu Gruppen zusammengeschlossen, im allgemeinen
11948 aber villenartig durchs Gelände zerstreut. Sie reihten sich, vom
11949 Blaugrün der Sträucher und bunten Blumenbosketts umgeben,
11950 unregelmäßig zu beiden Seiten der Wege, auf deren festem
11951 Moosteppich sich, für das Auge wenig bemerkbar, die Geleise der
11952 Gleitbahn hinzogen. Sämtliche Martier in den kulturell entwickelten
11953 Teilen des Planeten hielten sich in solchen ländlichen Wohnsitzen
11954 auf, sofern sie nicht gerade geschäftlich oder dienstlich in den
11955 Industrieräumen zu tun hatten. Es kamen hier auf einen
11956 Quadratkilometer ungefähr tausend Einwohner, so daß ein solches
11957 Straßenviertel von zehn Kilometern Länge und Breite in dem
11958 Streifen, der es umfaßte, gegen vierzigtausend Einwohner zählte.
11959 Hatte man diese Zone von Wohnstätten durchschritten und drang man
11960 auf einer der schmalen, sauber angelegten Straßen weiter in das
11961 Innere des Bezirks vor, so nahm die Landschaft wieder einen neuen
11962 Charakter an. Die Gärten hörten auf, an ihre Stelle trat die
11963 Wildnis des Waldes. Tiefe Stille herrschte ringsum, nur
11964 unterbrochen durch das leichte Summen kleiner Vogelarten oder das
11965 Zwitschern der singenden Blüten, die sich auf ihren schwanken
11966 Stengeln wiegten. Zahlreiche Wasseradern verzweigten sich unter den
11967 breiten Blättern einer Sumpfpflanze und sammelten sich zu einem
11968 stillen See, dessen dunkle Fläche seine Ufer widerspiegelte. Und
11969 alles dies war überragt und geschützt von dem sanft leuchtenden
11970 Blätterdach der Riesenbäume, das sich wie ein grünes Himmelszelt
11971 über die niedere Waldlandschaft hindehnte. Man war entrückt in die
11972 Einsamkeit ungestörter Natur, und nichts verriet, daß man auf dem
11973 eilenden Radschlitten in wenigen Minuten auf die Weltstraße
11974 gelangen konnte, wo Millionen geschäftiger Bewohner, die Kräfte der
11975 Sonne und des Planeten ausnutzend, arbeiteten. Es war ein Gesetz,
11976 daß in jedem Bezirk drei Fünftel des Flächenraums im Innern als
11977 Naturpark von jeder Ausbeutung und Bewohnung geschützt blieb, was
11978 jedoch eine geregelte Forstkultur darin nicht ausschloß. Je nach
11979 der areographischen Breite wechselte natürlich die Art der
11980 vorherrschenden Pflanzen. Ihr Wuchs wurde üppiger in der Nähe des
11981 Äquators, spärlicher nach den Polen zu. Doch gab es in den
11982 Niederungen nirgends eine eigentliche Waldgrenze, da nach den Polen
11983 hin die Feuchtigkeit das Klima milderte.
11985 Einen starken Gegensatz zu dem reichen Kulturleben und der
11986 Lebensfülle der Niederungen boten die felsigen Hochplateaus, auf
11987 denen es an einigen Stellen sogar beträchtliche Gebirge gab. Im
11988 allgemeinen erhoben sie sich jedoch nicht bedeutend über die
11989 Tiefebenen. Auch durch jene Wüsten zogen sich, uralten Kulturwegen
11990 folgend, die Industriestraßen hin, nur daß sie hier nicht ein
11991 dichtes Netz bildeten, sondern parallel verliefen und dadurch
11992 Streifen von dreißig bis dreihundert Kilometern Breite darstellten,
11993 die mit Bewohnern besetzt waren. Denn jeder solcher Streifen war
11994 von einem Kanal begleitet, der das Wasser von den Polen über den
11995 ganzen Planeten verbreitete. Nicht immer reichte die Wassermenge
11996 aus, alle diese Kanäle zu füllen, so daß die Breite des
11997 Vegetationsstreifens je nach der Stärke der Bewässerung wechselte.
11998 Es schien dann, von der Erde aus gesehen, als ob die dunklen
11999 Streifen, welche die Wüstengebiete auf die Länge von Tausenden von
12000 Kilometern durchsetzen, sich seitlich verschoben, verengten,
12001 verbreiterten oder auch verdoppelten. Sobald der Wasserzufluß hier
12002 aufhörte, verloren die schützenden Bäume ihr Laub und der Boden
12003 verdorrte, wenige Tage aber genügten auch wieder, dem Pflanzenwuchs
12004 seine Frische zurückzugeben.
12006 Die Bevölkerung dieser Weltstraßen stand unter ungünstigeren
12007 Lebensbedingungen als die der immer feuchten Niederungen, aber sie
12008 war doch ungleich besser gestellt als die Bewohner der Wüsten. Hier
12009 hausten in der Kultur zurückgebliebene Gruppen der Bevölkerung des
12010 Planeten, die zum Teil sogar noch Ackerbau trieben, wo geringe
12011 Einsenkungen infolge der nächtlichen Niederschläge den Anbau von
12012 Früchten gestatteten, zum größeren Teil aber im Bergbau und in den
12013 Strahlungs-Sammelstätten tätig waren. Denn jene Wüstengegenden,
12014 einst leer und unbewohnt, waren in der gegenwärtigen Kulturperiode
12015 des Planeten das Hauptreservoir und die Hauptquelle für die Energie
12016 geworden. Aus den Kalkfelsen, dem ausgetrockneten Ton- und
12017 Lehmboden und den darunter befindlichen, von Erzgängen reich
12018 durchsetzten Schichten zog die Bevölkerung des ganzen Planeten ihre
12019 Nahrung und ihre Macht. Aber die klimatischen Verhältnisse
12020 gestatteten nicht, die Verarbeitung an Ort und Stelle vorzunehmen.
12021 Die Gesteinsmassen wurden an den Rändern der Verkehrsstreifen
12022 gebrochen, wodurch diese sich allmählich verbreiterten. Die
12023 Sonnenstrahlung wurde auf der ganzen Hochfläche gesammelt und in
12024 der Form von Elektrizität über den Planeten verteilt. Die Bergleute
12025 an den Rändern der Kulturstreifen gelangten dabei zu Wohlstand,
12026 vermischten sich stetig mit der Bevölkerung der Niederungen und
12027 rekrutierten sich immer aufs neue aus dem Stand der Beds, den
12028 Wüstenbewohnern, die für die Besorgung der Sammelwerke
12029 unentbehrlich waren. Diese abgehärteten Wüstensöhne durchzogen im
12030 Sonnenbrand die weiten Hochflächen, um im Dienst der großen
12031 Strahlensammelkompagnien die Stromleitungen bei Sonnenaufgang in
12032 Tätigkeit zu setzen und bei Sonnenuntergang wieder abzustellen. Sie
12033 erhielten einen reichlichen Lohn, der ihnen wohl gestattet hätte,
12034 nach einer Reihe von Jahren ihren beschwerlichen Beruf aufzugeben,
12035 aber sie liebten ihre Hochflächen, wie ihre Väter sie geliebt
12036 hatten, wo in der Nacht der Himmel mit Millionen Sternen leuchtete,
12037 wo wallende Nebel der Morgensonne vorauszogen und dann das
12038 Glutgestirn den Boden unter den Füßen brennen ließ. Sie liebten die
12039 Wüste und schüttelten die Köpfe, sobald einer der Ihren in die
12040 Schächte am Wüstenrand hinabstieg. Sie betrachteten die Bewohner
12041 der Täler nur als die Lieferanten ihrer Bedürfnisse und fühlten
12042 sich als die eigentlichen Spender der Kraft des Planeten; aber sie
12043 wußten auch, daß sie trotz ihrer Sonne und Sterne verhungern
12044 müßten, wenn nicht die klugen Männer der Tiefe ihnen Steine in Brot
12045 verwandelten.
12047 Steine in Brot! Eiweißstoffe und Kohlenhydrate aus Fels und Boden,
12048 aus Luft und Wasser ohne Vermittlung der Pflanzenzelle! – Das war
12049 die Kunst und Wissenschaft gewesen, wodurch die Martier sich von
12050 dem niedrigen Kulturstandpunkt des Ackerbaues emanzipiert und sich
12051 zu unmittelbaren Söhnen der Sonne gemacht hatten. Die Pflanze
12052 diente dem ästhetischen Genuß und dem Schutz der Feuchtigkeit im
12053 Erdreich, aber man war nicht auf ihre Erträge angewiesen. Zahllose
12054 Kräfte wurden frei für geistige Arbeit und ethische Kultur, das
12055 stolze Bewußtsein der Numenheit hob die Martier über die Natur und
12056 machte sie zu Herren des Sonnensystems.
12058 \section{28 - Sehenswürdigkeiten des Mars}
12060 In einem der großen Bezirke, welche den Sitz der Zentralregierung
12061 des Mars umschlossen und den Gesamtnamen Kla führten, lag die
12062 Wohnung Ills nahe an der Grenze der Waldwildnis. Sie bestand aus
12063 mehreren miteinander verbundenen Einzelhäuschen, so daß das Ganze
12064 eine geräumige Villa darstellte. Die Anlagen, die sich um die
12065 Gebäude erstreckten, zeugten von sorgfältiger Pflege und feinem
12066 Geschmack. Am Eingang des Gartens saßen rechts und links in
12067 anmutiger Haltung zwei Frauengestalten, die sich im Scherz eine
12068 Blumengirlande zu entreißen suchten; sie zogen quer über den Weg an
12069 den entgegengesetzten Enden derselben und versperrten dadurch den
12070 Zutritt.
12072 Auf der schmalen, glatten Straße, die zwischen den Nachbargärten
12073 von dem Hauptweg abzweigend auf diesen Eingang hinführte, näherte
12074 sich rasch ein leichter, zweisitziger Radschlitten. Ein jüngerer
12075 Mann in der anliegenden Sommerkleidung der Martier lenkte
12076 denselben; der Sitz neben ihm war leer. Wer Ell mit dem grauen Haar
12077 und der Falte zwischen den Augen nachdenklich von seiner Sternwarte
12078 in Friedau hatte herabsteigen sehen, hätte ihn in diesem Martier
12079 nicht wiedererkannt. Ell fühlte sich in der Tat wie verjüngt,
12080 gleich als ob seine Erdenjahre ihm nach der Rechnung des Mars, zwei
12081 auf ein Marsjahr, angerechnet werden sollten. Ein unaussprechliches
12082 Glücksgefühl durchzog seine Seele; das Bewußtsein, dem Planeten
12083 zurückgegeben zu sein, den er für seine Heimat hielt, mitzuleben
12084 unter den Numen und ihren Götterwandel zu teilen, erhob ihn
12085 zunächst über alle die Sorgen, die bei dem Gedanken an das Geschick
12086 der Erde und seiner irdischen Freunde sich ihm aufdrängten. Es war
12087 ihm, als müßten alle diese Schwierigkeiten unter den Händen der
12088 Nume von selbst sich lösen, und er genoß in vollen Zügen die
12089 Seligkeit, all das Große und Herrliche zu sehen, von dem sein Vater
12090 mit dem Schmerz des Verbannten in unstillbarer Sehnsucht geredet
12091 hatte.
12093 Der Radschlitten glitt auf den Eingang des Gartens zu, und Ell ließ
12094 den Strahlenkegel einer kleinen, an der Lenkstange des
12095 Radschlittens befestigten Lampe einen Moment auf die Augen der
12096 rechts sitzenden Frau fallen. Sogleich richteten beide Figuren sich
12097 in die Höhe und erhoben wie zum Gruß die Arme, indem sich dabei die
12098 Girlande wie ein Triumphbogen emporschwang und den Eingang freigab.
12099 Der Schlitten glitt hindurch und hielt gleich darauf vor der
12100 Veranda des Hauses.
12102 Die beiden anmutigen Pförtnerinnen waren Automaten. Die Bestrahlung
12103 der Augen der rechtssitzenden löste eine chemische Reaktion aus und
12104 öffnete dadurch die Pforte. Zugleich wurde damit der Eintritt eines
12105 Ankommenden im Innern des Hauses signalisiert.
12107 Ell sprang aus dem Schlitten und eilte die Stufen der Veranda
12108 empor.
12110 Eine schlanke Frauengestalt trat ihm aus dem Haus entgegen.
12112 Ell blieb erstaunt stehen. Er erkannte nicht sogleich, wen er vor
12113 sich hatte. Er hatte Isma noch nicht im Kostüm der Martierinnen
12114 gesehen.
12116 „Isma!“ rief er jetzt, mit bewundernden Blicken sie anstarrend. Er
12117 wollte nach Martiersitte die Hände auf ihre Schultern legen, aber
12118 sie ergriff sie nach alter Gewohnheit mit den ihrigen und drückte
12119 sie freundschaftlich.
12121 „Ich kann nicht dafür“, sagte sie, verlegen errötend, „Frau Ma hat
12122 es nicht anders gewollt.“
12124 „Sie konnte es nicht besser treffen“, sagte Ell heiter, „ich
12125 wünschte, ich könnte so mit Ihnen durch die Straßen von Friedau
12126 gehen. Passen Sie auf, das kommt auch noch.“
12128 Isma schüttelte leise den Kopf. „Lassen Sie uns jetzt nicht an die
12129 Erde denken. Wenn ich allein bin, kommen meine Gedanken nicht fort
12130 davon, immer sehe ich den Zettel auf dem Tisch meines Zimmers, als
12131 ich die Lampe abdrehte, und dann die Gletscher zwischen den Felsen,
12132 wo – –. Nein, Ell, bis wir nicht handeln können und nichts Neues
12133 erfahren, lassen Sie mich in Ihrer Gegenwart versuchen, mit Ihnen
12134 auf dem Mars zu leben. Versuchen – wie ich dies Kleid versuche.“
12136 „Verzeihen Sie mir“, sagte Ell, „ich bin so überrascht von allem
12137 Neuen, daß ich nicht sogleich den richtigen Ton traf. Aber ich
12138 werde es. Und jetzt wollen Sie mir die Freude machen, mich zu
12139 begleiten?“
12141 Sie blickte wieder lächelnd an sich herab und zupfte an den dichten
12142 Falten des Schleiergewandes.
12144 „Ich will nur fragen, was noch zur Straßentoilette gehört“, sagte
12145 sie. „Nehmen Sie Platz.“ Sie schlüpfte in das Zimmer.
12147 Nach wenigen Minuten kehrte sie zurück. Sie trug jetzt den leichten
12148 Kopfputz der Martierinnen, wie er im Sommer üblich war, der nur den
12149 Vorderkopf bedeckte. Ein Kranz sehr feiner und zarter Federn
12150 schützte die Stirn und die Augen, indem er als ein
12151 halbkreisförmiger Schirm vortrat. Die Farbe war genau das tiefe
12152 Blau ihrer Augen, und von derselben Farbe war das den schlanken
12153 Formen sich anschließende weiche Panzerkleid, das, stärker als
12154 Seide, metallisch, wie die Flügeldecken mancher Käfer schimmerte.
12155 Der Schleier, auf beiden Schultern befestigt, wurde von einem
12156 Gürtel zusammengehalten, dessen Grund unsichtbar war, er erschien
12157 nur wie ein Kranz ineinander verschlungener Zweige. Vom Gürtel ab
12158 floß der Schleier, dessen Farbe genau dem Lichtbraun des Haares
12159 angepaßt war, in dichten Falten um die ganze Gestalt bis zu den
12160 Knöcheln, wurde aber von scheinbar vom Gürtel herabhängenden
12161 Blütengewinden durchsetzt. Dunkelblaue Schuhe vollendeten den
12162 Anzug. Es war, als hätte sich der schimmernde Lichtglanz der Augen
12163 und das zarte Gewölk des Haares um den ganzen Körper verbreitet.
12165 Hinter Isma erschien eine ältere, würdige Dame, Frau Ma, die Gattin
12166 Ills.
12168 „Guten Morgen“, rief Ell, ihr freudig entgegentretend. „Darf ich
12169 dir deinen Gast entführen?“
12171 Ma warf mit jugendlicher Frische den Kopf zurück und blinzelte Ell
12172 mit ihren gutmütigen Augen vergnügt an, ihn von oben bis unten
12173 musternd.
12175 „Ganz wie eingeboren!“ sagte sie lachend. „Eigentlich hatte ich
12176 mich auf einen Menschenneffen gefreut, der in Felle gekleidet
12177 umherläuft. So macht man’s wohl? Nicht?“
12179 Dabei streckte sie Ell ihre linke Hand entgegen.
12181 „Die rechte, Tante!“ sagte Ell.
12183 „Na also dann wohl die?“
12185 Ell ergriff die Hand und zog sie an seine Lippen.
12187 „So also wird das gemacht?“
12189 „Herren gegen Damen, wenn sie besonders aufmerksam sein wollen.
12190 Einer Tante darf man sogar um den Hals fallen.“
12192 „Na, ein andermal. Aber nun sag einmal, Neffe, wie gefällt dir das
12193 Kind?“ Dabei faßte sie Isma am Arm und drehte sie ohne weiteres um
12194 sich selbst. „Mir gefällt bloß nicht“, fuhr sie sogleich fort, „daß
12195 sie so traurige Augen macht. Das ist nichts, auf dem Nu muß man
12196 lustig sein. Nun nimm sie einmal mit und zeig ihr die Welt. Du
12197 sollst mir sie ein bißchen munter machen.“
12199 Sie ließ Isma gar nicht zu Wort kommen, sondern schob die beiden,
12200 sie freundlich auf die Schulter klopfend, nach der Treppe. Schon
12201 hatte Isma den Wagen bestiegen, und Ell wollte ihn eben in Bewegung
12202 setzen, als Ma rief:
12204 „Halt, halt! Isma, Frauchen, Sie haben ja Tuch und Schirm
12205 vergessen. Bleiben Sie nur sitzen. Ich hab’s schon drin
12206 zurechtgelegt.“
12208 Im Augenblick erschien sie wieder und warf ein kleines Rohr hinab.
12209 Ell fing es auf.
12211 Isma dankte.
12213 „Wenn Sie auf der einen Seite ziehen, ist’s ein Schirm, und auf der
12214 andern bekommen Sie ein Umschlagetuch. Da, an den Gürtel hängt
12215 man’s – – zeig’s ihr doch, Ell! Fahrt wohl, ihr Kinder.“
12217 Isma betrachtete das zierliche Röhrchen. „Ich denke“, sagte sie,
12218 „hier regnet es nur in der Nacht. Wozu braucht man da einen
12219 Schirm?“
12221 „Es ist auch eigentlich ein Sonnenschirm.“
12223 „Aber hier ist überall der wunderbare Baumschatten, und die Straßen
12224 draußen sind alle überwölbt.“
12226 „Es gibt auch Lichtungen und Übergänge, wo der Schirm unentbehrlich
12227 ist; denn wo die Sonne scheint, brennt sie gewaltig. Obwohl wir
12228 soviel weiter von ihr entfernt sind als auf der Erde, schützt uns
12229 doch nicht die dichte Erdenluft; es ist, als ob wir auf dem
12230 Gaurisankar ständen.“
12232 „Aber diese herrliche Vegetation.“
12234 „Den Verhältnissen angepaßt, und die sind doch wieder ganz andere
12235 als auf einem Gebirge. Hier in den Niederungen halten wir alle
12236 Wärme fest und geben keine wieder heraus. Dafür sorgen die großen
12237 pelzverbrämten Blätter unsrer Riesenbäume. Aber Sie sind an das
12238 Klima nicht gewöhnt, es ist vielleicht besser, wenn Sie während des
12239 Fahrens sich in das Tuch hüllen. Erlauben Sie.“
12241 Ell nahm Isma das Schirmröhrchen aus der Hand und zog an dem Ring,
12242 welcher das eine Ende abschloß. Eine kleine Rolle, nicht größer als
12243 ein Zeigefinger, schob sich heraus, scheinbar schwarz; aber unter
12244 Ismas Händen entfaltete sich das Röllchen zu einer großen Decke, in
12245 die man den ganzen Körper einhüllen konnte. Das Gewebe war ganz
12246 weich, locker und vollständig unsichtbar, die eingewebten dunklen
12247 Fäden dienten nur dazu, überhaupt erkennen zu lassen, wo das Tuch
12248 sich befand und wie weit es reichte. Isma hüllte sich behaglich
12249 hinein, und man bemerkte nicht, daß sie überhaupt ein Tuch
12250 umgeschlagen hatte; ihre Toilette blieb vollständig sichtbar.
12252 „Das ist ja wie das Zelt der Fee Paribanu“, sagte sie lächelnd.
12253 „Aber wie bekommt man denn das Tuch wieder in das Futteral?“
12255 „Man knüllt es einfach in der Hand zusammen und stopft es hinein.
12256 Diesen Lisfäden ist es ganz gleichgültig, wie sie zu liegen kommen,
12257 man kann sie zusammenpressen wie Luft.“
12259 „Jetzt ist es erst behaglich“, sagte Isma. „Und wie still und
12260 schön. Das ist ja wie in unserem Wald, nur Felsen scheint es nicht
12261 zu geben. Aber so viel Wasser! Und ich denke, der Mars ist so
12262 wasserarm?“
12264 „Das ist auch richtig, wir haben kein Meer, wenigstens kein
12265 nennenswertes. Unser ganzer Reichtum ist auf dem Land verteilt, da
12266 nutzen wir ihn aus.“
12268 Es war am frühen Vormittag. Die Wege hier im Waldesdickicht waren
12269 einsam, nur hin und wieder begegnete man einem Gleitwagen oder
12270 einem Spaziergänger. Ell hatte sein Gefährt langsam durch den
12271 Naturpark gelenkt, es näherte sich jetzt der gegenüberliegenden
12272 Grenze des Bezirks, die Wege wurden belebter, und die ersten Häuser
12273 der Wohnungszone erschienen. Ein starkes Geräusch wie das einer
12274 Säge unterbrach die Ruhe der Umgebung. Bei einer Wegbiegung wurde
12275 die Ursache sichtbar. Es war in der Tat eine große Säge, die, von
12276 einem elektrischen Motor getrieben, den sieben Meter im Durchmesser
12277 haltenden Stamm eines der Waldriesen bereits bis auf einen kleinen
12278 Rest durchnagt hatte. Das Alter – er zählte über sechstausend Jahre
12279 – hatte ihn vollständig gehöhlt und der Zusammensturz war zu
12280 befürchten; man mußte ihn beseitigen.
12282 „Mitten zwischen diesen anderen Bäumen“, rief Isma, „wie ist das
12283 möglich? Er muß ja in seinem Fall ringsum alles zermalmen.“
12285 Auch Ell wußte keine Auskunft zu geben. „Vielleicht sehen wir bald,
12286 was geschieht, wenn wir ein wenig warten, die Säge ist ja schon
12287 fast hindurch. Man muß doch keine Gefahr befürchten, denn nur ein
12288 kleiner Kreis ringsum ist abgesperrt.“
12290 Nach wenigen Minuten war die Säge aus der Rinde vollends
12291 herausgedrungen. Die Maschine schob sich beiseite, und die Arbeiter
12292 zogen sich außerhalb des abgesperrten Kreises zurück. Der
12293 Arbeitsleiter sprach in ein Telephon, dessen Drähte sich nach oben
12294 zwischen den Ästen der Bäume verloren. Gleich darauf vernahm man
12295 ein gewaltiges Rauschen zwischen den Blättern, einzelne Zweige
12296 wurden geknickt, und Blätter fielen herab. Der Riesenbaum schwankte
12297 ein wenig und hob sich langsam in die Höhe. Wie er gestanden,
12298 senkrecht, schwebte er aufwärts zwischen seinen gesunden Nachbarn,
12299 von denen nur einzelne Äste und Zweige mitgerissen wurden, die sich
12300 zu eng mit denen des gefällten Baumes verbunden hatten. Ein
12301 Streifen Sonnenlicht durchbrach das blaugrüne Laubdach.
12303 „Ich sehe es jetzt“, rief Ell. „Sie heben den Baum mittels
12304 Luftballons in die Höhe. So wird er sogleich bis zur Fabrik
12305 transportiert werden, wo man das Holz verarbeitet. Und raten Sie,
12306 was in dem hohlen Baum steckt!“
12308 „Nichts, vermutlich.“
12310 „Hier, Ihr Tuch. Vielleicht hunderttausend solcher Tücher. Sehen
12311 Sie, da –“
12313 Eine Anzahl Neugieriger, besonders aber Kinder, hatten sich um den
12314 abgesperrten Kreis gesammelt. Als die Schranken fielen, stürzten
12315 sie mit Jubel auf den Stumpf des Baumes zu und kletterten auf den
12316 Rand. Gleich darauf sah man sie, die Hände fest zusammengedrückt,
12317 davonlaufen.
12319 „Was haben sie da?“ fragte Isma.
12321 „Das Gewebe der Lisspinne, es füllt die Höhlung des Baumes zum
12322 großen Teil aus, und was unten im Stumpf bleibt, gehört dem, der es
12323 nimmt.“
12325 Ein kleiner Junge rannte auf Ells Wagen zu, den er im Eifer so spät
12326 bemerkte, daß er beim Ausweichen hinstürzte. Gleich war er wieder
12327 auf den Beinen, aber jetzt suchte er nach seiner Handvoll Lis, die
12328 ihm entfallen und nun kaum zu sehen war. Isma, die den Wagen
12329 verlassen hatte, sah das Gewebe zufällig am Boden glitzern und hob
12330 es auf. Sie betrachtete es neugierig. Der Knabe bemerkte es. Es war
12331 ein kleines, dickes, pausbäckiges Kerlchen, sehr ärmlich gekleidet.
12332 Er starrte Isma an. Sie hielt ihm das wirre, weiche Fadenknäuel
12333 hin. Seine Augen leuchteten groß auf, als er es wieder erhielt,
12334 aber er blieb wie angenagelt mit gespreizten Beinchen vor Isma
12335 stehen. Seine Blicke gingen jetzt zwischen Isma und seinen Händen
12336 hin und her. Er kämpfte offenbar einen großen Kampf. Dann hielt er
12337 das Päckchen Isma wieder hin und sagte, als wenn er ein Königreich
12338 vergäbe:
12340 „Ich schenke es dir.“
12342 „Warum?“ fragte Isma lächelnd.
12344 „Weil du kleine Augen hast.“
12346 Isma wußte nicht, ob sie recht verstanden habe, und sah Ell
12347 zweifelnd an.
12349 „Weil ich kleine Augen habe?“ wiederholte sie fragend.
12351 „Kleine Augen sind traurig, man schenkt ihnen“, sagte der Knirps.
12353 „Ich will dir –“ Isma unterbrach sich. „Ich will dir auch etwas
12354 schenken, weil du große Augen hast“, wollte sie sagen. Aber es fiel
12355 ihr ein, daß sie nichts zu verschenken habe. Der kleine Nume auf
12356 seinen Wackelbeinchen – was konnte sie ihm als Gegengabe bieten?
12358 Ell verstand sie. Er griff in die Wagentasche, in der sich einige
12359 kleine Erfrischungen befanden, und gab Isma ein Stückchen
12360 Naschwerk.
12362 „Das ist etwas für ihn“, sagte er.
12364 Der Junge lachte über das ganze Gesicht, als ihm Isma den Kuchen
12365 reichte. Diese Sprache verstehen die Kinder aller Planeten. Aber er
12366 biß nicht sogleich hinein.
12368 „Gib ihr auch“, sagte er zu Ell. „Du hast große Augen. Große Augen
12369 dürfen nicht essen, wenn kleine hungern.“
12371 Er beruhigte sich nicht eher, bis Isma einen Kuchen in der Hand
12372 hielt. Dann rannte er spornstreichs davon.
12374 Isma stieg ein. Der Wagen rollte weiter.
12376 „Was meinte er mit den kleinen Augen?“ fragte Isma.
12378 „Das ist eine sprichwörtliche Redensart. ›Kleine Augen‹ nennt man
12379 unglückliche, kranke, armselige Leute. Der Junge hat die Sache
12380 wörtlich genommen.“
12382 Man durchfuhr die Zone der Wohnhäuser, die Bäume hörten auf, der
12383 Wagen glitt unter die Säulenhallen der Industriestraße. Ell
12384 beschleunigte sein Tempo, er fuhr auf den Außenstreifen der
12385 Stufenbahn und war schnell auf der breiten Mittelstraße. In einem
12386 Gewühl von Fahrzeugen legte er hier seinen Weg zurück.
12388 Aus der Ruhe des ländlichen Hauses, in der Isma sich zunächst
12389 einige Tage bei der liebenswürdigen Pflege ihrer Wirte hatte
12390 erholen sollen, und jetzt aus der Einsamkeit des Waldfriedens fand
12391 sich Isma plötzlich in das Gedränge des Weltverkehrs, der Weltstadt
12392 im wörtlichen Sinn, versetzt. Denn diese Palastreihen bildeten in
12393 der Tat den Zusammenhang einer Riesenstadt, die sich über den
12394 größten Teil des Planeten verbreitete, nur mit der glücklichen
12395 Anordnung, daß sie meilenweite Wälder und auch Hunderte von Meilen
12396 ausgedehnte Wüsten zwischen ihren Mauern umschloß. Wenn Isma den
12397 Blick auf die Wagen und Fußgänger richtete, die sich in
12398 ununterbrochener Kolonne in derselben Richtung mit ihr bewegten
12399 oder auf der andern Seite der Straße ihr in rascher Gangart
12400 entgegenkamen, so glaubte sie in einer ungeheuern Völkerwanderung
12401 zu stecken. Dabei war das Geräusch keineswegs betäubend, denn auf
12402 diesem Planeten wickelte sich alles verhältnismäßig leise ab. Auch
12403 die relative Geschwindigkeit der Wagen und Fußgänger gegeneinander
12404 war nicht groß. Nur wenn sie nach den kühn aufstrebenden Säulen
12405 blickte, welche die mächtigen Wölbungen trugen, nach den Treppen
12406 und Aufzügen, die an den Seiten in die oberen Stockwerke führten,
12407 nach den Plakaten und Anschlägen, die sie von hier aus nicht zu
12408 entziffern vermochte, erkannte sie, daß der Weg selbst, auf dem ihr
12409 Radschlitten hinglitt, mit der dreifachen Geschwindigkeit eines
12410 irdischen Schnellzugs sie fortriß.
12412 Mit Erstaunen blickte sie auf ihren Nachbar zur Rechten, der den
12413 Wagen mit einer Sicherheit zwischen den übrigen hinlenkte, als wäre
12414 er seit Jahren an diese Beschäftigung gewöhnt. Allerdings hatte Ell
12415 bereits die wenigen Tage seines Aufenthalts benutzt, um sich
12416 gründlich in der Umgebung umzusehen. Er wohnte nicht weit von der
12417 Illschen Villa in einem eigenen Häuschen, hatte sich aber immer nur
12418 des Abends auf eine Stunde bei seinen Verwandten sehen lassen. Isma
12419 empfand diese Zurückhaltung nicht gerade als Zurücksetzung. Hatten
12420 sich doch beide auch in Friedau stets nur kurze Zeit gesprochen,
12421 und mußte sie sich doch sagen, daß ihn die neue Umgebung voll in
12422 Anspruch nahm. Aber nach dem gemeinsamen Erlebnis der Reise und
12423 hier, in der völligen Fremde, vermißte sie die Nähe des Freundes
12424 stündlich, des einzigen, der sie ganz zu verstehen vermochte.
12425 Gestern abend war dann der heutige Ausflug verabredet worden.
12427 Beide hatten, seitdem sie die Stufenbahn benutzten, kaum
12428 miteinander gesprochen. Ell mußte seine Aufmerksamkeit ganz auf den
12429 Weg richten, und Isma musterte neugierig und überrascht die
12430 Gesichter und Trachten rings um sie her. Offenbar strömten hier
12431 alle Klassen der Bevölkerung durcheinander, das ärmlichste Kleid
12432 erschien neben der elegantesten Toilette, der einfache Arbeitsanzug
12433 herrschte vor. Sie bemerkte bald, daß ihre von Ma ausgewählte
12434 Toilette sich sehen lassen durfte und sie sowohl wie ihr Gefährte
12435 nur durch ihre Züge und ihre bleichere Gesichtsfarbe auffielen.
12437 Nun wendete sich Ell wieder zu ihr. „Wir sind am Ziel“, sagte er.
12438 „Jene helle Zahl dort – 608 – zeigt es an; bei 609 müssen wir die
12439 Bahn verlassen.“
12441 Er lenkte das Gefährt nach rechts. Die Bewegung verminderte sich
12442 merklich, Isma mußte sich fest im Wagen zurücklehnen. Jetzt glitt
12443 der Wagen auf die ruhende Straße. Nach wenigen Augenblicken hielt
12444 er unter einem Riesenportal hinter einer langen Reihe ähnlicher
12445 Fahrzeuge.
12447 Ell half Isma aus dem Wagen.
12449 „War es Ihnen unangenehm?“ fragte er, ihre Hand festhaltend. Sie
12450 erwiderte den leisen Druck seiner Finger. Sie freute sich, in
12451 seinen Augen wieder die gewohnte Sorge um sie zu lesen, die sie
12452 daheim so oft im Stillen beglückt hatte.
12454 „Zuletzt begann ich etwas schwindlig zu werden“, antwortete sie.
12455 „Ich bin ganz froh, wieder einmal ein Stück zu Fuß gehen zu können.
12456 Wo führen Sie mich denn hin?“
12458 Er sah sie noch immer an. „Ich bin so glücklich, Sie hier zu
12459 haben!“
12461 Sie hob die Augen bittend zu ihm auf.
12463 „Was wollen Sie sehen?“ fragte er in anderem Ton. „Wir sind hier am
12464 Museum der Künste. Eine oder die andre Abteilung wollen wir
12465 betrachten.“
12467 „Was Sie wollen!“ sagte Isma heiter. „Wir ziehen nun einmal auf
12468 Abenteuer aus.“
12470 Ein Beamter befestigte eine Marke an Ells Wagen und reichte ihm die
12471 Gegenmarke. Dann schritten sie beide der Tür eines Aufzugs zu und
12472 ließen sich in das erste Stockwerk heben.
12474 \section{29 - Das heimliche Frühstück}
12476 Isma und Ell standen vor einem prachtvollen Portal, das die
12477 Aufschrift trug: ›Museum der schönen Künste‹. Es führte auf eine
12478 kreisförmige Galerie, die eine mächtige Rotunde umschloß. Der Blick
12479 öffnete sich sowohl nach unten wie nach oben. Man glaubte unten in
12480 das Gewühl des wirklichen Lebens zu blicken, in rascher
12481 Veränderung, von den Seiten immer neu herandrängend, sah man
12482 Gestalten in ihren gewohnten Beschäftigungen, in der Arbeit des
12483 Tages, andere mit dem Ausdruck des Leidens und den Mängeln der
12484 Wirklichkeit. Aber in der Mitte emporwallende Nebel umhüllten diese
12485 Figuren und hoben sie langsam in die Höhe. Je höher sie
12486 emporstiegen, um so mehr verschwand der Nebel und löste sich nach
12487 oben in immer helleres Licht auf. Die Gestalten wechselten ihren
12488 Ausdruck, ihre Blicke wurden frei, ihre Mienen verklärt, sie waren
12489 zu Werken der Kunst, zu reinen Formen geworden. Sie schienen zu
12490 ruhen, und doch stiegen immer neue Gestalten auf, ohne daß jene
12491 Bilderwelt an der Kuppel der Wölbung zunahm oder sich überfüllte.
12492 Es wär nicht möglich zu verfolgen, wie dieser Übergang in die Höhe
12493 sich vollzog, ein lebendiges Abbild des Mysteriums in der Seele des
12494 Künstlers.
12496 „Eine symbolische Darstellung des künstlerischen Schaffens“, sagte
12497 Ell.
12499 „Aber wo kommen diese Gestalten her und wohin gehen sie?“
12501 „Das Ganze beruht auf einer optischen Täuschung, und nach einigen
12502 Stunden würde man bemerken, daß dieselben Gruppen wiederkehren.
12503 Aber die Illusion ist vollständig. Nun suchen Sie sich eine dieser
12504 Überschriften aus.“
12506 Sie umschritten die Galerie. Die äußere Seite war ringsum von
12507 schmalen Türen umgeben, deren Aufschriften die Abteilungen nannten,
12508 zu denen man durch jene gelangte. Aber jede Hauptgruppe hatte
12509 wieder eine große Zahl Unterabteilungen, die historisch geordnet
12510 waren. Da zählte zum Beispiel bei der Malerei die ältere Malerei in
12511 der archaistischen Periode, das heißt vor Erfindung der
12512 selbstleuchtenden Farben, allein 30 Abteilungen, die jede mehrere
12513 Jahrhunderte umfaßte; die agrarische Periode zählte aus der Zeit
12514 der Handarbeit 315, aus der Zeit der Dampfkraft 56, der
12515 Elektrizität 212, der Energiestrahlung 25 Abteilungen. Die neuere
12516 Malerei begann erst seit der Erfindung der künstlichen Darstellung
12517 der Nahrungsmittel. Zwischen beiden lag eine Periode des Verfalls,
12518 die man den dreitausendjährigen sozialen Krieg nannte. Es war dies
12519 eine jetzt etwa 18.000 Jahre zurückliegende Zeit, in welcher ein
12520 allgemeiner Niedergang der Marskultur stattgefunden hatte. Sie war
12521 nämlich ausgefüllt durch furchtbare Kämpfe zwischen der
12522 ackerbautreibenden und der industriellen Bevölkerung. Durch die
12523 Darstellung der Lebensmittel aus den Mineralien ohne Vermittlung
12524 der Pflanzen glaubte sich die agrarische Bevölkerung in ihrer
12525 Existenz bedroht, obwohl sie längst nicht mehr den Bedarf an
12526 Lebensmitteln hatte decken können. Die Besitzer des Grund und
12527 Bodens waren als Herren der Nahrungsmittel zu unumschränkter Macht
12528 gelangt und wollten die Verbilligung der Volksernährung durch die
12529 neuen gewaltigen Fortschritte der Wissenschaft und industriellen
12530 Technik nicht dulden. Dieser Kampf füllte fast drei Jahrtausende in
12531 wechselnden Formen aus und endete erst mit der Vernichtung der
12532 Macht der Ackerbauer und der Begründung der vereinigten
12533 Marsstaaten. Während dieser Zeit hatte die Kunst keinerlei
12534 Förderung empfangen. Sie war erst wieder aufgeblüht, als statt der
12535 nüchternen Getreidefelder die anmutigen Wälder entstanden waren und
12536 der Erwerb von Grund und Boden für den einzelnen auf ein mäßiges
12537 Maximum beschränkt war.
12539 Isma ging ratlos an der Reihe der Überschriften entlang, die ihr
12540 Ell zu entziffern behilflich war. Sie schüttelte mutlos den Kopf.
12542 „Das ist mir zu viel und macht mich nur verwirrt. Suchen wir
12543 zunächst etwas ganz Einfaches, das ich verstehen kann. Was ist denn
12544 hier hinter der Malerei für eine Kunst?“
12546 „Die Tastkunst.“
12548 „Was ist das?“
12550 „Ich muß gestehen, ich weiß es selbst nicht recht.“
12552 „Lassen Sie uns sehen.“
12554 Ell öffnete die Tür. Sie führte in einen kleinen, mit zwei
12555 gepolsterten Bänken ausgestatteten Raum. Ell sah jetzt erst, daß
12556 sich in demselben ein Anschlag befand: ›Abgang alle zehn Minuten‹;
12557 eine Uhr zeigte, daß nur noch eine Minute zur Abgangszeit fehlte.
12558 Es war also nicht ein Zimmer, sondern eine Art Omnibus, worin man
12559 sich befand. Alle die Türen aus der Galerie führten in solche
12560 Coupés, die zu bestimmten Zeiten die Insassen nach den betreffenden
12561 Abteilungen des Museums beförderten. Denn die Anlagen waren zu
12562 ausgedehnt, um sie zu Fuß zu erreichen und sich bis dahin
12563 zurechtzufinden. Die Tür öffnete sich jetzt noch einmal, und zwei
12564 Damen flogen förmlich in den Raum. Gleich darauf setzte sich der
12565 Wagen in Bewegung.
12567 Die ältere der beiden Damen schnappte nach Luft; sie war eine sehr
12568 korpulente Erscheinung und nahm wenigstens zwei Plätze des Sofas
12569 ein.
12571 „Das war gerade die höchste Zeit!“ rief sie erhitzt und atemlos,
12572 indem sie ein feines Tuch hervorzog und fortwährend zwischen ihren
12573 kurzen, dicken Fingern rieb. „Diese Wagen gehen ja nur alle zehn
12574 Minuten. Der Besuch ist so schwach! Ja, es ist nur eine Kunst für
12575 Auserwählte. Sie schwärmen auch dafür?“ wandte sie sich zu Isma.
12576 „Sie sind Spitzistin? Nicht wahr?“ sagte sie, indem sie einen Blick
12577 auf Ismas schlanke und zarte Finger warf. „Ich bin natürlich
12578 Rundistin, aber das tut nichts. Sie wollen gewiß auch das neue
12579 Meisterwerk tasten? Blu hat sich wieder selbst übertroffen! Das ist
12580 das hohe Lied des Widerstandes, die Sphärenmusik des Hautsinns!“
12581 Und sie kniff die Augen schwärmerisch zusammen, daß sie zwischen
12582 den Fettpolstern ihrer Augenlider verschwanden.
12584 „Ich muß gestehen“, sagte Isma schüchtern, „ich bin noch ganz
12585 unerfahren in der Tastkunst. Ich weiß gar nicht –“
12587 „Was? Wie? Sie wissen nicht?“ Sie betrachtete Isma näher. „Sie sind
12588 wohl aus dem Norden von den Streifen, wenn ich fragen darf? Sie
12589 waren noch nie in Kla?“
12591 „Nein, meine Heimat ist fern von hier.“
12593 „Aber Blu sollten Sie doch kennen. Sie ist doch die größte –
12594 neidlos gestehe ich es, obwohl ich selbst Künstlerin bin. Und von
12595 allen Künsten ist wieder die Tastkunst die höchste. Auge, Ohr,
12596 Geruch, selbst Geschmack – was will das alles sagen! Der Tastsinn
12597 ist doch der intimste aller Sinne. Hier berühren wir die Dinge
12598 unmittelbar, sie bleiben uns nicht in der Ferne. Und schmecken ist
12599 ja eigentlich auch ein Tasten, nur ein unreines, gestört durch
12600 Gerüche und durch Salziges, Saueres, Bitteres, Süßes – aber die
12601 Fingerspitzen, die Handflächen, das sind die wahren Schlüssel zur
12602 Schönheit. Und hier im Tasten enthüllt sich die Kunst in ihrer
12603 höchsten Freiheit. Hier überwindet sie am reinsten die Macht des
12604 Wirklichen, das vitale Interesse. Was wir sehen, was wir hören,
12605 bleibt uns immer noch fern. Es ist keine Kunst, das ohne Verlangen
12606 zu betrachten, was wir doch nicht erreichen können. Aber die
12607 Gegenstände in den Händen halten und doch nichts von ihnen zu
12608 wollen als das reine, freie Spiel des Wohlgefallens, das ist echte
12609 Kunst. Spielt nicht ein jeder unwillkürlich mit dem, was er
12610 zwischen den Fingern hält? Dies zur Kunst zu erheben, das ist das
12611 wahrhaft Geniale! Das Rauhe, Glatte, Scharfe, Spitzige, Runde,
12612 Nachgebende, Elastische, Harte, Kratzende, Kribblige – ohne
12613 Gedanken, ohne Wünsche –, das ist das wahrhaft Ästhetische. Eine
12614 Tastsymphonie von Blu ist für mich das Höchste. Kommen Sie nur mit,
12615 ich werde sie Ihnen zeigen.“
12617 Isma blickte zu Ell hinüber.
12619 „Ich fürchte“, sagte er deutsch – es fiel auf dem Mars nicht auf,
12620 wenn man in Sprachen redete, die andere nicht verstanden, da die
12621 meisten Familien eigene Mundarten besaßen –, „ich fürchte, das wird
12622 für uns nichts sein. Wir sind wohl zu wenig auf diesen Kunstgenuß
12623 vorbereitet.“
12625 Die Dicke begann eben einen neuen Redestrom, als der Wagen hielt.
12626 Sie stürzte schleunigst hinaus. Ihre Begleiterin, die stumm
12627 geblieben war, folgte ihr, und Isma und Ell taten das gleiche.
12629 Man befand sich in einem großen Saal, in welchem man nichts
12630 erblickte als zahllose Kästen verschiedener Größe. Aufschriften
12631 gaben Verfasser und Inhalt des Tastkunstwerkes an, das sie
12632 enthielten. Vor einigen saßen Besucher in stiller Andacht und
12633 hielten die Arme bis zum Ellenbogen in zwei Öffnungen der Kästen
12634 versenkt.
12636 Die beleibte Dame suchte nach ihrem Katalog eine bestimmte Nummer.
12637 Vor dem betreffenden Kasten angelangt, streifte sie die Ärmel auf
12638 und steckte die Arme zunächst in ein Becken. Es war nicht mit
12639 Wasser gefüllt, sondern ein Luftstrom führte ein fein verteiltes
12640 ätherisches Öl gegen die Haut und bereitete durch diese Reinigung
12641 auf den nachfolgenden Kunstgenuß vor. Alsdann brachte die
12642 Kunstjüngerin durch einen Handgriff ein Uhrwerk in Gang, setzte
12643 sich auf einen Stuhl vor dem Kasten, steckte ihre Arme in die
12644 Öffnungen und versank in Schwärmerei. Isma und Ell hatten ihr auf
12645 gut Glück an dem ersten besten Kasten, der unbesetzt war, alles
12646 nachgeahmt. Aber nach wenigen Minuten zog Isma ihre Hände zurück.
12648 „Wollen Sie noch bleiben?“ fragte sie Ell.
12650 „Fällt mir nicht ein, wenn Sie nicht Lust haben. Ich wollte Sie nur
12651 nicht stören.“
12653 „Ich verzichte auf den Genuß. Ich kann nichts spüren als ein
12654 abwechselndes Drücken, Ziehen, Prickeln, Reiben – für mich ist das
12655 nur eine Art Massage.“
12657 „Mir ging es auch so. Es ist eine Kunst für Blinde. Wir müssen
12658 nicht tastkünstlerisch veranlagt sein. Wir wollen lieber nur einen
12659 kurzen Gang durch einen der andern Säle machen, und dann will ich
12660 Sie in das technische Museum führen.“
12662 Ohne von der Tast-Enthusiastin bemerkt zu werden, gingen die
12663 untastlichen Erdgeborenen nach dem Coupé zurück, das sie bald
12664 wieder in der Rotunde absetzte. Ein anderer Wagen, dicht von
12665 Besuchern erfüllt, trug sie in eine der Abteilungen für Skulptur.
12666 Hier fand sich Isma leichter zurecht. Es war eine Kunst für
12667 menschliche Sinne, eine Fülle großer Gedanken in wunderbarer
12668 Ausführung, aber doch im Grunde dieselbe unsterbliche Schönheit
12669 aller Vernunftwesen, wie sie auf der Erde auch schon vor
12670 Jahrtausenden ihre Meister fand. Das Neue und Überraschende lag nur
12671 in der Verfeinerung der Technik, in der Zartheit des Materials, in
12672 der spielenden Überwindung der Schwere, wodurch sich ungeahnte
12673 Effekte darboten. Nicht minder bewundernswert erschien die
12674 Architektur dieser Hallen, Wölbungen, Galerien. Oft sprangen die
12675 einzelnen Gemächer aus einem breiten Grundpfeiler in der Form von
12676 Blumenkelchen vor, die auf schlanken Stielen sich zu wiegen
12677 schienen. Diese Stiele enthielten die Treppen verborgen, auf denen
12678 man in die Gemächer gelangte. Isma erhielt den Eindruck, daß das
12679 Eigentümliche der martischen Kunst, das sie von der menschlichen
12680 unterschied, nicht in einer neuen Auffassungsform des Schönen lag;
12681 hier wirkten offenbar zeitlose Gesetze als bestimmende Ideen für
12682 die freie Gestaltung des Schönen bei allen bewußten Wesen. Der
12683 Fortschritt hing vielmehr ab von dem überlegenen Standpunkt der
12684 Technik, wodurch sich das Gebiet für die Anwendung des Ästhetischen
12685 ins Unermeßliche erweiterte. Nur die Intelligenz ist es, welche der
12686 ewigen Idee entgegenwächst. Ell bestätigte diese Bemerkung und
12687 stimmte Isma bei, nun zunächst ein oder das andre der technischen
12688 Wunderwerke aufzusuchen.
12690 „Ich fürchte nur, ich werde nichts davon verstehen“, sagte Isma.
12692 Sie waren inzwischen wieder in der Eingangsrotunde angelangt und
12693 hatten sich nach dem Ausgang hinabsenken lassen, wo ihr Schlitten
12694 bereitstand.
12696 „Was soll ich jetzt sehen?“
12698 „Frau Ma hat mir auf die Seele gebunden, Sie nach dem Retrospektiv
12699 zu führen. Das ist wohl die neueste und großartigste Entdeckung.“
12701 „Ich habe davon gehört und auch zu lesen versucht, aber Sie müssen
12702 mir die Sache noch einmal erklären. Ist es weit bis dorthin?“
12704 „Mit der Stufenbahn wenige Minuten. Aber wir können auch in einer
12705 halben Stunde quer durch den Wald fahren, und das will ich eben
12706 tun.“
12708 Er lenkte den Radschlitten über eine der Brücken, welche, die
12709 Bahnen und Kanäle überschreitend, in die Waldregion führten. Rasch
12710 glitt das Gefährt unter den Schatten der Bäume in die Zone der
12711 Wohnungen. Isma atmete auf.
12713 „Wie schön, daß wir bald wieder in die Waldeinsamkeit kommen!“
12714 sagte sie. „Da denke ich, wir sind daheim unter unsern Tannen, und
12715 Sie erzählen mir wieder von den Märchen des Mars –“
12717 „Und dabei packen wir unsre Butterbrote aus und frühstücken.“
12719 „Ach, Ell, ich wünschte, das ginge hier! Mir armem Menschenkind ist
12720 es schrecklich langweilig, immer so allein bei verschlossenen Türen
12721 essen zu müssen.“
12723 „Hier an der Straße und zwischen den Wohnungen geht es natürlich
12724 nicht. Sehen Sie, da ist die großartige Restauration, aber wenn wir
12725 zu speisen verlangten, würde man uns sofort jedem ein Extrakabinett
12726 anweisen, anders ist es unmöglich. Doch ich habe daran gedacht. Ich
12727 habe aus meinem Reisevorrat ein richtiges Erdenfrühstück
12728 eingesteckt; zwar das Brot ist trotz des luftdichten Verschlusses
12729 etwas altbacken, aber denken Sie, Friedauer Wurst und wirklichen
12730 Rheinwein! Wir suchen uns ein Plätzchen, wo uns niemand sehen kann.
12731 Ich freue mich wie ein Kind! Jedoch die gute Tante darf um Himmels
12732 willen nichts erfahren! Das wäre schlimmer, als wenn ich Ihnen auf
12733 dem Marktplatz von Friedau um den Hals fallen wollte!“
12735 „Stille von Friedau! Aber das Frühstück nehme ich an. Wir wollen
12736 dem Nu ein Schnippchen schlagen.“
12738 Ihre Augen glänzten schelmisch, indem sie zurückblickte, als
12739 fürchtete sie, gehört zu werden.
12741 „Eigentlich darf ich’s ja nicht als Nume. Ich bin da in meine
12742 Menschlichkeit zurückgefallen –“
12744 Isma richtete die Augen auf Ell. Er sprach im Scherz, aber sie
12745 hörte an der Art, wie er den Satz abbrach, daß ein ernstes Bedenken
12746 in ihm aufzutauchen begann.
12748 Ell sah, wie das glückliche Lächeln aus ihren Zügen zu verschwinden
12749 drohte, und er griff schnell nach ihrer Hand.
12751 „Nein, nein“, rief er, „geliebte Freundin, für Sie will ich nichts
12752 sein als der Mensch, der glücklich ist, wenn er Ihnen dienen kann.
12753 Aber ganz leicht ist es nicht. Denn sehen Sie – ein Nume soll ich
12754 nicht sein, damit Sie mich nicht verändert finden; und von der Erde
12755 soll ich nicht reden, damit Sie nicht traurig werden –“
12757 „Sie haben recht, mein treuer Freund – ich weiß ja selbst nicht,
12758 was ich will – ich verdiene gar nicht, daß Sie so gut sind –“
12760 Er ergriff ihre Hand und hielt sie fest. Seine Rechte lenkte den
12761 Radschlitten mühelos auf der glatten Bahn. Die letzten Wohnungen
12762 verschwanden. Dichtes Buschwerk bildete auf dem freien Rasen des
12763 Bodens ein Labyrinth von Plätzen und Gängen. Ein leichter,
12764 erfrischender Luftzug strömte über den Boden, denn die Lichtungen
12765 und die Industriestraßen, auf denen die Sonne brannte, wirkten um
12766 die Mittagszeit wie Schornsteine, welche die Umgebung ventilierten
12767 und die erwärmte Luft in die Höhe führten. Die Straße war einsam.
12768 Die Blumen musizierten leise, und kleine eichkätzchenartige Tiere
12769 spielten an den Stämmen der Bäume.
12771 Ell löste mit einem Druck des Fußes den Mechanismus aus, der die
12772 Kugelkufen emporhob und den Wagen auf zwei hochachsigen Rädern
12773 laufen ließ, so daß er sich auch auf unebenem Weg ohne
12774 Schwierigkeit bewegen konnte. Er verließ die Fahrstraße und fuhr
12775 auf dem Waldrasen zwischen Buschwerk und Bäumen dahin. Ein kleiner
12776 Weiher kam in Sicht, von einem klaren Bächlein genährt. Am Rande
12777 desselben hielt Ell den Wagen an; es war ein reizendes, stilles
12778 Ruheplätzchen. Kein Liebespaar konnte sich besser verstecken.
12780 „Hier können wir es wagen“, sagte Ell.
12782 Sie wollten nur frühstücken.
12784 Isma sprang aus dem Schlitten. Ell reichte ihr die Tasche mit dem
12785 heimlichen Vorrat. Beide sahen sich vorsichtig um und lachten dann
12786 über ihre Furcht. Sie packten ihre Schätze aus und vergaßen in
12787 heiterem Geplauder, daß über den Baumzweigen zu ihren Häuptern
12788 nicht der blaue Himmel der Erde, sondern das Blätterdach des
12789 martischen Riesenwaldes sich wölbte.
12791 „Kann man durch das Retrospektiv alles Vergangene sehen?“ fragte
12792 Isma.
12794 „Nein“, erwiderte Ell, „nur dasjenige, was unter freiem Himmel und
12795 bei genügender Beleuchtung vorgegangen ist. Der Erfolg beruht ja
12796 darauf, daß wir das Licht, welches damals von den Gegenständen
12797 ausgestrahlt wurde, auf seinem Lauf durch den Weltraum wieder
12798 einholen, sammeln und zurückbringen.“
12800 „Und wie ist das möglich?“
12802 „Ich habe Ihnen schon früher gesagt – was mir freilich die andern
12803 Menschen noch nicht glauben wollen –, daß die Gravitationswellen
12804 sich eine Million Mal so schnell fortpflanzen als das Licht. Sie
12805 können also das Licht auf seinem Weg einholen. Wenn zum Beispiel
12806 vor einem Erdenjahr irgend etwas unter freiem Himmel geschehen ist,
12807 so hat sich das von diesem Ereignis ausgesandte Licht jetzt bereits
12808 gegen zehn Billionen Kilometer weit in den Raum verbreitet. Die
12809 Gravitation aber durchläuft diesen Weg in einer halben Minute,
12810 trifft also nach einer genau zu berechnenden Zeit mit den damals
12811 ausgesandten Lichtwellen zusammen. Nun haben die Gelehrten der
12812 Martier ein Verfahren entdeckt, wodurch man bewirken kann, daß die
12813 den Lichtwellen nachgeschickten Gravitationswellen jene selbst in
12814 Gravitationswellen von entgegengesetzter Richtung verwandeln und
12815 somit zu uns zurückwerfen; sie laufen also in der nächsten halben
12816 Minute in der Form von Gravitationswellen den Weg zurück, den sie
12817 als Licht im Laufe eines Jahres durcheilt haben. Hier werden sie im
12818 Retrospektiv – und das ist die Großartigkeit dieser Erfindung – in
12819 Licht zurück verwandelt und durch ein Relais verstärkt, so daß man
12820 auf dem Projektionsapparat genau das Ereignis sich abspielen sieht,
12821 wie es sich vor einem Jahr vollzogen hat. Man kann den Versuch
12822 natürlich auf jeden beliebigen Zeitraum ausdehnen, aber die Bilder
12823 werden immer schwächer, je größer die vergangene Zeit ist, weil das
12824 Licht inzwischen im Weltraum zuviel Störungen erfahren hat. Es
12825 erfordert nun eine sorgfältige Berechnung, wann und wo ein Ereignis
12826 stattgefunden hat, das man zu sehen wünscht. Man kann daher das
12827 Retrospektiv – wenigstens vorläufig – nicht nach Belieben und
12828 schnell wie ein Fernrohr einstellen, sondern es gehört dazu ein
12829 umfangreicher Apparat, ein ganzes Laboratorium.“
12831 „Wir können also nicht zu sehen bekommen, was wir wollen?“
12833 „Nein, wir müssen uns mit dem begnügen, worauf der Apparat
12834 gegenwärtig eingestellt ist. Aber wenn es für einen bestimmten
12835 Zweck gerade notwendig ist, zum Beispiel um eine wichtige
12836 Rechtsfrage oder dergleichen zu entscheiden, so wird für diesen
12837 Zweck eine Berechnung und Einstellung vorgenommen.“
12839 „Kann man damit auch sehen, was zum Beispiel zu einer bestimmten
12840 Zeit auf der Erde vorgegangen ist?“
12842 „Ich zweifle nicht, daß sich das ermöglichen läßt.“
12844 „Und was kostet so eine Beobachtung, wenn man sie für einen
12845 besonderen Zweck machen lassen will?“
12847 „Dazu ist überhaupt die Erlaubnis der Staatsbehörde erforderlich.
12848 Es gibt nämlich, soviel ich weiß, bis jetzt kein Privatretrospektiv.“
12850 Isma schwieg nachdenklich. Dann sagte sie: „Nun weiß ich ja, was es
12851 mit dem Retrospektiv auf sich hat, und gefrühstückt haben wir auch,
12852 so daß wir eigentlich aufbrechen könnten. Aber es ist so schön
12853 hier, und ich bin gar nicht sehr neugierig, den Apparat zu sehen,
12854 denn was man wirklich dabei beobachtet, kann ja nicht viel sein,
12855 wenn man an dem vergangenen Ereignis kein Interesse hat.“
12857 „Das ist schon wahr, indessen Ma würde –“
12859 „Ich will es mir ja auch auf jeden Fall ansehen. Aber wir können
12860 wohl noch hier ein wenig ruhen.“
12862 Sie legte ihr Listuch unter den Kopf und streckte sich behaglich
12863 hin. „Wenn ich noch einen Schluck Wasser bekommen könnte!“ sagte
12864 sie.
12866 Ell nahm den mitgebrachten Becher und füllte ihn am Quell. Isma
12867 trank und gab das Glas dankend halb geleert zurück. Eben setzte es
12868 Ell an seine Lippen, um den Rest selbst zu trinken, als sich in der
12869 Ferne ein dumpfes Brausen erhob. Isma richtete sich erschrocken
12870 auf.
12872 „Was ist das?“ fragte sie. „Kommt jemand?“
12874 Ell hatte das Glas ohne zu trinken abgesetzt. Er lauschte. Das
12875 Brausen nahm zu. Er zog seine Uhr.
12877 „Es ist nichts“, sagte er, „es ist das Mittagszeichen.“ Er verglich
12878 sorgfältig die Uhr. Das Brausen mochte eine Minute gedauert haben,
12879 dann brach es mit einem hellen Schlag plötzlich ab.
12881 „Der Anfangspunkt der Planetenzeitrechnung wird so markiert. Hier
12882 bei uns, nicht weit von der Zentralwarte, fällt er nur kurze Zeit
12883 nach dem wahren Mittag. Aber ich glaube, wir müssen doch
12884 aufbrechen.“
12886 Er hatte nicht getrunken, sondern das Wasser unbemerkt, wie er
12887 glaubte, auf die Erde fließen lassen, und bückte sich jetzt, um
12888 alle Spuren des gemeinsamen Frühstücks zu beseitigen.
12890 Isma stand schweigend auf und begab sich in den Wagen. „Wir sind
12891 auf dem Mars“, seufzte sie leise. Sie lehnte sich zurück und schloß
12892 die Augen.
12894 Bald darauf kam Ell. Er betrachtete sie mit einem innigen Blick.
12895 Der Mittagston hatte ihn wieder auf den Mars zurückgeführt. Ein
12896 tiefes Mitleid mit dem Geschick der Freundin überkam ihn, und die
12897 ganze Fülle seiner Liebe fühlte er in sich aufsteigen. Er hätte
12898 sich zu ihr herabbeugen und ihre Lippen mit Küssen bedecken mögen.
12899 Und doch war etwas Trennendes zwischen sie getreten, dessen er sich
12900 nicht zu erwehren wußte. Er küßte die schmale Hand, die auf der
12901 Seitenlehne des Wagens ruhte.
12903 Isma öffnete die Augen und schüttelte leicht den Kopf.
12905 „Sie sind müde, Isma“, sagte Ell. „Hier, nehmen Sie von diesen
12906 Pillen, und Sie werden sich erquickt fühlen wie nach einem festen
12907 Schlaf.“
12909 „Nein, nein, solche Nervenreize mag ich nicht, das ist eine falsche
12910 Erquickung.“
12912 „Diese nicht. Es ist kein anregendes Nervengift, das den Körper zur
12913 Abgabe seiner letzten Energiereserve veranlaßt wie unsre irdischen
12914 Reizmittel. Es führt dem Blut und damit dem Gehirn wirklich die
12915 verbrauchte Energie wieder zu, und zwar genau in der Form, wie es
12916 durch den Schlaf geschieht. Die Pillen sind ganz unschädlich. In
12917 einer halben Stunde sind Sie wieder frisch wie am Morgen. Sie sind
12918 noch zu wenig an unsere Luft gewöhnt, Sie brauchen eine Hilfe in
12919 diesem Klima.“
12921 Isma nahm die Pillen. Ell schwang sich an ihre Seite, und der Wagen
12922 rollte nach der Straße zu. Der übrige Teil des Waldes und die
12923 Wohnungsräume wurden durchschnitten und die Industriestraße im
12924 Quartier Tru erreicht. Ell hemmte den Wagen vor einem Tor, das er
12925 für den Zugang zum Retrospektiv hielt. Er hatte sich jedoch in der
12926 Richtung getäuscht, in der er durch den Wald gefahren war, und
12927 bemerkte jetzt erst, daß er sich vor dem Erdmuseum befand.
12929 „Corsan ba“, las Isma die Rieseninschrift, „das heißt ja doch wohl
12930 ›Sammlungen von der Erde‹?“
12932 „Ja“, antwortete Ell, „ich habe mich geirrt. Wir müssen nach der
12933 anderen Seite – die Stufenbahn bringt uns in einer Minute hin.“
12935 „Ich hätte eigentlich Lust –“, sagte Isma zögernd, „könnten wir
12936 nicht hier einmal uns umsehen?“
12938 „Gewiß, aber Sie wollten ja heute nichts von der Erde wissen.“
12940 „Es ist schon wahr – aber ich bin neugierig, was ihr hier von dem
12941 wilden Planeten gesammelt habt. Und man wird die alte Erde doch
12942 nicht los.“ Sie seufzte. Unentschieden sah sie abwechselnd auf die
12943 Menge, die in den Eingang strömte, und dann auf Ell.
12945 „Es ist heute besonders stark besucht“, sagte dieser, „alles redet
12946 jetzt von den Menschen. Wenn man uns nur nicht erkennt – wir tun
12947 vielleicht besser, eine andere Zeit zum Besuch zu wählen.“
12949 „Sie sehen, man achtet gar nicht auf uns.“
12951 „Weil diese Leute erst hineingehen. Wenn wir am Ausgang ständen,
12952 wäre es vielleicht anders, unsere Gesichter würden auffallen.“
12954 „Ach was“, rief Isma lebhaft. „Nun will ich gerade hinein. Ich habe
12955 meinen dunklen Schneeschleier eingesteckt, durch den man nicht
12956 hindurchsehen kann. Wir sind nun einmal hier – kommen Sie, Ell!“
12958 Ell lächelte. „Das kommt von den Energiepillen“, sagte er. „Jetzt
12959 haben Sie wieder Mut. Nun, man wird uns nichts tun, aber wenn man
12960 Ihnen wieder Spielzeugtüten zuwirft, wie an der Polstation, so
12961 halten Sie sie nicht für Blumensträuße.“
12963 Isma schlug ihn mit ihrem Schirmröhrchen auf die Hand. „Zur Strafe
12964 kommen Sie mit“, sagte sie, „damit Sie meine Trophäen tragen
12965 können. Und nun gehe ich auch ohne Schleier trotz der kleinen
12966 Augen.“
12968 Sie traten in das Gebäude.
12970 \section{30 - Das Erdmuseum}
12972 Die einströmende Menge verteilte sich in den weiten Räumlichkeiten
12973 des Erdmuseums, so daß Isma und Ell zwar nirgends allein, aber doch
12974 nicht gerade beengt waren. Isma wollte gern sehen, was an der Erde
12975 die Aufmerksamkeit der Martier besonders fessele, und wandte sich
12976 daher solchen Gängen und Sälen zu, in denen sich die Hauptmasse der
12977 Besucher zusammendrängte; Ell folgte ihr und musterte wie sie nicht
12978 weniger die Beschauer als die Gegenstände. Ein riesiger Saal
12979 enthielt in historischer Darstellung eine vollständige Entwicklung
12980 der Raumschiffahrt. Ell hätte sich gern hier näher in die
12981 Einzelheiten vertieft, aber Isma interessierte sich wenig dafür und
12982 drängte weiter. Ein Wandelpanorama, das eine Reise nach der Erde
12983 darstellte, ließen sie beiseite liegen und hielten sich nur kurze
12984 Zeit bei der Darstellung des Luftexports von der Erde auf. Die
12985 Maschinen, die den Menschen auf der Polinsel nicht zugänglich
12986 gemacht worden waren, arbeiteten hier vor ihren Augen in gefälligen
12987 Modellen. Sie sahen, wie die Luft in starke Ballons gepumpt und im
12988 leeren Raum zum Erstarren gebracht wurde. Die gefrorenen Luftmassen
12989 hatten das Aussehen von bläulichen Eiskugeln und die Dichtigkeit
12990 des Stahls.
12992 Sehr dürftig war die Sammlung der pflanzlichen und tierischen
12993 Produkte der Erde, da sie nur aus den polaren Regionen stammte. Was
12994 der ›Glo‹ mitgebracht hatte, war noch nicht dem Museum übergeben
12995 worden. Dagegen hatte man schon die Nachrichten, Gegenstände und
12996 Abbildungen verwertet, die Jo im ›Meteor‹ von der Tormschen
12997 Expedition mitgebracht hatte. Hier drängten sich die Zuschauer
12998 dicht zusammen, und Isma und Ell waren gezwungen, ihrem langsamen
12999 Zug zu folgen. Es berührte sie ganz seltsam, als sie hier Grunthe
13000 und Saltner in verschiedenen lebensgroßen Aufnahmen vor sich sahen
13001 und auf dem Tisch eine Reihe von Ausrüstungsstücken, Kleidern und
13002 Kleinigkeiten ausgebreitet bemerkten, die Grunthe den Martiern
13003 überlassen hatte. Isma mußte an sich halten, um sich nicht
13004 einzumischen, als sie die Bemerkungen der Martier und die Scherze
13005 vernahm, die sie über die Menschen und ihre Industrie machten.
13007 Plötzlich faßte sie Ells Arm und drückte ihn, daß es schmerzte.
13009 „Was gibt es?“ fragte er.
13011 „O sehen Sie!“
13013 Eine Gruppe von Herren und Damen musterten eine Photographie.
13015 „Eine weibliche Bat!“ sagten sie. „Sie ist hübsch“, meinten die
13016 einen.
13018 „Viel zu mager“, die andern.
13020 Es war Ismas Bild. Die Photographie hatte sich unter Torms Effekten
13021 gefunden und war mit andern Kleinigkeiten hierhergekommen.
13023 Die neben Isma stehende Dame, die sie eben zu mager gefunden hatte,
13024 warf zufällig einen Blick auf ihr Gesicht. Sie stutzte und stieß
13025 ihre Nachbarin an. Ell sah, daß man auf seine Begleiterin
13026 aufmerksam wurde. Die Umstehenden wurden still.
13028 „Kommen Sie“, sagte er hastig zu Isma. „Man erkennt Sie.“
13030 Er zog sie fort, beide drängten sich durch das Gewühl. Sie wandten
13031 sich nach einer Stelle, wo das Gedränge geringer war, und glaubten
13032 plötzlich auf dem Dach der Polinsel zu stehen. Das Panorama des
13033 Nordpols breitete sich in naturgetreuer Nachahmung vor ihnen aus.
13034 Dicht zu ihren Füßen schien das Meer zu branden. Das Jagdboot der
13035 Martier lag zur Abfahrt bereit – zwei Eskimos lösten das Seil, das
13036 es am Ufer hielt. Im Boot saßen Martier mit ihren Kugelhelmen. Und
13037 dort – auf der andern Seite –, da standen Grunthe und Saltner, wie
13038 sie leibten und lebten. Grunthe, mit zusammengezogenen Lippen,
13039 schrieb eifrig in sein Notizbuch, Saltner sah lächelnd einer
13040 verhüllten Gestalt nach, die auf zwei Krücken dahinschlich und die
13041 Wirkung der Erdschwere auf die Martier veranschaulichen sollte.
13043 „Da sind unsre Freunde!“ rief Ell, wirklich überrascht. Es waren
13044 meisterhaft nachgebildete Figuren.
13046 Isma stand lange still. Die Plattform begann sich mit andern
13047 Besuchern zu füllen. „Wir wollen lieber gehen“, sagte sie. „Hier
13048 unten scheint es leer zu sein, vielleicht kommen wir dort an den
13049 Ausgang.“
13051 Gegenüber dem Haupteingang führte von dem nachgeahmten Teil des
13052 Inseldaches eine schmale Treppe abwärts. Ell blickte hinunter. „Es
13053 scheint niemand da zu sein“, sagte er.
13055 Sie stiegen hinab und befanden sich in einem Gemach, das einem der
13056 Gastzimmer auf der Insel nachgebildet war. Keiner von ihnen hatte
13057 beachtet, daß über der Tür die Inschrift ›Vorsicht‹ stand und vor
13058 derselben eine Anzahl Stöcke zum Gebrauch aufgestellt waren.
13060 „Oh, hier ist es angenehm“, rief Isma, indem sie sich auf einen der
13061 an der Wand stehenden Lehnstühle setzte. „Hier wollen wir uns ein
13062 wenig ausruhen.“ Sie bemerkte, daß irgendeine Veränderung mit ihr
13063 vorging, die ihr wohltat, wußte jedoch nicht, was der Grund sei.
13065 Ell wollte seinen Sessel in ihre Nähe heben, mußte aber dazu eine
13066 ungewohnte Kraft aufwenden. „Sind diese Sessel schwer!“ sagte er.
13067 Im selben Augenblick fiel ihm die Ursache ein.
13069 „Hier herrscht ja Erdschwere“, rief er überrascht. „Das ist also
13070 auch eine Demonstration, und darum ist es so leer hier.“
13072 „Das ist herrlich!“ sagte Isma vergnügt.
13074 Ein Martier trat in die Tür, knickte zusammen und zog sich sogleich
13075 zurück. Isma lachte laut. Sie sprang auf, drehte sich vor Vergnügen
13076 im Kreis und rief:
13078 „Kommt nur herein, meine Herren Nume, hier ist die Erde, hier
13079 zeigt, ob ihr tanzen könnt!“ Sie schlüpfte hierhin und dahin,
13080 rückte an den Stühlen und nahm ihren Hut ab. „Ich bin wie zu
13081 Hause!“ sagte sie. „Jetzt sieht man erst, daß die angebliche
13082 Leichtigkeit dieser Federhaube eigentlich Schwindel ist. Sehen Sie
13083 nur, wie eilig sie es hat, hinabzufallen!“
13085 Ell sah ihr schweigend zu. Er schüttelte leicht den Kopf. „Ein Kind
13086 der Erde“, dachte er bei sich. „Sie würde hier oben niemals
13087 heimisch werden.“
13089 Isma war vor eine Tür getreten. „Ob es dahinten auch noch schwer
13090 ist?“ fragte sie.
13092 Ell zog den Vorhang zurück. Es zeigte sich ein Balkon, von dem aus
13093 man ins Freie unter die Wipfel der Bäume blickte. Die Gestalt eines
13094 Mannes lehnte am Geländer. Er drehte der Tür den Rücken zu und sah,
13095 mit der Hand die Augen schützend, auf die Straße hinab.
13097 Ell und Isma blickten sich an. Dann lachte Isma auf.
13099 „Da haben sie ja den Saltner noch einmal hingestellt“, rief sie.
13100 „Und wie natürlich! Man möchte meinen, er müßte sich umdrehen und
13101 ›Grüß Gott‹ sagen.“
13103 Die Gestalt schnellte herum.
13105 „Grüß Gott!“ rief Saltners Stimme. Er sprang auf Ell und Isma zu
13106 und schüttelte ihnen die Hände.
13108 „Das ist gescheit“, rief er, „daß man schon einmal Menschen trifft.
13109 Das ist eine Freud! Aber um alles in der Weit, wie kommen denn Sie
13110 alleweil hierher? Ich bin ja gerad auf dem Weg zu Ihnen. Haben’s
13111 denn meine Depesche nicht erhalten?“
13113 „Wir sind seit heute früh von Hause fort.“
13115 „Ja, da wird sie halt dort liegen. Schauens, ich hab Ihnen heut
13116 früh telegraphiert, als wir von Frus Wohnort weggereist sind, um
13117 Sie zu besuchen. Unterwegs wollten sie mir den Kram hier zeigen,
13118 aber wie ich hier in das schöne schwere Zimmer gekommen bin, hab
13119 ich gesagt, nun lassens mich aus, jetzt bleib ich hier, bis Sie
13120 sich alles angeschaut haben, und dann holens mich wieder ab. Denn
13121 das hatt’ ich satt, daß mir die Herren Nume alle nachschauten und
13122 die Kinder mir nachliefen und meine gute Joppe anfaßten.“
13124 „Aber wie konnten Sie auch in Ihrem Reisekostüm von der Erde sich
13125 hier sehen lassen?“
13127 „Wissen Sie, ich bin halt ein Mensch, und so bleib ich einer. Ich
13128 werd mich doch nicht in eine neue Haut stecken, wo ich nicht einmal
13129 eine richtige Westentasch’ für meinen Zahnstocher hab? Und so gut
13130 wie Ihnen, Gnädige, würd mir’s Marsröckel auch nicht stehn.“
13132 Isma schüttelte ihm nochmals die Hand. „Sie sind der alte
13133 geblieben, Herr Saltner! Nun setzen Sie sich mit her, und lassen
13134 Sie sich erst einmal ordentlich von mir ausfragen!“
13136 Saltner schilderte in seiner anschaulichen und drastischen Weise
13137 auf Ismas Fragen die Einzelheiten der Expedition, über die Grunthe
13138 nur in seiner knappen Formulierung berichtet hatte, und ließ sich
13139 von Isma die Ereignisse aus Deutschland und ihre eigenen Erlebnisse
13140 seit der Ankunft Grunthes in Friedau erzählen. Über die Reise Ills
13141 nach dem Pol, den Kampf der Schiffe und die Fahrt nach dem Mars
13142 hatte er bis jetzt nur die Darstellungen kennengelernt, welche die
13143 kurzen Depeschen gaben, und die Gerüchte und Betrachtungen, welche
13144 die Zeitungen daran knüpften. Letztere gründeten sich auf die
13145 mündlichen Mitteilungen der von der Erde zurückgekehrten Martier.
13146 Der offizielle Bericht sollte erst erscheinen, nachdem er vom
13147 Zentralrat dem Hause der Deputierten vorgelegt worden. Dies mußte
13148 inzwischen geschehen sein, denn heute sollte die betreffende
13149 Sitzung stattfinden. Es war zu vermuten, daß die Beratungen darüber
13150 sich noch einige Tage hinziehen würden. Dann erst, nach Anhörung
13151 der Deputiertenversammlung, konnte der Zentralrat einen definitiven
13152 Beschluß fassen über die der Erde gegenüber zu treffenden
13153 Maßnahmen. Da hierbei alle auf der Erde tätig gewesenen höheren
13154 Beamten als Sachverständige eventuell gebraucht wurden, mußte Fru
13155 seinen Urlaub, auf den er sonst nach der Rückkehr von der Erde
13156 Anspruch hatte, unterbrechen, um sich in Kla aufzuhalten. Saltner,
13157 der als Gast der Marsstaaten selbst die Rechte eines Numen erhalten
13158 hatte, war auf seinen eigenen Wunsch unter die spezielle Fürsorge
13159 Frus gestellt worden und wollte nun auch in Kla in seiner Obhut
13160 bleiben. Der weiten Entfernung wegen, welche den gewöhnlichen
13161 Wohnort Frus von Kla trennte, mußte der Transport der Wohnungen
13162 schon am Tag beginnen, und Fru war mit Frau und Tochter und seinem
13163 Gast Saltner vorangereist. Sie wollten sich das Erdmuseum ansehen,
13164 und hier hatte Saltner seine Freunde von der Erde getroffen.
13166 Ill, von den Verhandlungen im Zentralrat völlig in Anspruch
13167 genommen, hatte sich zu Hause über die zu erwartenden Maßnahmen
13168 nicht geäußert und auch aus Schonung für Isma von den letzten
13169 Ereignissen nicht gesprochen. Ell war ganz in der Begeisterung für
13170 die wiedergefundene Heimat des Vaters aufgegangen. So erfuhr er
13171 sowohl wie Isma zuerst von Saltner, daß, wenigstens in den
13172 südlichen Teilen des Mars, aus denen Saltner kam und wo auch die
13173 Mehrzahl der auf der Erde gewesenen Martier herstammte, die
13174 anfängliche Begeisterung für die Erdbewohner sich stark abzukühlen
13175 begonnen hatte.
13177 Der Umschwung war durch das Verhalten der Engländer gegen das
13178 Luftschiff herbeigeführt worden, und sobald die Zeitungen Berichte
13179 über die Behandlung gebracht hatten, die den beiden gefangenen
13180 Martiern zuteil geworden war, begann in einigen Staaten, deren
13181 Bewohner sich durch lebhaftes Temperament auszeichneten, eine
13182 gereizte Stimmung Platz zu greifen. Man verlangte ein entschiedenes
13183 Vorgehen gegen das Barbarentum der Erdbewohner, und nur der Hinweis
13184 der ruhigeren Elemente darauf, daß man keinerlei Urteile abzugeben
13185 berechtigt sei, bevor nicht der amtliche Bericht vorliege, hielt
13186 die menschenfeindliche Bewegung in mäßigen Grenzen. Fru besorgte
13187 jedoch, wie Saltner mitteilte, daß die öffentliche Meinung nach dem
13188 Bekanntwerden des Berichts stark genug sein würde, um auf die
13189 Entschließungen des Zentralrats einen dem guten Verhältnis zur Erde
13190 ungünstigen Einfluß auszuüben.
13192 Isma fühlte sich beängstigt. Sie fürchtete, wenn es zu
13193 Feindseligkeiten der Martier gegen die Erde käme, daß sich ihrer
13194 Rückkehr Schwierigkeiten in den Weg legen könnten, daß vielleicht
13195 die erneute Aufsuchung Torms im Frühjahr durch Maßregeln vereitelt
13196 werden würde, die den Martiern wichtiger erschienen. Ell suchte sie
13197 zu beruhigen. Er sah die Sachlage in viel günstigerem Licht. Ill
13198 werde seinen Bericht jedenfalls so mild wie möglich gestalten. Aus
13199 der ungerechtfertigten Handlungsweise eines einzelnen Kapitäns
13200 könne man unmöglich ein Zerwürfnis zwischen den Planeten herleiten.
13201 Momentane Stimmungen des Publikums hätten auf dem Mars niemals
13202 einen dauernden politischen Einfluß, da ein jeder der Belehrung des
13203 Besseren zugänglich sei.
13205 „Aber wer weiß“, sagte Isma, „wie man auf der Erde denken mag!“
13207 „Wir hätten uns nicht der Gefahr aussetzen sollen, sie verlassen zu
13208 müssen“, sagte Ell etwas verstimmt.
13210 Isma wandte sich schmerzlich berührt ab, und Ell fuhr sogleich
13211 fort:
13213 „Aber an dem feindlichen Zusammenstoß der Schiffe hätten wir ja
13214 doch nichts geändert, auch wenn wir zu Hause geblieben wären. Ich
13215 wollte Ihnen keinen Vorwurf machen, Frau Torm, ich meine nur, wir
13216 dürfen uns jetzt keinen trübsinnigen Grübeleien hingeben. Da wir
13217 nun einmal hier sind –“
13219 „Da lassen wir ruhig die Nume weitersorgen, das will ich auch
13220 meinen“, sagte Saltner. „Es sind wirklich ganz prächtige Leute
13221 dabei, und wir Menschen müssen halt ein bissel zusammenhalten. Hier
13222 unser Doktor Ell, der wird sich ja wohl auch noch zu uns rechnen.
13223 Oder –“
13225 „Wo bleiben Sie, Sal?“ fragte eine tiefe Frauenstimme zur Tür
13226 herein. „Kommen Sie gefälligst heraus, wir haben auf der Erde
13227 Schwere genug genossen. Es ist übrigens irgend etwas Besonderes zu
13228 sehen, wo wir hingehen müssen.“
13230 „Das ist La“, rief Saltner, eilig aufspringend. „Oh, kommen Sie
13231 mit, ich mache Sie gleich alle bekannt.“ Und sich zu den
13232 Angekommenen wendend, rief er: „Da bringe ich Ihnen neue Menschen!
13233 Nun bin ich doch nicht mehr das einzige Wundertier.“
13235 Fru und die Seinigen begrüßten Ell und Isma sehr freundlich. Isma
13236 fühlte sich trotzdem etwas verlegen; bei aller taktvollen
13237 Zurückhaltung der Martier wußte sie doch, daß sie von ihnen, die
13238 zum ersten Mal ein weibliches Wesen von der Erde sahen, einer
13239 lebhaften Prüfung unterworfen wurde. Aber Las Herzlichkeit half ihr
13240 sogleich über diesen Zustand fort. Sie gab Isma nach Menschenart
13241 die Hand und redete sie deutsch an.
13243 „Ich weiß“, sagte sie, „welch bedauerliche Zufälle Sie zu uns
13244 führten, uns aber müssen wir es zum Glück anrechnen, eine Schwester
13245 von der Erde in Ihnen begrüßen zu dürfen. Unser Freund Saltner hat
13246 schon viel von Ihnen erzählt. Und Sie sind es ja gewesen, der die
13247 Martier die erste Gabe europäischer Arbeit verdanken – den
13248 Flaschenkorb nämlich, den Grunthe den unsrigen beinahe auf den Kopf
13249 geworfen hat. Ohne den Flaschenkorb hätten wir –“, sie wandte sich
13250 zu Ell, „Ihren prächtigen Leitfaden nicht gefunden, und ich könnte
13251 wahrscheinlich jetzt nicht in Ihrer Sprache mit Ihnen reden.“
13253 Sie zog dabei die Reproduktion des Büchleins aus ihrem
13254 Reisetäschchen und zeigte sie Ell, mit dem sie jetzt martisch
13255 weitersprach.
13257 Sie fragte ihn, welchen Eindruck das Denkmal auf ihn gemacht habe,
13258 das die Marsstaaten seinem Vater in der Ruhmesgalerie der
13259 Raumschiffer errichtet hatten. Aber dorthin war Ell noch gar nicht
13260 gekommen. Er wollte sogleich diesen Besuch nachholen, die andern
13261 aber wünschten einer soeben neu eröffneten Schaustellung
13262 beizuwohnen, nach der dichte Scharen von Besuchern hinströmten. Die
13263 Richtungsweiser, denen sie folgten, besagten nur ›Neues von der
13264 Erde‹, ohne nähere Angabe. Auch Isma war daher sehr gespannt,
13265 dieses Neue kennenzulernen, Ell ließ sich jedoch von seinem
13266 Vorhaben nicht abhalten. Er trennte sich am Eingang der Galerie von
13267 den übrigen, und man verabredete nur, sich in einer halben Stunde
13268 in der Lesehalle des Museums zu treffen.
13270 Die Besucher drängten nach dem Theater des Museums, worin von Zeit
13271 zu Zeit Vorträge über die Erde oder die Raumschiffahrt gehalten
13272 wurden. Diese wurden durch bewegliche Lichtbilder illustriert, die
13273 mit aller Kraft martischer Malerei und Technik so plastisch
13274 wirkten, daß sie vollkommen den Eindruck der Wirklichkeit
13275 hervorriefen. Als Frus mit ihrer Begleitung ankamen, war das
13276 Theater, obwohl es Raum für zwanzigtausend Personen bot, schon
13277 überfüllt. Da jedoch Fru bei der Einrichtung des Erdmuseums tätigen
13278 Anteil genommen hatte, wußte er seine Gesellschaft \erratum{}{in }einen von den
13279 weniger ortsbekannten Besuchern meist übersehenen Gang zu führen,
13280 der auf eine Reihe noch freier Plätze auslief. Sie befanden sich in
13281 ziemlich versteckter Lage zwischen den architektonischen
13282 Verzierungen über einem der Eingänge. Sehr bald ertönte ein Signal,
13283 das den Beginn der Vorstellung bezeichnete, und die Riesenhalle
13284 verdunkelte sich. Auf der Bühne, das heißt auf einer Kreisfläche
13285 von etwa dreißig Metern Durchmesser zeigte sich eine vorzüglich
13286 dargestellte Gegend aus dem Polargebiet der Erde, ein Teil des
13287 Kennedy-Kanals, mit felsigen Ufern und Gletscherabstürzen, wie er
13288 aus der Vogelperspektive des Luftboots in einigen hundert Meter
13289 Höhe erschien. Die Polardämmerung lag über der Landschaft, die von
13290 einem strahlenden Nordlicht erhellt wurde. Nun erfolgten die
13291 Lichteffekte des Sonnenaufgangs, und es erschien das kleine
13292 Luftboot der Martier. Im Vordergrund erkannte man den Cairn, an
13293 welchem die Engländer bauten, man sah, wie sie denselben verließen,
13294 in den Abgrund stürzten, von den Martiern herausgeholt und am Fuße
13295 des Steinmannes niedergelegt wurden. Die ganze Szene, von den
13296 Zuschauern mit lebhaftem Beifall begleitet, wurde durch die
13297 künstlich verstärkte Stimme eines gewandten Redners erklärt.
13299 Es erschienen nun, vom Standpunkt der am Cairn befindlichen Martier
13300 aus nicht sichtbar, die englischen Seesoldaten; fratzenhafte
13301 Gestalten, wahre Teufel, in unmöglicher Kleidung, führten sie, ihre
13302 Gewehre schwingend, einen wilden Kriegstanz auf, der durchaus der
13303 Phantasie des martischen Wirklichkeitsdichters entstammte. Isma und
13304 Saltner war es peinlich, den Eindruck zu beobachten, den diese
13305 Szene auf das Publikum ausübte. Es nahm sie in vollem Glauben auf
13306 und wollte sich über die abenteuerlichen Wilden totlachen.
13308 Saltner schüttelte den Kopf. „Ich bin kein Freund der Englishmen“,
13309 sagte er, „aber so sehen sie doch nicht aus, und so benehmen sie
13310 sich auch nicht. Man bringt ja den Martiern ganz falsche Begriffe
13311 von den Menschen bei.“
13313 „Unseren gefangenen Landsleuten, denen so übel mitgespielt wurde,
13314 sind sie jedenfalls so erschienen“, sagte La. „Sie haben ihre
13315 Schilderungen offenbar unter dem Eindruck der erlittenen
13316 Mißhandlungen gemacht.“
13318 „Ich bedauere trotzdem“, bemerkte Fru unwillig, „daß man hier diese
13319 Aufführung veranstaltet, es ist unsrer nicht würdig. Aber seit
13320 jenem Zwischenfall ist leider von einem Teil der Presse die Ansicht
13321 verbreitet worden, daß die Menschen nicht als vernünftige Wesen zu
13322 betrachten und als gleichberechtigt zu behandeln seien. Das ist
13323 nicht gut.“
13325 Die Szene änderte jetzt ihren Charakter aus dem Komischen in das
13326 Schauerliche. Die Engländer stürzten unter wildem Geheul, das
13327 akustisch wiedergegeben wurde, auf die beiden Martier zu und
13328 überfielen sie. Die Martier scheuchten sie majestätisch zurück, und
13329 es entwickelte sich zunächst eine Art Diskussion, die durch das
13330 menschliche Kauderwelsch, welches Englisch vorstellen sollte, einen
13331 Augenblick ins Komische umzuschlagen schien, aber sofort die
13332 Entrüstung der Zuschauer wachrief, als eine neue Schar von Wilden
13333 den Martiern in den Rücken fiel und sie hinterrücks niederriß. Dann
13334 wurden den unglücklichen Opfern die Arme zusammengeschnürt und sie
13335 an langen Stricken fortgeschleppt.
13337 Bei diesem Anblick brach im Theater ein unheimlicher Lärm aus. Wie
13338 ein Wutschrei ging es durch die Masse der Zuschauer. Die Fesselung,
13339 die Beraubung der persönlichen Bewegungsfreiheit, war die größte
13340 Schmach, die einem Numen angetan werden konnte. Die Gesamtheit der
13341 Martier fühlte sich dadurch beleidigt. Und seltsam, während man die
13342 Menschen eben als unvernünftige Wesen belacht hatte, betrachtete
13343 man sie doch jetzt als verantwortlich für ihre Handlungen. Die
13344 Darstellung hatte offenbar die Tendenz, die Menschen als böse zu
13345 zeigen, indem das Folgende ihre Intelligenz zu verdeutlichen
13346 bestimmt war. Das englische Kriegsschiff dampfte herbei. Es schien
13347 ganz im Vordergrund zu liegen, und in einem kaum verfolgbaren
13348 Wechsel des Bildes befand man sich plötzlich an Bord desselben. Die
13349 vorzügliche Einrichtung, die musterhafte Ordnung, die Waffen und
13350 Maschinen bewiesen die hohe technische Kultur der Menschen; dagegen
13351 stach die rohe Behandlung der Gefangenen häßlich ab und empörte die
13352 Zuschauer nur um so heftiger. Mit Jubel wurde daher das Erscheinen
13353 des großen Luftschiffes begrüßt und der Kampf zwischen den Martiern
13354 und Menschen mit Enthusiasmus verfolgt. Die erhabene Friedensliebe
13355 der Nume schien verschwunden, in dieser gereizten Versammlung
13356 wenigstens kam sie nicht zum Ausdruck. Und als in einem ästhetisch
13357 wunderbar gelungenen Schlußtableau auf der Eisscholle am Felsenufer
13358 Ill selbst erschien und den Gefangenen die Fesseln löste, artete
13359 die Vorstellung zu einer eindrucksvollen patriotischen Kundgebung
13360 aus. Die Rufe „Sila Nu“ und „Sila Ill“ brausten durch das Haus.
13362 Isma lehnte sich ängstlich zurück. Sie fürchtete jeden Augenblick,
13363 sich selbst oder wenigstens Ell auf der Bühne erscheinen zu sehen;
13364 aber mit diesen den Martiern befreundeten Menschen wußte die
13365 tendenziöse Dichtung nichts anzufangen, sie waren einfach
13366 fortgelassen. Saltner war wütend. „So was dürfte die Polizei gar
13367 nicht erlauben“, sagte er, „bei uns würde man das gleich verboten
13368 haben.“
13370 „Was wollen Sie“, sagte La, „dies ist eine Privatveranstaltung. Sie
13371 können das Theater mieten und morgen eine Verherrlichung der Erde
13372 aufführen.“
13374 Sie sah ihn lächelnd an, und er schwieg.
13376 „Es muß auch etwas geschehen“, sagte Fru, „um der Verbreitung
13377 dieser Menschenhetze entgegenzuwirken. Lassen Sie uns gehen.“
13379 \section{31 - Mars-Politiker}
13381 Die Entleerung des Theaters geschah trotz der ungeheueren
13382 Zuschauermenge in wenigen Minuten, denn zahlreiche breite Gänge
13383 führten nach allen Seiten auseinander und mündeten nach der Straße
13384 hin. Man hörte überall unter dem Eindruck der Vorstellung
13385 verächtlich über die Menschen sprechen, doch hatte die übertriebene
13386 Darstellung der Menschen als Wilde das Gute, daß niemand auf die
13387 Vermutung kam, in Isma und Saltner solche Erdbewohner vor sich zu
13388 haben, obwohl Saltner in seiner Joppe, die Hände in den Taschen, in
13389 recht auffallender Weise einherschlenderte und den prüfenden
13390 Blicken, die ihn gelegentlich trafen, ungeniert begegnete. Aber da
13391 jetzt alle in gleicher Richtung sich bewegten und noch von den
13392 Eindrücken erfüllt waren, die sie eben erhalten hatten, so achtete
13393 man wenig auf ihn.
13395 Erst als sich Fru mit seiner Begleitung in dem Vorraum der
13396 Lesehalle zwischen dichten Gruppen sich lebhaft unterhaltender
13397 Martier hindurchdrängen mußte, wurde man wieder auf ihn aufmerksam.
13398 Hier begegneten sich Besucher des Theaters und solche, die aus der
13399 Lesehalle kamen und sich soeben mit den neuesten Nachrichten
13400 bekanntgemacht hatten. Es herrschte eine sichtliche Erregung.
13401 Verkäufer riefen die neuen Blätter aus für diejenigen, die sich das
13402 in der Halle Gelesene in eigenen Exemplaren mit nach Hause nehmen
13403 wollten.
13405 „Der Bericht des Zentralrats!“ – „Die Rede des Repräsentanten
13406 Ill!“
13408 „Die Rede des Deputierten Eu!“ – „Der Antrag Ben.“
13410 „Karte der Erde!“ – „Leben und Tod des Kapitäns All.“
13412 „Der Sohn des Numen auf der Erde.“ – „Bild des Baten Saltner!“ –
13413 „Bildnis der Batin Torm.“
13415 Isma und Saltner verstanden das in eigentümlichem Tonfall
13416 herausgestoßene Martisch der Ausrufer nicht. Fru und La suchten
13417 schnell mit ihren Begleitern aus dem Gewühl in die Lesehalle zu
13418 gelangen. Aber Saltner erkannte in der Hand eines Verkäufers sein
13419 wohlgetroffenes Bildnis.
13421 „Was?“ rief er. „Da werd' ich wohl gar feilgehalten. Das ist mir
13422 doch noch nicht passiert, das muß ich mir mitnehmen.“
13424 Die um den Verkäufer Herumstehenden hatten ihn nun natürlich
13425 sogleich erkannt. Bald war die Gruppe von Neugierigen umringt, und
13426 es fielen manche nicht sehr schmeichelhafte Äußerungen.
13428 Saltner nahm sein Bild in Empfang und zahlte. Man hatte ihm als
13429 Gast der Regierung einen anständigen Reisefonds übermittelt.
13431 „Da schaut mich an“, sagte er, sich in Positur stellend, „wenn Ihr
13432 noch keinen anständigen Bat gesehen habt.“ Und auf martisch fügte
13433 er hinzu: „Nun, seh ich aus wie ein Engländer?“
13435 La drängte ihn vorwärts. Sie führte Isma am Arm, die ihren Schleier
13436 vorgezogen hatte und ihrer martischen Tracht wegen nicht auffiel.
13437 Die Nahestehenden blickten Saltner nicht gerade wohlwollend an,
13438 belästigten ihn aber in keiner Weise und folgten ihm auch nicht,
13439 als er sich durch sie hindurchdrängte, obwohl ihm jetzt jeder
13440 nachsah. So gelangten alle in das Innere der Lesehalle, die aus
13441 einer Reihe großer Säle bestand.
13443 Die langen Tafeln waren dicht besetzt. Viele der Lesenden benutzten
13444 diese Zeit, um ihrer offiziellen Lesepflicht zu genügen. Denn jeder
13445 Martier war verpflichtet, bei Verlust seines Wahlrechts, aus zwei
13446 Blättern, von denen eines ein oppositionelles sein mußte, täglich
13447 über die wichtigsten politischen und technischen Neuigkeiten sich
13448 zu unterrichten. Die größeren Blätter gaben zu diesem Zweck kurze
13449 Auszüge besonders heraus.
13451 Im Saal herrschte absolute Stille. Hier wurde nicht gesprochen. An
13452 den Wänden befanden sich jedoch kleinere Abteilungen, verschlossene
13453 Logen, in mehreren Stockwerken übereinander, in denen sich Bekannte
13454 zusammensetzen und ihre Meinungen austauschen konnten. In eine
13455 solche Plauderloge begab sich Fru mit seinen Begleitern. Er schloß
13456 die Tür und trat an einen Fernsprecher, der zur Verwaltung führte.
13457 Hier nannte er seinen Namen und die Nummer der Loge. Dann fragte
13458 er, ob Ell re Kthor, am gel Schick, nach ihm gefragt habe. Die
13459 Antwort besagte, ja, er befinde sich in Loge 408. Fru ließ ihm nun
13460 die Nummer seiner Loge sagen und ihn zu sich bitten. Auf demselben
13461 Weg machte er eine Bestellung auf eine Reihe Erfrischungen, die
13462 alsbald auf automatische Weise in dem Schrankaufsatz des Tisches
13463 erschienen, der auch hier die Mitte des Zimmers einnahm.
13465 Es befand sich darunter für jeden Anwesenden eine Schüssel mit
13466 Wasser, das durch eine kleine Flamme in lebhaftem Sieden erhalten
13467 wurde.
13469 „Ach“, rief Saltner, „das sind heiße Boffs, das ist die beste
13470 Frucht auf diesem künstlichen Planeten; das ist wirkliche Natur.“
13472 Isma kannte die Speise noch nicht und fragte danach.
13474 „Um Himmels willen“, sagte Saltner, „nennen Sie die Boffs nicht
13475 eine Speise, sonst dürfen wir sie ja nicht zusammen essen. Das ist
13476 eben das Beste daran, daß sie nicht als Speise, sondern als
13477 Erfrischung gelten, weil sie wirkliche Früchte, in der Natur
13478 gewachsen sind, eine Art Erdgurken, oder wie man sie nennen soll,
13479 und deshalb hier gemeinschaftlich gegessen –“
13481 „O pfui“, sagte La, ihn leicht auf den Arm schlagend. Sie las
13482 bereits eifrig in einer Zeitung, in die sie sich jetzt wieder
13483 vertiefte.
13485 „Ich wollte sagen, genossen, ästhetisch verwendet werden dürfen.
13486 Aber gut schmecken sie doch.“
13488 Er zog die Schüssel an sich heran und griff – zum Erschrecken Ismas
13489 – mit der Hand in das siedende Wasser, eine der rötlichen,
13490 gurkenartigen Früchte hervorziehend.
13492 „Sie brauchen nicht zu fürchten, daß Sie sich verbrennen“, sagte er
13493 lachend zu Isma. „Das Wasser ist gar nicht heiß, es siedet in
13494 unverschlossenen Gefäßen hier schon bei 45 Grad Celsius. Das ist ja
13495 ein Planet ohne Luftdruck.“
13497 „Lassen Sie endlich unsern Nu in Frieden“, sagte La lachend, indem
13498 sie die Zeitung beiseite legte, „sonst werden Sie mit dem nächsten
13499 Schiff nach dem Südpol Ihrer abscheulichen schweren Erde
13500 transportiert. Lesen Sie lieber die neuesten Beschlüsse, sie werden
13501 Sie interessieren. Ich fürchte nur, mit dem Urlaub wird es diesmal
13502 nichts sein. Wer weiß, ob wir nicht wieder fort müssen!“
13504 Isma horchte auf.
13506 „Nach der Erde?“ fragte sie. „Schickt man Schiffe jetzt nach der
13507 Erde?“
13509 In diesem Augenblick trat Ell ein. Er sah erregt aus. In der Hand
13510 hielt er einen Stoß Blätter und Zeitungen, die er teils gekauft,
13511 teils aus dem Saal entnommen hatte.
13513 Ehe er sich in die Lesehalle begab, hatte er lange vor dem Denkmal
13514 seines Vaters gesessen. Es war eine Porträtstatue in Lebensgröße,
13515 die All in seinen jüngeren Jahren darstellte, in der Kleidung des
13516 Raumschiffers. Man glaubte ihn durch die Stellithülle des
13517 Raumschiffs auf der Kommandobrücke stehend zu sehen und mit ihm auf
13518 die unter ihm liegende Erde hinabzublicken. Aus seinen Augen sprach
13519 der feste Entschluß, auf diesen Planeten siegreich seinen Fuß zu
13520 setzen.
13522 „Du hast uns den Weg gezeigt, den wir nun betreten“, so klang es in
13523 Ells Seele. „Dir verdanken wir die Erde, die du mit deinem Leben
13524 uns gewonnen hast.“
13526 Die jugendlichen, kräftigen Züge des Bildes schienen sich zu
13527 verwandeln. Ell sah in ihnen wieder den schwermütigen, ernsten
13528 Mann, wie er ihn gekannt, nur der siegreiche Blick des Auges war
13529 geblieben, der ihm entgegenfunkelte, wenn der Vater dem Jüngling
13530 von der Heimat sprach und von der großen Aufgabe, die Erde zu
13531 gewinnen für die Numenheit. Er gedachte des eigenen Lebens und der
13532 letzten Jahre, die er auf der Erde gearbeitet hatte, erfüllt von
13533 dem Gedanken, daß der Menschheit Glück abhinge von ihrer Befreiung
13534 durch die Kultur der Martier. Und jetzt stand er auf dem Mars, nun
13535 blickte er hinab auf die Erde, und es war ihm, als verlöre sich das
13536 Schicksal der Erdbewohner wie eine Episode in der Geschichte der
13537 Sterne, als lebe er mit den Numen um der Nume willen und sähe in
13538 der Besetzung der Erde nur eine der Stufen, das höchste Leben des
13539 Geistes im Kampf mit den widerstrebenden Kräften der Natur zu
13540 erhalten. Was war ihm nun die Menschheit? Was wär sie ihm gewesen?
13541 Wenn er sie zu lieben glaubte, war es nicht allein die Eine
13542 gewesen, in der er die Menschheit liebte? Was hielt ihn noch an dem
13543 barbarischen Planeten? Das Andenken seiner Mutter? Sie war dahin;
13544 dieses Andenken blieb ihm überall. Und die tiefblauen Augen der
13545 heißgeliebten Frau, deren weltfernes Leuchten durch all die Jahre
13546 hindurch mit unverminderter Kraft in seinem Herzen gewirkt hatte?
13547 Sie wirkten fort und fort mit ihrer zarten Gewalt – die teuren
13548 milden Züge, von denen ein glückliches Lächeln zu gewinnen sein
13549 steter Gedanke, für die er nahe daran gewesen war, seine Numenheit
13550 zu vergessen, um sie zu erobern mit den Mitteln der Menschen für
13551 sich und um ihretwillen ein Mensch zu werden wie die andern! Und
13552 jetzt, jetzt konnte er dies sicherer wie je, nie war er diesem Ziel
13553 näher gewesen. Aber diese Frau war hierhergekommen, weil sie
13554 ausgezogen war, ihren Mann zu suchen, und er hatte sich ihr gelobt,
13555 ihn finden zu helfen. Sie wird ihn finden, und drunten in Friedau
13556 oder in einer andern Stadt, wohin der Ruhm des Polentdeckers sie
13557 führen würde, da wird sie glücklich sein und der Reise nach dem
13558 Mars und des fernen Freundes gedenken wie eines Traumes, der
13559 zerronnen ist. Und er? Sollte er weiter leben dort unten, um eine
13560 flüchtige Stunde ihrer Nähe zu gewinnen, um sich zu versichern, daß
13561 er zu ihr gehöre, wie ein teures Schmuckstück ihres Daseins? Sollte
13562 er wieder zwischen diesen engherzigen Schlauköpfen wandeln, um ihre
13563 ganze, verständnislose Wirtschaft zu verachten?
13565 Nein, nun er die Freiheit der Heimat gekostet hatte, konnte er
13566 nicht dauernd auf die Erde zurückkehren. Was war ihm noch die
13567 Menschheit?
13569 „Ein Vermächtnis hast du uns gelassen, o Vater“, so sagte Ell im
13570 stillen zu sich, „die Erde, auf der du littest, zu gewinnen zu
13571 einem höheren Zweck. Und ich vor allen habe die Pflicht, dies
13572 Vermächtnis anzutreten. In Frieden wollen wir die Menschheit
13573 gewinnen und ihr zum Segen. Und, ein Menschensohn, weiß ich von
13574 ihren Schmerzen zu sagen. Aber wenn unseliger Mißverstand zum
13575 Streit führt, so kann mein Platz nur dort sein, wo du gestanden
13576 hast.“
13578 Er erhob sich. Bald umwogte ihn wieder der Verkehr des Tages. Er
13579 begab sich nach der Lesehalle. Begierig griff er nach den neuen
13580 Depeschen und studierte sie, bis Fru ihn rufen ließ.
13582 „Wissen Sie schon alles?“ war gleich seine erste Frage beim
13583 Eintritt. Er sprach martisch. La antwortete lebhaft. Fru und seine
13584 Gattin mischten sich ein. Die Martier sprachen schnell und eifrig.
13585 Ell hatte offenbar noch etwas Wichtiges erfahren. Isma und Saltner
13586 konnten dem schnellen Gespräch nicht folgen. Die Menschen schienen
13587 einen Augenblick vergessen. Es war nur eine Minute der Erregung.
13588 Dann wandte sich La mit ihrem freundlichen Lächeln zu Isma.
13590 „Haben Sie alles verstehen können?“ fragte sie. „Ihr Freund bringt
13591 uns wichtige Mitteilungen.“
13593 „Ich konnte nicht folgen“, sagte Isma.
13595 Jetzt erst wandte sich Ell zu Isma. Sie sah ihn an. In ihren Augen
13596 lag es wie eine schmerzliche Bitte: Verlaß mich nicht. Ich bin
13597 einsam. Ich weiß nicht, was das alles soll. Sie fragte ihn jetzt:
13599 „Was gibt es denn Neues? Erzählen Sie nun auch mir einmal.“
13601 Und während dieser kurzen Worte wechselte ihr Ausdruck. Der
13602 ängstliche Zug wich einem frohen Vertrauen. Sie fühlte sich wieder
13603 sicher, seitdem er neben ihr weilte.
13605 „Ist es etwas Ungünstiges?“ fragte sie weiter, als Ell zögerte.
13607 La war der Wechsel in Ismas Mienen nicht entgangen. Sie hatte das
13608 Aufblitzen ihrer Augen beobachtet, als Ell eintrat, und jetzt die
13609 Beruhigung ihrer Stimmung. Und ebenso unbemerkt blickte sie auf Ell
13610 und las in seiner Seele. Er wandte sich mit einem fragenden Blick
13611 an sie, aber sie beugte sich schnell zu Saltner hinüber.
13613 „Ich weiß wirklich nicht“, sagte Ell, „was wir von der Sache zu
13614 erwarten haben, aber jedenfalls können wir jetzt auf eine
13615 schnellere Entwicklung gefaßt sein. Es werden Schritte getan, noch
13616 während des Winters Nachrichten von der Erde zu erhalten.“
13618 „Wie ist das möglich?“ fragte Isma.
13620 „Haben Sie die Vorgänge in der Kammer von heute vormittag gelesen?“
13621 Isma schüttelte den Kopf.
13623 „Wir sind eben erst gekommen“, sagte Fru, „und wissen selbst noch
13624 nichts Zusammenhängendes. Wir bemerkten nur, daß die Stimmung gegen
13625 die Erde umgeschlagen zu sein scheint.“
13627 „Ich sah eben hier zufällig“, fügte La hinzu, „daß die Südbezirke
13628 auf eine starke Armierung des Erdsüdpols dringen und ein Vorgehen
13629 von dort aus wünschen, und ich wußte nicht, was das zu bedeuten
13630 hat.“
13632 „Dann erlauben Sie, daß ich in Kürze mitteile, was ich gelesen
13633 habe. Der Bericht der Regierung stellte den Konflikt mit dem
13634 englischen Kriegsschiff und die Gefangennahme und Behandlung
13635 unserer Leute als das dar, was er war, ein unglücklicher Zufall
13636 und die Tat eines untergeordneten Kapitäns, für die man kaum die
13637 englische Regierung, geschweige denn die Bewohner der Erde
13638 verantwortlich machen dürfe. Sie erklärte, daß durch diesen
13639 Zwischenfall an dem ursprünglichen Plan nichts geändert werde. Man
13640 wolle im Beginn des nördlichen Erdfrühjahrs eine starke
13641 Luftschifflotte bereithalten, um, sobald die Nordstation zugänglich
13642 sei, die zu diesem Zweck früher als sonst eröffnet werden sollte,
13643 sofort sämtliche Großmächte der Erde in ihren Hauptstädten
13644 aufzusuchen. Man werde den Regierungen einen Vertrag über den
13645 Verkehr und die Handelsbeziehungen zum Mars vorschlagen und die
13646 Vorkehrungen so treffen, daß sich das Übereinkommen ruhig und
13647 friedlich vollziehe. Nur einen böswilligen Widerstand werde man im
13648 Interesse der Gesamtheit eventuell mit Gewalt niederwerfen, indem
13649 man über den betreffenden Staat das Protektorat der Marsstaaten
13650 aussprechen werde.
13652 Diese Erklärung fand aber lebhaften Widerspruch, sowohl von der
13653 Opposition gegen die Erdkolonisation, die unter der Führung von Eu
13654 schon immer die weitgehenden Pläne der Erdbesiedelung bekämpfte,
13655 als auch von einer erst infolge der letzten Nachrichten
13656 entstandenen Gruppe, denen das Vorgehen gegen die Erde nicht scharf
13657 genug erschien. Und beide standen nun zusammen. Denn Eu vertrat
13658 jetzt den Standpunkt, es wäre von Anfang an das beste gewesen, sich
13659 überhaupt nicht um die Menschen zu kümmern; nachdem aber die
13660 Regierung einmal den Fehler gemacht habe, die Existenz der Nume zu
13661 verraten und durch feindselige Handlungen gegen die Menschen sich
13662 bloßzustellen, verlange es die Pflicht der Numenheit, den
13663 Erdbewohnern auch den richtigen Begriff derselben und Aufklärung
13664 über die Bedeutung und die Absicht der Nume zu geben. Es sei
13665 Menschenblut geflossen und der Numenheit Schmach angetan worden.
13666 Die Sühne könne nur in einer großen Tat friedlicher Kultur
13667 bestehen. Es müsse den Erdbewohnern gezeigt werden, daß wir ihre
13668 Gewohnheit des Kampfes mit den Waffen verabscheuen und als
13669 unsittlich verwerfen. Es sei deswegen über die ganze Erde der
13670 Planetenfrieden zu gebieten und die Entwaffnung sämtlicher Staaten
13671 zu verlangen.“
13673 „Jesus Maria!“ rief Saltner. „Das nenn ich einen Radikalen! Ich hab
13674 schon nichts dagegen, aber, was meinens, was sie bei uns auf dem
13675 Kriegsministerium dazu sagen werden?“
13677 „Das Verlangen der chauvinistischen Gruppe“, fuhr Ell fort, „war
13678 nicht weniger radikal. Sie erklärten, die Menschen hätten durch ihr
13679 Verhalten bewiesen, daß sie dem Begriff der Numenheit noch nicht
13680 zugänglich seien. Sie seien nicht als freie Persönlichkeiten zu
13681 behandeln und nicht würdig des Weltfriedens. Man solle sie im
13682 Gegenteil ruhig untereinander wüten lassen, aber die ganze Erde und
13683 ihre Bewohner als Eigentum der Marsstaaten erklären. Die einzelnen
13684 Gebiete der Erde seien unter die einzelnen Marsstaaten aufzuteilen,
13685 um die Einkünfte derselben zu vermehren. Die Menschen seien
13686 ausdrücklich als unfrei und Nicht-Nume zu bezeichnen und die
13687 Erdstaaten durch vom Zentralrat eingesetzte Gouverneure zu
13688 beaufsichtigen. Im Resultat aber waren beide oppositionelle
13689 Parteien einig, die Unterwerfung der Erde müsse sofort mit allen
13690 Mitteln in Angriff genommen werden.
13692 Die Debatte war sehr heftig, und die Regierung hatte einen schweren
13693 Stand. Noch während der Sitzung schloß sich die chauvinistische
13694 Gruppe zu einer Fraktion der ›Antibaten‹ zusammen, und aus großen
13695 Teilen des Landes trafen bereits zustimmende Erklärungen ein für
13696 die Menschenfeinde.
13698 Allmählich gelang es jedoch der Regierung, den Parteien begreiflich
13699 zu machen, daß man die Erdbewohner aus Unkenntnis unterschätze;
13700 eine derartige Bestimmung über sie werde nicht durchzusetzen sein,
13701 ohne zu den Gewalttätigkeiten zu führen, die man gerade verabscheue
13702 und verhüten wolle. So kam ein Kompromiß zustande, zunächst noch
13703 ein genaueres Studium der Machtverhältnisse der Erdstaaten
13704 abzuwarten. Doch mußte die Regierung ihrerseits zugestehen,
13705 sogleich wenigstens von England eine Bestrafung des Kapitäns der
13706 ›Prevention‹ und eine Genugtuung für die Mißhandlung der Gefangenen
13707 zu verlangen.
13709 Dieser Kompromiß zwischen Opposition und Regierung fand endlich im
13710 Antrag Ben seinen Ausdruck. Danach sollte sobald als möglich ein
13711 Raumschiff nach der Südstation der Erde abgehen und drei große
13712 Erdluftschiffe dahin bringen. Vom Südpol aus sollte zunächst mit
13713 der englischen Regierung verhandelt werden, um eine Genugtuung für
13714 die Gefangennahme der beiden Martier und die Beschädigung des
13715 Luftschiffs zu verlangen. Man sollte sich jedoch dabei der größten
13716 Mäßigung befleißigen, einerseits um die wohlmeinende, obwohl ernste
13717 Gesinnung der Martier zu zeigen, andrerseits weil man es vor Beginn
13718 des Frühjahrs der nördlichen Erdhalbkugel nicht zu einer größeren
13719 Aktion kommen lassen durfte. Denn die Station auf dem Südpol bot
13720 weder den Raum noch die Sicherheit der Landung für eine größere
13721 Flotte der Martier; auch wäre es wenig praktisch gewesen – soviel
13722 sah auch die antibatische Opposition ein –, vom Südpol aus mit den
13723 Großmächten der Erde zu verhandeln, da der Weg vom Südpol bis
13724 Berlin oder Petersburg selbst für ein Luftschiff der Martier fast
13725 vierundzwanzig Stunden in Anspruch nahm. Der Zentralrat wurde mit
13726 der sofortigen Ausführung der Maßnahmen beauftragt. Die letzte
13727 Depesche besagte bereits, daß der Zentralrat einen besonderen
13728 Erdausschuß mit einjähriger Amtsdauer und weitreichenden
13729 Vollmachten ernannt und den Repräsentanten Ill zum Leiter desselben
13730 bestimmt habe. Das ist augenblicklich der Stand der Dinge“, schloß
13731 Ell. „Was sagen Sie dazu?“
13733 Er warf die Zeitungen auf den Tisch und ging erregt auf und ab.
13734 Niemand antwortete sogleich. Die Nachrichten waren nicht nur von
13735 weittragender politischer Wichtigkeit, sie mußten zugleich das
13736 private Geschick der hier Versammelten unmittelbar beeinflussen.
13737 Die Mienen waren düster geworden. Nur Isma pochte das Herz freudig.
13738 Sie war sofort entschlossen, alles daranzusetzen, um nach dem
13739 Südpol und von dort nach Hause zurückzukehren. Wollte man sich mit
13740 England in Verbindung setzen, so mußte doch ein Luftschiff nach
13741 bewohnten Gegenden, wenn nicht nach London, so wenigstens nach den
13742 Kolonien, wahrscheinlich nach Australien, abgesandt werden, und mit
13743 diesem hoffte sie reisen zu können. Und wenn dies nicht möglich
13744 war, so konnte sie immerhin auf baldige Nachrichten von der Erde
13745 rechnen. Diese Gedanken und Wünsche gingen durch ihr Gemüt, während
13746 ihre Hände das Flugblatt zerknitterten, das ihr Porträt zeigte; es
13747 hatte sich unter den von Ell mitgebrachten Papieren befunden.
13749 „Wollen Sie nicht Platz nehmen?“ sagte La zu Ell. Er setzte sich
13750 hastig und beschämt. Das Menschenblut in ihm hatte ihn hin- und
13751 hergetrieben. Als Martier schickte sich das ja nicht, da verhielt
13752 man sich ruhig. Er ärgerte sich.
13754 „Das ist fatal, höchst fatal“, begann jetzt Fru. „Ich halte den
13755 Beschluß für einen schlimmen politischen Fehler. Auch Ill wird
13756 dieser Ansicht sein, aber er konnte jedenfalls nicht mehr
13757 durchsetzen. Unsre Politiker kennen die Verhältnisse zu wenig.
13758 Verhandlungen, denen wir nicht die Tat auf dem Fuße folgen lassen
13759 können, müssen unsern Standpunkt erschweren und bei den Regierungen
13760 der Erde nur die Meinung erwecken, daß sie uns nicht ernst zu
13761 nehmen brauchen.“
13763 „Eine sakrische Dummheit ist’s“, platzte Saltner deutsch heraus.
13765 „Sie fürchten“, sagte La, sich zu Ell wendend, „daß wir auf diese
13766 Weise zur Anwendung von Gewalt gedrängt werden?“
13768 „Wohl möglich“, erwiderte Ell. „Doch die Menschen werden bald
13769 begreifen, daß sie sich uns fügen müssen. Wir werden ihnen zeigen,
13770 daß wir nur ihr Bestes wollen.“
13772 „Ich fürchte Schlimmeres“, entgegnete La lebhaft. „Die Verhältnisse
13773 werden sich so entwickeln, daß die antibatische Bewegung immer mehr
13774 Nahrung erhält. Statt des Friedens werden wir den Kampf zwischen
13775 den Planeten bekommen, man wird die Menschen nicht als
13776 gleichberechtigt anerkennen – es wird furchtbar werden.“
13778 „Oh, lassen Sie uns zurückkehren!“ rief Isma. „Bitten Sie Ihren
13779 Oheim, daß uns das erste Schiff nach dem Südpol mitnimmt.“
13781 Ell antwortete nicht. Er blickte finster vor sich hin. Fru stand
13782 auf. „Ich glaube“, sagte er, „es ist das beste, wenn wir unsere
13783 Reise fortsetzen und Ihren Oheim aufsuchen. Bis wir an unser
13784 provisorisches Quartier und an Ihre Wohnung gelangen, ist die
13785 Ruhezeit gekommen. Wir treffen uns dann alle zur Plauderstunde bei
13786 Ill.“
13788 „Wir wollten noch nach dem Retrospektiv“, sagte Ell.
13790 „Dazu ist es ohnehin schon zu spät.“
13792 „Ich habe heute genug gesehen“, fügte Isma hinzu.
13794 Man brach auf. Der Weg bis zu dem Depot der Radschlitten, wo auch
13795 Fru seinen viersitzigen Gleitwagen gelassen hatte, betrug einige
13796 Minuten. La nahm Ismas Arm.
13798 „Am Schlitten bekommen Sie Ihre Damen wieder“, sagte sie zu Ell und
13799 Saltner. Sie schritt mit Isma voran.
13801 „Sie möchten gern nach der Erde zurück, nicht wahr?“ sagte sie zu
13802 Isma. „Ich sah es Ihnen an, und Sie hoffen, nach dem Südpol
13803 mitzugehen. Aber würden Sie auch ohne Ell gehen?“
13805 „Er wird mitgehen, wenn man uns überhaupt mitnimmt. Er muß gehen,
13806 er gehört jetzt auf die Erde.“
13808 La schwieg. Sie streifte Isma mit einem teilnehmenden Blick und
13809 sah, wie eine feine Röte ihre Wangen bedeckte.
13811 „Meine Frage darf Sie nicht verletzen“, sagte sie bittend. „Ich
13812 kann mir wohl denken, daß es für Sie schwer sein muß, die weite
13813 Reise ohne Begleitung eines Menschen zu machen. Aber ich glaube
13814 auch nicht, daß man Sie jetzt mitnehmen wird. Das Schiff wird zu
13815 Ausrüstungszwecken voll in Anspruch genommen sein. Und auf dem
13816 Südpol finden Sie nicht die Bequemlichkeit wie auf dem Nordpol. Ich
13817 wollte Sie nur bitten, sich nicht Hoffnungen zu machen, die
13818 vermutlich enttäuscht werden müssen. Aber jedenfalls dürfen Sie
13819 darauf rechnen, daß Sie nun bald Nachrichten von der Erde bekommen.
13820 Dafür wird Ill Sorge tragen. Und Sie brauchen sich nicht verlassen
13821 unter uns zu fühlen. Ich werde mich herzlich freuen, wenn ich Ihnen
13822 dienen kann.“
13824 Isma dankte, aber sie konnte sich eines bedrückenden Gefühls nicht
13825 erwehren. Warum bedurfte sie dieses Mitleids? Sie fühlte sich
13826 verletzt, ohne La zürnen zu können.
13828 Die Radschlitten erschienen. Man verabschiedete sich. Mit Benutzung
13829 der Stufenbahn konnte man in einer halben Stunde zu Hause sein.
13831 Isma saß stumm an Ells Seite. Sie sah, daß seine Gedanken nicht mit
13832 ihr beschäftigt waren. Sie wollte ihn jetzt nicht fragen, was er zu
13833 tun gedenke. So tauschten sie nur flüchtige Worte, bis der Wagen
13834 vor Ills Haus hielt.
13836 \section{32 - Ideale}
13838 La ließ ihre Hände von der Schreibmaschine herabgleiten und lachte
13839 herzlich, indem sie sich in ihrem Sessel zurücklehnte.
13841 „Nein“, sagte sie, „das ist ja nicht zu glauben! Das ist wirklich
13842 zu komisch. Diese Bate! ich glaube, da muß selbst Schti lachen.“
13844 Ein allerliebstes, schneeweißes Flügelpferdchen, nicht größer wie
13845 ein kleines Kätzchen, flatterte von dem Büchergestell, wo es
13846 gesessen, auf die Lehne von Las Armstuhl und blickte sie mit seinen
13847 klugen Augen ernsthaft an. Das Tierchen sah wirklich aus wie ein
13848 Miniatur-Pegasus, nur hatte es statt der Hufe zierliche Zehen, mit
13849 denen es sich anklammern konnte. Zoologisch betrachtet gehörte es
13850 zu den Insekten und war eine Art Heuschrecke, die aber auf dem Mars
13851 warmes Blut besaßen und die höchstentwickelte Gruppe der Insekten
13852 darstellten. Der Kopf war der eines Pferdes mit fast
13853 menschenähnlichem Ausdruck, die Flügel saßen an den Schultern und
13854 glichen denen einer Libelle.
13856 „Schti muß lachen!“ sagte La.
13858 Das Tierchen stieß einen Laut aus wie eines helles Lachen. „Ko
13859 Bate, Ko Bate“, sprach es dann deutlich.
13861 La streichelte ihm das weiche Fellchen, und es rieb sein Köpfchen
13862 an ihrer Hand.
13864 „Schti muß studieren!“ Das gut abgerichtete Tierchen flog auf das
13865 Bücherbrett und setzte sich gravitätisch hin.
13867 La fuhr in ihrer Schreibarbeit fort. Auf dem Gestell über der
13868 Schreibmaschine stand eines der deutschen Bücher, die Ell
13869 mitgebracht hatte. Es war ein kurzgefaßter Grundriß der
13870 ›Weltgeschichte‹, das heißt des wenigen, was man über die
13871 Geschichte der abendländischen Menschheit wußte. La übersetzte das
13872 Buch in Ills Auftrag ins Martische. Während sie ihre Augen langsam
13873 über den Text gleiten ließ, lagen ihre Hände auf der Klaviatur und
13874 ihre Finger schrieben ganz mechanisch in martischen Zeichen den
13875 Sinn der gelesenen Sätze nieder. Die Arbeit nahm ihre
13876 Aufmerksamkeit nicht mehr in Anspruch, als der Strickstrumpf die
13877 einer älteren Kränzchendame, und hinderte sie nicht, sich lebhaft
13878 mit Ell zu unterhalten, der zum Besuch gekommen war.
13880 „Es ist eigentlich mehr traurig als komisch“, sagte Ell. „Denn die
13881 Sache geht nicht immer bloß mit dem Knallen ab. Oft genug kommen
13882 schwere Verwundungen und Todesfälle vor, und das Leben eines
13883 Mannes, der verpflichtet wäre, der Menschheit und den Seinigen sich
13884 zu erhalten, ist einem sinnlosen Vorurteil hingeopfert.“
13886 „Das ist abscheulich. Aber ich denke, Vernunft und Gesetz verbieten
13887 den Zweikampf. Wie ist er denn noch möglich?“
13889 „Durch Unvernunft. Es gibt nämlich Menschen, die sich einbilden
13890 Vernunft und Gesetz seien zwar ganz gut für das Volk, aber dieses
13891 würde den Respekt vor Vernunft und Gesetz verlieren, wenn es nicht
13892 durch eine auserwählte Gruppe von Menschen in Schranken gehalten
13893 würde. Diese Auserwählten könnten sich jedoch nur dadurch als
13894 solche erweisen, daß sie sich einen gewissen Zwang, eine Pönitenz
13895 auferlegten, indem sie selbst zum Teil auf das höchste Gut der
13896 Menschheit, Vernunft und Freiheit, verzichten und sich zum Sklaven
13897 überlebter Formen machen. Sie meinen wohl, durch den Widerspruch,
13898 den ihre Sitten erwecken, in der Allgemeinheit die Herrschaft der
13899 Vernunft um so mehr zu stärken.“
13901 „Welch edle Seelen, so zum Besten der Kultur sich selbst zu opfern!
13902 Ein wahrhaft menschlicher Gedanke, die Kultur durch Unkultur des
13903 eigenen Lebens zu fördern! Es wäre ein bloßer Irrtum, wenn er nicht
13904 leider dadurch unmoralisch würde, daß der egoistische Zweck
13905 unverkennbar ist.“
13907 „Gewiß, sich selbst als Kaste zu unterscheiden. Es will jeder etwas
13908 Besonderes sein.“
13910 „Das soll er ja auch“, sagte La, „etwas Besonderes aber nur durch
13911 seine Freiheit, durch die innere Freiheit, mit der wir die Mittel
13912 bestimmen, in unserm Leben das Vernunftgesetz zu verwirklichen.
13913 Aber diese Leute lassen, nach Ihrer Schilderung, die innere
13914 Freiheit gar nicht gelten, weil sie sie nicht kennen. Sie setzen
13915 ihre Ehre in Äußerlichkeiten. Ich kann mir denken, wie schwer es
13916 ihnen sein mußte, in dieser Gesellschaft zu leben.“
13918 „Ich kann auch nicht in ihr leben“, erwiderte Ell. „Für sie besteht
13919 die Ehre eines Menschen in dem, was andere von ihm halten und
13920 sagen; deswegen glauben sie auch, sie könnte durch Beleidigungen
13921 vernichtet, durch rohe Gewalt wiederhergestellt werden. Als ob mich
13922 der Wille eines andern erniedrigen könnte, als ob es nicht die
13923 größte Selbsterniedrigung wäre, die eigene Vernunftbestimmung der
13924 fremden Meinung unterzuordnen! Und da ich in ihr leben mußte, so
13925 war mein inneres, wahres Leben eine Lüge in ihrem Sinne, eine
13926 Umgehung ihrer konventionellen Sitten. Doch das ist das wenigste,
13927 das ist für mich nur unangenehm, für meine Freunde beschwerlich.
13928 Aber das Unerträgliche, das Schmerzende liegt in dem Gedanken, daß
13929 diese Millionen und Abermillionen vernünftiger Wesen durch ihre
13930 bloße Dummheit, durch die mangelhafte Entwicklung ihres Gehirns,
13931 durch die fehlende Bildung in einem Zustand gehalten werden, der
13932 sie schwach, elend, unglücklich, unzufrieden und ungerecht macht.
13933 Denn sie sind nicht böse. Sie wollen das Gute, sie wollen die
13934 Freiheit. Ihr Gefühl ist lebendig und warm. Darin sind sie uns
13935 gleichstellend; die Idee des Guten, als die Selbstbestimmung, durch
13936 die wir Vernunftwesen sind, ist in ihnen wirksam wie in uns,
13937 insofern sind sie unsere Brüder. Aus der Menschheit erblühten
13938 Religionen tiefster Wahrhaftigkeit und Kraft, die ihnen die
13939 Offenbarung gaben, um die es sich handelt – unser individuelles
13940 Leben in Raum und Zeit, den Inhalt unsres Daseins, den wir Natur
13941 nennen, zu gestalten zu einem Mittel, um als freie Vernunftwesen
13942 über Raum und Zeit das Reich der Ideen zu umfassen. Und Weise sind
13943 ihnen erstanden, die gezeigt haben, wie es zu begreifen sei, daß
13944 das Leben des einzelnen abrollt wie ein Rädchen im Getriebe der
13945 Weltenuhr und dennoch das Ich dessen, der es selbst lebt, das ganze
13946 Uhrwerk erst zu schaffen hat. Aber die wenigsten haben die Weisheit
13947 verstanden. Sie haben das Gesetz, aber sie mißdeuten es und wissen
13948 es nicht anzuwenden; sie verfallen stets in Irrtum. Und deswegen,
13949 weil es Unwissenheit ist und nicht Mangel an Wille und an Gefühl
13950 für das Gute, deswegen glaube ich, daß wir der Menschheit helfen
13951 können. Verständiger müssen wir sie machen – nur nicht verständiger
13952 im Sinne der Menschen, für die verständig nur bedeutet: klug sein
13953 auf Kosten der andern.“
13955 „Möge Sie dieser Glauben nicht täuschen. Ich fürchte, es ist nicht
13956 bloß der Mangel an Verständnis des Zusammenhangs der Dinge, es ist
13957 noch mehr die Unfähigkeit, das wirklich zu wollen, was man als gut
13958 erkannt hat, es ist die Schwäche des Charakters hier, die Stärke
13959 des Egoismus dort, weshalb die Menschen den unvermeidlichen Kampf
13960 ums Dasein in so bedauernswerter Weise führen.“
13962 „Das bestreite ich nicht, daß diese Mängel zur Erniedrigung der
13963 Menschen beitragen, aber doch nur subjektiv, indem sie den
13964 einzelnen unfähig machen, des Glücks der inneren Freiheit sich zu
13965 erfreuen. Aber auch hier kann nur eine Vertiefung der Einsicht
13966 helfen. Die Handlungen sind ja immer bedingt durch diejenigen
13967 Vorstellungen, denen der höchste Gefühlswert zukommt, und diese
13968 Gefühlswerte richtig zu verteilen, ist Sache der Bildung.“
13970 „Wenn aber jemand“, sagte La, „ganz genau weiß, zum Beispiel ein
13971 Schüler, deine Pflicht verlangt jetzt, das und das zu tun, diese
13972 Arbeit zu vollenden, und wenn du es nicht tust, so wirst du nicht
13973 bloß Reue haben, sondern auch sinnlich schwer dafür büßen, und
13974 trotz dieser klaren Einsicht verleitet ihn doch eine momentane
13975 Lust, und sei es bloß das Lustgefühl der Faulheit, die Arbeit nicht
13976 zu tun, so sehen Sie doch, alle Einsicht hilft nichts gegen die
13977 Willensschwäche.“
13979 „Das spricht gerade für mich“, erwiderte Ell lebhaft.
13980 „Willensschwäche ist doch nur falsche Richtung des Willens,
13981 Richtung auf das Unterlassen statt auf das Handeln. Vorstellungen
13982 sind immer dabei entscheidend. Die Einsicht war dann eben
13983 tatsächlich noch nicht vorhanden, nicht umfassend genug. Dem
13984 Schüler in Ihrem Beispiel haben sich etwa die Vorstellungen
13985 eingeschlichen, die an ihn gestellte Forderung sei ein
13986 unberechtigter Zwang oder die gefürchteten Nachteile werden zu
13987 umgehen sein und dergleichen. Der Erwachsene, der den Zusammenhang
13988 klarer durchschaut, wird einfach seine Pflicht tun. In anderen
13989 Fällen wird er sich in der Lage des Schülers befinden, aber diese
13990 Fälle werden immer seltener, je weiter die Einsicht reicht. Wenn
13991 mich der Zorn übermannt, so daß ich den Gegner verletze, so beruht
13992 mein Fehler darauf, daß ich nicht Zeit zur Überlegung hatte. Warum
13993 sind die Nume soviel milder als die Menschen? Weil sie schneller
13994 denken. Im Augenblick des Affekts ist das Bewußtsein des Menschen
13995 ganz vom sinnlichen Reiz erfüllt, er vermag nicht alle die
13996 Gedankenreihen zu durchlaufen, die ihm die Folgen seiner Handlungen
13997 zeigen; er braucht dazu längere Zeit, und dann ist es zu spät. Der
13998 Nume fühlt nicht minder lebhaft den Reiz, vielmehr noch viel
13999 feiner; aber sein Gehirn ist so geübt, daß im Moment der ganze
14000 Zusammenhang der Folgen seines Zustandes ihm ins Bewußtsein tritt
14001 und sein Handeln bestimmt. Das ist es, was man Besonnenheit nennt.
14002 Nicht mit Unrecht hielten sie die Griechen für die höchste der
14003 Tugenden, aber sie wußten sie nicht zu erringen. Lassen Sie uns den
14004 Irrtum verringern, und wir werden die Menschen bessern.“
14006 „Die Leidenschaften werden Sie nicht ausmerzen.“
14008 „Daran denke ich natürlich nicht. In ihnen ruht ja der Wert des
14009 Lebens, und die Nume freuen sich ihrer. Nur die Art ihrer Wirkung
14010 können wir und müssen wir durch den Verstand regulieren. Auch die
14011 Schwächen der Nume – und die werden Sie nicht leugnen – beruhen
14012 auf demselben Grund wie die der Menschen. Sie sind vom Leben
14013 sinnlicher Wesen untrennbar. Die starken Gefühle sind die großen
14014 Reservoirs der Energie des Gehirns, aus denen sie zur
14015 Wechselwirkung des Lebens herausströmt. Wären sie nicht mehr da, so
14016 hörte das Leben auf, so hörte das Denken auf. Aber auf den Weg
14017 kommt es an, den die Entladung der Gehirnenergie bei der Explosion
14018 des Gefühls nimmt. Es ist damit wie bei unsern Gebirgen auf der
14019 Erde. Sie sind die Sammelbecken der Gewässer, die von ihnen
14020 herabströmend den Völkern ihre segenspendende Kraft verbreiten. Die
14021 Niveauunterschiede müssen überall sein, wo Energieaustausch, wo
14022 Leben und Geschehen sein soll. Aber wie dieses Herabströmen
14023 stattfindet, das macht den Unterschied von Barbarei und Kultur. Der
14024 reißende Wildbach zerstört und verrinnt nutzlos. Bepflanzen wir die
14025 Abhänge, verteilen wir die Wasser, führen wir sie durch Turbinen
14026 und wandeln ihre Arbeit durch Maschinen um, so schaffen sie die
14027 Kultur. Diese Pflanzungen, diese Maschinen sind im Gehirn die
14028 Zellen der Rindensubstanz, in denen der Weltzusammenhang sich
14029 bildet. Die Macht des Gedankens ist es, die den Ausgleich der
14030 Gefühle zur Kultur lenkt. Und diese läßt durch Lehre und Erziehung
14031 sich erweitern. Das zu tun, sind wir den Menschen schuldig, wie
14032 Erwachsene den Kindern. Denn Kinder sind sie.“
14034 „Ja“, sagte La, „Kinder sind sie, das habe ich auch gefunden, und
14035 darum mögen Sie in Ihren Ansichten recht haben, Ell. Wie das Kind
14036 nur die eine Wirklichkeit kennt, wie das Spielzeug, die Mutter und
14037 die Erde am Himmel ihm keine andre Realität besitzen als seine
14038 Hand, und diese keine andere als das Produkt seiner Phantasie, so
14039 können auch die Menschen die Arten der Wirklichkeit nicht
14040 unterscheiden. Selbst ein geistig so hochstehender Mann wie Saltner
14041 vermag es nicht zu begreifen, daß dasselbe lebendige Individuum
14042 gleichzeitig ganz verschiedene Realitäten besitzt, je nach dem
14043 Zusammenhang, in welchem es sich bestimmt. Die Frau an der
14044 Schreibmaschine ist ein Stück Naturmechanismus, die den notwendigen
14045 Zusammenhang zwischen verschiedenen Zeichen für dieselbe
14046 Vorstellung registriert, wenn sie, wie ich hier, eure langweilige
14047 Geschichte übersetzt. Dieselbe Frau, wenn sie den Freund zärtlich
14048 anblickt, ist ein Stück des Phantasiespiels, das unser Leben mit
14049 seinem schönen Schein verklärt. Und wenn sie ein Versprechen
14050 einlöst, ist sie ein Stück der ethischen Gemeinschaft der Nume.
14051 Aber keine dieser Realitäten wirkt auf die andere, kann die andere
14052 verpflichten, außer in der freien Bestimmung der Persönlichkeit
14053 dieser Frau selbst. Das kann unser Freund nicht verstehen. Er denkt
14054 immer, es müsse noch ein anderer Zusammenhang bestehen, notwendig
14055 wie die Natur in Raum und Zeit, zwischen diesen Tätigkeiten –“
14057 „Sehen Sie – dieser Mangel der Einsicht ist es, welcher die
14058 menschliche Gesellschaft beschwert. Stets werfen sie das
14059 Verschiedene zusammen als Eines, indem sie es mit falschen
14060 Gefühlswerten belasten. Da ist der religiöse Glaube; er ist die
14061 Form, wie die Persönlichkeit das Weltgesetz in ihr Gefühl aufnimmt;
14062 die Menschen aber machen daraus ein Bekenntnis, das andre
14063 verpflichten soll und sich damit aufhebt. Da ist das Vaterland, die
14064 nationale Gemeinschaft; sie ist ein Mittel, die Macht des einzelnen
14065 zusammenzufassen, um für die Menschheit zu wirken; die Menschen
14066 umkleiden sie mit einem Gefühl, das sie zum Selbstzweck macht und
14067 infolgedessen Feindschaft der Nationen bewirkt. Da ist der
14068 natürliche, berechtigte Trieb der Selbsterhaltung; die Menschen
14069 machen daraus einen vernichtenden Egoismus, der zum Kampf der
14070 Gesellschaftsklassen führt. Und so mit allem. Hier kann Aufklärung
14071 helfen. Natürlich nicht, um Vollendung zu schaffen, die es
14072 überhaupt nicht gibt, aber eine höhere Stufe der Kultur. Es wäre
14073 nicht das erste Mal, daß Aufklärung die Menschen befreit hat, aber
14074 da mußte sie sich blutig durchkämpfen. Diesmal soll eine überlegene
14075 Macht den Sieg von vornherein gewähren.“
14077 „Aber wie denken Sie sich diese Einwirkung? Ehe Anschauungen und
14078 Gewohnheiten sich ändern, müssen Generationen vergehen – die
14079 Menschheit selbst muß sich ändern –“
14081 „Die Planeten haben Zeit. Aber die Hauptsache wird schnell
14082 geschehen. Die Menschen brauchten Jahrtausende, um den
14083 gegenwärtigen Stand ihres Wissens zu gewinnen; unter der Leitung
14084 geschickter Lehrer eignet sich heute der einzelne dieses Wissen in
14085 wenigen Jahren an. Wir werden die heutigen Menschen nicht zu Numen
14086 machen, aber wir werden sie in diesem Sinn führen. Nur muß unsre
14087 Bevormundung ihre Freiheit nicht beschränken, sondern allein den
14088 richtigen Gebrauch derselben erzielen. Das Niveau der Gesamtbildung
14089 läßt sich binnen kurzem so heben, daß sie eine klare Einsicht in
14090 das gewinnen, was im Leben möglich und erstrebbar ist. Sie werden
14091 erkennen, daß es eine Utopie ist, die Gleichheit der
14092 Lebensbedingungen anzustreben, daß die Gleichheit nur besteht in
14093 der Freiheit der Persönlichkeit, mit der ein jeder sich selbst
14094 bestimmt, und daß diese Freiheit gerade die Ungleichheit der
14095 Individuen in der sozialen Gemeinschaft voraussetzt. Wir haben ja
14096 doch viele Jahrtausende hindurch die sozialen Kämpfe durchgemacht,
14097 bis wir erkannt haben, daß der Kampf selbst unvermeidbar, die
14098 Gehässigkeit aber auszuschließen ist, daß in einem edlen Wettstreit
14099 alle Stufen der Lebensführung nebeneinander bestehen können. Nur
14100 eines ist dazu notwendig: dem einzelnen die Zeit zu geben, sich
14101 selbst zu bilden, zu kultivieren. Die Menschen können sich darum
14102 nicht selbst helfen, wenigstens nicht helfen, ohne den furchtbaren
14103 Kampf von Jahrtausenden, weil sie die Mittel nicht haben, den
14104 Massen die Sicherheit der notwendigsten Lebenshaltung zu geben.
14105 Diese Not der Massen können wir abstellen, ohne jene Utopie der
14106 Nivellierung des Vermögens. Wir können ihnen zeigen, daß das Hin-
14107 und Herschwanken des individuellen Besitzes sich nicht ändern läßt
14108 und auch nicht geändert zu werden braucht, daß aber jedem, der
14109 arbeitet, ein befriedigendes, seinen Fähigkeiten angemessenes
14110 Auskommen gewährleistet werden kann und daß niemand Not zu leiden
14111 braucht. Denn wir können den Menschen die Quelle des Reichtums
14112 erschließen durch unsre Technik, und wir können erzwingen, daß die
14113 damit verbundenen Besitzänderungen sich in Ruhe vollziehen. Den
14114 kleinlichen Eigennutz, den Krämersinn, die Unduldsamkeit, die
14115 Klassenherrschaft bringen wir zum Verschwinden, sobald ein jeder
14116 klar zu durchschauen vermag, welche Stelle im großen Zusammenwirken
14117 der einzelnen er ausfüllt. Der tückische, nagende Neid entflieht
14118 aus der Welt, und Menschenliebe hält den siegreichen Einzug.“
14120 Ell war aufgestanden, seine Augen leuchteten, begeistert sah er in
14121 die Zukunft, die ihm nahe herangekommen schien. La hatte die Hände
14122 von der Schreibmaschine herabsinken lassen. Sie blickte ihn an.
14124 „Halten Sie mich nicht für einen Schwärmer“, fuhr er fort. „Nicht
14125 daß ich meinte, Leid und Schmerz aus der Menschheit verbannen zu
14126 können. Ohne sie stände das Weltgetriebe still. Aber reinigen
14127 können wir dieses Leid, veredeln zu dem heiligen Schmerz, der
14128 untrennbar ist von der Liebe und dem Einblick in uns selbst. Die
14129 fremden Schlacken können wir ausstoßen, die aus der Not, der Roheit
14130 und der Dummheit stammen.“
14132 „Sie glauben an die Menschheit“, sagte La. Auch sie erhob sich und
14133 streckte ihm die Hand entgegen. „Ich begann an ihr zu zweifeln, ich
14134 will es Ihnen gestehen. Ob sich Ihr Traum erfüllen läßt, ich weiß
14135 es nicht, aber ich danke Ihnen, daß Sie ihn träumen, daß Sie ihn
14136 mir erzählten. Sie haben mir neuen Mut gemacht, denn ich fürchtete
14137 manchmal, daß das Zusammentreffen mit den Menschen beiden Teilen
14138 verderblich werden könnte.“
14140 „Fürchten Sie das nicht, La. Die Erde ist reich, viel reicher als
14141 der Mars. Sie empfängt von der Sonne fast das Zehnfache der Energie
14142 wie wir. So lange die alte Sonne strahlt, ist das Leben gesichert.
14143 Was läßt sich unter unseren Händen aus dieser Riesenkraft schaffen!
14144 In einem Jahr wird die Erde bedeckt sein mit Fabriken, in denen wir
14145 mit Hilfe der Sonnenenergie aus den unerschöpflichen Quellen der
14146 Erde von Luft, Wasser und Gesteinen Lebensmittel erzeugen und
14147 verteilen, die nahezu nichts kosten. Die äußere Not ist mit einem
14148 Schlag auch von dem Ärmsten genommen. Die Besitzer des Bodens
14149 können wir ohne Mühe entschädigen. Ich rechne, daß wir für jeden
14150 Menschen in den zivilisierten Staaten – denn diese können
14151 allerdings vorläufig erst in Betracht kommen – im Durchschnitt vier
14152 bis sechs Stunden gewinnen, die er nunmehr allein seiner geistigen
14153 Ausbildung widmen kann. Wir führen unsere Lehrmethoden ein. Die
14154 Menschen sind lernbegierig. Die unmittelbare Zuführung von
14155 Gehirnenergie wird ihnen die neue Anstrengung zur Lust machen. Die
14156 Wahnvorstellungen der Tradition in allen Bevölkerungsklassen werden
14157 verschwinden. Die Rüstungen, die Kriege hören auf. Wir üben in
14158 dieser Hinsicht zunächst einen leichten Zwang aus, bis die bessere
14159 Einsicht durchgedrungen, die bessere Haltung zur Gewohnheit
14160 geworden ist. Denn dies freilich wird notwendig sein; der Mensch
14161 muß zu jeder großen Veränderung erst gezwungen werden, bis er den
14162 Vorteil begreift und das Neue lieben lernt. Ich habe alles schon
14163 mit Ill durchgesprochen.“
14165 „Sie müssen die Menschen besser kennen als ich“, sagte La. „Aber
14166 glauben Sie denn, daß das alles sich ohne Gewalt durchführen
14167 läßt?“
14169 „Ich hoffe es. Wenn aber nicht, so werden wir sie anwenden –“
14171 „O Ell, da sprechen Sie als Mensch – und das ist meine große Sorge
14172 – ihr Menschen werdet uns vergessen machen, daß Gewalt ein Übel
14173 ist, unwürdig –“
14175 Die Klappe des Fernsprechers löste sich.
14177 „Ist La zu Hause?“ fragte Saltners Stimme.
14179 „Ja, ja“, rief La. „Kommen Sie nur. Sie haben sich den ganzen Tag
14180 noch nicht sehen lassen.“
14182 „Ich komme sogleich.“
14184 \section{33 - Fünfhundert Milliarden Steuern}
14186 Eine Minute später trat Saltner ein. Seine Miene verzog sich ein
14187 wenig enttäuscht, als er Ell in lebhaftem Gespräch mit La fand.
14188 Gleich nach der Begrüßung holte er ein Zeitungsblatt hervor.
14190 „Da“, sagte er, „lesen Sie bitte. Wenn die Nume so sind, weiß man
14191 wirklich nicht, ob man lachen soll oder sich entrüsten. Zur
14192 Abwechslung werde ich mich einmal entrüsten. Es ist –“
14194 „Sal, Sal“, rief La lachend, „setzen Sie sich, bitte, ruhig her,
14195 und dann wollen wir sehen, ob wir nicht lieber lachen wollen.“
14197 Sie faßte seine Hand und zog ihn an ihre Seite. „Der Streit der
14198 Planeten soll uns nichts anhaben“, sagte sie leise.
14200 Ell ergriff das Blatt und las:
14202 „Wie wir aus sicherer Quelle erfahren, soll die Ausrüstung des nach
14203 dem Südpol der Erde zu entsendenden Raumschiffs weitere zwanzig bis
14204 dreißig Tage in Anspruch nehmen. Man macht angeblich noch Versuche,
14205 um die Luftschiffe gegen etwaige Angriffe von Menschen
14206 widerstandsfähiger zu machen. Ja, es soll der Bau dieser Schiffe
14207 überhaupt stark im Rückstand sein. Wir finden diese Verzögerung
14208 seitens der Erdkommission unverantwortlich. Die Erregung gegen die
14209 Menschen wächst sichtlich und mit vollem Recht. Man hat aus den
14210 Berichten der Augenzeugen erfahren, daß die Darstellung jenes
14211 Zwischenfalls mit dem englischen Kriegsschiff von der Regierung
14212 viel zu milde gefärbt war. Die den Numen angetane Schmach erfordert
14213 eine schnelle Bestrafung der Schuldigen. Wozu überhaupt diese
14214 Umstände mit dem Erdgesindel?“
14216 „Erdgesindel! Hören Sie!“ rief Saltner, „Da soll doch gleich –“
14218 Ein Händedruck Las hielt ihn auf seinem Platz. „Lesen Sie weiter“,
14219 sagte sie zu Ell.
14221 „Wir haben genaue Informationen über die Verhältnisse auf der Erde
14222 eingezogen. Sie sind geradezu haarsträubend. Von Gerechtigkeit,
14223 Ehrlichkeit, Freiheit haben diese Menschen keine Ahnung. Sie
14224 zerfallen in eine Menge von Einzelstaaten, die untereinander mit
14225 allen Mitteln um die Macht kämpfen. Darunter leidet die
14226 wirtschaftliche Kraft dermaßen, daß viele Millionen im
14227 bedrückendsten Elend leben müssen und die Ruhe nur durch rohe
14228 Gewalt aufrecht erhalten werden kann. Nichtsdestoweniger überbieten
14229 sich die Menschen in Schmeichelei und Unterwürfigkeit gegen die
14230 Machthaber. Jede Bevölkerungsklasse hetzt gegen die andere und
14231 sucht sie zu übervorteilen. Wer sich mit der Wahrheit hervorwagt,
14232 wird von Staats wegen verurteilt oder von seinen Standesgenossen
14233 geächtet. Heuchelei ist überall selbstverständlich. Die Strafen
14234 sind barbarisch, Freiheitsberaubung gilt noch als mild. Morde
14235 kommen alle Tage vor, Diebstähle alle Stunden. Gegen die
14236 sogenannten unzivilisierten Völker scheut man sich nicht, nach
14237 Belieben Massengemetzel in Szene zu setzen. Doch genug hiervon! Und
14238 diese Bande sollen wir als Vernunftwesen anerkennen? Wir meinen, es
14239 ist unsre Pflicht, sie ohne Zaudern zur Raison zu bringen durch die
14240 Mittel, die ihr allein verständlich sind, durch Gewalt. Es sind
14241 wilde Tiere, die wir zu bändigen haben. Denn sie sind um so
14242 gefährlicher, als sie Spuren von Intelligenz besitzen. Leider hat
14243 man sich, wie es scheint, in der Regierung durch einzelne Exemplare
14244 dieser Gesellschaft täuschen lassen, und wir wollen nur hoffen, daß
14245 hierbei bloß ein Irrtum und nicht eine Rücksicht auf gewisse
14246 Beziehungen vorliegt –“
14248 Ell unterbrach sich.
14250 „Das ist denn doch zu arg!“ rief er. „Das sind Verdächtigungen, die
14251 man sich nicht gefallen lassen kann.“
14253 „Meine Befürchtung!“ sagte La. „Die Berührung mit den Menschen
14254 bringt einen Ton in unser Verhalten, wie er sonst im öffentlichen
14255 Leben nicht Sitte war. Nein, Ell, nein, meine lieben Freunde, Sie
14256 sind gewiß nicht daran schuld; es liegt in der Sache selbst – die
14257 antibatische Bewegung setzt eine Verrohung des Gemüts überhaupt
14258 voraus.“
14260 Saltner rieb sich ingrimmig die Hände. „Lesen Sie nur weiter“,
14261 sagte er. „Jetzt haben Sie sich entrüstet, und ich werde wieder
14262 lachen.“
14264 „Wir halten es für sinnlos“, las Ell weiter, „daß zwischen Wilden
14265 wie den Erdbewohnern und zwischen Numen überhaupt eine Verbindung
14266 verwandtschaftlicher Art stattfinden könne. Der Fall Ell bedarf
14267 entschieden einer näheren Untersuchung und Aufklärung. Wir haben
14268 diesen angeblichen Halbnumen noch nicht gesehen. Aber ein richtiges
14269 Exemplar der Menschheit hatten wir zu betrachten das zweifelhafte
14270 Vergnügen. Wer dieses stupide Gesicht mit den blinzelnden Punkten,
14271 die Augen sein sollen, diesen unanständigen, ungefärbten Anzug,
14272 diese rohen Bewegungen einmal gesehen hat, der wird sich sagen,
14273 diese Rasse kann von uns nur als vielleicht nutzbares Haustier
14274 geduldet werden.“
14276 Ell warf das Blatt fort.
14278 La brach in ein herzliches, leises Lachen aus, in das Saltner
14279 einstimmte. Sie trat vor Saltner und nahm seinen Kopf zwischen ihre
14280 Hände. „Ich muß mir doch einmal unser Haustierchen betrachten“,
14281 sagte sie lustig. „Sie sind wirklich ausgezeichnet geschildert.“
14283 Sie sah in seine Augen, ihre Züge wurden ernster, ihr Blick inniger
14284 und tiefer. „Mein lieber, braver Freund“, sagte sie. Sie bog seinen
14285 Kopf zurück und küßte ihn.
14287 Ell lächelte nun auch. „Wenn man so entschädigt wird“, sagte er,
14288 „muß man ja bedauern, nicht auch kräftiger geschildert zu sein.
14289 Aber Sie haben recht, man muß auf dieses dumme Zeug keinen Wert
14290 legen. Trotzdem bin ich froh, daß man Frau Torm wenigstens aus dem
14291 Spiel gelassen hat.“
14293 „Es lohnt sich natürlich nicht, sich darüber zu ärgern“, sagte
14294 Saltner, „nichtsdestoweniger kann das Geschreibe Unheil
14295 anrichten.“
14297 „Dazu ist es doch zu dumm, das nimmt niemand ernsthaft. Man kennt
14298 das Blatt als unzuverlässig.“
14300 „Aber ich habe hier noch etwas anderes, das vielleicht politisch
14301 nicht ohne Einfluß sein dürfte. Ich hörte, daß ähnliche Ansichten
14302 nicht nur in weiten Kreisen geteilt werden, sondern sogar im
14303 Zentralrat Anhänger besitzen. Lesen Sie folgende Vorschläge, die
14304 das neugegründete Blatt, die ›Ba‹, macht.“
14306 Ell nahm das Blatt und las: „Es ist bezeichnend für unsre
14307 Regierung, die sich 144 Luftschiffe für die Erde bewilligen ließ,
14308 daß sie jetzt im entscheidenden Augenblick kein einziges bereit
14309 hat. Aber für die Staaten ist es ein Glück. Die Begeisterung der
14310 Kolonialschwärmer hat Zeit, sich abzukühlen, und diese Abkühlung
14311 schreitet schnell vorwärts. Es wird auffallend still über unsre
14312 Brüder im Sonnensystem, die wir mit der Liebe und Freiheit der Nume
14313 umschließen sollen. Und es ist gut, daß wir zur Besinnung kommen.
14314 Man glaube nur nicht, daß uns die Menschen mit offenen Armen
14315 entgegenkommen werden. Unser Stand wird nicht leicht sein, und
14316 unsre Opfer werden sich höher und höher steigern. Sowohl die
14317 Menschenfreunde als die Antibaten unterschätzen den Widerstand, den
14318 wir zu erwarten haben. Deswegen sollen wir von vornherein klar
14319 sagen, was wir wollen, und dann rücksichtslos handeln, nicht auf
14320 ein Entgegenkommen rechnen, sondern ohne weiteres unsere
14321 Bedingungen mit dem Telelyt und Repulsit diktieren. Es mag sein,
14322 daß die Menschen sich zur Numenheit erziehen lassen, und wir sind
14323 die ersten, welche bereit sind, sie als Brüder anzuerkennen; aber
14324 dies wird uns nur möglich sein, wenn sie sehen, daß jeder
14325 Widerstand aussichtslos ist.“
14327 „Es kommen nun einige Stellen“, sagte Saltner, „die eigentlich
14328 nichts andres verlangen, als was die Regierung selbst wollte,
14329 nämlich warten, bis die Martier überall zugleich losschlagen
14330 können. Aber lesen Sie, bitte, die Vorschläge hier unten.“
14332 „Wir warnen davor, von der Erde zu viel zu erwarten. Wir werden sie
14333 niemals besiedeln können. Die Schwere und die Atmosphäre machen uns
14334 den dauernden Aufenthalt unmöglich. Wir werden immer nur einzelne
14335 Stationen mit wechselnder Besatzung drüben erhalten können. Die
14336 Ausnutzung des Reichtums der Erde muß durch die Menschen für uns
14337 geschehen. Etwa in folgender Weise. Die Gesamtstrahlung der
14338 Sonnenenergie auf die Erde beträgt –“ Ell unterbrach sich.
14340 „Ja“, sagte Saltner, „die Zahlen verstehe ich nicht. Aber es wäre
14341 mir doch ganz interessant zu wissen, wie hoch uns die Herren Nume
14342 eigentlich einschätzen.“
14344 „Ich will sie schnell umrechnen“, rief La. „Es ist ganz leicht. Sie
14345 wissen, unsere Münzeinheit gründet sich auf die Energiemenge, die
14346 von der Sonne während eines Jahres auf die Einheit der Fläche des
14347 Mars ausgestrahlt wird.“
14349 „Gehört hab ich’s schon“, sagte Saltner, „als man mir meinen
14350 ›Energieschwamm‹ ausgezahlt hat, aus dem ich alle Tage mein
14351 Taschengeld abzapfe. Aber warum Sie so rechnen, das weiß ich
14352 nicht.“
14354 „Es ist das Einfachste. Einen vergleichbaren Preis mit allen
14355 Kräften der Natur hat doch nur die Arbeit, eine gleichbleibende
14356 Arbeitsmenge können wir leicht mechanisch definieren und
14357 herstellen, und alle Arbeitskraft, die wir zur Verfügung haben,
14358 stammt von der Sonne. Wir fangen die gesamte Sonnenstrahlung auf,
14359 benutzen sie, um eine bestimmte Menge Äther zu kondensieren, und so
14360 besitzen wir eine überall verwertbare Einheit der Arbeit. Die
14361 Sonnenstrahlung haben wir mit der Erde gemeinsam, hier muß sich
14362 also auch eine Vergleichbarkeit unserer Währungen ergeben.“
14364 „Verzeihen Sie“, unterbrach sie Ell, „es besteht dabei noch eine
14365 Schwierigkeit. Ich habe nämlich die Umrechnung schon gemacht, um
14366 ein Urteil über das Budget der Erde aufzustellen. Aber auf der Erde
14367 vermögen wir Menschen nur einen sehr beschränkten Teil der
14368 Sonnenstrahlung, eigentlich nur die Wärme zu verwerten, während Sie
14369 auf dem Mars auch die langwelligen und die kurzwelligen Strahlen,
14370 die gar nicht durch unsere Atmosphäre gehen, in Wärme umwandeln und
14371 daher mitrechnen. Ich muß gestehen, daß ich nicht weiß, wie groß
14372 dieser Betrag ist.“
14374 „Das schlagen wir nach“, sagte La. Sie hatte schon das
14375 physikalische Lexikon ergriffen. „Hier steht es. Wir können
14376 rechnen, daß die Ihnen bekannte Strahlung der Sonne etwa den
14377 zwölften Teil der von uns benutzten beträgt.“
14379 „Dann ist es sehr einfach“, meinte Ell. „Die übrige Umrechnung habe
14380 ich schon früher für mich in Tabellen gebracht. Hier ist sie. Wir
14381 wollen also von den Angaben für den Mars nur ein Zwölftel rechnen.
14382 Dann kommt die Einheit der Sonnenstrahlung auf dem Mars etwa gleich
14383 500.000 Wärmeeinheiten auf der Erde, was ungefähr, soweit sich der
14384 Kohlenpreis fixieren läßt, einem Wert von fünfzig Pfennig
14385 entsprechen dürfte. So – nun will ich Ihnen die Berechnungen gleich
14386 in Mark vorlesen –“
14388 „Hören Sie“, warf Saltner ein, „der Wert einer Wärmeeinheit ist
14389 doch aber sehr schwankend, je nachdem –“
14391 „Ganz gewiß, ich will auch nur zur Bequemlichkeit statt einer
14392 Million Kalorien, was das genaue Maß des Arbeitswertes wäre, der
14393 Anschaulichkeit wegen eine Mark sagen; ein ungefähres Bild der
14394 Größenverhältnisse gibt es doch. Nach meiner Umrechnung also lautet
14395 der Artikel weiter:
14397 ›Die Gesamtstrahlung der Sonnenenergie auf die Erde beträgt im
14398 Laufe eines Erdenjahres 3.000 Billionen Mark, wovon aber nur 1.200
14399 bis auf die Erdoberfläche gelangen. Wir können indessen auf der
14400 Erde nur einen relativ viel kleineren Teil mit Strahlungssammlern
14401 besetzen als auf dem Mars, für den Anfang sicher nicht mehr als ein
14402 Prozent. Das gibt eine Billion Mark, die wir durch diese Anlagen
14403 den Menschen jährlich schenken. Allerdings müssen sie dafür
14404 arbeiten, aber die Arbeit wird ihnen reichlich bezahlt, wenn wir
14405 jährlich nur 500.000 Millionen Mark für uns als Steuer
14406 beanspruchen. Sie werden sich immer noch zehnmal besser stehen als
14407 bei ihren bisherigen Hilfsquellen, die ihnen außerdem noch zum
14408 großen Teil bleiben. Außer der Strahlungsenergie können wir uns
14409 noch Luft, Wasser, kohlensauren Kalk und andere Mineralien liefern
14410 lassen. Wir müssen nur die Lieferungen an Arbeit und Stoffen auf
14411 die einzelnen Staaten nach ihrer Bevölkerungszahl verteilen. Es
14412 wird sich empfehlen, dies so zu tun, daß die einzelnen Marsstaaten
14413 sogleich die betreffenden Erdgebiete zugeteilt erhalten, an die sie
14414 sich zu halten haben. Eine Vorschlagsliste gedenken wir demnächst
14415 zu veröffentlichen. Doch müssen wir den Anspruch unseres
14416 Nachbarstaates Berseb, die gesamten Vereinigten Staaten von
14417 Nordamerika für sich zu verlangen, schon heute zurückweisen; wenn
14418 diese große Ländermasse nicht geteilt werden soll, so wäre
14419 jedenfalls unser Hugal als der volkreichste Marsstaat am meisten
14420 berechtigt.‹“
14422 „Sackerment, das nenn ich bescheiden“, sagte Saltner nach einer
14423 Pause. „Fünfhundert Milliarden jährlich, ohne das übrige! Da haben
14424 Sie uns eine schöne Suppe eingebrockt, Meister Ell, mit Ihren
14425 berühmten Numen.“
14427 „Ich bitte Sie, Saltner“, antwortete Ell ärgerlich, „erstens sind
14428 das vage Projekte, auf die nicht viel zu geben ist; und zweitens,
14429 wenn der Mars Revenuen von der Erde zieht, so macht er sich eben
14430 nur für das Kapital und die Arbeit bezahlt, die er für die Kultur
14431 der Erde aufwendet, die Menschheit aber wird davon den größten
14432 Vorteil haben. An dieser meiner Überzeugung können alle die
14433 Auswüchse nichts ändern, die sich natürlich im Anfang einer so
14434 gewaltigen Unternehmung in der Phantasie unserer Landsleute bilden.
14435 Sie müssen sich nicht wundern, daß selbst den Numen der Gedanke zu
14436 Kopf steigt, durch die Erde auf einmal das Zehnfache derjenigen
14437 Energie zur Verfügung zu haben, welche die Sonne unserm Planeten
14438 allein spendet. Denn daß die Martier über die Erde verfügen können,
14439 ist doch nun nicht mehr zu leugnen.“
14441 „Na, darüber ließe sich doch noch Verschiedenes sagen. Ich würde
14442 den ersten martischen Satrapen, der mir meine Million Kalorien
14443 abknöpfen wollte, mir doch erst ein wenig mit meinen Fäusten
14444 betrachten. Darin sind wir halt eigen.“
14446 Ell zuckte die Achseln. „Es wird Ihnen wenig nützen“, sagte er.
14448 „Vielleicht doch“, entgegnete Saltner trocken, „wenn alle so
14449 dächten, oder wenigstens viele. Es könnte nützen. Zunächst denen,
14450 die etwa Lust hätten, sich auf die Seite der Martier zu stellen;
14451 die könnte es zur Besinnung bringen, wenn sie sehen, wie ehrliche
14452 Menschen über die Treue zum Vaterland denken. Und im Notfall mir
14453 selbst. Denn besser ist es, mit ein bissel Repulsit ausgelöscht zu
14454 werden, als unter die Fremdherrschaft sich beugen, und wenn sie
14455 sich noch so sehr mit dem Namen der Freiheit ausstaffiert. Aber wir
14456 wollen uns nicht erhitzen. Darf ich mir ein Pik nehmen?“ sagte er
14457 zu La.
14459 „Wir wollen uns allerdings nicht erhitzen“, erwiderte Ell mit
14460 eisiger Miene. „Darum sollten Sie sich selbst etwas vorsichtiger
14461 ausdrücken. Man könnte auch auf dem Mars fragen, was ein jeder, der
14462 auf seiner Oberfläche wandelt, der Sache der Nume schuldig ist. Und
14463 was den Begriff der Fremdherrschaft anbetrifft, so kommt es doch
14464 ganz darauf an, was man als fremd ansieht. Die Staatsangehörigkeit
14465 jedes einzelnen würde unangetastet bleiben; wenn aber der Staat
14466 selber der Leitung einer höheren Vernunft unterliegt, so würde das
14467 für jeden Bürger nur eine größere bürgerliche Freiheit, einen
14468 weiteren Schritt zur Selbstregierung bedeuten.“
14470 „Die sich in der Freiheit äußern würde, mehr Steuern zu zahlen.
14471 Oder meinen Sie vielleicht, man würde uns das Wahlrecht in den
14472 Marsstaaten oder einen Sitz im Zentralrat gewähren? Man wird uns
14473 immer nur als die Handlanger betrachten, die man vielleicht
14474 anständig füttert und im übrigen nach Belieben gängelt. Aber ein
14475 Haustier bin ich nit und werd ich nit. Ich nit!“
14477 „O ihr Blinden!“ rief Ell. „Seht ihr denn nicht, daß ihr nichts
14478 anderes seid als Sklaven, Sklaven der Natur, der Überlieferung, der
14479 Selbstsucht und eurer eigenen Gesetze, und daß wir kommen, euch zu
14480 befreien, daß ihr nur frei werden könnt durch uns?“
14482 „Ich glaub nicht an die Freiheit, die nicht aus eigner Kraft
14483 kommt.“
14485 „Wir wollen ja nur diese eigne Kraft stärken. Und nun weigert ihr
14486 euch wie ein Kind, das Arznei nehmen soll.“
14488 La hatte schweigend zugehört. Ell hatte sie wiederholt angeblickt,
14489 als wollte er sich ihrer Zustimmung versichern, aber ihre Augen
14490 ruhten auf Saltner. Was er sagte, war ihr aus dem Herzen
14491 gesprochen, sie freute sich des kräftigen Ausdrucks seiner
14492 einfachen, natürlichen Gesinnung, aber durch ihre Seele zog es
14493 schmerzlich. War es nicht eine verlorene Sache, für die er kämpfte?
14494 Das große Schicksal, das über die Planeten rollte, mußte es nicht
14495 diese trotzigen Erdenkinder zermalmen? Ell hatte doch recht, die
14496 Numenheit ist die Vernunft, ist die Freiheit, und ihr Sieg ist
14497 gewiß, wie auch der edle Irrtum des einzelnen sich sträube. Und
14498 dennoch! Was ist denn das Schicksal, wenn nicht die Festigkeit im
14499 ehrlichen Willen der Person? Was ist denn die Freiheit, wenn nicht
14500 der Entschluß, mit dem ein jeder nach seinem besten Wissen und
14501 Gewissen handelt, was ihm auch geschehe? Und welch höhere Freiheit
14502 konnten die Nume geben?
14504 „Nein, Ell“, sagte La jetzt langsam, als Saltner auf Ells letzten
14505 Vergleich nicht antwortete, „nein – nicht wie ein Kind. Saltner hat
14506 wie ein Mann gesprochen. Ein Nume mag es besser verstehen, aber
14507 besser wollen und fühlen kann man nicht. Und ich weiß, er wird auch
14508 so handeln.“
14510 Sie reichte Saltner die Hand. Ihre dunklen Augen schimmerten
14511 feucht, als sie sagte:
14513 „Warum muß es denn zum Streit kommen? Lassen Sie uns alles
14514 versuchen, daß Nume und Menschen Freunde werden. Es ist ja doch nur
14515 notwendig, daß sie sich kennenlernen, ehrlich kennenlernen. Lassen
14516 Sie uns den Irrtum, die Verleumdung bekämpfen, die sich
14517 einzuschleichen drohen. Noch ist es vielleicht Zeit! Nicht wahr,
14518 auch Sie wollen es, Ell?“
14520 „Was könnte ich Höheres wollen?“ erwiderte Ell warm. „Es war der
14521 Wunsch meines ganzen Lebens, die Versöhnung, das Verständnis der
14522 Planeten herbeizuführen, ihre Kulturarbeit zu vereinen. Seit ich
14523 die Nume persönlich kennengelernt habe, ist mein Wunsch lebhafter
14524 als je. Daß die Nume die Überlegenen sind, ist eine Tatsache. Wenn
14525 es zum Kampf kommt, werden die Menschen unterliegen, das folgt
14526 daraus. Daß ich trotzdem in diesem Fall auf der Seite der Nume
14527 stehen würde, ist ebenso natürlich wie der entgegengesetzte
14528 Standpunkt Saltners. Was ich nicht billige, ist nur das Mißtrauen,
14529 mit dem die Menschen uns begegnen, weil sie von einem Teil der
14530 Martier von oben herab behandelt werden. Aber diese Zeitungen sind
14531 doch nicht die Marsstaaten. Ich hoffe wie Sie, daß die
14532 entgegengesetzten Stimmen bald durchdringen werden. Hätte Saltner
14533 andere Blätter gelesen, er wäre sicherlich weniger bitter
14534 gestimmt.“
14536 „Ich habe auch die andern gelesen“, sagte Saltner, „den ganzen
14537 Vormittag habe ich mich mit den Zeitungen herumgeschlagen. Leider
14538 haben sie einen schweren Stand, zu beweisen, daß die Menschen
14539 anständige Leute sind. Was sie für uns sagen können, das müssen
14540 ihnen die Martier halt glauben. Aber was sich gegen uns sagen läßt,
14541 das haben sie in einem einzelnen Fall gesehen. Daran sind die
14542 sakrischen Engländer schuld. Aber auch die beiden vorlauten
14543 Matrosen vom Luftschiff und ihre Helfershelfer, die die Sache im
14544 Theater aufgebauscht haben. Dagegen müßte die Regierung mehr tun,
14545 als die bloße Berichtigung loslassen, die heute in den Zeitungen
14546 steht.“
14548 „Es wird auch geschehen“, sagte Ell. „Ich will eben deshalb jetzt
14549 zu Ill, der gestern in Erwägung zog, ob sich nicht ermitteln lasse,
14550 wie die Engländer dazu gekommen sind, unsere Leute anzugreifen.
14551 Vielleicht lag nur ein Mißverständnis vor. Und wenn sich das
14552 beweisen ließe, wenn sich außerdem zeigte, daß die Darstellung im
14553 Theater und so weiter übertrieben ist, so wird die Gerechtigkeit
14554 bei den Martiern siegen.“
14556 „Wie wollen Sie das nachweisen, da Sie keine andern Zeugen haben
14557 als die beiden Martier, von denen ich gar nicht behaupten will, daß
14558 sie absichtlich übertreiben, die aber in ihrer Bedrängnis nicht
14559 objektiv urteilen können?“
14561 „Es käme darauf an zu sehen, was an dem Cairn – an dem Steinmann,
14562 den die Engländer errichtet hatten – eigentlich vorging bis zu dem
14563 Augenblick, in welchem die Seeleute dem Offizier zur Hilfe kamen.
14564 Auch wäre es sehr gut, wenn unsere Landsleute sich durch den
14565 Augenschein überzeugen könnten, wie europäische Matrosen und ein
14566 europäisches Kriegsschiff eigentlich aussehen –“
14568 „Das ist wahr“, sagte Saltner. „Am Ende ginge ihnen doch ein Licht
14569 auf, daß die Menschen keine Wilden sind, mit denen zu spaßen ist.
14570 Aber wie sollte so ein Nachweis möglich sein über einen Vorgang,
14571 der in der Öde des Kennedy-Kanals vor Wochen stattgefunden hat?“
14573 „Durch das Retrospektiv.“
14575 Saltner machte ein erstauntes Gesicht.
14577 „Das ist ein glücklicher Gedanke“, rief La.
14579 „Ich habe dabei gar keinen Gedanken“, sagte Saltner
14580 kopfschüttelnd.
14582 La erklärte das Verfahren. Saltner wurde wieder kleinlaut. Bedrückt
14583 setzte er sich nieder und murmelte für sich hin:
14585 „Medizin! Wir sind ja doch arme Rothäute!“
14587 Ell verabschiedete sich.
14589 „Wenn es noch zur Anwendung des Retrospektivs kommt“, sagte La,
14590 „dann müssen Sie mir aber einen guten Platz verschaffen.“
14592 „Ich wäre glücklich, Ihnen gefällig sein zu können.“
14594 Ell sprach es wärmer als gewöhnlich und ließ seinen Blick lange auf
14595 La ruhen, die ihn lächelnd ansah. Dann ging er.
14597 La wendete sich zu Saltner. Sie faßte seine Arme und blickte ihn
14598 an. „Wie bin ich froh, daß ich dich hier habe, du geliebter
14599 Mensch!“ sagte sie.
14601 \section{34 - Das Retrospektiv}
14603 Die Rüstungen der Martier für ihren Zug nach der Erde waren darauf
14604 berechnet gewesen, sobald das Frühjahr für die Nordhalbkugel der
14605 Erde gekommen sei, sich gleichzeitig mit ihren Luftschiffen über
14606 sämtliche Hauptstädte der einflußreicheren Staaten zu legen und die
14607 Regierungen zu zwingen, die vom Mars zu diktierenden Bedingungen
14608 ohne weiteres anzunehmen. Es sollte dann unter einer Art
14609 Protektorat der Marsstaaten den Erdbewohnern die Kultur der Martier
14610 zugänglich gemacht werden, und man wollte abwarten, in welcher
14611 Weise sich die Marsstaaten am besten aus den alten und neuen
14612 Hilfsmitteln der Erde würden schadlos halten können.
14614 Jetzt auf einmal sollte sofort und unter veränderten Umständen eine
14615 Expedition abgesandt werden. Man hatte die Erfahrung gemacht, daß
14616 die Erdbewohner vermutlich Widerstand leisten würden und daß sie
14617 nicht ungefährliche Mittel der Verteidigung besaßen. Man konnte nur
14618 wenige Luftschiffe auf einmal nach der Erde transportieren und
14619 mußte darauf gefaßt sein, statt einfach ein Protektorat zu
14620 erklären, in einen Krieg mit England, vielleicht mit der ganzen
14621 Erde verwickelt zu werden.
14623 Daher hatte Ill alle Ursache, in seinen Entschlüssen und Handlungen
14624 sich nicht zu überstürzen. Je länger sich die Aktion gegen England
14625 hinzog, um so eher konnte er hoffen, eine genügende Macht auf der
14626 Erde zu versammeln, um nach dem ursprünglichen Plan eine Besetzung
14627 aller Kulturstaaten sofort anzuschließen. Da sich die Planeten
14628 jetzt voneinander entfernten, nahm die Reise immer längere Zeit in
14629 Anspruch. Wenn sich die Absendung des Raumschiffs noch um einen
14630 Monat verzögerte, so mußte wenigstens ein zweiter Monat ablaufen,
14631 ehe es nach der Erde gelangte. Aber auch dann wollte er nicht
14632 sogleich vorgehen, sondern zunächst weitere Verstärkungen abwarten.
14633 Etwa im Januar – nach irdischer Rechnung – hoffte er stark genug zu
14634 sein, seinen Forderungen den nötigen Nachdruck zu geben. Ließen
14635 sich nun die Verhandlungen mit England noch einige Zeit
14636 verschleppen, so hatte sich inzwischen die Raumschiffflotte auf der
14637 Außenstation des Nordpols eingefunden, und Mitte März konnte man
14638 dort mit der Indienststellung der Luftschiffe beginnen.
14640 Ill hatte aber auch noch andere Gründe, die Absendung des
14641 Raumschiffs nach dem Südpol zu verzögern. Es hatte sich ja gezeigt,
14642 daß die Luftschiffe vor den Waffen der Erdbewohner keinen
14643 genügenden Schutz besaßen. Einen solchen galt es erst herzustellen.
14644 Wenn es gelang, die Luftschiffe gegen Geschosse jeder Art aus
14645 irdischen Geschützen widerstandsfähig zu machen, so war dadurch der
14646 Erfolg gesichert. Versuche darüber konnten erst jetzt angestellt
14647 werden, nachdem man die Wirkungsart der Repetiergewehre und der
14648 großen Marinegeschütze kennengelernt hatte. Und in dieser Hinsicht
14649 war man einer neuen Entdeckung von ganz erstaunlicher Wirkung auf
14650 der Spur. Dieses Argument schlug durch. Die oppositionellen
14651 Parteien im Parlament wie in der Presse beruhigten sich darüber,
14652 daß die Absendung der Expedition sich verzögerte. Die Wichtigkeit
14653 der technischen Vervollkommnung der Luftschiffe leuchtete ebenso
14654 ein wie die Schuldlosigkeit der Regierung, daß diese Erfahrungen
14655 nicht früher gemacht werden konnten. Sobald es sich überhaupt um
14656 die Lösung einer wichtigen technischen Aufgabe handelte, gab es
14657 keine Parteikämpfe mehr. Dann waren alle einig, und alles Interesse
14658 konzentrierte sich darauf. Da war ein Ehrenpunkt für jeden Martier
14659 berührt, und das technische Problem drängte alle anderen Fragen in
14660 den Hintergrund.
14662 So kam es, daß die Hetze gegen die Erdbewohner und die zahllosen
14663 Pläne über die Ausnutzung der Erde nach wenigen Wochen verstummten
14664 und wieder eine ruhigere Auffassung Platz griff. Doch die Regierung
14665 ließ sich dadurch nicht täuschen. Es war kein Zweifel, daß ähnliche
14666 Gesinnungen wieder hervortreten würden, ja daß sie sich zu einem
14667 chauvinistischen Übermut verdichten würden, sobald es feststand,
14668 daß die martischen Schiffe durch menschliche Waffen unverletzbar
14669 seien. Die Gefahr lag vor, daß der Gegensatz zwischen beiden
14670 Planeten dann zu einer Vergewaltigung der Erde führen, daß die
14671 Regierung zu kriegerischen Maßregeln gegen die ohnmächtigen
14672 Menschen gedrängt werden könnte. Der Zentralrat war jedoch, in
14673 voller Übereinstimmung mit Ill, fest gewillt, dies zu vermeiden und
14674 die Würde der Numenheit in den Verhandlungen mit der Erde zu
14675 wahren, indem er die Übermacht der Martier nur benutzen wollte,
14676 Feindseligkeiten der Menschen ihrerseits unmöglich zu machen und
14677 dadurch das friedliche Zusammenwirken der Planeten zu erzielen. Es
14678 wurde daher versucht, ein Gesetz durchzubringen, das von vornherein
14679 den Menschen die Freiheit der Persönlichkeit garantieren sollte,
14680 indem es sie als Vernunftwesen erklärte. Doch war eine starke
14681 antibatische Opposition dagegen vorhanden, und auch die
14682 gemäßigteren Parteien erklärten, daß zuvor die Angelegenheit mit
14683 England geordnet sein müsse.
14685 Man bestrebte sich jetzt von seiten der Regierung wie der
14686 Philobaten – so übersetzte Ell die Bezeichnung der
14687 menschenfreundlichen Richtung –, nach Möglichkeit bessere Ansichten
14688 über die Erdbewohner zu verbreiten. Dahin gehörte auch die
14689 Aufklärung des Zwischenfalls mit dem englischen Kriegsschiff.
14690 Namentlich war es für die beabsichtigten Unterhandlungen mit
14691 England wichtig und erforderlich, genau aus eigenen Quellen zu
14692 wissen, was am Cairn vorgegangen sei, womöglich auch, was aus dem
14693 Kriegsschiff geworden. Infolgedessen entschloß sich der Zentralrat,
14694 auf Antrag von Ill, einen Versuch mit dem Retrospektiv zu machen.
14696 Die Einstellung des Apparates, um durch ihn ein bestimmtes Ereignis
14697 in der Vergangenheit wieder zu erblicken, bedurfte einer längeren
14698 Vorbereitung. Es war schwierig, genau die Richtung zu ermitteln, in
14699 welcher die Achse des Kegels von Gravitationsstrahlen liegen mußte,
14700 den man aussandte, um das zur Zeit des Ereignisses vom Planeten
14701 zurückgestrahlte Licht auf seinem Weg durch den Weltraum einzuholen
14702 und wieder zurückzubringen. Es kam dabei eine Menge von
14703 Einzelheiten in Betracht, welche mehrtägige theoretische
14704 Untersuchungen und langwierige Rechnungen erforderten. Alsdann
14705 bedurfte es noch praktischer Versuche, um die passendste
14706 Einstellung zu finden und zu korrigieren. Nachdem die
14707 zurückkehrenden Gravitationswellen wieder in Licht verwandelt
14708 worden waren und das optische Relais passiert hatten, erschien
14709 endlich das Bild der aufgesuchten Gegend in einem völlig
14710 verdunkelten Zimmer auf eine Tafel projiziert. Handelte es sich
14711 nicht nur um eine Schaustellung, sondern um Konstatierung von
14712 Tatsachen, so wurde das Bild, das sich natürlich fortwährend
14713 veränderte, indem es den ganzen Verlauf des beobachteten
14714 Ereignisses darstellte, durch eine ununterbrochene Folge von
14715 Momentphotographien fixiert, die später im Kinematograph wieder in
14716 ihrer lebendigen Folge betrachtet werden konnten. Die
14717 Schwierigkeiten des Versuchs waren nun im vorliegenden Fall in noch
14718 viel höherem Grad als sonst vorhanden, da man ein Ereignis
14719 betrachten wollte, das sich auf einem andern Planeten vollzogen
14720 hatte, und da man außerdem beabsichtigte, den Schauplatz, der
14721 Bewegung des Schiffes folgend, zu wechseln. Es war das erste Mal,
14722 daß man das Retrospektiv auf einen so komplizierten Fall anwendete,
14723 und man durfte nicht erwarten, daß alle Teile des Versuchs
14724 gleichmäßig oder überhaupt glücken würden. Das Experiment selbst
14725 sollte daher nicht öffentlich sein. Es konnte nachträglich
14726 wiederholt werden, in jedem Fall gaben die bewegten
14727 Momentphotographien ein unwiderlegbares Protokoll über die
14728 Beobachtungen, das jedermann zugänglich gemacht werden konnte.
14732 Isma verzeichnete in ihrem Tagebuch bereits den 18. Oktober. Sie
14733 mußte erst einige Zeit in ihrem Gedächtnis nachrechnen, ehe sie
14734 sich des Datums vergewisserte, denn in den letzten Tagen hatte sie
14735 keinerlei Aufzeichnungen gemacht. Sie fühlte sich sehr
14736 niedergeschlagen. Zu ihren Besorgnissen kam eine körperliche
14737 Verstimmung infolge der Veränderung ihrer Lebensverhältnisse.
14738 Einige Tage hatte ihre Schwäche sie so überwältigt, daß sie ihr
14739 Zimmer nicht verlassen konnte. Ihre Gastfreunde waren in
14740 liebevollster Weise um sie besorgt und hatten sogar Hil den weiten
14741 Weg von seinem Wohnort nach Kla machen lassen, um diesen besten
14742 Kenner der menschlichen Konstitution auf dem Mars zu Rate zu
14743 ziehen. Er hatte angeordnet, daß für Isma ein besonderer Apparat
14744 gebaut werde, um die normalen Verhältnisse der Erde in Schwere und
14745 Luftdruck für sie herzustellen; und seitdem sie sich die Nacht über
14746 und einige Stunden des Tages in diesem künstlichen Erdklima
14747 aufhielt, hatte sich ihr Zustand gebessert, und ihre Kräfte waren
14748 wieder gestiegen.
14750 Obwohl ihre Gastfreunde und befreundete Familien derselben, vor
14751 allem La, sie in jeder Weise aufzuheitern suchten, obwohl sie
14752 manchmal über Saltners harmlose Spöttereien und die Schilderungen
14753 seiner Abenteuer auf dem Mars herzlich lachen mußte, zählte sie
14754 doch sehnsüchtig die Stunden, in denen Ell bei ihr erschien. Er
14755 hatte sie täglich aufgesucht und während ihrer Erkrankung, so oft
14756 ihr Zustand es gestattete, sich durch den Fernsprecher mit ihr
14757 unterhalten. Sein Verhalten gegen sie war stets unverändert
14758 freundschaftlich und teilnehmend geblieben, sie hatte keine der
14759 kleinen Aufmerksamkeiten vermißt, mit denen er sie seit Jahren
14760 verwöhnt hatte. Ihre Wünsche suchte er zu erraten, fast nie kam er,
14761 ohne ihr irgend etwas mitzubringen, von dem er glaubte, daß es sie
14762 interessieren würde – einen Artikel in den Zeitungen, eine
14763 Abbildung oder eine der tausend unterhaltenden Neuigkeiten der
14764 Marsindustrie, und wenn er sie erblickte, ruhten seine Augen mit
14765 der alten, zärtlichen Anhänglichkeit auf ihr. Sie hätte nicht sagen
14766 können, worüber sie sich beklagen dürfte. Und dennoch – sie konnte
14767 sich eines schmerzlichen Gefühls nicht erwehren, als wäre eine
14768 Entfremdung zwischen ihr und dem Freund eingetreten. In seiner
14769 Anwesenheit verschwand es, aber wenn er fort war, stellte es sich
14770 wieder ein. Sie quälte sich selbst mit Grübeleien darüber, was sie
14771 ihm vorzuwerfen habe.
14773 Warum konnte er so gar nichts darin durchsetzen, daß ihr die
14774 Erlaubnis erteilt werde, mit dem Raumschiff nach dem Südpol der
14775 Erde abzureisen? Ihre Bitte war von Ill mit Bedauern, aber
14776 entschieden abgeschlagen worden; die Verhältnisse gestatteten es
14777 nicht. Ell hatte sich vergeblich für sie verwandt; man hatte
14778 erklärt, so lange man sich in einer Art feindseligen Zustandes zur
14779 Erde befinde, sei es nicht zulässig, daß einer der Erdbewohner
14780 entlassen werde. Aber als Ell einmal in ihrer Gegenwart seinem
14781 Oheim gegenüber aufs lebhafteste für ihre Zurücksendung nach der
14782 Erde eingetreten war, hatte sie sich wieder durch den Eifer
14783 verletzt gefühlt, mit dem er bemüht war, sie fortzuschaffen. Und er
14784 wollte auf dem Mars bleiben. Es war gar keine Rede davon gewesen,
14785 daß er sie begleite. Und jetzt wäre doch sein Platz auf der Erde
14786 gewesen, jetzt hätte er zur Versöhnung tätig sein müssen! Was hielt
14787 ihn auf dem Mars zurück?
14789 Sie glaubte, es wohl zu wissen. Warum sprach er anfänglich so viel
14790 und mit solcher Wärme und Bewunderung von La? Und jetzt suchte er
14791 ihren Namen zu vermeiden. Was war zwischen ihn und Saltner
14792 getreten, daß sie sich so kühl und förmlich begegneten, wo sie doch
14793 mehr als je auf sich angewiesen waren? Und wenn Ell mit La bei ihr
14794 zusammentraf, wie seltsam pflegte er sie anzusehen! Sie kannte
14795 diesen Blick. Und warum sprach er manchmal so schnell und eifrig zu
14796 La in ihrer Sprache, daß sie der Unterhaltung nicht zu folgen
14797 vermochte? Sie mochte die beiden nicht zusammen sehen. Ein Gefühl
14798 der Kälte durchzog ihre Seele und machte sie feindselig und
14799 unwirsch gegen La wie gegen Ell. Es war ja nichts, das sie ihnen
14800 vorwerfen konnte, und doch war ihr dieser Verkehr unbehaglich und
14801 verstimmte sie. Wenn dann La gegangen war und Ell noch zurückblieb,
14802 wenn er dann mit derselben Herzlichkeit zu ihr sprach, die sie eben
14803 auch La gegenüber in seinem Ton gehört zu haben glaubte, so stieg
14804 es wie Zorn in ihr auf, als wäre ihr etwas genommen, das ihr allein
14805 gebührte. Sie war dann unfreundlich gegen Ell, sie machte ihm
14806 Vorwürfe, die sie nicht verantworten konnte, und wenn er fort war,
14807 bereute sie ihre Worte, ihre Blicke und schalt sich undankbar und
14808 schlecht.
14810 Ach, sie kannte auch diesen Zustand, dieses Gefühl der
14811 Unzufriedenheit. Und sie konnte es doch nicht ändern. Es war
14812 jedesmal so gewesen, wenn Ell an einer anderen Gefallen gefunden
14813 hatte. Sie sagte sich selbst, wie töricht sie sei. Sie hatte jedes
14814 Recht auf ihn aufgegeben, sie hatte es zur Bedingung ihrer
14815 Freundschaft erhoben, daß er sich keine Hoffnungen mache, mehr von
14816 ihr zu besitzen als diese Freundschaft. Wie durfte sie ihm
14817 verwehren, eine andere zu lieben, da sie selbst verzichtet hatte?
14818 Und doch, jedesmal, wenn diese Gefahr zu drohen schien, fühlte sie
14819 sich von Eifersucht ergriffen, die sie sich nicht gestehen wollte
14820 und die sie doch ohne ihren Willen ihm durch ihr Benehmen
14821 eingestand. Warum auch mußte er ihr das jetzt antun, wo sie fremd
14822 auf fremdem Planeten, eine Gefangene, krank und einsam weilen
14823 mußte, wo er der einzige war, der sie verstehen konnte? Warum mußte
14824 er jetzt –? Aber was warf sie ihm denn vor? Warum war sie selbst
14825 nicht besser? Warum sagte sie ihm denn nicht, hier, frei von allen
14826 Menschensatzungen, daß sie nicht ohne ihn sein wolle, daß sie ihn
14827 nicht entbehren wolle, nicht könne? Warum? Weil sie ihn ja doch
14828 nicht lieben wollte! Und warum konnte sie sich nicht von ihm
14829 losreißen, da sie doch ihren Mann liebte, da sie ausgezogen war,
14830 ihn zu suchen in den Öden der Polarnacht, und da sie zu ihm
14831 zurückwollte durch die Leere des Weltraums? Und wenn Torm nicht
14832 mehr war? Wenn sie zurückkam nach Friedau und er verschollen war,
14833 ein Opfer der Forschung, wie so viele vor ihm? Wenn sie dann
14834 verlassen war, hier wie dort? Sie ließ die Feder sinken und legte
14835 den Kopf in ihre Hände. Ach, daß es kein Zeichen von ihm gab, keine
14836 Nachricht! Und daß sie hier sitzen mußte, nicht mehr Tausende,
14837 sondern Millionen von Meilen von ihm getrennt, und angewiesen auf
14838 den Freund, der um ihretwillen gegangen war, allein mit ihm –
14839 gerade alles, was sie hatte vermeiden wollen! Gerade in diese
14840 Gefahr hatte sie sich gestürzt, der sie zu entfliehen gedachte. Und
14841 sie sah sie vor sich, leibhaftig, jeden Tag in den großen treuen
14842 Augen, die sie teilnehmend ansahen –. Ach, darum quälte sie ihn ja,
14843 quälte sie sich –
14845 Aber wäre es in Friedau besser gewesen, wenn sie nun doch von ihrem
14846 Mann nichts erfahren konnte? Eines wenigstens war sie los, die
14847 fortwährenden Fragen, die teilnehmend sein sollten und doch so
14848 heuchlerisch waren, die hämischen Blicke, die widerwärtigen,
14849 kleinlichen, schamlosen Klatschereien – –
14851 Aus ihrem Nachsinnen weckte sie der Ton, der den Eintritt eines
14852 Besuches durch das Gartentor meldete. Sie hörte den Wagen vor der
14853 Veranda halten. Das war Ells Stimme, er sprach mit Ma. Isma strich
14854 über ihr Haar, sie warf einen Blick in den Spiegel und ärgerte sich
14855 über ihre Erregung. Gleich darauf trat Ell ein. Sie ging ihm
14856 lächelnd entgegen. Er blickte sie an.
14858 „Es geht Ihnen gut“, sagte er freudig. „Sie sehen wieder frisch und
14859 kräftig aus.“
14861 Er hielt ihre Hände. In ihren Augen las er ihre Freude. Es war
14862 einer der Tage, an dem sie nicht verbergen konnte, wie lieb er ihr
14863 war. „Ich weiß nicht“, sagte sie. „Es geht mir eigentlich gar nicht
14864 gut. Ich kann von meinen Gedanken nicht loskommen.“
14866 „Dann kommen Sie mit mir, Isma. Sie sollen etwas sehen, worauf wir
14867 schon lange warten. Das Retrospektiv ist glücklich eingestellt –
14868 der Cairn ist gefunden –“
14870 „Ach, Ell! Noch einmal die schreckliche Geschichte! Ich bin ja
14871 leider dabei gewesen. Soll ich sie wirklich noch einmal sehen?“
14873 „Ich dachte, der Triumph der Technik würde Sie interessieren. In
14874 die Vergangenheit zu blicken –“
14876 Isma wollte eine abweisende Antwort geben. Aber sie sah, daß es Ell
14877 erfreuen würde, wenn sie ihn begleitete. Sie wollte gut zu ihm
14878 sein, sie wollte ihm nichts abschlagen.
14880 „Nun denn“, sagte sie, „wenn es Ihnen lieb ist – kommen Sie. Es ist
14881 doch etwas Neues in der Form, wenn auch nicht im Stoff. Ich habe
14882 aber schon vor einigen Tagen den Platz abgelehnt, den Ihr Oheim mir
14883 anzubieten die Güte hatte.“
14885 „Ich habe noch einen für Sie reserviert, allerdings etwas mehr im
14886 Hintergrund, wo La und Saltner sitzen, und wer sonst Verbindungen
14887 mit der Erdkommission hat. Sie wissen, es handelt sich nur um einen
14888 Versuch; außer dem Zentralrat, den Kommissionsmitgliedern und dem
14889 Präsidium des Parlaments sind nur einige Vertreter der Presse da.
14890 Aber unsre Plätze sind auch gut, und mit diesem Glas, daß ich Ihnen
14891 mitgebracht habe, können Sie sicherlich die einzelnen Personen
14892 erkennen – wenn wir sie überhaupt zu Gesicht bekommen. Allerdings
14893 wird das Bild etwas aus der Vogelperspektive erscheinen, doch hat
14894 man den Neigungswinkel so günstig genommen, als es die
14895 atmosphärischen Verhältnisse nur immer gestatteten. Ich habe den
14896 ›Steinmann‹ vor mir gesehen wie von einem niedrig schwebenden
14897 Luftschiff aus.“
14899 Isma schwieg ein Weilchen. Also La war natürlich auch da. Sie
14900 verdrängte den aufsteigenden Gedanken und sagte:
14902 „Aber ich begreife nicht – wenn man so deutliche Bilder aus so
14903 riesigen Entfernungen erzielen kann, warum betrachten Sie denn
14904 nicht die Erde direkt, warum können wir nicht einmal nach Friedau,
14905 nach unserm Haus sehen?“
14907 „Mit Hilfe des Retrospektivs ginge das wohl an, aber Sie können
14908 nicht verlangen, daß man dieses äußerst schwierige, zeitraubende
14909 und kostspielige Experiment anstellt, um irgendeine Neugier zu
14910 befriedigen. Was sollte Ihnen das nützen? Was wollte man damit
14911 erfahren? Und selbst wenn eine Zeitung zufällig irgendwo
14912 aufgeschlagen läge, mit neuen Nachrichten über die Verhältnisse auf
14913 der Erde, und sie erschiene im Retrospektiv, so geht die
14914 Deutlichkeit doch nicht so weit, daß wir sie lesen könnten.“
14916 „Und mit Ihren Fernrohren können Sie so genau nicht sehen, daß Sie
14917 Menschen auf der Erde erkennen könnten?“
14919 „Das ist unmöglich. Beim Fernrohr haben wir mit den Lichtwellen zu
14920 tun, da bekommen wir auf so riesige Entfernungen keine erkennbaren
14921 Bilder von so kleinen Gegenständen. Das geht nur mit Hilfe der
14922 Gravitationswellen. Sie müssen bedenken, daß es die
14923 Gravitationsschwingungen sind, durch welche wir die ganze, vom zu
14924 beobachtenden Ereignis ausgegangene Bewegung zurückbringen, und daß
14925 die Umwandlung in Licht erst hier, innerhalb des Apparates,
14926 geschieht. Da bilden sich wieder dieselben Schwingungen, wie sie
14927 bei der Aussendung waren, abgesehen von den Störungen, die
14928 inzwischen durch äußere Verhältnisse eingetreten sind. Wenn zum
14929 Beispiel das Licht auf seinem Weg durch den Weltraum einen
14930 Meteorschwarm passiert hatte, so erhalten wir kein deutliches Bild
14931 mehr. Fernrohr und Retrospektiv verhalten sich etwa wie ein
14932 Sprachrohr und ein Telephon. Direkt können Sie die Schallwellen
14933 nicht weit senden, mit dem Telephon aber können Sie sprechen, so
14934 weit die elektrischen Schwingungen reichen.“
14936 Isma hatte sich inzwischen zu ihrem Weg zurecht gemacht. Ill und
14937 seine Frau befanden sich schon im Retrospektiv-Gebäude. Eine halbe
14938 Stunde später hatten auch Isma und Ell ihre Plätze eingenommen. La
14939 und Saltner waren kurz zuvor gekommen.
14941 Der große Saal war vollständig verdunkelt, trotzdem konnte man sich
14942 in ihm unschwer zurechtfinden und die in der Nähe sitzenden
14943 Anwesenden erkennen. Denn das erleuchtete Bild, von welchem das
14944 Licht im Saal ausging, nahm an der einen Wand einen Kreis von zehn
14945 Metern Durchmesser ein und erhellte dadurch die Umgebung. Es
14946 stellte die Gegend an der Küste von Grinnell-Land dar, welche der
14947 Schauplatz des englisch-martischen Konflikts gewesen war. Deutlich
14948 erkannte man ziemlich in der Mitte des Bildes die Gruppe der beiden
14949 englischen Matrosen, welche unter Leitung des Leutnants Prim mit
14950 der Errichtung des Cairns beschäftigt waren. Es war überraschend zu
14951 sehen, wie die etwa spannenlangen Figuren sich lebhaft
14952 durcheinander bewegten. Die Deutlichkeit des Bildes wechselte,
14953 mitunter erschien diese, dann jene Stelle etwas verschwommen,
14954 mitunter verdunkelte sich ein ganzer Streifen, im allgemeinen waren
14955 jedoch selbst Einzelheiten deutlich zu erkennen. Mit ihrem Glas
14956 konnte sich Isma die Gestalten der Engländer so nahe bringen, daß
14957 sie in dem Offizier denselben Mann wiedererkannte, den sie durch
14958 ihr Fernrohr auf dem Verdeck des Kriegsschiffs gesehen hatte.
14960 Da man den Apparat auf ein und dieselbe Stelle des Weltraums
14961 eingestellt hielt und nur nach der sich verändernden Lage der
14962 beiden Planeten regulierte, so gab das Bild den Verlauf der
14963 Ereignisse in dem gleichen Zeitmaß wieder, wie er sich in
14964 Wirklichkeit vollzogen hatte. Man befand sich offenbar noch am
14965 Morgen, und wenn der ganze Tag in seinem Geschehen verfolgt werden
14966 sollte, so stand eine lange und ermüdende Sitzung in Aussicht. Die
14967 eintönige Arbeit der Engländer begann schon etwas langweilig zu
14968 werden, und Saltner sagte zu La:
14970 „Merkwürdig ist ja die Geschichte, und immerhin können die Herrn
14971 Nume hier schon sehen, daß die Englishmen doch nicht ganz so wild
14972 sind wie auf ihrem Theater. Aber läßt sich denn die Sache nicht ein
14973 bissel beschleunigen?“
14975 „Das geht allerdings“, antwortete Ell, der auf der andern Seite von
14976 La saß, „und man wird es wohl nachher auch tun. Man braucht nur den
14977 Apparat allmählich auf näher gelegene Stellen des Raumes zu
14978 richten, so fängt man die Lichtstrahlen in immer früheren
14979 Zeitmomenten ab und bewirkt dadurch, daß alles viel schneller zu
14980 geschehen scheint. Aber es treten dabei andere Schwierigkeiten auf.
14981 Und jetzt ist es nicht möglich, weil jeden Augenblick der
14982 entscheidende Moment eintreten kann. Wir müssen uns also in Geduld
14983 fassen.“
14985 Es dauerte nicht mehr lange, so verstummte die Unterhaltung, denn
14986 man sah, wie der Leutnant den Cairn verließ und den benachbarten
14987 Hügel bestieg. Man konnte auch erkennen, daß er mit dem Feldstecher
14988 nach einer bestimmten Richtung blickte. Es zeigten sich nun alle
14989 die Ereignisse, wie sie sich abgespielt hatten. Unter lautloser
14990 Spannung sah man die Matrosen sich entfernen, man sah mit Hilfe
14991 einer kleinen Verschiebung des Bildes, wie sie verunglückten und
14992 von den Martiern gerettet wurden, man sah den ganzen Konflikt sich
14993 entwickeln – –
14995 Die Martier waren von dem Versuch sehr befriedigt, da sich nun eine
14996 Erklärung des Mißverständnisses ergab. Die Engländer hatten die
14997 Martier in der Tat für Feinde halten müssen.
14999 Man verfolgte das Schicksal der Gefangenen, bis sie auf dem
15000 Kriegsschiff unter Deck gebracht worden waren. Es war nun nichts
15001 mehr zu beobachten, da man wußte, daß man die Gefangenen nicht
15002 wieder erblicken konnte bis zu dem Moment ihrer Auslieferung. Diese
15003 achtzehn Stunden hindurch den Lauf des Kriegsschiffs und seinen
15004 Kampf mit dem Luftschiff zu verfolgen, hatte kein Interesse für die
15005 vorliegende Frage. Dagegen wollte man gern wissen, was aus der
15006 ›Prevention‹ nach ihrer Niederlage geworden sei. Es war daher
15007 beschlossen worden, durch eine Umstellung des Apparats diese später
15008 liegenden Ereignisse zu beobachten. Während der Vorbereitungen
15009 hierzu, die einige Stunden in Anspruch nahmen, verließen die
15010 Zuschauer den Saal. Isma erfuhr, daß erst in den Abendstunden die
15011 Fortsetzung des Versuchs zu erwarten sei.
15013 Saltner und Isma, ebenso wie Ell, brauchten daher ihre gewöhnliche
15014 Tagesbeschäftigung nicht abzusagen, wie sie ursprünglich
15015 beabsichtigt hatten. Diese bestand darin, daß sie auf Ersuchen der
15016 Regierung es übernommen hatten, täglich einige Stunden mit dazu
15017 ausgewählten höheren Beamten das Studium der wichtigsten
15018 europäischen Sprachen zu treiben. Außer dem Deutschen hatte Ell den
15019 Unterricht im Englischen, Saltner im Italienischen und Isma im
15020 Französischen übernommen, den sie nur während ihrer Erkrankung
15021 einige Zeit hatte aussetzen müssen.
15023 Gegen Abend wurde Isma von Ell mit der Nachricht angesprochen, daß
15024 der Apparat wieder eingestellt und das Kriegsschiff aufgefunden
15025 sei. Man räume eifrig auf demselben auf, um die erlittenen
15026 Beschädigungen zu beseitigen, und es scheine, daß das Schiff seine
15027 Fahrt wieder aufnehmen wolle. Als Isma im Saal des
15028 Retrospektivgebäudes erschien, zeigte indessen das Bild nur einen
15029 Teil des Meeres und des felsigen Ufers; von einem Schiff war nichts
15030 zu sehen. Sie hörte, daß es seinen Kurs nach Süden fortgesetzt
15031 habe, dabei aber dem Gesichtskreis entschwunden sei. Infolge einer
15032 vorübergehenden Trübung war es noch nicht gelungen, das Schiff
15033 wieder aufzufinden. Jetzt war das Bild wieder hell, und in dem
15034 Bemühen, das englische Schiff zu entdecken, ließ man die Fläche der
15035 Bai und die Felsenufer vorüberziehen. Bald blickte man auf
15036 treibende Schollen, bald in Buchten und Fjorde hinein.
15038 Isma kam es vor, als befände sie sich wieder an Bord des
15039 Luftschiffes und durchspähte die Gegend, der sie so schnell
15040 entzogen worden war, nach Spuren von Hugo – –
15042 Vielleicht war er gar nicht so weit von der Stelle entfernt, die
15043 sie jetzt vor Augen hatte, vielleicht verdeckte nur jener
15044 Berggipfel das Lager der Eskimos, bei denen ihr Mann weilte! Und da
15045 – nein – ja doch – das war doch ein Boot, zwei, drei Boote, was
15046 dort in dem Kanal unter dem Ufer sich bewegte –
15048 Isma ergriff krampfhaft Ells Arm. „Sehen Sie doch – sehen Sie nicht
15049 dort –?“
15051 „Wahrhaftig“, rief Ell, „es sind Boote, Umiaks, sogenannte
15052 Weiberboote der Eskimos. Sie scheinen mehrere Familien mit ihren
15053 Habseligkeiten zu tragen. Man wird gewiß das Bild festhalten –“
15055 In der Tat stand die Landschaft jetzt still, man wollte die Boote
15056 betrachten, aber die Verschiebung war doch so weit gegangen, daß
15057 sie schon durch das höhere Ufer verdeckt waren.
15059 Dicht daneben zeigte das Bild das freie Wasser der Bai, in welche
15060 der schmale Kanal mündete. Man erwartete, daß die Boote dort zum
15061 Vorschein kommen müßten. Bis dahin wollten die Beobachter das
15062 freiere Fahrwasser der Umgegend absuchen. Das Bild bewegte sich
15063 wieder, man sah nur Meer – und da – am Rand des Lichtkreises
15064 bewegte sich etwas Dunkles – es war das Kriegsschiff.
15066 Bis jetzt hatte man ein größeres Gesichtsfeld angewendet, um einen
15067 weiteren Umblick zu haben. Nun kam es darauf an, stärkere
15068 Vergrößerung zu gewinnen, dabei mußte sich das Gesichtsfeld
15069 einschränken. Man sah jetzt, allerdings so deutlich, daß man die
15070 Stellung der Matrosen erkennen konnte, nur das Schiff und seine
15071 nächste Umgebung; mit dem Glas konnte man den Kapitän und den
15072 Leutnant Prim erkennen, der seine Hände, wie zur Übung, langsam hin
15073 und her bewegte. Man bemerkte, daß eine Meldung gemacht wurde und
15074 sich die Geschwindigkeit des Schiffes, dem der Apparat mit
15075 wunderbarer Präzision und nur geringen Schwankungen folgte,
15076 verringerte. Ein Boot wurde herniedergelassen. Die Ingenieure des
15077 Retrospektivs waren zweifelhaft, ob sie dem Boot folgen oder das
15078 Schiff im Auge behalten sollten. Das erstere wurde beschlossen, da
15079 das Boot ja jedenfalls zum Schiff zurückkehren mußte. Alsbald war
15080 nur noch das rasch rudernde, mit acht Matrosen bemannte Boot auf
15081 der Wasserfläche zu sehen. Da erschien ein zweites Boot, ihm
15082 entgegenfahrend. Man winkte von diesem aus. Die Fahrzeuge näherten
15083 sich rasch, das fremde war jetzt deutlich als grönländischer Umiak
15084 zu erkennen. An der Spitze desselben richtete sich ein Mann empor
15085 und schwenkte seine Mütze – ein blonder Vollbart umrahmte das weiße
15086 Gesicht – er war kein Eskimo –
15088 „Hugo!“ gellte eine Stimme laut durch den Saal. Die Martier
15089 blickten erstaunt auf, sie wußten nicht, was das bedeute.
15091 „Es ist Torm!“ rief Ell erklärend zu Ill hinüber, indem er die
15092 zusammensinkende Isma in seinem Arm auffing.
15094 \section{35 - Die Rente des Mars}
15096 „Es geht nicht, Saltner, es geht nicht!“
15098 Ell legte den Brief in Saltners Hand zurück. Der kleine,
15099 verschlossene Umschlag trug, von Ismas zierlicher Hand geschrieben,
15100 die Adresse Torms.
15102 „Ich darf es nicht“, sagte Ell noch einmal, als Saltner nicht
15103 antwortete.
15105 „Auch nicht, wenn Frau Torm Ihnen versichert, daß der Brief keine
15106 politischen, keine auf die Operationen und Absichten der Martier
15107 bezüglichen Mitteilungen enthält?“
15109 „Auch dann nicht. Wir dürfen keinerlei Briefe von Erdbewohnern mit
15110 diesem Schiff nach der Erde befördern, die dem Kommando nicht offen
15111 eingereicht werden. Frau Torm verlangt, Sie verlangen von mir, daß
15112 ich die Möglichkeit schaffe, diesen Brief heimlich nach der Erde zu
15113 bringen. Sie verlangen etwas Unmögliches, den Ungehorsam gegen die
15114 Gesetze. Es ist Kriegszustand; Sie verlangen von mir eine Handlung,
15115 die als Hochverrat aufgefaßt werden kann. Und dann wollen Sie mir
15116 zürnen, wenn ich ein für allemal ablehne? Und Frau Torm ist darüber
15117 so entrüstet, daß sie mich nicht sehen, nicht sprechen will? Daß
15118 sie sich Ihrer Person bedient, um mir ihren Wunsch noch einmal
15119 vorzutragen? Sie hat ja doch an ihren Mann offen geschrieben, ein
15120 ganzes Buch. Der Brief liegt bereits hier, mit der Genehmigung des
15121 Kommandos versehen. Es steht alles darin, was sie ihm mitzuteilen
15122 hat, daß sie in der Sorge um ihn mit meiner Hilfe das Luftschiff
15123 benutzt hat, daß sie verhindert war, zurückzukehren, daß sie sich
15124 sehnt, sobald es ihr gestattet wird, zurückzukommen – was will sie
15125 mehr? Was hat sie dem Mann noch zu schreiben?“
15127 „Das ist ihr persönliches Geheimnis. Wenn Frau Torm es Ihnen nicht
15128 mitteilen kann, wie soll ich es wissen? Übrigens weiß sie nichts
15129 von diesem Versuch meinerseits, auf Sie einzuwirken. Sie hatte mich
15130 nur gebeten, La um Hilfe anzugehen.“
15132 „La? Wie käme La dazu?“
15134 „Sie hatte Grunthe einige areographische Angaben und Aufklärung
15135 über verschiedene technische Fragen versprochen – ein kleines
15136 Paket, das den Brief sehr gut aufnehmen kann.“
15138 „Und La hat diesen Betrug natürlich von sich gewiesen?“
15140 „Ich habe sie noch gar nicht gefragt. Zunächst bin ich ja den Tag
15141 über von Pontius zu Pilatus gelaufen, um eine amtliche Erlaubnis
15142 zu erhalten, dann habe ich La nicht angetroffen, als ich mit ihr
15143 sprechen wollte. Ich mußte nun zunächst mit Ihnen als Freund und
15144 Mensch reden. Ich sehe jetzt, daß es vergeblich wäre. Sie würden
15145 diesen Brief an Torm von mir nicht befördern? Auch nicht einen an
15146 meine Mutter?“
15148 Ell schüttelte den Kopf. „Sie haben an beide schon geschrieben.“
15150 „Aber offen. Es gibt Dinge, die man nicht vor andern sagen will. Wo
15151 bleibt die gerühmte Freiheit, die versprochene Freiheit, wenn man
15152 uns jetzt das persönliche Eigenrecht der Aussprache abschneidet?“
15154 „Sie müssen bedenken, daß dies nur bis zu dem Augenblick geschieht,
15155 in welchem unser Verhältnis zur Erde sich geklärt hat. Das ist eine
15156 Ausnahme. Es ist ein Unglück, denn es ist allerdings ein Vergehen
15157 gegen die sittliche Grundlage, gegen die persönliche Freiheit. Aber
15158 sittliche Konflikte sind ein allgemeines Unglück, sie lassen sich
15159 nicht vermeiden. Die höhere Pflicht, die Ordnung zwischen den
15160 Planeten, erfordert diesen Verzicht des einzelnen auf seine
15161 Freiheit. Und im Grunde genommen ist es doch nur der Ausdruck
15162 individueller Gefühle, der eine Beschränkung erleidet.“
15164 „Sie geschieht aber bloß aus einem Mißtrauen der Martier gegen die
15165 Menschen.“
15167 Ell sah Saltner durchdringend an.
15169 „Geben Sie mir Ihr Ehrenwort“, fragte er, „daß in Ihren Briefen
15170 nichts über unsre Maßnahmen steht?“
15172 „Nein“, sagte Saltner.
15174 „Und dann verlangen Sie von mir –“
15176 „Ich verlange, was der Mensch vom Menschen, der Deutsche vom
15177 Deutschen verlangen kann, daß er ihm hilft, eines übermächtigen
15178 Gegners sich zu erwehren –“
15180 „Ich aber stehe auf der Seite dieses sogenannten Gegners, der im
15181 Grunde der beste Freund ist.“
15183 „Dann haben wir uns nichts weiter zu sagen. Ich wollte mich nur
15184 überzeugen, daß ich von Ihrer Seite für uns Menschen nichts zu
15185 erwarten habe.“
15187 „Sie wollen mich nicht verstehen. Nur in Ihrem einseitigen
15188 Interesse kann ich nichts tun, sonst aber werden Sie mich stets
15189 bereitfinden –“
15191 „Leben Sie wohl.“
15193 Saltner hörte nicht mehr auf Ells Worte. Er war schon auf den
15194 Gleitstuhl getreten und löste die Hemmung. Der Stuhl sauste die
15195 schraubenförmige Bahn um den Stamm des Riesenbaumes hinab nach dem
15196 Erdboden. Das Gespräch hatte auf der Plattform stattgefunden,
15197 welche einen der Riesenbäume in der Nähe von Ells Wohnung umgab,
15198 dort, wo in einer Höhe von vierzig Meter über dem Boden die ersten
15199 Äste ansetzten. Ein mechanischer Aufzug führte in einer
15200 Schraubenlinie rings um den Stamm und beförderte ebenso leicht von
15201 unten nach oben als von oben nach unten. Diese geschützten
15202 Plattformen boten einen äußerst angenehmen Arbeitsplatz. Wie vom
15203 Chor eines Domes blickte man zwischen den Säulen der Baumstämme
15204 hindurch, über die niedrigen Häuser weit in die Anlagen. Die Luft
15205 war hier frischer und kühler als unten.
15207 Ell trat an die Brüstung vor und blickte hinab. Es begann zu
15208 dämmern. An den Straßen entlang leuchteten schon die breiten
15209 Streifen des Fluoreszenzlichtes, in den Häusern glühten die Lampen.
15210 In tiefer Finsternis lag das Laubdach.
15212 Ell seufzte. Also auch er hatte sich von ihm geschieden, der
15213 biedere Saltner! Mochte es sein! Was galt ihm das alles noch, da er
15214 sie verloren hatte! Finster zog sich seine Stirn zusammen. Das war
15215 der Dank, ihr Dank für alles – – Ismas Dank!
15217 Als sie auf der Tafel des Retrospektivs ihren Mann erkannt hatte,
15218 wie er aus dem Umiak der Eskimos nach dem Boot des englischen
15219 Schiffes winkte, da hatten sie ihre Kräfte auf einen Augenblick
15220 verlassen. Auf einen Augenblick. Sie hatte sich sogleich wieder
15221 zusammengerafft und mit fieberhafter Erregung die Vorgänge
15222 verfolgt. Man hatte gesehen, wie beide Boote der ›Prevention‹
15223 zusteuerten, wie Torm an Bord des Kriegsschiffes stieg, wie er dem
15224 Kapitän Papiere überreichte, die dieser prüfte; man sah, wie der
15225 Kapitän dann salutierte und Torm die Hand schüttelte, wie sich die
15226 Offiziere um Torm versammelten; man sah, wie die Eskimos beschenkt
15227 wurden und ihr Boot sich entfernte; wie die ›Prevention‹ ihre Fahrt
15228 nach Süden wieder aufnahm. Eine Stunde lang konnte man sie
15229 verfolgen. Maschine und Steuer waren offenbar nicht verletzt oder
15230 wieder repariert; das Schiff dampfte schnell und leicht vorwärts.
15231 Immer undeutlicher wurden die Umrisse desselben. Die Dämmerung
15232 brach herein. Bald konnte man nichts mehr unterscheiden als die
15233 Lichter. Man stellte den Versuch ein. Es war sicher, daß das Schiff
15234 und Torm mit ihm in wenigen Wochen wohlbehalten London erreichen
15235 würden. – –
15237 Torm war gerettet. Er hatte ohne Zweifel jetzt schon die Nachricht
15238 von Ismas Verschwinden. Man würde in Friedau dafür gesorgt haben,
15239 daß ihm dasselbe unter dem Gesichtspunkt der Friedauer erschien.
15240 Und sie, die nicht ohne ihn in Friedau bleiben wollte, nun mußte
15241 sie ihn allein lassen –
15243 Isma verbrachte eine schlaflose Nacht. Dann setzte sie noch einmal
15244 alles in Bewegung, um ihre Mitnahme auf dem Raumschiff nach der
15245 Erde zu erreichen. Es war unmöglich. Wenigstens einen Brief sollte
15246 man mitnehmen. Ja, aber nur einen offenen. Sie schrieb, doch das
15247 konnte ihr nicht genügen. Was sie ihm zu sagen hatte, das ging
15248 niemand andern an; das konnte sie nicht lesen lassen. Sie wußte,
15249 wie sie schreiben müsse und daß er sie nur so verstehen würde. Und
15250 dies wurde versagt. Und hier ließ sie Ell im Stich! Sie bat ihn
15251 flehentlich, ihren Brief zu besorgen. Es ginge nicht! Sie bat ihn,
15252 selbst die Reise zu machen, ihren Mann aufzuklären. Er weigerte
15253 sich, er wolle jetzt nicht auf die Erde zurückkehren. Die Martier
15254 selbst hätten es vielleicht gern gesehen, aber er könne sich nicht
15255 entschließen, jetzt den Mars zu verlassen. Warum nicht? Warum
15256 wollte er nicht? Um sie, Isma, nicht allein zu lassen? Sie glaubte
15257 es nicht, sie vermutete einen anderen Grund, den sie ihm nicht
15258 verzeihen konnte. Sie sagte ihm Bitteres. Sie wollte ihn nicht
15259 wiedersehen. Und er ging. Natürlich! La würde ihn wohl trösten – –
15261 Ell versetzte sich in Ismas Seele, er sah deutlich, was in ihr
15262 vorging – alles dachte er wieder durch, während er in die Nacht
15263 hinausstarrte – das Gefühl der Bitterkeit verließ ihn, er konnte
15264 ihr nicht zürnen. Nur traurig wurde er, tieftraurig.
15266 Aber er mußte es tragen. Er konnte nicht anders handeln, es war
15267 unmöglich. Stand sie auf der Erde, so stand er auf dem Mars. Die
15268 Kluft überbrückte kein Raumschiff. Und selbst wenn die Planeten
15269 sich versöhnten – würde er sie dann wiederfinden?
15271 Er preßte die Hände gegen die Stirn und seufzte tief. Und seltsam,
15272 mitten in den Kummer um Isma drängte sich das Bild Las vor Ells
15273 Augen. Dieser Verkehr war so beglückend, so frei von dem dunkeln
15274 Hintergrund irdischer Fesseln! Das war Numenart, zu geben und zu
15275 nehmen! Die reizenden Stunden kamen ihm in den Sinn, in denen er
15276 sich sagen durfte, daß sie ihn bevorzugte, und es schien ihm, daß
15277 deren immer mehr geworden seien. Und doch! Er mußte sich gestehen,
15278 wäre La ihm so geneigt, wie er hoffte, sie hätte sich ihm noch
15279 anders zeigen müssen. Sie hatte sich in der letzten Zeit sichtlich
15280 von Saltner zurückgezogen, aber gerade darin schien ihm eine
15281 gewisse Absichtlichkeit zu liegen. Er konnte das Gefühl nicht
15282 loswerden, daß La unter der gleichmäßigen Liebenswürdigkeit ihres
15283 Wesens eine heimliche Sorge barg, und er sann nach, was sie wohl
15284 bedrücken könne.
15286 Gestern, als er bei ihr war, hatte er sie überrascht, wie sie in
15287 Gedanken versunken saß, und er glaubte die heimlichen Spuren von
15288 Tränen in ihrem Auge gesehen zu haben. Aber auf seine warmen Worte
15289 erwiderte sie mit Scherzen, es war, als wollte sie nicht verstehen,
15290 was sie doch längst wußte, wie er für sie fühle. Zum erstenmal war
15291 er fortgegangen, ohne sie recht verstanden zu haben.
15293 Und jetzt war Saltner auf dem Weg zu ihr. Es war ja nicht daran zu
15294 denken, daß sie auf seine Bitte eingehen würde – Überhaupt –
15296 Ell fiel es plötzlich ein – vielleicht war sie gar nicht in Kla. La
15297 hatte mehrfach davon gesprochen, daß sie möglicherweise verreisen
15298 würde, und Saltner hatte sie heute vergebens zu sprechen versucht.
15299 – Er wollte sich doch überzeugen, ob La zu Hause sei. Auch die
15300 Plattform war mit dem Haus telephonisch verbunden. Er sprach La an.
15301 Sie war zu Hause, aber in großer Eile, wie sie sagte. Ell teilte
15302 ihr mit, daß Saltner bei ihr vorsprechen werde mit einem Ansinnen,
15303 das unmöglich zu erfüllen sei – darauf keine Antwort, trotz seiner
15304 wiederholten Frage. Endlich die Worte, wie mit gezwungener Stimme:
15306 „Befürchten Sie nichts. Leben Sie wohl.“ –
15308 Nichts, nichts weiter! Ell wußte nicht, was er davon denken
15309 sollte.
15311 Er trat zurück an den Tisch, auf dem seine Papiere lagen, und ließ
15312 die Lampe aufflammen. Er wollte versuchen, in der Arbeit zu
15313 vergessen, und versenkte sich in das Studium des Etats der
15314 Marsstaaten.
15316 Die 154 Staaten, welche den Planetenbund des Mars bildeten, waren
15317 an Einwohnerzahl sehr stark verschieden; es gab darunter Reiche,
15318 die bis gegen hundert Millionen Einwohner zählten, und kleine
15319 Staaten, die nicht einmal die Zahl von einer Million erreichten;
15320 der kleinste von ihnen umfaßte nur zwanzig Bezirke mit zusammen
15321 800.000 Einwohnern. Ebenso mannigfaltig wie die Größen waren die
15322 Verfassungen der Einzelstaaten. Die republikanischen Staatsformen
15323 herrschten vor, aber auch unter ihnen gab es eine bunte Musterkarte
15324 von kommunistischen, sozialistischen, demokratischen und
15325 aristokratischen Verfassungen. Die Monarchien waren besonders unter
15326 den kleineren Staaten vertreten. Ganz wie es die historische
15327 Entwicklung der lokalen Verhältnisse mit sich gebracht hatte, waren
15328 auch in diesen die Verfassungen sehr mannigfaltig; im ganzen
15329 unterschieden sie sich von den republikanischen nur dadurch, daß
15330 das Staatsoberhaupt nicht durch Wahl, sondern durch Erbfolge
15331 bestimmt war und sich eines größeren Einkommens und einer
15332 glänzenderen Hofhaltung als die Präsidenten erfreute. Einen höheren
15333 politischen Einfluß besaßen die Fürsten des Mars nicht, sie hatten
15334 vornehmlich eine ästhetische Bedeutung. Die reiche Entwicklung,
15335 welche die Verfeinerung des Lebens durch die Hofhaltung eines
15336 intelligenten Fürsten erfahren konnte, und der Einfluß, den eine
15337 hochsinnige Persönlichkeit hier zu entfalten vermochte, sollte auch
15338 auf dem Mars nicht verlorengehen. Die individualistischen Neigungen
15339 der Martier konnten daher nach jeder Richtung hin Befriedigung
15340 finden, und dem Ehrgeiz wie dem Unabhängigkeitsgefühl eines jeden
15341 war freier Spielraum gelassen. Zwischen allen Staaten herrschte,
15342 durch das Bundesgesetz garantiert, vollständige Freizügigkeit und
15343 Erwerbsfreiheit. Wem es in dem einen Staat nicht gefiel,
15344 transportierte sein Haus in einen andern, und es genügte, daß er
15345 dies bei der betreffenden Behörde anmeldete. Dadurch war eine
15346 natürliche Regulierung dafür gegeben, daß kein Staat seine
15347 Machtbefugnis mißbrauchte, denn er riskierte sonst, sehr bald seine
15348 Einwohner zu verlieren. Die natürliche Verschiedenheit der
15349 Individuen, ihre Gewohnheiten und ihre Anhänglichkeit für das
15350 Hergebrachte sorgten andererseits dafür, daß den einzelnen Staaten
15351 ihre Eigentümlichkeiten erhalten blieben und der Fluß der
15352 Bevölkerung nicht in Unbeständigkeit ausartete. Jede Gegend hatte
15353 ihre Vorzüge. Waren auch die wirtschaftlichen Lebensbedingungen in
15354 den breiten, die Wüsten durchziehenden, durch künstliche
15355 Bewässerung erhaltenen Kulturstreifen etwas erschwert, so boten
15356 dieselben doch andere Vorteile. Die Gelegenheit zum gewerblichen
15357 Gewinn war hier wegen der Nähe der großen Energiestrahlungsgebiete
15358 günstiger, und ein reicherer Arbeitsertrag entschädigte für die
15359 Störungen des äußeren Komforts, die dadurch entstanden, daß bei
15360 eintretendem Wassermangel die schützenden Bäume binnen wenigen
15361 Tagen ihr Laub verloren und die Vegetation unter ihnen
15362 vertrocknete. Dafür waren aber auch die hier gelegenen Staaten
15363 imstande, größere Zuschüsse den Privaten zu gewähren.
15365 Gemeinschaftlich für den gesamten Staatenbund und unmittelbar dem
15366 Zentralrat unterstellt, der seinerseits dem Bundesparlament
15367 verantwortlich blieb, war die technische Verwaltung. Sie schied
15368 sich in die beiden großen Gebiete des Verkehrswesens und des
15369 Bewässerungswesens, wozu als drittes jetzt noch die Raumschifffahrt
15370 gekommen war. Diese ungeheure Organisation hielt die Bundesstaaten
15371 als ein untrennbares Ganze\erratum{}{s} zusammen und machte es ebenso unmöglich,
15372 daß sich einzelne, selbst mächtige Staaten, vom Zusammenhang des
15373 Planeten ablösen konnten, als sich ein Organ des menschlichen
15374 Körpers der Blutzirkulation zu entziehen vermag.
15376 Unterhalten wurde der Riesenbetrieb durch ein stehendes Arbeitsheer
15377 von sechzig Millionen Personen – ›Mann‹ kann man nicht gut sagen,
15378 denn die allgemeine einjährige Dienstpflicht galt für beide
15379 Geschlechter. Für besondere Fälle stand eine dreifache Reserve zur
15380 Verfügung. Finanziert wurde der Betrieb durch die Sonne selbst. Der
15381 Gesamtetat der Marsstaaten betrug – nach deutschem Geld gerechnet
15382 für das Erdenjahr, also für ein halbes Marsjahr – 300 Billionen,
15383 das sind 300.000 Milliarden Mark, also 100.000 Mark auf den Kopf
15384 der Bevölkerung. Dabei hatte aber niemand eine Steuer, außer der
15385 persönlichen Dienstleistung während eines Lebensjahres,
15386 beizutragen. Das Privateinkommen der Martier belief sich außerdem
15387 im Durchschnitt pro Kopf der Bevölkerung auf 100.000 Mark,
15388 schwankte jedoch für den einzelnen zwischen dem Maximum des
15389 zulässigen Einkommens von zwanzig Millionen und der Null. Die
15390 Besteuerung des Einkommens der Privaten diente nur dazu, um jedem,
15391 der nichts verdiente, wenigstens ein Minimum von Kapital pro Jahr
15392 zu sichern, wodurch er sich wieder heraufarbeiten konnte. Ein
15393 Notleiden aus Mangel an Nahrung, Wohnung und Kleidung konnte nicht
15394 eintreten, da hierfür durch öffentliche Verpflegungsanstalten
15395 gesorgt war. Aber es war natürlich jedem daran gelegen, dieser
15396 Armenpflege nicht anheimzufallen. Der Gesamtbetrag, der vom Staat
15397 und von den Privaten auf dem ganzen Planeten in einem halben
15398 Marsjahr eingenommen wurde, belief sich also auf 600 Billionen
15399 Mark. Dies war jedoch nur die Hälfte dessen, was bei völliger
15400 Ausnutzung aller Kräfte hätte erzielt werden können.
15402 Diese Summen erschienen Ell so ungeheuerlich, daß er sich damit
15403 beschäftigte, sie nachzuprüfen und sich zu vergewissern, wie es
15404 möglich sei, eine so kolossale Rente zu erzielen. Ell hatte bei
15405 seinem ersten Versuch, den Geldwert auf dem Mars mit dem auf der
15406 Erde zu vergleichen, seiner Umrechnung den Wärmewert der Kohle
15407 zugrunde gelegt; er führte nun die Rechnung noch einmal so durch,
15408 daß er als Vergleichseinheit die Pferdestärken nahm, welche durch
15409 die Sonnenstrahlung pro Stunde als Arbeitseffekt erzielt werden
15410 konnten. Wenn er den gegenwärtigen Stand der Technik auf der Erde
15411 in Betracht zog, so glaubte er annehmen zu dürfen, daß selbst unter
15412 den günstigsten Verhältnissen, bei Berücksichtigung der
15413 Anlagekosten, die Pferdekraft in der Stunde nicht unter 0,8 Pfennig
15414 oder 1 Centime geliefert werden könne. Um nun den geringsten Wert
15415 der Sonnenrente für den Mars zu ermitteln, nahm er an, daß auch auf
15416 dem Mars nur die direkte Wärmestrahlung seitens der Sonne – nicht
15417 die anderen Wellengattungen – zur Arbeit verwertet werden. Er fand
15418 dann, daß im Lauf eines Erdenjahres die Sonnenstrahlung dem Mars
15419 soviel Wärme zuführt, daß, wenn sie vollständig in Arbeit
15420 übergeführt wurde, ihr Wert pro Quadratmeter der Oberfläche
15421 durchschnittlich 30 Mark betragen würde. Die zur Bestrahlung
15422 ausgenutzte Oberfläche des Mars beträgt aber rund hundert Billionen
15423 Quadratmeter, somit erhält der Mars eine Rente von 3.000 Billionen
15424 Mark. Von diesem Strahlungsbetrag können jedoch nur etwa 40 Prozent
15425 wirklich in Arbeit verwandelt und ausgenutzt werden – bei dem Stand
15426 der Technik auf dem Mars –, so daß der Gesamtgewinn des Mars an
15427 Arbeit (im Laufe eines Erdenjahrs) 1.200 Billionen Mark beträgt.
15428 Tatsächlich benutzte man hiervon nur die Hälfte. Denn die
15429 Gesamteinnahme der Marsstaaten betrug 300 Billionen, die der
15430 Privaten ebensoviel. Es war also kein Zweifel, daß die Marsstaaten
15431 über diese ungeheuren Mittel verfügten. Und dabei empfängt der Mars
15432 nur etwa ein Neuntel so viel Wärme von der Sonne wie die Erde. Wie
15433 weit also war die Erde zurück in der Ausnutzung der Mittel, die ihr
15434 von der Natur verliehen waren! Wieviel konnte sie noch gewinnen,
15435 wenn ihr die Erfahrung der Martier zugute kam!
15437 Aufs neue fühlte sich Ell in der Ansicht bestärkt, daß gegenüber
15438 dem immensen Fortschritt, der hier für die Menschheit in Frage
15439 stand, die Rücksicht auf die Neigung der gegenwärtigen Menschheit,
15440 dieses Geschenk anzunehmen, zu schweigen hatte. Noch viel weniger
15441 aber durfte er sich seinen Handlungen durch persönliche Neigungen
15442 irre machen lassen. Mochte man ihn als Überläufer, als Verräter an
15443 der Sache der Erde betrachten, mochte man Schmach und Verachtung
15444 auf ihn häufen – gleichviel! Er wußte, daß er zum besten der Kultur
15445 überhaupt und so auch der Menschheit handle, wenn er voll auf der
15446 Seite des Mars stand. Mochte er selbst seine persönlichen Freunde
15447 verlieren, er mußte es tragen. Einst würden sie gerechter über ihn
15448 urteilen. Und Isma! Er sah den traurigen Blick der blauen Augen, er
15449 sah das schmerzliche Zucken ihrer Lippen und das verächtliche
15450 Zurückwerfen des Kopfes –. Und noch einmal sprang er empor und
15451 starrte trüben Blickes in die dunkle Nacht. Dort drüben, wo der
15452 hellgrüne Schimmer des Straßenstreifens sich hinzog, da wohnte sie.
15453 O könnte er hingehen und sie rufen, wie damals, als das Luftschiff
15454 auf sie wartete, könnte er sie wieder zur Erde zurückführen und
15455 dafür ihren dankbaren Blick erhalten! Doch es ging nicht. Sie
15456 durfte nicht fort, sie konnte nicht, selbst wenn er versucht hätte,
15457 sie fortzubringen. Aber er selbst! Ihm stand es frei, er besaß die
15458 Erlaubnis, mit nach der Erde zu gehen, er hatte die Vollmacht hier
15459 vor sich, die er eben mit den übrigen Briefschaften an Ill
15460 zurückschicken wollte. In wenigen Tagen ging das Raumschiff. Ill
15461 fuhr zu diesem Zweck selbst an die Polstation, um der Abreise
15462 beizuwohnen. Er konnte mitreisen. Er konnte ihr den Wunsch
15463 erfüllen, mit Torm selbst zu sprechen. – Nein doch, nein! Es war
15464 unmöglich. Würde ihm Torm glauben können, wenn er ohne Isma kam?
15465 Und in diese Verhältnisse! Unter diesen Umständen! Sich
15466 gewissermaßen entschuldigen? Von allen Seiten beargwöhnt und
15467 angefeindet, würde er überhaupt jetzt etwas zur Versöhnung
15468 beitragen können? Nein, wenn er überhaupt zur Erde zurückging, da
15469 konnte es nur sein, wenn die Menschen begriffen hatten, was die
15470 Nume ihnen bringen und wie sie dieselben aufzunehmen haben. Er
15471 wollte auf dem Mars bleiben, bis er zurückkehren konnte als ein
15472 Herr und Beglücker der Menschen.
15474 Ell schloß die Papiere für Ill in die Mappe und fügte seinen Paß
15475 für das Raumschiff hinzu. Er brauchte ihn nicht.
15477 \section{36 - Saltners Reise}
15479 Saltner lenkte seinen Radschlitten, dessen er sich sehr bald zu
15480 bedienen gelernt hatte, Frus Haus zu. Wie oft hatte er in diesen
15481 zwei Monaten, die er schon auf dem Mars weilte, den Weg
15482 zurückgelegt und die kürzeste Verbindung ausprobiert! Heute hatte
15483 er weite Umwege gemacht und im nächtlichen Park seinen Gedanken
15484 nachgehangen. Sonst konnte es ihm immer nicht schnell genug gehen,
15485 wenn er über die schmalen Parkwege hinglitt, die nach Las Wohnung
15486 führten. Wenn ihm das Verhältnis des Mars zur Erde Sorge machte,
15487 bei La fand er Trost und Ermunterung, von ihr wußte er ja, daß sie
15488 ihn nicht für gering hielt, weil er nur ein Mensch war – –. Sie
15489 liebte ihn, die Nume, die herrliche. Sollte er nicht glücklich
15490 sein? Und doch – das Wort: „Vergiß nicht, daß ich eine Nume bin“,
15491 das sie zu ihm gesprochen, als sie zusammen auf die Erde
15492 hinabblickten, es ging ihm nicht aus dem Sinn, was er damals kaum
15493 beachtet, nicht verstanden hatte. Das Wort hatte er nicht
15494 vergessen, aber vielleicht die Warnung, die es enthielt. Sollte er
15495 jetzt daran erinnert werden? Durfte er es wagen, die Bitte
15496 auszusprechen, die sie ihm versagen mußte? Warum war er seit zwei
15497 Tagen nicht mehr bei La gewesen? Er hatte viel zu tun gehabt,
15498 gewiß; die Erdkommission hatte von ihm verschiedene Gutachten
15499 verlangt, auch Frau Torm hatte lange Unterredungen mit ihm, die
15500 Briefe nach der Erde nahmen seine Zeit in Anspruch. Zweimal hatte
15501 er auch La durch das Telephon angesprochen, doch beide Male war sie
15502 nicht zu Hause gewesen. Er wußte nicht einmal, womit sie so eifrig
15503 beschäftigt war. Seit acht Tagen war sie mit ihrer Mutter allein.
15504 Fru hatte sich bereits nach dem Pol begeben, um die Ausrüstung der
15505 Raumschiffe zu leiten. Es hatten lange Erwägungen in der
15506 Erdkommission stattgefunden, welche Kapitäne und Ingenieure bei der
15507 wichtigen und verantwortlichen Expedition nach dem Südpol der Erde
15508 zu verwenden seien. Schließlich wollte man, obgleich an tüchtigen
15509 Leuten kein Mangel war, doch des Rates Frus, als eines der
15510 bewährtesten Erdkenner, nicht entbehren, und er hatte sich
15511 entschlossen, die technische Leitung der Expedition zu übernehmen.
15512 Es war auch davon die Rede gewesen, daß La ihn begleiten solle. Die
15513 Aussicht, La so bald wieder zu verlieren, hatte Saltner schmerzlich
15514 erregt, und er hatte nun befreit aufgeatmet, als er hörte, daß La
15515 ihren Wunsch, auf dem Mars zu
15516 bleiben, durchgesetzt habe. Er schmeichelte sich, daß ihre
15517 Liebe zu ihm der Hauptbeweggrund gewesen
15518 sei, der sie hier zurückhielt – er hatte sich dessen geschmeichelt.
15519 Aber warum war er in den letzten Tagen so zweifelhaft geworden?
15520 Warum hatte er nicht die Zeit gefunden, sie aufzusuchen?
15522 Er konnte es sich nicht verhehlen, er war eifersüchtig. Fast
15523 jedesmal in der letzten Zeit hatte er Ell bei La getroffen, oder
15524 sie war während seiner Anwesenheit von Ell aus der Ferne
15525 angesprochen worden. Und wie begegnete sie Ell! Jedes Wort, jeder
15526 Blick zwischen ihnen war sofort verstanden, ihren Gesprächen
15527 vermochte er nicht zu folgen, es waren zwei Nume, die sich
15528 unterhielten, die sich gefielen, die –. Es konnte ja gar kein
15529 Zweifel sein, wer mußte nicht La lieben, der sie näher
15530 kennenlernte? Und er, wie konnte er sich mit dem Martiersohn
15531 vergleichen, der La ebenbürtig war und doch den eigentümlichen Reiz
15532 des Menschentums besaß! Er hätte diesen Ell hassen mögen, er nannte
15533 ihn einen Verräter an der Menschheit und einen Räuber seines
15534 Glücks. Und doch, konnte man den einen Verräter nennen, der nur zu
15535 seinem eigentlichen Vaterland zurückkehrte, das ihm durch ein
15536 unverschuldetes Geschick geraubt war? Und welches Recht hatte er
15537 selbst an La? Was entbehrte er überhaupt? Sie entzog sich ihm nicht
15538 um Ells willen, sie war ebenso lieb und gut wie früher, ja
15539 vielleicht sorgsamer und zärtlicher wie je, sie zeigte ihm in jedem
15540 Augenblick, wie wert er ihr war. Aber sie zeigte es auch Ell. Das
15541 störte ihn, das empörte ihn, sie aber fand es offenbar ganz in
15542 Ordnung. Sie war eine Martierin. Sie hatte ihn ja gewarnt; wenn er
15543 sie liebte, mußte er mit der Sitte der Martier rechnen. Er aber war
15544 ein Mensch – –
15546 Saltner näherte sich der breiteren Straße, wo La wohnte. In seine
15547 Gedanken versunken hatte er nicht bemerkt, daß ein Transport der
15548 Umzugsgesellschaft ihm entgegenkam. Er hatte nur gerade noch Zeit,
15549 zur Seite auszuweichen und den Zug an sich vorüberzulassen. Ein
15550 Haus, auf breiten Gleitkufen stehend, wurde von einer
15551 Reaktionsmaschine vorwärtsgeschoben. Die Fenster waren geschlossen,
15552 es war alles dunkel im Hause. Die Bewohner schliefen offenbar. Wenn
15553 sie am Morgen aufwachten, stand ihr Haus viele Hunderte von
15554 Kilometern entfernt. Nun war die Bahn wieder frei. Die Straße lag,
15555 von den breiten Streifen des Fluoreszenzlichtes an beiden Seiten
15556 erleuchtet, hell vor ihm. Noch eine Minute, und sein Schlitten war
15557 vor ihrem Haus. Ob er sie heute noch würde sprechen können? Es war
15558 schon ziemlich spät geworden. Ob er nicht seinen Besuch auf morgen
15559 aufschieben sollte? Er hatte eine dringende Bitte an sie, aber wie,
15560 wenn sie sich dadurch beleidigt fühlte? Er mochte gar nicht daran
15561 denken, daß auch La ihn abweisen könnte.
15563 Da war das Nachbarhaus, an seinen tulpenartig aufragenden Erkern
15564 kenntlich, und hier –. Er hielt den Schlitten an. Frus Haus war
15565 verschwunden, die Stelle war leer. Saltner traute seinen Augen
15566 kaum. La war wirklich fortgezogen, ohne ihn zu benachrichtigen?
15568 Auf dem Rasenplatz, wo das Haus gestanden hatte, zeigte sich eine
15569 Tafel. Sie enthielt nur die Worte:
15571 „Verzogen 29,36 nach Mari, Sei 614.“
15573 Saltner stand ratlos. 29,36 – das war die Zeit der Abreise. Er
15574 verglich den Kalender, den er sich zur Umrechnung der martischen
15575 Zeit angelegt hatte, da ihm das duodezimale Zahlensystem und die
15576 Angabe der Stunden und Minuten in Bruchteilen immer noch
15577 Schwierigkeiten machte. Seine Uhr zeigte 29,37 – das war ein
15578 Unterschied von zehn Minuten –, vor zehn Minuten erst hatte der
15579 Transport des Hauses begonnen. So war es gewiß Las Wohnung gewesen,
15580 die er an sich hatte vorüberschieben sehen. Sie konnte noch nicht
15581 weit fort sein. Wenn er seinen leichten Schlitten in volle Eile
15582 versetzte, konnte er den Transport vielleicht noch einholen, ehe er
15583 die Gleitbahn erreichte, die ihn dann mit größter Geschwindigkeit
15584 davontrug. Schon wandte Saltner sein Fahrzeug – doch – was hätte
15585 dies genutzt? Er konnte doch La nicht in der Nacht aus dem Schlaf
15586 stören. Nachreisen konnte er auch morgen noch. Er notierte sich die
15587 Adresse. Mari – er wußte freilich nicht, wo dieser Staat oder
15588 Bezirk lag, ob die Entfernung groß sei – doch das läßt sich
15589 ermitteln. Also nach seiner Wohnung! Er war seit Mittag nicht zu
15590 Hause gewesen. Gewiß, zu Hause würde er auch Aufklärung finden,
15591 warum La so plötzlich verzogen war.
15593 Saltners Wohnung war ganz in der Nähe. Als er die Tür öffnete,
15594 flammten die Lampen im Haus auf, und das erste, was er beim
15595 Eintritt ins Zimmer erblickte, war ein Zettel mit den deutschen
15596 Worten: ›Ich sprach ins Grammophon. La.‹
15598 Saltner eilte an das Instrument und löste den Verschluß. Das
15599 leichte Klopfen ertönte, womit der Beginn der Rede angezeigt wird.
15600 Dann vernahm er Las melodische, tiefe Stimme, er glaubte sie vor
15601 sich zu sehen, wie sie mit zärtlichem Vorwurf sagte:
15603 „Wo stecktest du denn, mein geliebter Sal, dreimal habe ich dich
15604 angerufen, bei Frau Torm habe ich dich gesucht – du warst aber
15605 fortgegangen und sie gleichfalls, da bin ich in deine Wohnung
15606 geeilt, wo du auch nicht bist, und jetzt habe ich nur noch Zeit,
15607 dir schnell ein paar Worte ins Grammophon zu sagen, damit du nicht
15608 denkst, deine La wäre dir ohne Abschied davongegangen. Denn höre
15609 nur! Wir ziehen in einer halben Stunde nach Mari, Sei 614. Mari
15610 liegt ziemlich weit von hier nach Südwesten, am östlichen Rand der
15611 Wüste Gol. Gern tu ich’s nicht, wie gern wäre ich bei dir geblieben
15612 in unserm schönen Kla! In Mari ist es kühler, und das lockt meine
15613 Mutter. Aber der Hauptgrund ist ein anderer. Ihr bösen Menschen
15614 seid an allem schuld! Auf Gol werden die Versuche zum Schutz der
15615 Luftschiffe gegen die Geschütze der Menschen abgehalten, und dort
15616 kommt der Vater noch einmal hin, so daß wir vor seiner Erdreise
15617 noch Abschied nehmen können. Bis hierhin würde es zu weit sein für
15618 ihn. Dort werden wir auch Se noch einmal sehen. Leb also wohl, mein
15619 lieber Freund! Wir können alle Tage miteinander sprechen. Morgen
15620 zwischen drei und vier werde ich dich ansprechen, sei also zu
15621 Hause. Ich erwarte dich vorläufig nicht in Sei, man würde deine
15622 Reise dahin nicht gern sehen. Aber wenn erst die Raumschiffe fort
15623 sind und mehr Ruhe bei uns herrscht, dann wirst du uns hoffentlich
15624 besuchen. Also auf Wiederhören morgen! Deine La.“
15626 Saltner hatte mit angehaltenem Atem gelauscht. Nun stellte er den
15627 Apparat zurück und ließ sich die Abschiedsworte Las noch einmal
15628 sagen. Dann dachte er lange darüber nach. Allerlei Fragen drängten
15629 sich ihm auf.
15631 An die Wüste Gol erinnerte sich Saltner; La hatte sie ihm gezeigt,
15632 als das Raumschiff, das ihn nach dem Mars brachte, sich der
15633 Außenstation näherte. Sie war der große helle Fleck, nicht sehr
15634 weit vom Südpol, den die Astronomen der Erde die Insel Thyle I
15635 nannten. Sein Weg vom Pol nach Kla führte nicht weit davon vorüber,
15636 weil der direkte Weg damals im ersten Sommer noch durch Schnee
15637 unbequem gemacht war. Er erinnerte sich, daß er auf seiner Fahrt
15638 aus dem Fenster des Eilzugs zu seinem Erstaunen im ersten
15639 Morgengrauen wolkenähnliche Gebilde gesehen hatte, fern im Westen
15640 am Horizont, und daß man ihm gesagt hatte, daß dies die Morgennebel
15641 auf dem Hochplateau der Wüste Gol seien. Auch daß die Versuche mit
15642 den weittragenden Geschützen der Erdbewohner dort vorgenommen
15643 wurden, hatte er gehört. Die Martier hatten für derartige
15644 Schießplätze nur auf ihren Wüsten Raum, und Gol lag dem Südpol am
15645 nächsten. Aber warum mußte La ihre Abreise so beschleunigen? Sie
15646 sagte, um ihren Vater noch einmal zu sehen. Also mußte Fru sehr
15647 bald, wohl morgen schon, dort erwartet werden, und daraus war zu
15648 schließen, daß auch das Raumschiff bald abgehen werde. Er hatte
15649 somit keine Zeit zu verlieren, wenn er La noch persönlich vor
15650 Abgang des Schiffes sprechen wollte. Warum aber, wenn es sich bloß
15651 um ein Zusammentreffen mit dem Vater handelte, war sie mit dem
15652 ganzen Haus übergesiedelt? Es war doch noch ziemlich früh, um eine
15653 so südlich gelegene Sommerfrische aufzusuchen. Und warum sollte er
15654 ihr nicht nachkommen? Und was bedeutete diese hingeworfene
15655 Bemerkung über Se?
15657 Doch über diese Fragen nachzudenken, war noch Zeit auf der Reise;
15658 denn La nachzueilen, um sie zu sprechen, dazu war Saltner sofort
15659 entschlossen. Was er mit ihr zu beraten, von ihr zu erbitten hatte,
15660 das konnte er nicht telephonisch erledigen, dazu mußte er ihr Aug’
15661 in Auge sehen; fürchtete er doch mit gutem Grund, daß auch sie sich
15662 weigern würde. Aber diesem Schritt, der ihm schwer genug wurde,
15663 konnte und durfte er sich nicht entziehen, und er mußte sofort
15664 geschehen, solange noch das Raumschiff den Mars nicht verlassen
15665 hatte. Er hatte Isma das Versprechen gegeben, La um Hilfe
15666 anzugehen, das mußte er halten. Wichtigeres jedoch lag ihm selbst
15667 am Herzen. Er hielt es für seine Pflicht, die Staaten der Erde von
15668 den Maßnahmen der Martier zu unterrichten. Er erinnerte sich jenes
15669 Wortes von Grunthe, daß sie Kundschafter seien, an deren getreuen
15670 Diensten vielleicht das Wohl und Wehe der zivilisierten Erde hinge.
15671 Nicht von den Erklärungen allein, welche die Regierung der Martier
15672 abzugeben belieben würde, sollten die Menschen erfahren, sondern
15673 auch von den Ansichten, die hier auf dem Mars in der großen
15674 Antibatenpartei herrschten, und von dem Urteil, das er, als Mensch,
15675 über das Vorgehen der Martier sich gebildet hatte. Er mußte
15676 versuchen, seine von den Martiern nicht kontrollierten Briefe nach
15677 der Erde zu befördern, selbst in der schmerzlichen Aussicht, sich
15678 La zu entfremden.
15680 Sie hatte gesagt: „Ich erwarte dich vorläufig nicht in Sei, man
15681 würde deine Reise hierher nicht gern sehen.“ Er ließ sich die Worte
15682 noch einmal wiederholen. Das war also eine Meinungsäußerung Las,
15683 ein Rat vielleicht, kein direktes Verbot. Warum hatte sie sich so
15684 unbestimmt ausgedrückt, nicht mit der gewohnten Klarheit? Folgte
15685 sie vielleicht einem fremden Wunsch, der mit dem eigenen nicht
15686 übereinstimmte, oder war sie mit sich selbst im Zwiespalt? „Man
15687 würde deine Reise nicht gern sehen.“ Wer ist das ›man‹? Sie hat
15688 also nicht gesagt, daß sie selbst sie nicht gern sehen würde. Das
15689 ›man‹ aber, die andern, also wohl die Regierung, die Martier, Ill,
15690 Ell und wer sonst, was ging ihn das an? Sie sollten nicht eher
15691 davon erfahren, als bis er dort wäre; hatte er erst mit La
15692 gesprochen, so war ihm alles übrige gleichgültig. Also vor allen
15693 Dingen sofort nach Mari!
15695 Saltner war müde, er hätte sich gern niedergelegt. Aber zum
15696 Schlafen hatte er unterwegs Zeit. Er wußte, daß die
15697 Personenbeförderung auf große Entfernungen mit den schnellen
15698 Radbahnen alle Stunden stattfand, er konnte also jede Stunde
15699 abreisen. Seine Vorbereitungen waren schnell erledigt, eine kleine
15700 Handtasche, der Reisepelz, den er noch von der Erde mitgebracht,
15701 und sein ›Energieschwamm‹, das ist sein Kapital, aus welchem er die
15702 im Geldverkehr übliche Münze abzapfen mußte. Es war dies eine
15703 Büchse mit einem äußerst feinen und dichten Metallpulver, das in
15704 seinen Poren den höchst kondensierten Äther enthielt und dadurch
15705 eine bestimmte Arbeitsmenge repräsentierte. Ein Gramm dieses
15706 Pulvers hatte einen Wert von etwa fünftausend Mark, denn eine
15707 gleichwertige Arbeitskraft konnte man in dem geeigneten Apparat
15708 daraus entwickeln. Diese Währungseinheit hieß ein ›Eck‹ und war
15709 zugleich das Zehntausendfache der Strahlungseinheit. Man pflegte
15710 sich ein bis zwei Zentigramm, fünfzig bis hundert Mark, in die im
15711 Kleinverkehr gebräuchliche Münze einzuwechseln, was in jedem
15712 offenen Geschäft geschehen konnte.
15714 Die Personenbeförderung auf den Radbahnen, die aber nur auf
15715 Strecken über dreihundert Kilometer stattfand, war sehr bequem, und
15716 Saltner wußte damit Bescheid. Um Fahrpläne, Anschlüsse und
15717 dergleichen brauchte man sich nicht zu kümmern. Die Beförderung war
15718 ungefähr in derselben Weise geordnet wie diejenige der Briefe auf
15719 der Erde. Die Überführung der Passagiere an den Kreuzungsstrecken
15720 fand ohne Zutun derselben auf dem kürzesten Weg durch die
15721 Bahnverwaltung statt.
15723 Saltner begab sich nach der nächsten Station, die er mit Hilfe der
15724 Stufenbahn in einer Viertelstunde erreichte. Hier standen, in
15725 langen Reihen aufgestellt, die Reisecoupés; Schalter, Billets,
15726 Schaffner, alles dies gab es nicht. Ein einziger Beamter achtete
15727 darauf, daß, sobald eine Anzahl Coupés besetzt war, sofort neue
15728 herbeigeschoben wurden. Jede Person nahm ein solches Coupé für sich
15729 in Anspruch. Sie waren etwa einundeinviertel Meter breit,
15730 zweieinhalb Meter lang und drei Meter hoch. Sie bildeten also eine
15731 Kammer von ausreichender Größe für eine Person und waren mit allen
15732 Reisebequemlichkeiten versehen. Ein Handgriff genügte, um den
15733 vorhandenen Sessel und Tisch in ein bequemes Bett zu verwandeln.
15734 Auch ein Automat, der gegen Einwurf der betreffenden Münzen Speise
15735 und Trank lieferte, fehlte nicht. Der Eingang zum Coupé war von der
15736 schmalen Seite aus. Sie standen auf Gleitkufen und wurden vor
15737 Abgang der Züge geräuschlos auf die Wagen der Radbahn geschoben.
15739 Saltner trat vor ein unbesetztes Coupé, zog einen Thekel, eine
15740 Goldmünze im Wert von etwa zehn Mark, aus der Tasche und steckte
15741 sie in die hierzu angebrachte Öffnung an der Tür. Die bisher
15742 verschlossene Tür sprang auf, und Saltner trat ein. Die Zeit des
15743 Eintritts markierte sich selbsttätig an der Tür, und Saltner hatte
15744 nunmehr das Recht erhalten, sich einen vollen Tag lang in dem Coupé
15745 aufzuhalten und hinfahren zu lassen, wohin er Lust hatte.
15747 Aus einem im Wagen befindlichen Kästchen nahm er ein kleines
15748 Kärtchen, um die Adresse seines Coupés, sein Reiseziel,
15749 daraufzuschreiben. Jetzt stutzte er einen Augenblick. Genügte auch
15750 die Angabe ›Mari Sei‹? Wenn es vielleicht noch ein anderes Mari
15751 gab, und er, statt in der Nähe des Südpols, sich am Äquator oder am
15752 Nordpol wiederfand? Aber das Coupé war selbstverständlich mit der
15753 erforderlichen Bibliothek versehen. Es fand sich da das Meisterwerk
15754 statistischer und tabellarischer Kunst, das Mars-Kursbuch, in
15755 welchem die Beförderungszeiten, Wege und Reisedauer angegeben
15756 waren. Durch eine höchst scharfsinnig konstruierte, verschiebbare
15757 Tabelle konnte man die Wegdauer zwischen je zwei beliebigen
15758 Stationen sofort finden. Als Saltner ›Mari‹ nachschlug, fand er,
15759 daß es allerdings noch einen Bezirk gleichen Namens auf der
15760 nördlichen Halbkugel gab und daß er die Bezeichnung ›Gol‹
15761 beizufügen hatte. Er schrieb also die Adresse auf das kleine
15762 Kärtchen und steckte dies in einen hierzu bestimmten Rahmen im
15763 Innern der Tür. Dadurch erschien die Adresse stark vergrößert und
15764 hell beleuchtet außen an der Tür. Ein leises Summen begann
15765 gleichzeitig. Dies dauerte so lange, bis der Wagen die Station
15766 verlassen hatte, und diente als Merkzeichen für den Reisenden, daß
15767 er nicht etwa bei der Abholungszeit übersehen war. Wenn es wieder
15768 begann, so war es das Signal, daß das Reiseziel nach Angabe der
15769 Adresse erreicht war.
15771 Saltner hatte aus dem Kursbuch ersehen, daß seine Reise acht
15772 Stunden in Anspruch nehmen würde, denn die Entfernung betrug etwa
15773 3.000 Kilometer. Es war jetzt bald Mitternacht, er traf also am
15774 Vormittag ziemlich zeitig auf der Station Mari ein. Übrigens
15775 brauchte er sich nicht darum kümmern, ob er zur rechten Zeit
15776 erwache, da sein Coupé so lange auf der Station halten blieb, bis
15777 er die Adresse entfernt hatte oder der ganze bezahlte Tag
15778 abgelaufen war. Aber er wußte nicht, wie weit er noch von der
15779 Bahnstation nach Las Wohnort habe. Darüber wollte er sich am Morgen
15780 während der Fahrt vergewissern, da die Bibliothek des Coupés genaue
15781 Reisehandbücher über alle Teile des Mars enthielt. Früher als am
15782 Nachmittag konnte er indessen nicht darauf rechnen, La anzutreffen,
15783 weil die Beförderung des Hauses, die auf der Gleitbahn stattfand,
15784 mindestens die doppelte Zeit in Anspruch nehmen mußte als seine
15785 Eilfahrt.
15787 Jetzt zog er den Handgriff, welcher das Coupé in ein Schlafzimmer
15788 umgestaltete, und legte sich zu Bett. Kein Schienenrasseln, kein
15789 Pfiff, kein Ruf und Signal störte ihn. Er merkte noch, daß das
15790 leise Summen aufgehört und er somit seine Fahrt angetreten hatte.
15791 Er dachte, es sei doch eine gute Einrichtung, daß hier jeder für
15792 zehn Mark seinen eigenen Salonwagen haben könne, bequemer, als es
15793 sich auf der Erde ein Fürst leisten kann. Dreitausend Kilometer –.
15794 Und es fiel ihm ein, das war gerade die Entfernung von Ses Wohnort
15795 –. Ob der wohl in der Nähe war? La wollte sie ja wieder sehen. Wie
15796 lange hatte auch er sie nicht gesehen, obwohl gesprochen – aber
15797 sehen –. Saltner entschlummerte, während sein Coupé, auf dem
15798 Radwagen stehend, unter den Häuserreihen zwischen geradlinigen
15799 Kanälen nach Südwesten jagte.
15801 \section{37 - Die Wüste Gol}
15803 Saltner hatte Se nicht wiedergesehen, seitdem er mit Frus die Reise
15804 nach Kla angetreten hatte. Aber er hatte öfter mit ihr telephonisch
15805 gesprochen – wenn sie ihn anrief, und auch dies war in der letzten
15806 Zeit seltener geschehen. Solange er mit La zusammen war, verblaßte
15807 der Eindruck, den sie auf ihn gemacht hatte, und La sprach mit ihm
15808 nach ihrer Gewohnheit fast niemals über Se. Das letzte, was er von
15809 Se gehört hatte, war ihre erneute Einberufung zum Dienst in der
15810 chemisch-technischen Abteilung des Arbeitsheeres.
15812 Nicht nur die Männer, sondern auch die Frauen bildeten sich auf dem
15813 Mars für einen besonderen Beruf aus, doch bestand zwischen der Art
15814 dieser Ausbildung und des Betriebes der Berufsarten zwischen beiden
15815 Geschlechtern ein wesentlicher Unterschied. Nichts lag den Martiern
15816 ferner als der Gedanke einer schablonenhaften Gleichmacherei;
15817 Gleichheit gab es für sie nur im Sinne der gleichen Freiheit der
15818 Bestimmung als Persönlichkeit, aber die tatsächlichen Verhältnisse
15819 gestalteten sich durchaus verschieden nach dieser Selbstbestimmung.
15820 Die Frauen erwählten daher Berufsarten, die ihren
15821 Eigentümlichkeiten entsprachen und ihnen insbesondere eine gewisse
15822 Freiheit in der Wahl der Arbeitsstunden gestatteten. Se hatte einen
15823 wissenschaftlichen und praktischen Kursus in der Chemie
15824 durchgemacht. Da die Herstellung aller Nahrungsmittel auf dem Mars
15825 chemische Studien voraussetzte, war dies unter den Martierinnen
15826 einer der verbreitetsten Berufszweige. In dieser Eigenschaft war Se
15827 auch, als sie ihre einjährige Arbeitspflicht abzuleisten hatte, in
15828 die chemische Arbeitsabteilung eingetreten und auf ihren Antrag der
15829 Erdstation zugeteilt worden. Sie war nicht, wie La, in Begleitung
15830 ihrer Eltern, sondern in ihrer eigenen Dienstleistung nach der Erde
15831 gegangen. Auf Grund dieser besonderen Anstrengung konnte sie nach
15832 der Rückkehr auf zwei Monate beurlaubt werden. Dieser Urlaub war
15833 nun vorüber, und sie hatte noch einige Monate ihrer Dienstzeit zu
15834 absolvieren. Sie war jetzt aber von der Abteilung für Lebensmittel
15835 in die artilleristische Abteilung versetzt worden und bei den neuen
15836 Versuchen beschäftigt, zu denen der Konflikt mit den Engländern die
15837 Martier veranlaßt hatte. Saltner hatte davon nur soviel gehört, daß
15838 man entdeckt hatte, wie das Repulsit in eine neue Verbindung mit
15839 ganz wunderbaren Eigenschaften umgewandelt werden konnte, die man
15840 jedoch, wenigstens ihm gegenüber, bisher als Geheimnis behandelte.
15841 Se hatte damit zu tun, sie wohnte daher jetzt seit einer Woche
15842 ebenfalls am Rand der Wüste Gol, zwar nicht in Mari, aber dicht an
15843 der Grenze, im Bezirk Hed.
15845 Als Saltner durch das Schütteln seines Kopfkissens erwachte, dessen
15846 Rüttel-Wecker er auf eine Stunde vor seiner Ankunft – nach seiner
15847 gewohnten Rechnung sieben Uhr morgens – gestellt hatte, zog er den
15848 Fenstervorhang beiseite und sah zu seiner Verwunderung, daß der Tag
15849 noch nicht angebrochen war. Er hatte nicht berücksichtigt, daß er
15850 nach Westen fuhr und daher an seinem Reiseziel die Ortszeit um etwa
15851 vier Stunden zurück sei. Er würde etwa um Sonnenaufgang in Sei
15852 ankommen. Dennoch machte er Toilette, benutzte den
15853 Frühstücksautomaten und begann, sich aus dem Reisehandbuch über den
15854 Staat Mari zu unterrichten. Er erkannte daraus, daß Sei unmittelbar
15855 am Abhang der Wüste Gol läge und die Station ebenfalls, aber
15856 ungefähr hundert Kilometer südlicher. Die Radbahn zog sich in einer
15857 Strecke von dreihundert Kilometern direkt am Ostabhang der Wüste
15858 Gol hin, so daß er diese zur Rechten hatte. Um nach Sei zu
15859 gelangen, wo die Radbahn nicht anhielt, mußte er von der Station
15860 aus die letzten hundert Kilometer auf der Stufenbahn zurückfahren.
15861 Da ihm die Wege und die Lage der Wohnung Las nicht genau bekannt
15862 waren, mußte er eine Stunde auf den Weg von der Station bis zum
15863 Haus rechnen. Es blieben ihm also noch ungefähr sechs Stunden zur
15864 freien Verfügung, da er nicht eher bei La eintreffen wollte, als zu
15865 der Zeit, die sie zur telephonischen Unterhaltung bestimmt hatte.
15866 Er nahm an, daß sie diese Zeit gewählt habe, weil sie dann sicher
15867 in ihrem neuen Wohnort angekommen sei.
15869 Das Fenster seines Coupés, welches der Tür gegenüberlag, sah nach
15870 Osten. Noch konnte er keinen Schimmer der Dämmerung erkennen, die
15871 freilich auf dem Mars nur kurz und schwach war. Dennoch lag über
15872 der Gegend ein rötliches Licht, das er sich nicht erklären konnte.
15873 Die Monde des Mars gaben keinen derartigen Schein. Wo die Reihe der
15874 Häuser, unter denen der Zug fortraste, unterbrochen war, und das
15875 war in dieser Gegend mehrfach der Fall, sah er, daß das rötliche
15876 Licht von Westen her auf die hier weniger dicht belaubten
15877 Riesenbäume einfiel. Um nach der Seite zu sehen, auf welcher die
15878 Wüste Gol lag, mußte Saltner die Tür seines Coupés öffnen. Sie
15879 führte auf den schmalen Wandelgang, der sich durch den Wagen
15880 hinzog. Hier konnten die Insassen der Coupés sich ergehen. Hier sah
15881 man durch die großen Fenster, als der Zug eine Häuserlücke
15882 passierte, die Felsenmauern der Wüste dunkel aufragen, über ihnen
15883 aber lag eine rosig glänzende Lichtschicht. Die Nebel über der
15884 Wüste, in ihrer Höhe von mehreren tausend Metern, waren bereits von
15885 der Morgensonne beleuchtet.
15887 Der Beamte, welcher den Radwagen begleitete, durchschritt den
15888 Wandelgang und sagte zu jedem der wenigen sich hier aufhaltenden
15889 Passagiere leise: „Bitte einzusteigen.“ Der Zug näherte sich der
15890 Station, und während des Haltens auf dieser mußte sich jeder in
15891 seinem Coupé befinden, er verlor sonst das Recht der
15892 Weiterbeförderung. Denn sobald der Wagen hielt, klappte die ganze
15893 Seitenwand herab und die einzelnen Coupés wurden mit großer
15894 Gewandtheit sortiert, um je nachdem auf der Station zu bleiben oder
15895 auf die kreuzenden Linien übergeführt zu werden. Bald verriet das
15896 erneute leise Summen an seiner Tür Saltner, daß sein
15897 Bestimmungsort, die Station Mari, erreicht war. Er packte seine
15898 Sachen zusammen und trat aus dem Coupé ins Freie. Er fand die Luft
15899 so kalt, daß er seinen Pelz umhing. Es waren nur wenige Coupés auf
15900 der Station zurückgeblieben, und ihre Insassen waren noch nicht zum
15901 Vorschein gekommen; sie schienen es vorzuziehen, ihren Schlaf nicht
15902 vorzeitig zu unterbrechen. Während Saltner noch unschlüssig stand,
15903 was er jetzt beginnen solle, trat jedoch aus einem der Coupés ein
15904 Fahrgast, der, nachdem er einen Blick auf den Himmel geworfen
15905 hatte, dem Ausgang der Station zuschritt wie jemand, der genau mit
15906 der Örtlichkeit vertraut ist. Er trug das dunkle Arbeitskleid eines
15907 Bergmanns und schien keine Zeit zu verlieren zu haben. Saltner
15908 gedachte ihn anzureden und folgte vorläufig seinen Schritten. Der
15909 Bergmann überschritt die hinter der Station vorüberführende
15910 Stufenbahn auf einer Brücke und trat dann in den Eingang eines
15911 Hauses. Da Saltner hier zögerte und der Martier bemerkte, daß ihm
15912 Saltner gefolgt war, wandte er sich nach ihm um und sagte:
15914 „Wenn Sie noch zum Sonnenaufgang hinaufwollen, müssen Sie sich
15915 beeilen, der Wagen geht gleich ab.“
15917 „Ich bin ganz fremd hier“, erwiderte Saltner. „Wenn Sie erlauben,
15918 schließe ich mich Ihnen an.“
15920 Der Bergmann machte eine höfliche Bewegung und ging voran. Sie
15921 gelangten an einen gondelartig gebauten Wagen, welcher die
15922 Aufschrift trug: ›Abarische Bahn nach der Terrasse‹. Saltner stieg
15923 mit dem Martier ein, ein Schaffner nahm ihnen eine kleine
15924 Fahrgebühr ab. Der Wagen, der nur schwach besetzt war, begann sehr
15925 bald sich zu bewegen. Er glitt erst mit schwacher Steigung
15926 aufwärts, dann, als die fast senkrecht abfallende Felswand der
15927 Wüste erreicht war, sehr steil empor, indem er sich durch seine
15928 Schwerelosigkeit erhob. Ein Drahtseil, an dem er hinglitt, schrieb
15929 ihm die Bahn vor. Vorspringende Felswände verhinderten den Umblick.
15930 Die ganze Fahrt dauerte nur wenige Minuten. Die Einrichtung war,
15931 wie Saltner erfuhr, noch nicht lange in Betrieb.
15933 Als Saltner den Wagen verließ, fand er sich auf einer kahlen
15934 Felsstufe, die sich, so weit er sehen konnte, in nördlicher wie
15935 südlicher Richtung einige hundert Schritt breit hinzog. Sie war mit
15936 zahlreichen Baulichkeiten bedeckt, die meist elektrische
15937 Schmelzöfen enthielten. In der ganzen Längserstreckung der Terrasse
15938 lief ein Bahngeleis hin. Sie war eine Stufe am östlichen Abfall der
15939 Wüste Gol. Nach Westen hin erhob sich das Gebirge noch weiter und
15940 trug das Hochplateau der Wüste, die sich in einer Erstreckung von
15941 etwa 600 Kilometer von Norden nach Süden und 1.000 Kilometer nach
15942 Westen hin ausdehnte. Über derselben glänzten, in ihren oberen
15943 Schichten hell beleuchtet, große Wolkenmassen, die sich in der
15944 Nacht gebildet hatten, jetzt aber schon unter den Strahlen der
15945 Sonne zu schwinden begannen.
15947 Als sich Saltner dem Tal zuwendete, bot sich ihm ein herrlicher
15948 Anblick. Sein Auge schweifte weithin über die Landschaft, die vom
15949 Widerschein der erleuchteten Nebel schwach erhellt war. Nur im
15950 Südosten erhob sich ein heller rötlicher Schimmer, das baldige
15951 Nahen der Sonne anzeigend. Zwischen dem grünlichen Grau der
15952 Baumkronen, auf die er hinabblickte, zogen sich, noch künstlich
15953 erleuchtet, die geradlinigen Streifen breiter Straßen hin. Am
15954 dunkeln, klaren Himmel standen die Sterne, einer aber von ihnen,
15955 gerade im Osten, strahlte mit besonders hellem Licht, ein
15956 glänzender Morgenstern. Saltner konnte sich von seinem Anblick
15957 nicht losreißen. Ein tiefes Heimweh ergriff ihn. Zum erstenmal seit
15958 seiner Landung auf dem Mars sah er die Erde wieder.
15960 Die Stimme des Bergmanns, der sich zu ihm gesellte, weckte ihn aus
15961 seiner Träumerei.
15963 „Nicht wahr“, sagte dieser, „das ist schön. Da unten sieht man das
15964 nicht vor lauter Bäumen, oder man muß erst zwischen die Maschinen
15965 auf die Dächer steigen. Jetzt ist die Ba am hellsten, Sie haben sie
15966 wohl noch nie so deutlich gesehen? Die letzten Monate hat sie zu
15967 nahe an der Sonne gestanden.“
15969 „Ich habe sie schon ganz in der Nähe gesehen“, sagte Saltner, „denn
15970 ich bin schon dort gewesen.“
15972 „So, so“, erwiderte der Bergmann lebhaft, „da sind Sie also ein
15973 Raumschiffer. Das freut mich, daß ich einmal einen treffe, ich habe
15974 nämlich noch keinen gesehen. Muß ein seltsames Handwerk sein! Sie
15975 kamen mir gleich so fremdartig vor, einen solchen Mantel sah ich
15976 noch nie.“
15978 „Der ist von dem Fell der Tiere, wie sie auf der Erde leben.“
15980 Der Bergmann befühlte neugierig das Pelzwerk.
15982 „Da sagen Sie mir doch“, begann er wieder, „ist es denn wahr, was
15983 die Zeitungen jetzt so viel schreiben, daß es dort auch Nume gibt?
15984 Ich meine, so wie wir, mit Vernunft?“
15986 „Etwas Vernunft mögen sie schon haben.“
15988 Der Bergmann schüttelte den Kopf. „Viel wird es wohl nicht sein“,
15989 sagte er. „Warum wären sie sonst nicht schon zu uns gekommen? Wir
15990 glauben nämlich hier nicht recht daran, daß dort viel zu holen ist,
15991 wir meinen, die Regierung nimmt nur jetzt den Mund recht voll, weil
15992 nächstes Jahr Wahlen zum Zentralrat sind. Da heißt es, wenn wir auf
15993 die Erde gehen, da können wir die Sonne sozusagen mit Händen
15994 greifen, da bekommen wir soviel Geld, daß jeder den doppelten
15995 Staatszuschuß erhält.“
15997 Saltner zuckte plötzlich zusammen und wandte sich ab. Ohne daß die
15998 Dämmerung sich merklich verstärkt hätte, hatte unvermittelt ein
15999 blendender Sonnenstrahl seine Augen getroffen. Das aufgehende
16000 Gestirn beschien die Terrasse, und bald verbreitete sich sein Licht
16001 auch über die tieferliegenden Lande.
16003 Der Bergmann verabschiedete sich, er müsse nun an die Arbeit.
16004 Saltner begleitete ihn noch ein Stück. So stark wirkte die
16005 Sonnenstrahlung, daß schon jetzt Saltner seinen Pelz nicht ertragen
16006 konnte. Er ließ ihn auf der Station zurück.
16008 Die Nebel von den Höhen hatten sich verzogen. Saltner wandelte die
16009 Lust an, die felsigen Abhänge hinaufzuklimmen. Das Steigen in der
16010 geringen Schwere des Mars schien ihm ein Kinderspiel. Zunächst aber
16011 ging er mit dem Bergmann bis an den Eingang des Stollens, in
16012 welchem dieser zu tun hatte. Überall sah man auf der Terrasse diese
16013 Öffnungen, die zu den Mineralschätzen des Berges führten.
16015 Im Gespräch erfuhr Saltner, daß der Bergmann auf einige Zeit unten
16016 im Lande gewesen war, um seinen Sohn zu besuchen, der auf der
16017 Schule studierte, und daß man sich hier in der Tat wieder ganz
16018 andere Vorstellungen von der Erde machte als im politischen Zentrum
16019 des Planeten. Man glaubte, daß man nur nach der Erde zu gehen
16020 brauche, um alsbald mit unermeßlichen Schätzen zurückzukehren. Die
16021 Jugend hatte sich daher massenhaft gemeldet, um nach der Erde
16022 mitgenommen zu werden. Der Bergmann verhielt sich dagegen durchaus
16023 skeptisch und hatte seine Reise hauptsächlich unternommen, um
16024 seinen Sohn von der beabsichtigten Erdfahrt zurückzuhalten. Er sah
16025 jetzt, daß er sich die Mühe hätte sparen können, denn die Regierung
16026 hatte alle diese Meldungen rundweg abgeschlagen.
16028 Eine andere Maßregel aber hatte die Erdkommission getroffen, von
16029 der Saltner nur durch diese zufällige Unterhaltung erfuhr. Die
16030 Marsstaaten besaßen zwar ein stehendes Arbeitsheer, aber keine
16031 Soldaten, da Kriege und kriegerische Übungen bei ihnen als eine
16032 längst veraltete Barbarei galten. Sie hatten nur eine Art
16033 Polizeitruppe zur Aufrechterhaltung der Ordnung in besonderen
16034 Fällen.
16036 Es entstand nun die Verlegenheit, woher die Leute zu nehmen seien,
16037 welche das technische Personal unterstützen sollten, falls es zu
16038 einem wirklichen Krieg mit den Menschen, zu einer längeren
16039 militärischen Aktion auf der Erde kommen sollte. Dazu gehörte eine
16040 Gewöhnung an große körperliche Strapazen, eine Abhärtung, wie sie
16041 die Martier im allgemeinen nicht besaßen. Man hatte deswegen an die
16042 kühnen und rauhen Bewohner der Wüsten, an die Beds gedacht. Man
16043 wollte dieselben anwerben und für den Dienst auf der Erde
16044 ausbilden. Die Aufforderung an sie war ergangen. Diese Nachricht
16045 erfüllte Saltner mit Besorgnis. Von diesen Leuten war zu
16046 befürchten, daß sie als Sieger ein weniger zartes Gewissen haben
16047 würden als die eigentlichen Träger der Kultur, die hochgebildeten
16048 Nume. Er sah sich dadurch nur in seiner Absicht bestärkt, seine
16049 Landsleute vor der Größe der drohenden Gefahr zu warnen.
16051 Der Bergmann war an seinem Ziel. Er empfahl Saltner, wenn er das
16052 Plateau der Wüste selbst besuchen wolle, bis zur nächsten Station
16053 der Terrassenbahn zu fahren und die von dort nach oben führende
16054 Bergbahn zu benutzen. Auf keinen Fall solle er sich vom Rand der
16055 Wüste entfernen, da auf derselben nichts zu finden sei als die
16056 großen Strahlungsnetze und in einigen schwer zugänglichen
16057 Schluchten die ärmlichen Wohnsitze der Beds.
16059 Saltner befolgte den Rat insofern, als er die Terrassenbahn
16060 benutzte und mit dieser ein weites Stück nach Süden fuhr. Unterwegs
16061 brachte er nämlich in Erfahrung, daß er hier eine Station ›Kast‹
16062 erreichen könne, welche direkt über Sei lag, so daß er von da aus
16063 abwärts nur noch eine Viertelstunde bis zu Las Wohnort hatte. Auf
16064 diese Weise stand ihm genügend Zeit zur Verfügung, um das Plateau
16065 zu ersteigen. Allerdings führte von hier keine Bahn hinauf, aber es
16066 lag ihm viel mehr daran, durch eine Fußwanderung die seltsame
16067 Gebirgsbildung kennenzulernen.
16069 In einer steil herab ziehenden engen Schlucht klomm er rasch
16070 aufwärts. Einige unten beschäftigte Leute riefen ihm etwas nach,
16071 das er nicht verstand, es schien ihm eine Warnung zu sein, nicht
16072 mit so großer Geschwindigkeit aufwärts zu springen; aber diese
16073 Martier konnten ja nicht wissen, daß er auf Erden gewohnt war, ein
16074 dreimal so großes Gewicht auf noch ganz andere Höhen zu schleppen.
16075 Die Wände der Schlucht verdeckten ihm zwar die Aussicht nach der
16076 Seite und, da die Schlucht nicht gerade verlief, auch nach oben und
16077 unten, aber sie schützten ihn dafür vor den Strahlen der Sonne. Und
16078 er sah bald, daß er ohnedies nicht weit gekommen wäre. Denn wo die
16079 Sonne das Gestein traf, glühte es so, daß man es mit der bloßen
16080 Hand kaum berühren konnte. Im Schatten aber war die Luft kühl.
16082 Etwa dreiviertel Stunden mochte er so gestiegen sein, als die Wände
16083 der Schlucht sich verflachten; er näherte sich dem Rand des
16084 Plateaus. Mitunter war es ihm, als höre er in der Ferne ein
16085 Geräusch wie Donner, er schob es auf Sprengungen in den Bergwerken.
16086 Jetzt hörte der Schatten auf. Zwischen Felstrümmern mußte er sich
16087 emporarbeiten. Der Schweiß rann ihm von der Stirn, er empfand
16088 heftigen Durst, und noch immer wollte sich die ebene Hochfläche
16089 nicht zeigen. Da endlich erkannte er einen Gegenstand, der wohl nur
16090 das Dach eines Gebäudes sein konnte. Er eilte darauf zu, und
16091 plötzlich blickte er auf eine weite Ebene, nur hier und da von
16092 einzelnen Felsriegeln unterbrochen. Eben wollte er, aus den
16093 Felstrümmern des Absturzes heraussteigend, den Rand des Plateaus
16094 betreten, als er sich durch einen Draht von weißer Farbe gehemmt
16095 sah, der an diesem Rand sich hinzog. Er achtete nicht darauf,
16096 sondern überstieg ihn. Die Sonne, gegen die kein Schirm ihn
16097 schützte, brannte so furchtbar, daß er jeden Augenblick umzusinken
16098 fürchtete und nur daran dachte, ein schattenspendendes Dach zu
16099 gewinnen. Er sah jetzt das Haus dicht vor sich, und einige eilende
16100 Sprünge brachten ihn in den Schatten eines Pfeilers.
16102 Nachdem er sich hier einen Augenblick erholt, blickte er sich
16103 erstaunt um. Wenn das ein Haus war, so war es ein sehr seltsames.
16104 Wie eine Brücke ruhte es schwebend auf zwei schmalen Pfeilern. Es
16105 hatte die Gestalt eines Bootes, auf das man ein zweites mit dem
16106 Kiel nach oben gesetzt hatte. Dazwischen war ein etwa meterhoher
16107 Zwischenraum, nach welchem eine Leiter hinaufführte. Saltner
16108 überlegte.
16110 „Das Ding sieht beinahe aus“, sagte er bei sich, „wie das
16111 Luftschiff am Nordpol, das ich freilich nur sehr von weitem gesehen
16112 habe. Ob das hier vielleicht so eine Art Trockenplatz für frischen
16113 Anstrich ist? Ich möchte mir das Ding einmal von innen
16114 betrachten.“
16116 Da er ringsum niemand bemerkte und ihm der schmale Schatten des
16117 Pfeilers keinerlei Bequemlichkeit bot, beschloß er die Leiter
16118 hinaufzusteigen und sich in dem seltsamen Bau umzusehen. Er fand
16119 jetzt, daß das, was er für einen leeren Zwischenraum gehalten
16120 hatte, von einer durchsichtigen Substanz verschlossen sei, die
16121 jedoch eine Öffnung am Ende der Leiter freiließ. Er stieg hinein.
16122 Niemand befand sich hier. In der Mitte war ein freier Raum mit
16123 Sitzen und Hängematten. Ringsum, unten, oben und besonders an den
16124 Enden des länglichen Baus, waren Verschläge mit unbekannten
16125 Apparaten. Drähte liefen von dort nach unten und durch die Pfeiler
16126 jedenfalls nach dem Erdboden, wo sie unterirdisch weitergeleitet
16127 werden mochten. Saltner hütete sich wohlweislich, irgend etwas zu
16128 berühren. Es wurde ihm einigermaßen unheimlich. Aber er fühlte sich
16129 so matt, daß er jedenfalls erst frische Kräfte sammeln mußte, ehe
16130 er den Rückweg antreten konnte. Vorsichtig zog er an einer der
16131 Hängematten, und da sich nichts in dem Raum rührte, legte er sich
16132 hinein.
16134 „Ich bin doch neugierig, was das für eine Medizin sein wird“,
16135 dachte er. „Jetzt nur nicht die Zeit verschlafen, bloß einen
16136 Augenblick ruhen.“ Aber erschöpft schloß er die Augen.
16138 \section{38 - Gefährlicher Ruheplatz}
16140 Eine Viertelstunde mochte er so im Halbschlummer gelegen haben, als
16141 ein gewaltiger Krach ihn emporschrecken ließ. Der ganze Bau war in
16142 eine zitternde Bewegung geraten. Eilends sprang Saltner empor und
16143 schaute sich um. Auf dem Felsboden, vielleicht hundert Meter hinter
16144 ihm nach dem Rand des Plateaus zu, lag eine gewaltige Staubwolke.
16145 Jetzt krachte es auf der anderen Seite. Eine neue Wolke von
16146 Trümmern und Staub erhob sich vom Boden.
16148 „Da hat eine Granate eingeschlagen!“ sagte sich Saltner. Im Moment
16149 war ihm die Situation klar. Die Schießversuche der Martier auf der
16150 Wüste Gol! Er hatte gehört, daß die Martier, ihren Erfahrungen und
16151 den von Ell mitgebrachten Büchern folgend, Geschütze konstruiert
16152 hatten, die, in ihren Wirkungen wenigstens, den auf der Erde
16153 üblichen glichen. Nun schossen sie mit menschlicher Artillerie nach
16154 ihren eigenen Luftschiffen. Er saß also gerade in dem Ziel selbst
16155 drin! Die erste Granate war zu weit gegangen, die zweite zu nahe,
16156 die dritte würde sicherlich treffen. Und jetzt sofort mußte der
16157 Schuß erfolgen! Da hatte er sich ja einen recht geeigneten Ort zur
16158 Ruhe ausgesucht! Ob noch Zeit war, hinauszuspringen? Instinktiv
16159 wollte er es tun, aber er faßte sich. Draußen war es offenbar noch
16160 gefährlicher – die Martier erwarteten ja wohl, daß das Ziel
16161 Widerstand leiste. Freilich, diese dünnen Wände! Jetzt sah er, wo
16162 das Geschütz stand. Es blitzte auf. Er empfahl seine Seele Gott und
16163 richtete seinen Blick standhaft gegen die Schußrichtung. Er hörte
16164 das Heransausen des Geschosses. Und wie ein Wunder schien es ihm,
16165 was er sah. Etwa zehn Meter vor seinem Standpunkt, in gleicher Höhe
16166 wie das Schiff, in welchem er sich befand, wurde die Granate
16167 sichtbar, weil sie plötzlich langsam heranschwebte. Noch auf fünf,
16168 auf vier Meter näherte sie sich – Saltners Züge verzerrten sich
16169 krampfhaft, aber er konnte den Blick von dem Verderben drohenden
16170 Geschoß nicht abwenden. Jetzt stand es still, ohne zu explodieren –
16171 und vor seinen Augen verschwand die stählerne Spitze, der
16172 Bleimantel, die Sprengladung löste sich unschädlich auf und der
16173 Rest des Geschosses, zu einer mürben Masse zersetzt, senkte sich
16174 langsam, wie ein Häufchen Asche, zu Boden.
16176 Saltner glaubte zu träumen. Aber schon vernahm er das Heransausen
16177 einer zweiten Granate. Dasselbe Schauspiel – nahe vor der Spitze
16178 des Schiffes, gegen welche sie gerichtet war, verzehrte sie sich in
16179 der freien Luft. Und so ein drittes und viertes Mal.
16181 Für seine Person fühlte er sich jetzt im Augenblick sicher. Aber
16182 wie gebrochen sank er auf eine Bank. Mit tiefem Schmerz gedachte er
16183 der Menschheit, deren gewaltigste Kampfmittel vor der Macht dieser
16184 Nume wirkungslos in nichts zerflossen. Er hatte wohl gesehen, daß
16185 diese letzte Probe mit einem jener Riesengeschosse angestellt
16186 worden war, denen die stärkste Panzerplatte nicht standhält. Aber
16187 auch dieses war in der freien Luft vor seinen Augen verschwunden.
16188 Es mußte sich in der Entfernung von drei bis vier Meter vor dem
16189 Schiff eine unsichtbare Macht befinden, die jede Bewegung und jeden
16190 Stoff vernichtete.
16192 Ein eigentümliches Zittern hatte während der ganzen Beschießung in
16193 dem Schiff geherrscht, und es schien ihm, als wenn auch die
16194 Sonnenstrahlung rings um das Schiff matter wäre. Das hörte nun auf.
16195 Bald sah er, wie sich über die Ebene eine Art von gedecktem Wagen
16196 heranbewegte. Ohne Zweifel wollten die Schützen die Wirkung ihrer
16197 Versuche in Augenschein nehmen.
16199 Hier entdeckt zu werden, war Saltner im höchsten Grade bedenklich.
16200 Er war sicher, daß man ihn als Spion behandeln und nicht glimpflich
16201 mit ihm verfahren würde. Ehe er seine Unschuld dartun konnte, hätte
16202 er mindestens viel Zeit verloren. Auf jeden Fall wäre seine Absicht
16203 vereitelt worden, heute noch La seine Briefe zu überreichen. Und
16204 doch war ihm jetzt mehr als je daran gelegen, seinen Landsleuten
16205 mitzuteilen, daß ein kriegerischer Widerstand gegen die Martier
16206 aussichtslos sei. Wenn er entfloh? Aber den Rand der Schlucht
16207 konnte er nicht mehr erreichen, ohne gesehen zu werden. Und auf der
16208 flachen Ebene war kein Versteck. Doch vielleicht im Schiff selbst?
16209 Es war wenigstens das einzige, was er versuchen konnte. Es gab da
16210 verschiedene Seitenräume – freilich, man würde sie wohl bei der
16211 Untersuchung betreten. Sein Blick fiel auf den Fußboden. Hier war
16212 eine Falltür. Zum Glück kannte er jetzt den üblichen Mechanismus
16213 des Verschlusses. Er kroch in den unteren Raum, der offenbar zur
16214 Aufbewahrung von Vorräten diente. Jetzt war er leer bis auf einige
16215 Haufen eines heuähnlichen Stoffes, den Saltner nicht kannte. Aber
16216 er hatte keine Wahl, er kroch in eine Ecke und versteckte sich.
16217 Wenn man das Heu, oder was es war, nicht durchwühlte, konnte man
16218 ihn nicht finden.
16220 Inzwischen war der Wagen angelangt, und die Martier stiegen aus. Es
16221 waren nur vier Männer und eine Frau. Sie betrachteten zufrieden die
16222 Aschenrestchen der Geschosse, stiegen in das Schiff und überzeugten
16223 sich, daß es vollkommen unversehrt war. Keines der feinen
16224 Instrumente hatte einen Schaden erlitten. Saltner hörte, wie sie
16225 das Schiff wieder verließen. Schon glaubte er sich gerettet. Er
16226 lauschte aufmerksam, konnte aber nur hören, daß eine Unterhaltung
16227 geführt und Anweisungen erteilt wurden, ohne daß er die Worte zu
16228 verstehen vermochte. Dann vernahm er deutlich, wie der Wagen sich
16229 wieder entfernte.
16231 Er verließ sein Versteck. Alles war still. Vorsichtig öffnete er
16232 die Falltür: das Schiff war leer. Er näherte sich der
16233 Aussichtsöffnung und spähte nach dem sich entfernenden Wagen. Jetzt
16234 konnte er versuchen, den Rand des Plateaus zu gewinnen. Er wandte
16235 sich um und schritt nach dem Ausgang zu. In diesem Augenblick
16236 erschien in demselben eine weibliche Gestalt. Saltner prallte
16237 zurück, dann stürzte er wieder vorwärts – diese einzelne Martierin
16238 konnte ihn nicht aufhalten. Er wollte an ihr vorüber, die,
16239 ebenfalls erschrocken, zur Seite trat. Schon stand er an der
16240 Öffnung, da hörte er seinen Namen.
16242 „Sal, Sal! Was haben Sie hier zu tun?“
16244 Er drehte sich um und erkannte Se. Sie faßte seine Hände und zog
16245 ihn zurück.
16247 „Oh“, sagte sie, „mein lieber Freund, warum müssen wir uns hier
16248 treffen? Das durften Sie nicht sehen! Wie konnten Sie sich
16249 hierherwagen?“
16251 „Ich bin unschuldig, teure Se, glauben Sie mir, ich bin durch
16252 Zufall hierhergeraten.“
16254 „Wie sind Sie über den weißen Draht gekommen? Wissen Sie denn
16255 nicht, was das bedeutet?“
16257 „Ich bin einfach darübergestiegen –“
16259 „Und haben die Gesetze verletzt und sich der höchsten Lebensgefahr
16260 ausgesetzt.“
16262 „Ich bedaure meine Unwissenheit. Und ich hoffe, ich darf Sie bald
16263 in sicherer Lage wieder sprechen. Jetzt verzeihen Sie wohl, wenn
16264 ich mich so schnell wie möglich davonmache.“
16266 „Das geht ja nicht, Sal, das darf ich nicht zugeben – so sehr ich
16267 es Ihnen wünschte. Aber ich bin hier nicht privatim, ich habe das
16268 Nihilitdepot zu verwalten, ich darf Sie nicht freilassen, das hängt
16269 nicht mehr von mir ab.“
16271 „Aber von mir! Leben Sie wohl, auf Wiedersehen!“ Er schwang sich
16272 auf die Leiter.
16274 „Um Gottes willen, Sal!“ rief Se. „Keinen Schritt von hier, es ist
16275 Ihr Verderben! Ich muß Sie festhalten!“
16277 „Wie wollen Sie das?“ rief er lachend.
16279 „Ich drehe diesen Zeiger, und der Nihilitpanzer bildet sich um das
16280 Schiff. Es ist ein Spannungszustand des Äthers, der momentan jede
16281 Kraft vernichtet, jedes Geschehen aufhebt. Alles, was in seinen
16282 Bereich gerät, verzehrt sich, jede Energie wird ihm entzogen, es
16283 schwindet in nichts. Da, sehen Sie!“
16285 Das eigentümliche Zittern und die Trübung des Lichtes begann
16286 wieder. Se ergriff einen Hammer, der im Schiff lag, und schleuderte
16287 ihn durch die Öffnung hinaus. In etwa drei Meter Entfernung
16288 verschwand er spurlos.
16290 „Sie können nicht fort“, sagte sie. „Kommen Sie herein.“
16292 Saltner setzte sich. Beide sahen sich traurig an. Er ergriff Ses
16293 Hände. „Wenn ich Sie bitte“, sagte er. „Bei unserer Freundschaft!
16294 Ich muß jetzt fort! Hören Sie mich!“
16296 Er erzählte, was ihn herbeigeführt, daß er La sprechen müsse, was
16297 er von ihr wünsche. Las Briefe nach der Erde würden nicht
16298 kontrolliert, sie konnte die seinigen an Grunthe adressieren – –
16300 Se schüttelte traurig den Kopf.
16302 „Das kann La nicht tun, das wird sie nie tun, sie darf es
16303 ebensowenig wie Ell. Bitten Sie sie nicht erst – Saltner, sie will
16304 nicht darum gebeten sein.“
16306 „Wie kann sie wissen?“
16308 „Haben Sie das nicht herausgehört aus dem, was sie Ihnen sagte?
16309 Wenn nun Ell mit ihr gesprochen hätte, ehe sie in Ihre Wohnung
16310 ging, wenn er Ihre Absicht ihr mitgeteilt hätte – während Sie von
16311 Ell nach Hause fuhren, war Zeit genug dazu. Und etwas Derartiges
16312 hat sie sicher seit Tagen erwartet, das war doch leicht zu ahnen.
16313 Warum ist sie fortgezogen, und warum sollen Sie nicht nach Sei
16314 kommen? Weil La den Konflikt voraussah. Sie war in Widerspruch mit
16315 sich selbst. Sie wollte die Bitte vermeiden, die sie Ihnen
16316 abschlagen mußte. Und vielleicht – doch ich habe kein Recht, in Las
16317 Gefühle zu dringen.“
16319 Saltner klammerte sich an Ells Namen. Er also war ihm
16320 zuvorgekommen! Und es erschien ihm, als gelte es nur Ells Einfluß
16321 zu besiegen.
16323 „Ich muß zu ihr!“ rief er verzweifelt. „Se, ich beschwöre Sie,
16324 lassen Sie mich frei!“
16326 „Ich darf ja nicht. Und Sie werden es mir noch danken, Saltner. La
16327 liebt Sie, vielleicht mehr, als Sie ahnen, sie wird es nicht
16328 ertragen, daß Sie in Trauer, in Zorn, in Verbitterung von ihr
16329 gehen, weil sie Ihrem Wunsch nicht folgen kann. Wenn Sie an der
16330 Ausführung Ihres Willens verhindert werden, so zürnen Sie lieber
16331 mir!“
16333 „Und wenn ich Sie bäte, Se, die Briefe zu befördern, würden Sie es
16334 mir auch abschlagen?“
16336 „Ich müßte es.“
16338 Sie war aufgestanden und blickte auf die Ebene hinaus. Dann wandte
16339 sie sich zurück und trat dicht an ihn heran, mit ihren großen Augen
16340 ihn zärtlich anblickend.
16342 „Mein lieber Freund, seien Sie vernünftig. Der Wagen mit meinen
16343 Begleitern kommt zurück. Ich war hiergeblieben, um den
16344 Nihilitapparat neu zu laden, und jene hatten nur frischen Vorrat zu
16345 holen. Ihre Unwissenheit wird Sie entschuldigen. Man wird Sie
16346 höchstens nach Kla zurückschicken. Aber ich darf nicht eigenmächtig
16347 handeln. Zürnen Sie mir nicht!“
16349 Saltner sah, daß der Wagen in der Ferne auftauchte. Fünf Minuten
16350 mußten sein Schicksal entscheiden. Einen Moment zögerte er unter
16351 Ses mächtigem Einfluß. Aber er raffte sich zusammen; sein Entschluß
16352 war gefaßt.
16354 „Ich zürne Ihnen nicht, geliebte Se“, sagte er. „Nur mögen Sie mir
16355 nicht zürnen, aber ich kann nicht anders. Leben Sie wohl!“
16357 Er umschlang sie fest mit seinem linken Arm, indem er mit der
16358 rechten Hand den Zeiger des Nihilitapparates zurückdrehte. In ihrer
16359 Überraschung und dem Bestreben, sich ihm zu entwinden, hatte Se
16360 dies gar nicht bemerkt. Er drückte einen flüchtigen Kuß auf ihre
16361 Stirn und schwang sich mit einem Satz aus der Öffnung. Da wußte
16362 sie, was geschehen war. Im Augenblick, als Saltner den Boden
16363 erreichte, berührte Ses Hand wieder den Zeiger. Drückte sie ihn
16364 herum, so verzehrte das Nihilit den Freund. Und wenn sie es nicht
16365 tat, so hatte sie einen Verräter entfliehen lassen.
16367 Sie preßte die Hände an ihre Stirn – nur einen Augenblick – dann
16368 schaute sie auf.
16370 In weiten Sätzen entfernte sich Saltner und verschwand hinter den
16371 Felstrümmern am Abhang der Wüste. – Wie er den Berg hinabgelangte,
16372 er wußte es kaum. Am meisten fürchtete er, am Ausgang der Schlucht
16373 von den dort beschäftigten Martiern angehalten zu werden. Er umging
16374 ihn durch eine halsbrecherische Kletterei. Völlig erschöpft
16375 gelangte er in die Restauration neben dem Bahnhof. Hier in dem
16376 kühlen, separaten Speisezimmer, das er sich anweisen ließ, fand er
16377 Zeit, sich zu erholen.
16379 Wenn ihn Se verraten hatte, so war freilich seine Flucht nutzlos.
16380 Man würde ihn in Sei, oder wohin er auch sonst sich wandte,
16381 erreichen. Aber er vertraute darauf, daß Se nicht sprechen würde.
16382 Niemand sonst hatte ihn oben gesehen. So benutzte er den zu Tal
16383 gehenden Wagen nach Sei und fand nach einigem Umherirren die von La
16384 angegebene Platznummer. Eben entfernten sich die Monteure, welche
16385 das neu eingetroffene Haus an die verschiedenen im Boden liegenden
16386 Leitungen angeschlossen hatten.
16388 Es war die Zeit, um welche La mit ihm sprechen wollte, als Saltner
16389 in ihr Zimmer trat.
16391 „Da bin ich selbst!“ rief er. „Ich mußte dich wiedersehen!“
16393 La stand wortlos. Dann atmete sie tief auf, preßte die Hände
16394 zusammen und sagte leise:
16396 „O mein Freund, warum hast du mir dies getan?“
16398 „Warum nicht? Ich sehnte mich nach dir, La, und ich bedarf deiner
16399 Hilfe.“
16401 „Meiner Hilfe?“ sagte sie warm. Sie hoffte einen Augenblick, es
16402 könne sich um etwas anderes handeln, als was sie fürchtete.
16404 „Wenn es mir möglich ist, wie gern bin ich dir zu Diensten.“ Sie
16405 zog ihn neben sich auf einen Sessel. Er hielt ihre Hand fest.
16407 „Ich habe eine große Bitte, für Frau Torm und für mich.“
16409 La wich zurück. „Sprich sie nicht aus! Ich bitte dich, sprich sie
16410 nicht aus, damit dich meine Weigerung nicht kränkt. \ldots{}
16412 „Du weißt –?“
16414 „Ich weiß, um was es sich handelt.“
16416 „Von Ell!“
16418 „Durch ihn. Sieh, das ist unmöglich! So wenig du damals am Nordpol
16419 der Erde zögertest, die Pflicht für dein Vaterland zu erfüllen, so
16420 wenig kann ich jetzt um deinetwillen das Gesetz durchbrechen. Das
16421 Gesetz verbietet den Menschen, unkontrollierte Botschaft nach der
16422 Erde zu senden. Hätte ich die freie Überzeugung, daß es ungerecht
16423 und töricht sei, so dürfte ich mein Gewissen fragen, ob ich es
16424 übertreten will. Es wäre ein Konflikt, aber ich könnte ihn auf mich
16425 nehmen. Doch ich kann mich davon nicht überzeugen. Was ihr auch
16426 berichtet, es kann nur Verwirrung anstiften, und Ismas private
16427 Wünsche können nicht in Frage kommen.“
16429 Saltner hatte ihre Gründe kaum gehört. Er blickte finster vor sich
16430 hin.
16432 „Durch Ell!“ sagte er dann bitter. „Natürlich, wann spräche er
16433 nicht mit dir, wann träfe ich ihn nicht bei dir, wann hörtest du
16434 nicht auf ihn mehr als auf mich?“
16436 La seufzte. „Ich wußte es ja, daß es so kommen würde. Oh, hättest
16437 du auf meinen Rat gehört und wärest nicht hergereist.“
16439 „Ich werde dich nicht stören; sobald Ell kommt, gehe ich.“
16441 „Warum? Er wird wohl kommen. Aber warum entrüstest du dich? Hast du
16442 je bemerkt, daß ich dich weniger liebe?“
16444 „Aber du liebst ihn?“
16446 La sah ihn mit flammenden Augen an.
16448 „Wie darfst du fragen“, sagte sie stolz, „was kaum das eigene Ich
16449 sich fragt?“
16451 Aber ihr Ausdruck wurde plötzlich unendlich traurig und zärtlich.
16452 Sie faßte seine Hände und neigte sich zu ihm.
16454 „Aber wie kann ich dir zürnen?“ sagte sie. „Mich nur müßte ich
16455 schelten. Doch habe ich dir nicht gesagt: Vergiß nicht, daß ich
16456 eine Nume bin? Ach, ich vergaß wohl, daß du ein Mensch bist, und du
16457 weißt nicht mehr, was ich dir sagte: Liebe darf niemals unfrei
16458 machen! Und du willst mich unfrei machen? Willst dem Gefühl
16459 gebieten? Ist ein Nume so klein und einfach, daß ein einzelner
16460 seinen Kreis erfüllen könnte? Ist nicht jedes Individuum nur ein
16461 kleiner Ausschnitt, nur eine Seite von dem, was das Wesen des
16462 Mannes, das Wesen der Frau ist? Wer kann sagen, ich repräsentiere
16463 alles, was du lieben kannst?“
16465 „Das also war es! Was vermag ich dagegen? Daß du eine Nume bist,
16466 wußte ich, und ich wußte, daß du mir nicht angehören könntest fürs
16467 Leben. Aber so dachte ich mir deine Liebe nicht. O La, ich weiß
16468 nicht, wie ich ohne dich leben werde, aber deine Liebe teilen – mit
16469 jenem –, das vermag ich nicht. Ich bin ein Mensch, und wenn du ihn
16470 liebst, so muß ich scheiden.“
16472 Saltner saß stumm. Er konnte sich nicht aufraffen zu gehen, es war
16473 ihm, als müßte La ihn noch halten, er hoffte auf ein Wort von ihr.
16474 Auch sie schwieg, sie atmete lebhaft, mit einem Entschluß kämpfend.
16475 Dann sagte sie zögernd:
16477 „Das glaube nicht, Sal, daß Ell dabei im Spiel ist, wenn ich dir
16478 deine Bitte wegen der Briefe abschlage. Daß er mich
16479 benachrichtigte, war nur zu unserm Besten, wenn du mir gefolgt
16480 hättest. Ich wollte einer Auseinandersetzung ausweichen, weil ich
16481 wußte, daß sie dich kränken müßte, daß du mich mißverstehen und an
16482 meiner Liebe zweifeln würdest – nach Menschenart – und weil – weil
16483 ich selbst nicht wußte, wie ich dies ertragen könnte. Ja, Sal, um
16484 meinetwillen wollt’ ich dich nicht sehen –“
16486 Saltner kniete zu ihren Füßen und schlang die Arme um sie.
16488 „O La!“ rief er, „so habe ich noch die Hoffnung, daß du mich
16489 erhörst, daß du meine Bitte erfüllst?“
16491 „Du weißt nicht, was du verlangst, weißt nicht, welch namenlose
16492 Qual diese Stunde mir bereitet. Du verlangst mehr als mein Leben,
16493 du verlangst meine Freiheit, meine Numenheit. – Wenn ich dir
16494 nachgebe, wenn ich diesem Rausch der Gegenwart unterliege – o mein
16495 Freund –, dann bin ich keine Nume mehr, dann bin ich ein Mensch!
16496 Aus dem reinen Spiel des Gefühls verfalle ich in den Zwang der
16497 Leidenschaft, die Freiheit verlöre ich und müßte niedersteigen mit
16498 dir zur Erde. Und kann deine Liebe das wollen?“
16500 Saltner barg sein Haupt zwischen den Händen, seine Brust hob sich
16501 krampfhaft.
16503 „Verzeihe mir, La, verzeihe mir“, kam es endlich von seinen
16504 Lippen.
16506 La nahm seinen Kopf zwischen ihre Hände und blickte ihn an, ihre
16507 Augen strahlten in einem verklärten Glanze.
16509 „Du sollst es wissen, mein Freund“, sagte sie langsam, „ich liebe
16510 Ell nicht, ich liebe nur dich.“
16512 „La!“ hauchte er selig.
16514 Tränen traten in ihre Augen, und mit gebrochener Stimme sagte sie:
16515 „Und dies ist das Schicksal, das uns trennt.“
16517 Er sah sie sprachlos an.
16519 „Ich bin eine Nume, und weil ich ihn nicht liebe, weil ich fühle,
16520 daß ich ihn nicht lieben kann, darum müssen wir scheiden. – Darum
16521 müssen wir scheiden“, wiederholte sie leise, „denn in dieser Liebe
16522 zu dir verlöre ich meine Freiheit. Was ich heute sprach, darfst du
16523 nie wieder hören. Steh auf, mein Freund, steh auf und glaube mir!“
16525 Saltner wußte nicht, wie ihm geschah. Er stand vor ihr, er begriff
16526 sie nicht und wußte doch, daß es nicht anders sein konnte.
16528 „Ob wir uns wiedersehen, weiß ich nicht. Jetzt nicht, jetzt lange
16529 nicht.“ – Sie schluchzte auf und schlang die Arme um seinen Hals.
16530 Lange standen sie so.
16532 „Noch diesen einen Kuß! Leb wohl, leb wohl!“
16534 La riß sich von ihm los.
16536 „Leb wohl“, sagte er wie geistesabwesend. Dann schloß sich die Tür
16537 hinter ihm. Mechanisch suchte er seinen Hut und schritt aus dem
16538 Haus.
16540 \section{39 - Die Martier sind auf der Erde!}
16542 Auf der Erde hatte die Nachricht von der Besetzung des Nordpols
16543 durch die Martier und der Existenz eines Luftschiffes, mit welchem
16544 sie siebenhundert Kilometer in der Stunde in der Erdatmosphäre
16545 zurückzulegen vermochten, ein Aufsehen erregt wie kaum ein anderes
16546 Ereignis je zuvor. Der Bericht Grunthes und die von ihm vorgelegten
16547 Beweise ließen keinen Zweifel zu, überdies war das Luftschiff in
16548 Italien, der Schweiz, Frankreich und England gesehen worden, ja,
16549 die Ankunft Grunthes und das Verschwinden Ells und Frau Torms waren
16550 auf keine andere Weise zu erklären. Die Schriften Ells, welche
16551 jetzt herauskamen, gaben eine hinreichende Auskunft über die
16552 Möglichkeit technischer Leistungen, wie sie von den Martiern
16553 vollzogen wurden.
16555 Als daher Kapitän Keswick, sobald er mit der ›Prevention‹ die erste
16556 Telegraphenstation berührte, seinen Bericht an die englische
16557 Regierung abgab und Torm nach Friedau telegraphierte, daß er
16558 glücklich gerettet sei, erregten diese Nachrichten schon nicht mehr
16559 die Verwunderung, die man auf der ›Prevention‹ erwartet hatte. Wohl
16560 aber wurde in England die anfänglich für die Martier vorhandene
16561 Begeisterung stark abgekühlt und machte einer in der Presse sich
16562 äußernden, etwas bramarbasierenden Entrüstung Platz, daß man diesen
16563 Herrn vom Mars doch etwas mehr Respekt vor der britischen Flagge
16564 beibringen müsse. Indessen fehlte es nicht an Stimmen, die zur
16565 äußersten Vorsicht rieten und die Gefahren ausmalten, welche den
16566 Nationen des Erdballs von einer außerirdischen Macht drohten, der
16567 so ungewöhnliche und unbegreifliche Mittel zur Durchsetzung ihres
16568 Willens zu Gebote ständen wie den Martiern.
16570 Diese Sorge, die Bedrohung durch eine unbestimmte Gefahr,
16571 beherrschte das Verhalten der Regierungen aller zivilisierter
16572 Staaten. Man wußte weder, was man zu erwarten habe, noch wie man
16573 einem etwaigen weiteren Vorgehen der Martier begegnen solle. Ein
16574 äußerst lebhafter Depeschenwechsel fand statt, man erwog den Plan,
16575 einen allgemeinen Staatenkongreß zu berufen, und konnte sich
16576 vorläufig nur noch nicht über das vorzulegende Programm und den Ort
16577 des Zusammentritts einigen. Während man sich auf der einen Seite
16578 einer gewissen Solidarität der politischen Interessen aller Staaten
16579 gegenüber den Martiern bewußt war, zeigten sich doch auf der andern
16580 Seite sehr verschiedene Auffassungen über den zu erwartenden
16581 kulturellen Einfluß der Martier. Die Presse aller Nationen
16582 beschäftigte sich aufs eifrigste mit der Mars-Frage, und eine
16583 unübersehbare Menge von Meinungen und abenteuerlichen Hypothesen
16584 erfüllte die Blätter und erhitzte die Gemüter.
16586 Die Quelle aller dieser Erwägungen war das Buch von Ell über die
16587 Einrichtungen der Martier und die Erklärungen, welche Grunthe aus
16588 seinen Erfahrungen am Nordpol dazu geben konnte. Ein Verständnis
16589 derselben, wenigstens im größeren Publikum, war jedoch nicht zu
16590 erreichen. Der Sprung von der technischen und sozialen Kultur der
16591 Menschen zu der Entwicklung, welche diese bei den Martiern erreicht
16592 hatte, war zu groß, als daß man sich in letztere hätte finden
16593 können. Gerade die ersten Mahnungen Grunthes, man möge sich unter
16594 keinen Umständen in einen Konflikt mit den Martiern einlassen, weil
16595 ihre Macht alle menschlichen Begriffe überstiege, fanden am
16596 wenigsten Gehör; dazu waren sie schon viel zu wissenschaftlich in
16597 der Form.
16599 Man stellte sich wohl vor, daß sich die Martier durch wunderbare
16600 Erfindungen eine ungeheure Macht über die Natur angeeignet hätten,
16601 aber man hatte keinerlei Verständnis dafür, wie ihre ethische und
16602 soziale Kultur sie den Gebrauch dieser Macht benutzen, mäßigen und
16603 einschränken ließ. Vor allem blieb das eigentliche Wesen ihrer
16604 staatlichen Ordnung trotz der Erläuterungen in Ells Buch ein
16605 Rätsel. Die individuelle Freiheit war so überwiegend, die
16606 Entscheidung des einzelnen in allen Lebensfragen so ausschlaggebend
16607 und so wenig von staatlichen Gesetzen überwacht, daß vielfach die
16608 Ansicht ausgesprochen wurde, das Gemeinschaftsleben der Martier sei
16609 durchaus anarchistisch. In der Tat, die Form des Staates war auf
16610 dem Mars an kein anderes Gesetz gebunden als an den Willen der
16611 Staatsbürger, und so gut ein jeder seine Staatsangehörigkeit
16612 wechseln konnte, so konnte auch die Majorität, ohne in den Verdacht
16613 der Staatsumwälzung oder der Staatsfeindschaft zu kommen, von
16614 monarchischen zu republikanischen Formen und umgekehrt übergehen.
16615 Keine Partei nahm das Recht in Anspruch, die alleinige Vertreterin
16616 des Gemeinschaftswohls zu sein, sondern in der gegenseitigen, aber
16617 nur auf sittlichen Mitteln beruhenden Messung der Kräfte sah man
16618 die dauernde Form des staatlichen Lebens. Es gab keinen regierenden
16619 Stand, so wenig es einen allein wirtschaftlich oder allein bildend
16620 tätigen Stand gab. Vielmehr war zwischen diesen Berufsformen ein
16621 stetiger Übergang, so daß ein jeder, ganz nach seinen Fähigkeiten
16622 und Kräften, diejenige Betätigungsform erreichen konnte, wozu er am
16623 besten tauglich war. Dies war freilich nur möglich infolge des
16624 hohen ethischen und wissenschaftlichen Standpunktes der
16625 Gesamtbevölkerung, wonach die Bildungsmittel jedem zugänglich
16626 waren, aber von jedem nur nach seiner Begabung in Anspruch genommen
16627 wurden. Natürlich bedeutete das nicht die Herrschaft des
16628 Dilettantismus, sondern jede Tätigkeit setzte berufsmäßige Schulung
16629 voraus, der Eintritt in höhere politische Stellen vor allem eine
16630 tiefe philosophische Bildung. Aber der Fähige konnte sie erwerben.
16631 Und dies beruhte wieder darauf, daß die Beherrschung der Natur
16632 durch Erkenntnis die unmittelbare Quelle des Reichtums in der
16633 Sonnenstrahlung erschlossen hatte.
16635 Andere wieder behaupteten, die Staatsform der Martier sei durchaus
16636 kommunistisch. Auch hierfür schien manches zu sprechen. Denn wenn
16637 auch, was Ell nicht genügend hervorgehoben hatte, die Verwaltung
16638 der großen Betriebe der Strahlungssammlung, des Verkehrs und so
16639 weiter tatsächlich in der Hand von Privatgesellschaften lag, so war
16640 doch das Anlagekapital Staatseigentum. Es existierte auch eine
16641 staatliche Konzentration der wirtschaftlichen Tätigkeit, obwohl
16642 diese der Arbeit des einzelnen völlig freie Hand ließ und
16643 keineswegs die Güterproduktion durch Vorschriften regelte. Aber die
16644 Zentralregierung, deren Mitglieder auf eine zwanzigjährige
16645 Amtsdauer erwählt wurden, setzte unter Einwilligung des Parlaments
16646 einen ›Strahlungsetat‹ fest, das heißt, es war dadurch für ein Jahr
16647 im voraus bestimmt, welches Maximum von Energie der Sonne
16648 entnommen, also auch welches Maximum mechanischer Arbeit auf dem
16649 Planeten geleistet werden konnte. Sie setzte auch ein bestimmtes
16650 Kapital fest, das jeder als ein zinsloses Darlehen in Anspruch
16651 nehmen konnte, falls seine eignen Arbeitsmittel durch ungünstige
16652 Verhältnisse in Verlust geraten waren. Im übrigen aber war ein
16653 jeder auf seinen eigenen Fleiß angewiesen.
16655 Auf dem Kulturstandpunkt der Menschheit erschienen die
16656 Einrichtungen des Mars als Utopien, und mit Recht; denn sie setzten
16657 eben Staatsbürger voraus, die in einer hunderttausendjährigen
16658 Entwicklung sich sittlich geschult hatten und theoretisch an der
16659 rechten Stelle alle die Mittel gleichzeitig zu benutzen wußten,
16660 deren Gebrauch im Lauf der sozialen Lebensformen nach irgendeiner
16661 Seite erprobt worden war. Ein Teil der Regierungen der Erdstaaten
16662 befürchtete nun, daß das Beispiel der Martier die Veranlassung zu
16663 übereilten Reformen, vielleicht zu gewaltsamen Umwälzungen geben
16664 würde. Die agrarische Bevölkerung geriet in Bestürzung über die
16665 drohende Konkurrenz der Lebensmittelfabrikation ohne Vermittlung
16666 der Landwirtschaft. Auf der anderen Seite begrüßten die
16667 Arbeiterschaft und alle für schnellen Kulturfortschritt
16668 enthusiasmierten Gemüter die Martier als die Erlöser aus der Not,
16669 deren Erscheinen nun bald bevorstünde. Durchweg aber war man im
16670 unklaren, was geschehen würde und was geschehen solle.
16672 Als im Oktober die Parlamente der meisten Staaten zusammentrafen,
16673 gab es überall Interpellationen an die Regierungen über die
16674 Marsfrage. Und überall lautete die Antwort ausweichend dahin, es
16675 fänden Erwägungen statt über einen allgemeinen Staatenkongreß,
16676 worüber man indessen Näheres noch nicht mitteilen könne. Überall
16677 sprachen dann die Führer der verschiedenen Parteien die Ansichten
16678 über den Mars aus, die sie vorher in ihren Blättern hatten drucken
16679 lassen. Einige wollten die Martier enthusiastisch aufnehmen, andere
16680 sie dilatorisch behandeln, andere sie überhaupt von der Erde
16681 zurückweisen. Wie man das machen solle, wußte freilich niemand zu
16682 sagen. Der Erfolg war jedoch in allen Staaten der gleiche: neue
16683 Bewilligungen zur Vermehrung des Heeres und der Flotte.
16685 Zum Glück für die Regierungen, die dadurch Zeit zur Beratung
16686 gewannen, hörte man nun nichts mehr von den Martiern. Das
16687 Luftschiff ließ sich nicht wieder sehen, die Martier schienen
16688 verschwunden.
16690 Da plötzlich kam im Januar die Nachricht vom Wiedererscheinen eines
16691 Luftschiffs in Sydney. Am 2. Januar telegraphierte der Gouverneur
16692 von Neusüdwales nach London, daß in Sydney mehrere Luftschiffe
16693 eingetroffen seien, bestimmt, eine außerordentliche Gesandtschaft
16694 der Marsstaaten nach London zu bringen, falls die englische
16695 Regierung sich bereit erkläre, mit derselben wie mit der
16696 bevollmächtigten Gesandtschaft einer anerkannten Großmacht zu
16697 unterhandeln. Die Martier hatten sofort in Sydney einen berühmten
16698 Rechtsanwalt als Agenten engagiert, der die Verhandlungen mit den
16699 Behörden führte. Daß sie vom Mars mehr als 2.000 Kilogramm Gold in
16700 Barren mitgebracht und bei der Bank of New South Wales deponiert
16701 hatten, war eine so vorzügliche Empfehlung, daß ganz Neusüdwales
16702 für sie eingenommen war.
16704 Die diplomatischen Verhandlungen waren inzwischen nicht
16705 weitergekommen. Auf Englands erneute Anregung einigte man sich
16706 jetzt endlich dahin, daß man die Marsstaaten als politische Macht
16707 anerkennen wolle, wenn sie gewisse Garantien gäben, daß sie sich
16708 dem auf der Erde geltenden Völkerrecht unterwärfen. Daraufhin
16709 beantwortete die englische Regierung die Depesche der Marsstaaten
16710 im Prinzip bejahend, knüpfte aber verschiedene Bedingungen an die
16711 Bewilligung weiterer diplomatischer Verhandlungen. Sie verlangte
16712 von den Martiern außer der Anerkennung der völkerrechtlichen
16713 Gewohnheiten der zivilisierten Erdstaaten, daß genau festgesetzt
16714 werde, worüber mit der Gesandtschaft verhandelt werden solle, und
16715 daß kein anderer Punkt zur Verhandlung käme, nachdem man die
16716 Martier in London zugelassen habe. Ihrerseits versprach natürlich
16717 die Regierung der Gesandtschaft den völkerrechtlichen Schutz auf
16718 der Erde.
16720 Der Bevollmächtigte der Marsstaaten, Kal, ging hierauf ohne
16721 weiteres ein und stellte folgende Forderungen zur Verhandlung in
16722 einer Depesche vom 22. Januar:
16724 1) Formelle Entschuldigung der englischen Regierung wegen des
16725 Angriffs, den die Mannschaft des Kanonenboots auf die beiden
16726 Martier und der Kapitän auf das Luftschiff unternommen hatten.
16728 2) Bestrafung des Kapitäns Keswick und des Leutnants Prim.
16730 3) Entschädigung für die beiden Martier von je hunderttausend
16731 Pfund.
16733 4) Anerkennung der Hoheitsrechte der Marsstaaten auf die
16734 Polargebiete der Erde jenseits des 87. Grades nördlicher und
16735 südlicher Breite.
16737 5) Anerkennung der Gleichberechtigung der Martier mit allen andern
16738 Nationen in bezug auf Niederlassung, Verkehr, Handel und Erwerb.
16740 Gleichzeitig depeschierte Kal an die Regierungen aller größeren
16741 Staaten den Wunsch der Marsstaaten, über die beiden letzten Punkte
16742 in Verhandlung zu treten.
16744 Die Antworten ließen auf sich warten. Die Regierungen der Erde
16745 verhandelten zunächst untereinander, da sie in ihren
16746 vorangegangenen Verabredungen übereingekommen waren, gemeinsam
16747 vorzugehen, falls die Martier mit allgemeinen Fragen des
16748 internationalen Verkehrs an sie herantreten sollten. Die
16749 Vereinigten Staaten, Frankreich, Italien und Japan traten dafür
16750 ein, den Martiern entgegenzukommen, Deutschland, Österreich-Ungarn
16751 und andere zögerten noch, Rußland verhielt sich ablehnend. Die
16752 englische Regierung war zuerst geneigt, Verhandlungen einzuleiten.
16753 Aber sobald die Forderungen der Martier in der Bevölkerung bekannt
16754 geworden waren, erhob sich ein allgemeiner Entrüstungssturm. Das
16755 Nationalgefühl forderte ungestüm die Ablehnung des Ansinnens der
16756 Martier, das britische Selbstbewußtsein lasse nicht zu, daß man mit
16757 einem Haufen Abenteurer in Verhandlungen über Entschuldigungen und
16758 Entschädigungen trete. Es kam zu einer bewegten Parlamentssitzung,
16759 in welcher das friedlich gestimmte Ministerium gestürzt wurde. Ein
16760 Toryministerium, zu entschiedenem Vorgehen geneigt, trat an die
16761 Stelle und erklärte sofort, daß es jede weitere Unterhandlung mit
16762 den Marsstaaten zurückweise. Die ablehnende Note, welche nach
16763 Sydney zur Mitteilung an den Gesandten der Marsstaaten geschickt
16764 wurde, war in sehr kühlem und herablassendem Ton gehalten.
16766 Die übrigen Staaten hatten jetzt, nachdem England eigenmächtig
16767 vorgegangen war, keine Veranlassung, sich gegenseitig zu binden,
16768 und erklärten nunmehr sämtlich im Prinzip sich zu Unterhandlungen
16769 bereit, indem sie sich jedoch völlige Freiheit ihrer weiteren
16770 Entschließungen vorbehielten.
16772 Sobald die Martier in Sydney aus den Zeitungen, die sie aufs
16773 sorgfältigste verfolgten, entnommen hatten, daß sie in England
16774 vermutlich auf kein Entgegenkommen rechnen durften, sandte Kal nach
16775 dem Mars die Lichtdepesche, derzufolge die verabredeten
16776 Verstärkungen abzusenden seien. Ein Luftschiff vermittelte täglich
16777 den Verkehr zwischen Sydney und dem Südpol, von dessen Außenstation
16778 die Lichtdepeschen abgingen. Aber auch schon vorher hatte sich eine
16779 ansehnliche Macht am Südpol angesammelt. Es waren drei neue
16780 Raumschiffe angelangt, nachdem die früheren, um ihnen Platz zu
16781 machen, zurückgegangen waren, und hatten neue Luftschiffe und
16782 Mannschaften gelandet. Gegenwärtig befanden sich bereits
16783 vierundzwanzig Luftschiffe am Südpol, sämtlich mit Nihilitpanzern,
16784 Repulsitgeschützen und Telelyten ausgerüstet, eine furchtbare
16785 Macht, deren militärischen Oberbefehl ein energischer Martier aus
16786 dem Norden namens Dolf führte. Es ließ sich berechnen, daß binnen
16787 vier Wochen die Streitmacht der Martier auf 48 Fahrzeuge
16788 angewachsen sein würde. Mit dem letzten der Raumschiffe, dessen
16789 Ankunft im März zu erwarten war, wollte Ill selbst eintreffen, um
16790 die Leitung der Erdangelegenheiten zu übernehmen. Inzwischen hatte
16791 man Kal eine Anzahl anderer bedeutender Männer zur Seite gestellt,
16792 die als Gesandte an die Regierungen der Großmächte gehen sollten.
16794 Als die Note der großbritannischen Regierung Kal übermittelt war,
16795 telegraphierte sie dieser sofort nach dem Mars. Die Antwort traf
16796 noch denselben Tag ein. Sie besagte nur, daß Kal genau nach den
16797 Instruktionen verfahren solle, welche für den Fall einer
16798 ablehnenden Haltung Englands festgesetzt seien. Am 15. März sei das
16799 Hauptquartier nach dem Nordpol zu verlegen, woselbst im Laufe des
16800 März nach und nach noch vierundzwanzig Raumschiffe mit
16801 durchschnittlich je sechs Luftschiffen eintreffen würden. Damit
16802 würde die Macht der Martier auf der Erde auf 144 große und eine
16803 Anzahl kleinerer Luftschiffe mit 3.456 Mann gebracht sein, eine
16804 Flotte, die den Martiern genügend schien, den Kampf im Notfall mit
16805 der gesamten Erde aufzunehmen.
16807 Die Note der englischen Regierung war vom 18. Februar datiert. Am
16808 zwanzigsten erfolgte die Antwort Kals. Sie besagte, daß die
16809 Regierung der Marsstaaten hiermit an die großbritannische Regierung
16810 das Ultimatum richte, bis zum 1. März sämtliche gestellte
16811 Forderungen zuzugestehen, widrigenfalls sich die Marsstaaten als im
16812 Kriegszustand mit England betrachten würden. Diese Erklärung wurde
16813 gleichzeitig allen andern Regierungen mitgeteilt.
16815 Am 23. Februar drängte sich in Berlin auf der Wilhelmstraße, Unter
16816 den Linden und vor dem königlichen Schloß eine ungeheure
16817 Menschenmenge. Es hatte sich das Gerücht verbreitet, eine
16818 Gesandtschaft der Martier sei eingetroffen, sie befinde sich im
16819 Palais des Reichskanzlers und werde vom Kaiser empfangen werden.
16820 Die Schaulust der Menge sollte jedoch nicht befriedigt werden,
16821 dagegen wurde der gesamten Bevölkerung eine andere Überraschung
16822 zuteil durch eine Nachricht, welche der Reichsanzeiger in einer
16823 Extraausgabe brachte. Es wurde darin mitgeteilt, daß sich
16824 allerdings in der Nacht eine Gesandtschaft der Martier in Berlin
16825 befunden, die Stadt aber bereits am Morgen verlassen habe. Die
16826 Beziehungen zur Regierung der Marsstaaten seien äußerst
16827 freundliche, und man hoffe, daß auch ein Einvernehmen mit England
16828 hergestellt werden würde. Bald darauf teilte der Telegraph aus
16829 allen Hauptstädten ähnliche Nachrichten mit.
16831 In aller Stille nämlich hatten die Martier mit den Mächten einzeln
16832 verhandelt, und in der Nacht vom 22. zum 23. Februar waren
16833 gleichzeitig in Washington, Paris, Berlin, Wien, Rom und Petersburg
16834 Gesandtschaften der Martier heimlich eingetroffen, um durch
16835 mündlichen Verkehr mit den leitenden Staatsmännern die Lage zur
16836 Klärung zu bringen. In Berlin hatte ein Luftschiff mehrere Stunden
16837 im Garten des Reichskanzlerpalais gelegen, und der martische
16838 Gesandte hatte sich mit dem Reichskanzler besprochen. Aber weder
16839 aus Deutschland noch aus irgendeinem andern Staat konnte man
16840 erfahren, was der Gegenstand und das Resultat dieser Unterredungen
16841 gewesen sei. Man vermutete, daß es sich um Erklärungen der Martier
16842 über ihre Absichten und um die Vermittlung der Mächte zwischen den
16843 Marsstaaten und Großbritannien handle. Man bezweifelte nicht, daß
16844 die Martier friedliche Versicherungen gemacht hätten, aber man
16845 setzte kein Vertrauen darauf, daß die Vermittlungsvorschläge der
16846 Mächte bei England günstige Aufnahme finden würden.
16848 Sie waren wohl auch hauptsächlich in der Absicht zugesagt, die
16849 Geschäftswelt einigermaßen zu beruhigen; denn auf die erste
16850 Nachricht vom Ultimatum der Martier hatten die Börsen aller Länder
16851 mit einem gewaltigen Sturz aller englischen Werte geantwortet, und
16852 die dadurch eingerissene Panik dauerte fort. Die Nachrichten aus
16853 England aber wurden nicht günstiger. Die Stimmung war kriegerisch.
16854 Nur wenige Blätter wagten einem Nachgeben gegen die Martier das
16855 Wort zu reden, und sie wurden tumultuarisch überschrien. Krieg
16856 gegen den Mars war die Losung geworden. Krampfhaft rüstete man in
16857 Heer und Flotte, obwohl man nicht wußte, in welcher Form man einen
16858 Angriff zu gewärtigen habe. Fieberhafte Tätigkeit herrschte in den
16859 Arsenalen und Werkstätten, wo man hauptsächlich damit beschäftigt
16860 war, die Konstruktion der Geschütze so umzuändern, daß sie eine
16861 größere Elevation gestatteten. Denn man erwartete, den Kampf mit
16862 einem Gegner führen zu müssen, der sich in der Luft befand. Man
16863 tröstete sich mit der Sicherheit, daß die Martier jedenfalls nicht
16864 imstande seien, außerhalb ihrer Luftschiffe irgend etwas
16865 auszurichten, weil ihre Körper unter dem Einfluß der Erdschwere zu
16866 Kraftleistungen, ja zur einfachen Bewegung untauglich seien. Man
16867 hoffte daher, wenn man sich nur die Luftschiffe vom Halse halten
16868 konnte, nichts Ernstliches zu befürchten zu haben und den auf der
16869 Erde fremden Gegner bald zu ermüden.
16871 \section{40 - Ismas Leiden}
16873 Inzwischen war man auf dem Mars recht ungeduldig. Nachdem die
16874 Abreise des ersten Raumschiffs sich bereits verzögert hatte,
16875 vergingen weitere fünfundzwanzig Tage, bis die erste kurze
16876 Lichtdepesche die glückliche Ankunft desselben auf der Außenstation
16877 am Südpol der Erde meldete. Dann dauerte es wieder einige Tage, bis
16878 man erfuhr, daß die übrigen Raumschiffe ebenfalls angelangt und die
16879 Luftschiffe in Betrieb gesetzt seien. Die Verzögerung der Antwort
16880 seitens der britischen Regierung wirkte verstimmend. Man war daher
16881 angenehm überrascht, als man vernahm, daß die Regierung zu einem
16882 tatkräftigen Vorgehen entschlossen war, und als das Ultimatum an
16883 England bekannt wurde, wurden dem Zentralrat und insbesondere Ill
16884 lebhafte Ovationen dargebracht. Die nach der Erde mit Verstärkung
16885 abgehenden Schiffe wurden mit begeisterten Abschiedshuldigungen
16886 gefeiert. Man bedauerte nur, daß die Nachrichten von der Erde so
16887 kurz und spärlich waren, weil man auf den schwierigen Verkehr durch
16888 Lichtdepeschen angewiesen war.
16890 Mit Spannung sah man der Rückkehr des ersten Raumschiffes entgegen,
16891 welches ausführlichere Nachrichten bringen mußte. Aber da die
16892 Planeten jetzt von Tag zu Tag sich weiter voneinander entfernten,
16893 dauerte die Überfahrt länger. Jetzt war seine Ankunft indessen
16894 jeden Tag zu erhoffen. Ill wollte nur dieses Ereignis abwarten, um
16895 sich selbst nach der Erde zu begeben.
16897 Niemand aber ersehnte die Ankunft des Schiffes ungeduldiger als
16898 Isma. Sollte es ihr doch Nachrichten von der Erde bringen. Sie
16899 wußte zwar, daß sie mit diesem Schiff noch keinen Brief von ihrem
16900 Mann erhalten konnte, denn es hatte die Erde verlassen, ehe eine
16901 Antwort auf ihr Schreiben in Sydney eintreffen konnte. Aber sie
16902 hoffte auf Zeitungen, die ja über die Rückkehr Torms Auskunft geben
16903 mußten.
16905 Isma lebte einsam und traurig in Ills Haus, und alle Bemühungen der
16906 guten Frau Ma, sie zu erheitern, waren vergeblich. Ell begleitete
16907 Ill auf seinen häufigen Reisen nach dem Südpol und der
16908 Schiffsbaustätte. Bei Isma ließ er sich nicht mehr sehen, und
16909 heimlich bereute sie ihre leidenschaftliche Trennung von dem alten
16910 Freund. La war in der Ferne. Zu andern Martiern vermochte sie in
16911 kein vertrauteres Verhältnis zu kommen. Ihr einziger näherer Umgang
16912 war Saltner, der seinen Sprachunterricht in Kla wieder aufgenommen
16913 hatte. Aber auch er war nicht mehr der übermütige, lustige Mann wie
16914 früher, und Isma bemerkte wohl, daß ihn noch eine andere Sorge
16915 drückte als das Heimweh und der Kummer um das Schicksal der
16916 Menschen. Und doch war es schon schwer genug, hier in der
16917 Verbannung zu leben, während das Vaterland in drohendster Gefahr
16918 schwebte.
16920 Und endlich, heute war die Depesche gekommen, daß das Raumschiff in
16921 der Nacht gelandet sei. Kaum vermochte Isma ihre Aufregung zu
16922 beherrschen. Doch die Aufgaben des Tages mußten erledigt werden,
16923 sie zwang sich zur Ruhe, obwohl sie bei jedem Geräusch hoffte, man
16924 bringe die ersehnten Nachrichten.
16926 Die französische Konversationsstunde war beendet. Isma schloß die
16927 Klappe des Fernsprechers und setzte sich an ihren Schreibtisch. Er
16928 war ein Geschenk Ells, der ihn nach dem Muster ihres Schreibtisches
16929 in Friedau aus der Erinnerung so gut wie möglich hatte herstellen
16930 lassen, weil er wußte, daß Isma die Schreibmaschine und die Möbel
16931 der Martier nicht sehr liebte. Sie zog wieder ihr Tagebuch hervor.
16932 Die Zeitrechnung machte ihr Schwierigkeiten, denn der Marstag war
16933 um 37 Minuten länger als der Erdentag, da sie aber stets einen
16934 Marstag gleich einem Erdentag in ihrem Buch gerechnet hatte, so
16935 mußte sie alle neununddreißig Tage einen Erdentag überspringen, um
16936 nicht gegen den Kalender der Erde zu weit zurückzubleiben. Das war
16937 nun jetzt zum viertenmal der Fall – so lange weilte sie auf dem
16938 Mars! Sie fand, daß heute auf der Erde der 27. Februar sei, ein
16939 Sonntag! Und der Geburtstag ihres Mannes! Wie glücklich hatte sie
16940 diesen Tag sonst verlebt, und mit welchen Hoffnungen im vorigen
16941 Jahr! Und wo mochte Hugo jetzt weilen? Der Trost, den seine Rettung
16942 ihr gewährte, hatte nur auf kurze Zeit angehalten. Die
16943 Unmöglichkeit, sich mit ihm so zu verständigen, wie es ihr Herz
16944 verlangte, erhöhte nur ihre Sehnsucht und ihre Sorge. Was hatte er
16945 von ihr gehört, in welchem Licht mußte sie ihm erscheinen, wie
16946 würde er ihre Handlungsweise beurteilen? Konnte er ihr Glauben
16947 schenken? Wie enttäuscht und einsam mußte er sich fühlen wenn er
16948 das Haus leer fand, wo er sein Glück wiederzufinden hoffte!
16950 Das Herabfallen der Fernsprechklappe schreckte sie aus ihren
16951 Gedanken.
16953 „Liebe Isma, sind Sie da? Ja? Ich bringe Ihnen etwas!“ Es war die
16954 Stimme von Frau Ma. Im Augenblick war Isma aufgesprungen. Schon
16955 erschien Ma an der Tür.
16957 „Da, Frauchen“, rief sie, „da haben Sie die ganze Post für Sie. Ein
16958 großes Paket, nicht wahr? Ill hat alle deutschen Zeitungen
16959 aufkaufen lassen, die in Sydney zu haben waren. Und nun ängstigen
16960 Sie sich nicht, es wird alles gut werden. Ich will Sie jetzt nicht
16961 stören.“ Sie küßte Isma auf die Stirn und ging.
16963 Das Paket, von einem leichten Korbgeflecht umhüllt, lag auf dem
16964 Tisch. Ismas Hände zitterten, als sie den Verschluß auseinanderbog.
16965 Ein Haufen Zeitungen lag vor ihr. Sie setzte sich und zwang sich
16966 zur Ruhe. Systematisch nahm sie ein Blatt nach dem andern zur Hand,
16967 sah nach dem Datum und entfaltete es. Die Blätter waren offenbar
16968 schon von einer kundigen Hand geordnet. Das erste war vom 24.
16969 September vorigen Jahres. Gleich nach dem Leitartikel enthielt es
16970 in fettem Druck die Nachricht, daß das englische Kanonenboot
16971 ›Prevention‹ auf der Rückkehr begriffen sei. Es habe in der Nähe
16972 von Grinnell-Land einen siegreichen Kampf mit einem Luftschiff,
16973 angeblich den Bewohnern des Planeten Mars gehörig, bestanden. An
16974 Bord befinde sich der Leiter der deutschen Nordpolexpedition, Torm,
16975 der von wandernden Eskimos dahin gebracht sei – – –
16977 Isma las nicht weiter. Sie ergriff ein neues Blatt. „Torm in
16978 London.“ Sie überflog nur die Zeilen. „Tiefergreifend wirkten auf
16979 den kühnen Forscher die Nachrichten über das Schicksal der übrigen
16980 Expeditionsmitglieder, insbesondere die glückliche Heimkehr
16981 Grunthes und die Rettung der wissenschaftlichen Resultate. Aber
16982 alles tritt im Augenblick in den Hintergrund gegenüber der
16983 Tatsache, daß die Martier –“ – Weiter – „Der Festabend der
16984 geographischen Gesellschaft litt unter der getrübten Stimmung des
16985 Gefeierten, den traurige Familiennachrichten niederdrückten –“
16987 Isma seufzte tief. Sie vermochte kaum zu lesen. Jeden Augenblick
16988 fürchtete sie auf ihren Namen zu stoßen und die Verleumdung
16989 öffentlich ausgesprochen zu sehen. Aber es war nichts weiter
16990 gesagt. Ein anderes Blatt! „Torm in Hamburg. Begeisterter Empfang.“
16991 – Weiter! „Torm in Berlin. – Rührendes Wiedersehen von Torm und
16992 Grunthe. – Allgemein bedauerte man die Abwesenheit Friedrich Ells,
16993 des geistigen und pekuniären Vaters der Expedition, der sich
16994 bekanntlich nach dem Mars begeben hat. – Wie wir hören,
16995 beabsichtigt Torm, seinen Wohnsitz vorläufig in Berlin zu nehmen
16996 –“
16998 Isma atmete auf. Diese Zeitung wenigstens schien diskret zu sein –
16999 man wollte offenbar den verdienten Forscher schonen.
17001 Und sie, sie sollte schuld sein, daß man ihn schonen mußte? Was
17002 mochten andere von ihr sagen? Und warum sagte man nicht offen,
17003 weshalb sie fortgegangen war – Grunthe wußte es doch, er konnte sie
17004 rechtfertigen.
17006 „Es glaubt ihm niemand!“ Wie ein Schrei entrang es sich Isma.
17007 Mechanisch blätterte sie weiter. Da haftete ihr Auge auf einer
17008 Stelle.
17010 „Infolge der gehässigen Angriffe, die von gewissen Blättern gegen
17011 den Martier-Sohn Friedrich Ell gerichtet werden und die sich
17012 bemühen, die Gattin unseres großen Landsmanns Torm zu verleumden,
17013 sehen wir uns gezwungen, von unserm Grundsatz abzugehen, wonach wir
17014 um persönlichen Klatsch uns nicht kümmern. Wir sind jedoch in der
17015 Lage, aus bester Quelle jene schamlosen Hetzereien zurückzuweisen,
17016 die, soviel wir wissen, ihren Ursprung aus einem Artikel des
17017 Friedauer Intelligenzblattes genommen haben. Es war dort gesagt,
17018 jedermann in Friedau wisse, daß zwischen Ell und Frau Torm intime
17019 Beziehungen seit Jahren bestanden hätten. Die Polarexpedition, so
17020 deutete man an, sei von Ell angeregt, um Torm zu entfernen. Auf die
17021 Nachricht von seiner zu erwartenden Rückkehr habe Frau Torm ihr
17022 Haus verlassen und sei aus Friedau verschwunden. Man vermute, daß
17023 sie mit ihrem Freund nach dem Mars gegangen sei, und so weiter. –
17024 Dies alles ist erbärmliche Lüge. Herr Dr. Karl Grunthe, der
17025 Begleiter Torms, an dessen Wahrhaftigkeit wohl selbst das Friedauer
17026 Intelligenzblatt nicht zu zweifeln wagen wird, schreibt uns, daß
17027 Frau Torm in seiner Gegenwart in einer mit Ell geführten
17028 Unterredung sich entschlossen habe, das Luftschiff der Martier zu
17029 benutzen, um auf demselben Nachforschungen nach dem Verbleib ihres
17030 verschollenen Gemahls anzustellen und die Rettung desselben zu
17031 betreiben. Ohne Zweifel ist es dasselbe Luftschiff, welches in
17032 Konflikt mit dem englischen Kanonenboot ›Prevention‹ geraten ist,
17033 zu einer Zeit, als sich Torm noch bei den Eskimos befand. Nicht
17034 aufgeklärt bleibt nur, warum das Luftschiff Friedau eher als
17035 geplant, mitten in der Nacht, verlassen hat und warum es dann,
17036 entgegen der Zusage des Befehlshabers, nicht nach Friedau
17037 zurückgekehrt ist. Man kann hieraus die Befürchtung ziehen, daß ihm
17038 irgendein Unglücksfall zugestoßen ist, und dies um so mehr, als der
17039 Kapitän Keswick versichert, durch seine Beschießung das Luftschiff
17040 beschädigt zu haben. Alle andern Schlüsse aber sind als
17041 Verleumdungen zurückzuweisen. Der heldenmütige Entdecker des wahren
17042 Nordpols, den der unerklärliche Verlust seiner geliebten Gattin
17043 tief niederdrückt, verdiente wohl, daß man ihn im eigenen Vaterland
17044 nicht noch in seinem Teuersten beschimpft.“
17046 Die Nummer der Zeitung war bereits vom November des vorigen Jahres.
17047 Die folgenden Nummern, die bis zum Anfang Januar dieses Jahres
17048 reichten, schienen nichts weiter über diese Angelegenheit zu
17049 enthalten. Wenigstens fand Isma beim eiligen Durchblättern keine
17050 dahinzielende Notiz, und sie hoffte schon, die Erklärung habe ihre
17051 Wirkung getan.
17053 Isma saß lange unfähig ihre Gedanken zu ordnen, den Kopf in die
17054 Hände gestützt. Dann begann sie weiterzusuchen. Es folgten jetzt
17055 Exemplare anderer Zeitungen, sogar einige Witzblätter. Da sah sie
17056 mit Abscheu und Entsetzen, daß man offenbar im großen Publikum sich
17057 nicht an die gegebene Aufklärung kehrte. Wo von Ell die Rede war –
17058 und sein Buch über die Martier wurde überall erwähnt – da fand sich
17059 auch irgendeine hämische oder witzelnde Bemerkung. Was mußte Torm
17060 dabei fühlen! Isma wollte nichts mehr sehen, sie ballte die Hände
17061 zusammen. Da erblickte sie auf der halbgebrochenen Seite eines
17062 Witzblattes unverkennbar das Gesicht Torms – sie schlug das Blatt
17063 auf. Es war eine Karikatur – Torm in einem Luftballon auf dem
17064 Nordpol, über ihm ein Luftschiff der Martier, worin Ell und Isma
17065 ihm lange Nasen drehen – – Sie las nicht, was darunter stand, sie
17066 sprang auf und ergriff den Rest der noch nicht durchblätterten
17067 Papiere, um sie fortzuschleudern.
17069 Da, was fällt da herab? Ein zusammengelegtes, geschlossenes Papier
17070 – eine telegraphische Depesche – ein Formular des Telegraphenamts
17071 in Sydney – die Adresse ist in englischer Sprache geschrieben – ›An
17072 die Gesandtschaft der Marsstaaten für Frau Torm‹.
17074 Isma reißt das Papier auf. Der Inhalt ist deutsch, mit lateinischen
17075 Buchstaben von einer englischen Hand geschrieben. Die Buchstaben
17076 tanzen vor ihren Augen, sie kann sie kaum entziffern.
17078 „Berlin, den 6. Januar. Herzlichen Dank für die Aufklärung durch
17079 dein langes, liebes Telegramm! Das Mißgeschick, das dich fernhält,
17080 schmerzlich betrauernd, sende ich innige Grüße in treuer Liebe und
17081 erhoffe baldiges, ungetrübtes Wiedersehen. Dein Torm!“
17083 Das Telegramm entsank ihrer Hand, und ihre nervöse Spannung löste
17084 sich in einem schluchzenden Weinen. Eine direkte Nachricht hatte
17085 sie nicht erwartet. Sie wußte, daß die Martier am 2. Januar nach
17086 Sydney gekommen waren und das Raumschiff bereits Mitte Januar die
17087 Erde wieder verlassen hatte. In dieser Zeit konnte kein Brief nach
17088 Berlin gelangen. Dein langes, liebes Telegramm! Also man war so
17089 aufmerksam gewesen, ihren ganzen Brief an Torm zu telegraphieren.
17090 Ein leichter Schreck durchzog ihr sparsames Hausfrauenherz, wenn
17091 sie an die ungeheuren Kosten dieses Riesentelegrammes dachte. Aber
17092 es versöhnte sie einigermaßen mit der Hartnäckigkeit der Martier,
17093 nur offene Briefe zuzulassen. Sie war glücklich über das Telegramm,
17094 das kein Wort des Vorwurfs enthielt, und doch wie wenig sagte es!
17095 Aber was kann man auch in einem Telegramm sagen! Sie las die
17096 wenigen Zeilen immer wieder.
17098 Ma trat in das Zimmer.
17100 „Sitzen Sie nun schon zwei Stunden über den Blättern, Frauchen? Und
17101 geweint haben Sie auch? Ärgern Sie sich nur nicht. Was gibt es
17102 denn?“
17104 Isma versuchte zu lächeln. „Hätte ich nur das Telegramm eher
17105 gefunden“, sagte sie, „so hätten mich die dummen Menschen weniger
17106 gekränkt.“
17108 „Aber Sie haben ja den Korb auf der falschen Seite geöffnet – es
17109 hat doch wahrscheinlich obenauf gelegen. Und nun kommen Sie gleich
17110 einmal mit mir! Saltner ist da, er hat auch Nachrichten, von seiner
17111 Mutter und von Grunthe. Und Ell hat die Depesche hergeschickt, die
17112 er von Ihrem Mann bekommen hat. Es ist doch nett von Ell, daß er
17113 alle euere Briefe an ihre Adresse hat telegraphieren lassen und
17114 sofortige telegraphische Antwort bestellt hat.“
17116 Isma erhob sich. „Ich komme sogleich“, sagte sie.
17118 Also Ell hatte sie es zu verdanken, daß sie schon eine Antwort
17119 bekommen hatte! Während sie ihre Augen kühlte und ihr Haar ordnete,
17120 bedrückte sie der Gedanke, daß ihr Brief zwanzig Seiten, eng
17121 beschrieben – das waren gewiß an die viertausend Worte – enthalten
17122 hatte. Wenn Ell das alles telegraphieren ließ, das war ja eine
17123 Depesche für zwanzigtausend Mark! Früher hätte sie bei Ell
17124 überhaupt nicht daran gedacht, daß zwischen ihnen ein Abwägen des
17125 Gebens oder Nehmens bestehen könne, aber jetzt war es ihr peinlich,
17126 sich so verpflichtet zu fühlen.
17128 Bei ihrem Eintritt in das Empfangszimmer hielt ihr Saltner zuerst
17129 freudestrahlend ein Telegramm entgegen, das sie gar nicht zu
17130 entziffern vermochte. Es war von seiner Mutter. Aus den
17131 abgebrochenen, nicht ganz dialektfreien Sätzen, welche die gute
17132 Frau in der Absicht, recht kurz zu sein, gebaut hatte, war durch
17133 den englischen Telegraphisten ein unmögliches Kauderwelsch
17134 geworden. Saltner aber genügte es vollständig, daraus die Freude
17135 der Mutter über sein Wohlbefinden zu ersehen, und jedes
17136 verstümmelte Wort machte er mit rührender Sorgfalt zu einem
17137 besonderen Studium.
17139 Grunthe hatte nur kurz an Saltner telegraphiert, daß die plötzliche
17140 Abreise Ells sehr störend für die Stimmung der Bevölkerung in bezug
17141 auf die Martier sei, da er selbst die gegen Ells Schriften
17142 erhobenen Bedenken nicht genügend widerlegen könne. Die politischen
17143 Verhältnisse bezeichnete er als ziemlich trostlos; seine Ansicht,
17144 daß man alle von den Martiern gestellten Forderungen bewilligen
17145 müsse, um ihnen jede Veranlassung zu nehmen, sich in die
17146 menschlichen Angelegenheiten einzumischen, finde wenig Anhänger.
17147 Man unterschätze die Macht der Martier und baue auf ihre
17148 Unfähigkeit, sich außerhalb ihrer Schiffe auf der Erde zu bewegen,
17149 während doch rückhaltloses Vertrauen und reiner Wille die einzigen
17150 Mittel sein würden, den Einfluß der Nume zum Besten zu lenken.
17152 Isma hatte die Zeilen nur durchflogen, um nun in Ruhe Torms langes
17153 Telegramm an Ell zu lesen. Es trug das Datum vom 8. Januar.
17154 Zunächst war es rein geschäftlich gehalten, ein Bericht des Leiters
17155 der Nordpolexpedition an deren Veranstalter. Was Isma am meisten
17156 interessierte, die persönlichen Schicksale Torms, war nur kurz
17157 geschildert. Dann aber hieß es:
17159 „Ich bedauere tief, daß Sie den heldenmütigen, aber übereilten
17160 Entschluß meiner Frau unterstützten und Friedau unter so
17161 ungewöhnlichen Umständen verließen. Mir persönlich, wie dem
17162 allgemeinen Interesse entstehen dadurch Schwierigkeiten, die sich
17163 noch gar nicht absehen lassen. Bieten Sie allen Einfluß auf, um
17164 Ismas Rückkehr zu ermöglichen, und kommen Sie selbst, um Ihre Sache
17165 zu führen. Wirken Sie darauf hin, daß die Marsstaaten keine anderen
17166 Bestrebungen verfolgen, als ganz allmählich einige ihrer
17167 technischen Fortschritte uns zugänglich zu machen. Von jeder
17168 direkten Einwirkung befürchte ich Unheil für die Menschen. Ich
17169 bleibe vorläufig in Berlin. Leider scheint in den maßgebenden
17170 Kreisen Entschlußlosigkeit zu herrschen. Ich bestätige dankend den
17171 Empfang der von Ihnen für die nachträglichen Kosten der Expedition
17172 angewiesenen Summe von 100.000 Mark. Torm.“
17174 Isma ließ das Blatt sinken. Sie fühlte sich unsäglich elend. Um
17175 ihren Mann zu retten, hatte sie sich zur Reise entschlossen, und
17176 was hatte sie erreicht! Welche Qualen hatte sie ihm bereitet! Und
17177 den Freund abgezogen von seiner höchsten Pflicht, für den Frieden
17178 der Planeten zu wirken! Und sie selbst, einsam, machtlos, verbannt
17179 – –
17181 Sie sprang auf und faßte Mas Hände.
17183 „Lassen Sie mich fort“, rief sie leidenschaftlich. „Ich muß nach
17184 der Erde, ich muß zu meinem Mann! Ich muß Ell sprechen. Wo ist
17185 er?“
17187 „Aber Frauchen, was ist Ihnen? Zu Ell können Sie jetzt nicht, er
17188 ist nach dem Pol gereist, um mit Ill zu konferieren. Aber beruhigen
17189 Sie sich. Die nächsten Tage werden alles entscheiden. Ich darf
17190 ihnen sagen, wir verhandeln mit den Mächten, auch mit ihrem
17191 Vaterland. Sobald der Frieden gesichert ist, sollen Sie nach
17192 Hause.“
17194 „Ich gehe natürlich mit“, rief Saltner. „Auf Ell rechnen Sie nicht,
17195 für ihn ist es jetzt zu spät, oder noch zu zeitig. Was er versäumt
17196 hat, kann er jetzt nicht einholen. Er hätte mit dem ersten
17197 Raumschiff nach dem Südpol gehen und sich sofort nach Deutschland
17198 begeben müssen. Das wollte er nicht. Es war ein großes Unrecht.“
17200 „Und wann“, seufzte Isma, „wann kommt endlich die Befreiung.“
17202 Ma sprach einige tröstende Worte, als sie plötzlich abberufen
17203 wurde. Schon nach wenigen Minuten kehrte sie zurück.
17205 „Weinen Sie nicht mehr“, sagte sie zu Isma, „ich bringe Wichtiges
17206 für sie, hoffentlich Gutes: Nachricht von Ill. Er hat
17207 telegraphiert, weil es vertraulich ist, und beim Sprechen weiß man
17208 nie, wer zuhört. Nun, ich lese ja schon, hören Sie nur: Soeben
17209 meldet Lichtdepesche, daß sämtliche Großmächte, falls England unser
17210 Ultimatum nicht annimmt, Neutralität erklärt haben. Wir
17211 verpflichten uns gegen Verkehrsfreiheit, jeder Einmischung in
17212 politische Angelegenheiten uns zu enthalten. Leider Annahme des
17213 Ultimatums durch England aussichtslos.“
17215 Saltner sprang auf. „Das ist doch etwas! So wird der Krieg
17216 wenigstens lokalisiert, wenn man so sagen darf. England geht es
17217 freilich an den Kragen, es ist ja traurig. Aber wir haben Frieden,
17218 Gott sei Dank! Nun dürfen wir zurück, nicht wahr?“
17220 „Ich zweifle nicht“, sagte Ma. „Gibt England nicht nach, so geht
17221 übermorgen, sobald Ihr zweiter März anfängt, Raumschiff auf
17222 Raumschiff nach dem Nordpol, und Sie dürfen sicher mitreisen. In
17223 vier bis fünf Wochen können Sie daheim sein. Aber Frauchen, was
17224 machen Sie, wie sehen Sie aus? Gleich kommen Sie mit mir, Sie
17225 müssen in Ihr irdisches Schwerekämmerchen!“
17227 Die Aufregung, die Sorge und nun die plötzliche Aussicht auf
17228 Heimkehr hatten Ismas Widerstandskraft gelähmt. Alles Blut war aus
17229 ihrem Gesicht entwichen, mit bleichen Wangen, einer Ohnmacht nahe,
17230 lag sie auf ihrem Sessel. Ma umfaßte sie und führte sie schonend
17231 auf ihr Zimmer.
17233 \section{41 - Die Schlacht bei Portsmouth}
17235 England hatte das Ultimatum abgelehnt. Hierauf ging an den
17236 Befehlshaber der martischen Streitkräfte auf dem Südpol der Erde
17237 die Weisung, mit Gewaltmaßregeln unnachsichtlich, doch ohne
17238 Blutvergießen vorzugehen.
17240 Am zweiten März erfolgte die Kriegserklärung.
17242 Eine Mitteilung an die Regierungen und eine Proklamation an alle
17243 Völker der Erde besagte, daß vom sechsten März mittags zwölf Uhr an
17244 England und Schottland von jedem Verkehr abgeschnitten sein würden.
17245 Von diesem Zeitmoment an werde die Blockade über die Küste dieser
17246 Länder effektiv sein, und zwar in der Art, daß es keinem Schiff
17247 gestattet sein solle, die Zone von fünf bis zu zehn Kilometer
17248 Abstand von der Küste weder landwärts noch seewärts zu
17249 überschreiten. Alle fremden Schiffe müßten bis dahin die englischen
17250 Häfen verlassen haben.
17252 Man lachte in England darüber als über eine Aufschneiderei der
17253 Martier. Doch als es sich in der Nacht vom zweiten zum dritten März
17254 herausstellte, daß sämtliche Kabel, welche England mit dem
17255 Kontinent und mit Irland verbanden, unterbrochen waren und die
17256 telegraphische Verbindung somit aufgehoben war, ohne daß eines der
17257 vor der Küste kreuzenden Kriegsschiffe bemerkt hatte, wie die
17258 hierzu erforderlichen Arbeiten ausgeführt worden seien, beeilten
17259 sich die in den Häfen befindlichen fremden Schiffe, sich zu
17260 entfernen. Die in England weilenden Ausländer ergriffen
17261 scharenweise die Flucht.
17263 Am Morgen des sechsten März hatten alle fremden Schiffe, die es
17264 irgend ermöglichen konnten, England verlassen. Auch die Postdampfer
17265 legten nicht mehr in den englischen Häfen an. Die Flotte war,
17266 soweit sie nicht in den Kolonien gebraucht wurde, vor Portsmouth
17267 versammelt. Von allen Schiffen, von allen Befestigungen am Land,
17268 von den Anhöhen und den Landhäusern auf Wight spähte man nach dem
17269 Gegner aus, der sich anheischig gemacht hatte, ein Land von 230.000
17270 Quadratkilometern Fläche mit einer Bevölkerung von 35 Millionen,
17271 geschützt von der stärksten Flotte der Erde, vom Weltverkehr
17272 abzusperren. Nichts war zu sehen. Die zwölfte Stunde rückte heran.
17273 Einige Schiffe, die von der Blockade noch nichts gehört hatten,
17274 passierten ungehindert die zu sperrende Zone. Besonders lebhaft war
17275 der Verkehr nach der Insel Wight. Zahlreiche Personendampfer waren
17276 hier unterwegs, Boote aller Art belebten das Wasser. Noch fehlten
17277 wenige Minuten zu zwölf Uhr. Die Kriegsflotte im Hafen ging unter
17278 Dampf. Majestätisch verließ, allen voran, das neue
17279 Riesenpanzerschiff ›Viktor‹ von 15.000 Tonnen mit seinen 30.000
17280 indizierten Pferdekräften die Hafeneinfahrt. Die Kanonen donnerten
17281 ihren Salut.
17283 Nichts Verdächtiges zeigte sich nach der Seeseite zu. Aber eine
17284 Minute vor zwölf Uhr erschienen plötzlich über dem Land sechs
17285 dunkle Punkte, die sich schnell vergrößerten. Im Fernrohr erkannte
17286 man sie als Luftboote. In eine Reihe aufgelöst hatten sie im
17287 Augenblick alle Schiffe überholt und senkten sich dem Wasser zu. Es
17288 schlug zwölf Uhr. In demselben Augenblicke wurde die bis dahin
17289 ruhige See lebhaft bewegt. Am östlichen Ausgang der Spithead-Bucht,
17290 dort wo der Abstand zwischen Wight und der englischen Küste die
17291 Breite von zehn Kilometern erreicht, erschien eine gewaltige
17292 Brandung, wie durch ein Seebeben aufgewühlt. Die Schiffe, welche
17293 sich in der Nähe befanden, beeilten sich, den Wogen zu entgehen,
17294 indem sie nach dem Land zurückkehrten.
17296 Nahe über der Oberfläche des Meeres schwebend, markierte ein
17297 Luftschiff der Martier den Punkt, bis zu welchem der
17298 Absperrungsgürtel sich in die Bucht von Spithead hinein zog. Die
17299 übrigen verteilten sich in der Nähe auf der Südseite von Wight und
17300 östlich von Portsmouth. Die Martier hatten, indem sie das Wasser
17301 durch eine Reihe von Repulsitschüssen aufregten, nur die weiter als
17302 fünf Kilometer von der Küste befindlichen Schiffe vertreiben
17303 wollen. Weiter durfte sich von jetzt ab kein Schiff vom Land
17304 entfernen und keines näher als zehn Kilometer sich der Küste
17305 nähern. Indessen blieb der Verkehr westlich von dem markierten
17306 Punkt zwischen Wight und der Küste ungehindert, die Insel gehörte
17307 mit in den blockierten Bezirk.
17309 Ein großer englischer Dampfer, von Le Havre nach Southampton
17310 zurückkehrend, wurde sichtbar. Schneller als ein Pfeil durch die
17311 Luft schießend, erreichte ihn eines der Marsschiffe und rief ihm,
17312 dicht an Bord hinschwebend, den Befehl zu, umzukehren. Wohl wußte
17313 der englische Kapitän, daß er sein Schiff aufs Spiel setze, wenn er
17314 dem Gebot nicht folge. Aber von dem Ausguck haltenden Matrosen war
17315 ihm bereits gemeldet, daß die Kriegsflotte in der Bucht unter Dampf
17316 sei und auf ihn zuhalte. Schon näherte sich der ›Viktor‹ dem
17317 Luftschiff, welches die Sperrgrenze markierte; eine Granate sauste
17318 unter dem schnell aufsteigenden Luftschiff fort. Unter diesen
17319 Umständen glaubte der Kapitän, dem Befehl des Marsschiffes Trotz
17320 bieten zu können, und setzte seinen Kurs fort. Aber sofort richtete
17321 ein Schlag, der das Schiff an seinem Vorderteil traf, eine starke
17322 Verwüstung auf dem Deck an, und von dem Marsschiff wurde ihm
17323 zugerufen, daß, wenn er nicht sofort wende, sein Schiff auf der
17324 Stelle in Grund gebohrt werden würde. Nun zögerte der Kapitän nicht
17325 länger und entfernte sich wieder vom Land, in der Hoffnung, die
17326 Flotte werde den Weg bald freimachen.
17328 Inzwischen begann sich die Kriegsflotte in einer Stärke von gegen
17329 dreihundert Schiffen, darunter zwanzig Panzerschiffe erster Klasse,
17330 in der Bucht von Spithead zu entwickeln und schickte sich an, die
17331 blockierte Linie zu forcieren, auf der man nichts bemerkte als drei
17332 langsam hin- und hergleitende Luftschiffe der Martier. Auf diese
17333 konzentrierte sich jetzt das Feuer von vielleicht fünfzig
17334 Geschützen stärksten Kalibers. Geschoß auf Geschoß flog gegen die
17335 in mäßiger Höhe schwebenden Ziele. Aber seltsam! Nicht ein einziges
17336 Geschoß schien zu treffen. Völlig ruhig, als existierte für sie der
17337 Angriff gar nicht, ließen die Martier die Flotte herankommen. Allen
17338 voran dampfte die Riesenmasse des ›Viktor‹. Sein gepanzertes
17339 Verdeck war, in Rücksicht auf die Erfahrungen der ›Prevention‹ mit
17340 dem martischen Luftschiff, mit einer besonderen Konstruktion von
17341 Schießscharten versehen, um einen in der Höhe befindlichen Gegner
17342 mit Gewehrkugeln begrüßen zu können. Aber das Marsschiff, gegen
17343 welches sich jetzt die Handfeuerwaffen richteten, schien gegen
17344 dieselben gefeit zu sein. Unheimlich erschien diese Ruhe des
17345 Feindes, den man bald direkt über sich erblicken mußte.
17347 Jetzt konnte man an einem der aus dem Hafen dampfenden Schiffe die
17348 Admiralsflagge unterscheiden. Sofort hißte auch eines der
17349 Marsschiffe, um sich den Engländern, dem menschlichen Gebrauch
17350 folgend, kenntlich zu machen, die Flagge, welche die Anwesenheit
17351 des obersten Befehlshabers an Bord bezeichnete. Es war dasselbe
17352 Schiff, das den von Le Havre kommenden Dampfer eben zurückgewiesen
17353 hatte. In noch nicht einer Minute hatte es die zehn Kilometer
17354 zurückgelegt, die es vom englischen Admiralsschiff trennten, und
17355 hier legte es sich direkt zur Seite des Kommandoturmes, in welchem
17356 sich der Admiral, ein königlicher Prinz, neben dem Kapitän des
17357 Schiffes befand. Vergeblich richtete sich ein Hagel von Geschossen
17358 gegen das kühne Luftschiff. Es schien in einem leichten Nebel zu
17359 schwimmen, in welchem Granaten wie Langblei wirkungslos zerrannen.
17360 Und nun geschah etwas ganz Unerwartetes. Immer näher rückte das
17361 Luftschiff dem Kommandoturm, und lautlos, ein unerhörtes Wunder,
17362 lösten sich die stählernen Platten des Panzerturms auf der Seite
17363 des Luftschiffs und verdampften oder verschwanden in der Luft.
17364 Schutzlos sahen sich die Befehlshaber dem schwebenden Feind
17365 gegenüber. Aber kein Angriff auf sie erfolgte. Durch den Donner der
17366 Geschütze der in der Front befindlichen Schiffe geschwächt, aber
17367 deutlich verständlich vernahmen sie die englischen Worte: „Der
17368 Oberbefehlshaber der martischen Luftflotte, Dolf, beehrt sich an
17369 Ew. kgl. Hoheit die Bitte zu richten, sämtlichen unter Ihren
17370 Befehlen stehenden Schiffen die Weisung zu erteilen, die Flagge zu
17371 streichen und sich binnen einer Stunde in den Hafen von Portsmouth
17372 zurückzuziehen. Ich würde mich sonst gezwungen sehen, jedes Schiff,
17373 das nach zehn Minuten noch seine Flagge zeigt oder einen Schuß
17374 abgibt und das nach einer Stunde sich nicht im Hafen befindet, zu
17375 versenken, und müßte Ew. kgl. Hoheit für die entstehenden Verluste
17376 verantwortlich machen.“
17378 Ohne eine Antwort abzuwarten, war das Luftschiff verschwunden. Aber
17379 ehe es noch in die Linie der Marsschiffe zurückgekehrt war, hatte
17380 der ›Viktor‹ den Punkt erreicht, den nach der Instruktion der
17381 Martier kein Schiff überschreiten durfte. Da ging das dort
17382 befindliche Luftschiff aus seiner Wartestellung. Es senkte sich
17383 direkt hinter dem Panzerschiff bis dicht über die Oberfläche des
17384 Wassers und drängte sich an seine Rückseite. Die Nihilithülle des
17385 Luftschiffes, die es gegen jeden Angriff schützte, zersetzte die
17386 fünfzig Zentimeter dicken Panzerplatten binnen ebensoviel Sekunden.
17387 Ein Repulsitschuß zerstörte das Steuer, ein zweiter schlug schräg
17388 von oben nach unten durch das Schiff und zerbrach eine
17389 Schraubenwelle. Das Riesenschiff war unfähig, sich zu bewegen.
17390 Jetzt erhob sich das Luftschiff wieder und schmolz das Dach des
17391 Kommandoturms ab. Mit Entsetzen sah der Kapitän das Schiff über
17392 sich schweben, während die von seiner Mannschaft auf dasselbe
17393 gerichteten Schüsse nicht die geringste Wirkung zeigten. Ratlos
17394 starrte er in die Höhe. Diese Art des Kampfes mit einem
17395 unverletzbaren Gegner mußte auch den Tapfersten entmutigen.
17397 Aus dem Marsschiff kam eine Stimme: „Die gesamte Besatzung in die
17398 Boote. Das Schiff wird versenkt. Wir müssen ein Exempel statuieren,
17399 damit unsre Befehle künftig besser befolgt werden.“
17401 Der Kapitän sah, daß er verloren war. Er ließ die Boote bemannen
17402 und abstoßen. Er selbst blieb im Kommandoturm, entschlossen, mit
17403 dem Schiffe, dessen Flagge im Winde flatterte, unterzugehen. Die
17404 Boote entfernten sich. Das Marsschiff drängte seinen Nihilitpanzer
17405 an die Seite des Panzerschiffes, dicht über der Wasserlinie. Die
17406 eisernen Wände öffneten sich, während sich das Marsschiff in die
17407 Luft erhob. Es wandte sich nach dem Kommandoturm, um den Kapitän an
17408 seiner Selbstaufopferung zu verhindern. Aber schon neigte sich der
17409 Koloß ›Viktor‹ zur Seite. Mit wehender Flagge sank er in die Flut,
17410 die sich weitaufbrausend über ihm und seinem Führer schloß.
17412 Der Kommandant des Marsschiffes trieb sein Boot dicht über den
17413 schäumenden Wirbel hin, um nach dem Kapitän des ›Viktor‹ zu suchen.
17414 Die Woge brachte ihn nicht zurück. Die Augen der Martier
17415 verdüsterten sich, und finsterer Ernst lagerte über ihren Zügen.
17416 Noch einmal umkreiste das Boot langsam die Stelle.
17418 „Wir sollen den Willen der Menschen brechen“, sagte der Anführer,
17419 den Gedanken der Seinigen Worte leihend, „aber kein Menschenleben
17420 soll mit unserem Willen zugrunde gehen. Doch der Wille dieses
17421 Tapfern war stärker als der unsere. Er konnte nicht leben, der das
17422 stärkste Schiff der Erde nicht weiter als drei Seemeilen über den
17423 Hafen hinausgebracht hatte. Gott verzeihe uns, wir wollten nicht
17424 töten.“
17426 Ein Signal weckte die Mannschaft aus ihrer Stimmung, die mehr der
17427 eines Besiegten als eines Siegers glich. Das Luftboot des
17428 Oberbefehlshaber Dolf war zurückgekehrt. „Vorwärts!“ rief er dem
17429 ersten Marsschiff zu, „drei andere Panzerschiffe durchbrechen die
17430 Linie. In den Grund mit ihnen!“
17432 Der Offizier gehorchte schweigend. „Wir sind keine Mörder“,
17433 murmelte es in der Mannschaft. Aber das Luftboot stürzte sich auf
17434 ein zweites Panzerschiff und zerschmetterte ihm das Steuer und die
17435 Maschine. Ein Gleiches taten die übrigen Boote mit den englischen
17436 Schiffen, welche die Grenze der Blockade überschritten. Als ein
17437 steuerloses, hilfloses Wrack trieben bereits sieben Panzerschiffe
17438 erster Klasse auf den Wellen. Aber die Martier versenkten sie
17439 nicht, weil sie jeden Augenblick erwarteten, daß der englische
17440 Admiral das Signal zur Ergebung und zum Rückzug der Flotte geben
17441 würde.
17443 Doch nichts dergleichen geschah. Die zehn Minuten waren längst
17444 abgelaufen. Die Flotte rückte weiter vor. Der Admiral konnte sich
17445 nicht entschließen, so ruhmlos die Waffen zu strecken, obwohl ihn
17446 ein Grauen vor dem unerreichbaren Gegner umfing.
17448 Das Verderben nahm seinen Fortgang. Die Martier begnügten sich
17449 überall damit, die Maschinen und Steuervorrichtungen zu zerstören.
17450 Obwohl sie ihre sicheren Repulsitströme nur auf das Material wirken
17451 ließen, traten trotzdem hier und da Explosionen und
17452 Zerschmetterungen ein, denen auch Menschenleben zum Opfer fielen.
17453 Doch waren die Verluste der Engländer an Mannschaft gering, ihre
17454 Schiffe aber kampfunfähig. Bleiches Entsetzen bemächtigte sich
17455 allmählich der Offiziere und Matrosen, als sie sahen, daß sie dem
17456 Feind schutzlos preisgegeben waren. Ihre herrlichen Fahrzeuge waren
17457 ein Spiel der Wellen. Von den Luftschiffen der Martier, die
17458 unverletzlich blieben, verließ nur von Zeit zu Zeit eines den
17459 Kampfplatz, um von einem in großer Höhe schwebenden Munitionsschiff
17460 seinen Vorrat an Nihilit und Repulsit zu ergänzen. Eine halbe
17461 Stunde mochte dies nutzlose Ringen gedauert haben, als auch das
17462 Admiralsschiff manövrierunfähig wurde. Ein Luftschiff übersegelte
17463 seine Masten, und die Flagge verschwand. Was sich von Schiffen noch
17464 bewegen konnte, suchte in den Hafen zu fliehen. Aber dies nützte
17465 nun nichts mehr. Ein großer Teil der Schlacht war direkt unter den
17466 Kanonen der Festungswerke geschlagen worden. Sie konnten die
17467 Vernichtungsarbeit der Martier nicht beeinträchtigen. Die
17468 Luftschiffe gingen in den Hafen und zerstörten systematisch die
17469 Bewegungsmechanismen sämtlicher Schiffe.
17471 Nun wurde von den Engländern die Parlamentärflagge aufgezogen. Die
17472 Martier verlangten als erste Bedingung, daß die Mannschaft der
17473 kampfunfähigen Schiffe geborgen werde. Alles, was an
17474 Handelsschiffen und Booten aufzutreiben war, wurde darauf nach der
17475 Reede entsandt und brachte die Mannschaft der außer Bewegung
17476 gesetzten Schiffe ans Land.
17478 Die Engländer hatten jetzt eingesehen, daß es ganz nutzlos sei, ihr
17479 Pulver zu verschießen. Sie konnten nur noch darauf bedacht sein,
17480 das Leben der Seeleute zu schonen und weiteren Materialschaden zu
17481 vermeiden. Als alle Menschen und die Hilfsflottille wieder im Hafen
17482 angelangt waren, legten sich zwei der Marsschiffe vor die Mündung
17483 und erklärten den Hafen für gesperrt. Die herrenlosen Schiffe
17484 trieben unter einem leichten Westwind allmählich in den Kanal
17485 hinaus und wurden nach und nach von französischen, holländischen
17486 und deutschen Dampfern geborgen, die sich in großer Anzahl in
17487 sicherer Entfernung von der Blockadelinie angesammelt hatten und
17488 Zeugen des rätselhaften Vernichtungskampfes geworden waren.
17490 Ähnliche Vorgänge wie bei Portsmouth, nur in kleinerem Maßstab,
17491 spielten sich überall ab, wo sich Kriegsschiffe an der englischen
17492 Küste vorfanden. Die Martier hatten Punkt 12 Uhr am 6. März die
17493 gesamte Küste von England und Schottland in ihrer Ausdehnung von
17494 fast 4.800 Kilometer mit ihren Luftschiffen besetzt, deren sie
17495 vorläufig 48 zur Verfügung hatten. So kam im Durchschnitt eine
17496 Küstenlänge von 100 Kilometer auf jedes Schiff. Doch dehnte sich
17497 diese Strecke, je nach der Beschaffenheit der Küste, für manche
17498 Schiffe auf 500600 Kilometer aus, während sich die Marsschiffe
17499 vor den besuchten Häfen dichter gruppierten. Wo ein Schiff sich
17500 zeigte, stürzte sofort ein Luftschiff der Martier herbei und zwang
17501 es zur Umkehr oder vernichtete es im Fall des Ungehorsams auf eine
17502 solche Weise, daß sich die Mannschaft gerade noch nach der Küste
17503 retten konnte. Von außen kommende fremde Schiffe wurden einfach
17504 durch einen ins Wasser abgegebenen Repulsitschuß zurückgetrieben.
17505 Tatsächlich gelangte außer den einheimischen, kleineren
17506 Fischerbooten, die man passieren ließ, kein Schiff mehr vom 6. März
17507 an nach der englischen Küste, keines gelangte ins Ausland.
17509 An diesem Tage ward die Macht Englands gebrochen. Die Flotte war
17510 vernichtet. Wut und Bestürzung herrschten im ganzen Land. In London
17511 war man ratlos. Niemand wußte, wie man sich gegen einen solchen
17512 Feind verhalten solle. Das Ministerium trat zurück, aber es fanden
17513 sich keine Nachfolger. Man wollte um Frieden bitten, aber die
17514 aufgeregte Volksstimme rief nach Rache. Endlich entschloß man sich,
17515 den Widerstand fortzusetzen, in der Hoffnung, daß sich Hilfe von
17516 auswärts finden werde oder daß man irgendein Mittel entdecke, die
17517 Blockade zu brechen. So vergingen Wochen, in denen man nichts
17518 hörte, als daß die Martier in diesem oder jenem Hafen noch ein
17519 armiertes Schiff entdeckt oder versenkt, daß sie hier eine Werft,
17520 dort ein Dock vernichtet hätten. Alle Versuche, den gesperrten
17521 Gürtel heimlich im Schutz der Nacht zu passieren, blieben
17522 vergeblich. Die Marsschiffe, einen Weg von hundert Kilometern in
17523 sieben bis acht Minuten durchsausend, beleuchteten mit ihren
17524 Scheinwerfern den gesperrten Streifen taghell, und ehe ein Schiff
17525 sich weit genug entfernen konnte, war es aufgefunden. Selbst der
17526 Nebel schützte nicht vor Entdeckung. Denn nach einigen Tagen hatten
17527 die Martier einen großen Teil der Küste mit einem dünnen,
17528 schwimmenden Kabel umzogen, dessen Berührung durch ein Schiff ihnen
17529 sofort die getroffene Stelle anzeigte. Und keine Nachricht von
17530 außen! Der Handel unterbrochen, alle Arbeiter, deren Beschäftigung
17531 von der Schiffahrt abhing, ohne Tätigkeit. Und schon begann die
17532 mangelnde Einfuhr der Lebensmittel in einer drückenden Erhöhung der
17533 Preise sich zu zeigen.
17535 England war aus der Welt gestrichen. Aber die Welt ging weiter.
17536 Neue Raumschiffe kamen an mit neuen Luftbooten. Diese gingen nicht
17537 zur Verstärkung der Blockade ab, sondern sie suchten die englischen
17538 Kriegsschiffe in den Kolonien auf und bedrohten sie mit
17539 Vernichtung, soweit nicht die Befehlshaber sich in den Dienst der
17540 Kolonien stellten. Letztere sahen sich plötzlich auf sich selbst
17541 angewiesen. Indien, Kanada, die australischen Kolonien und das
17542 Kapland erklärten sich für unabhängig und setzten selbständige
17543 Regierungen ein. Dasselbe tat Irland. Die Marsstaaten erkannten sie
17544 als souveräne und neutrale Staaten an, und so gewaltig war der
17545 Eindruck, den die Vernichtung der englischen Flotte auf der ganzen
17546 Erde gemacht hatte, daß kein Staat Einspruch gegen diese
17547 Veränderungen erhob. Keine Hand rührte sich für England. Die
17548 anderen Nationen beeilten sich vielmehr, die bisherigen
17549 Handelsgebiete Großbritanniens für sich zu sichern. Von den
17550 kleineren Kolonien zog jede Macht an sich, was sie zur Abrundung
17551 oder zur besseren Verbindung ihres Besitzes für nötig hielt. Die
17552 Beute war vorläufig so reich, daß man sich an diejenigen Gebiete
17553 noch nicht machte, die zu Streit unter den Erbteilern hätten Anlaß
17554 geben können. Im stillen verhandelten die europäischen Großmächte
17555 über eine Teilung des englischen Besitzes am Mittelmeer und eine
17556 Auflösung der Türkei.
17558 Jetzt erst ließen die Martier Zeitungen der auswärtigen Staaten
17559 nach England gelangen. Was man dort längst befürchtet hatte, war
17560 eingetroffen. Die Völker teilten sich in die englische Erbschaft,
17561 ohne sich viel darum zu bekümmern, ob der Erblasser wirklich tot
17562 sei. Das gab den Ausschlag. Die Furcht, auch das Letzte zu
17563 verlieren, bändigte den englischen Nationalstolz. Man bat um
17564 Frieden.
17566 Alles, was die Martier verlangt hatten, wurde zugestanden, nur den
17567 Kapitän Keswick und den Leutnant Prim konnte man nicht mehr
17568 bestrafen. Sie waren bei einem Versuch, die Blockade zu brechen,
17569 mit ihrem Schiff untergegangen, von den Martiern aber gerettet
17570 worden. Sie befanden sich als Gefangene bereits am Nordpol. Aber
17571 auch den gegenwärtigen Zustand in den Kolonien und die Abmachungen
17572 der Mächte über die Türkei mußte England anerkennen. Dafür
17573 erklärten die Marsstaaten, das nun wehrlose England gegen alle
17574 etwaigen weiteren Angriffe auf seinen nunmehrigen Bestand schützen
17575 zu wollen. England hatte einen Protektor. – –
17577 Nach einer durch ungeheuren Repulsitverbrauch beschleunigten Fahrt
17578 von nur siebzehn Tagen war Ill auf dem Nordpol der Erde
17579 eingetroffen. Am fünften April war der Präliminarfriede geschlossen
17580 und die Blockade aufgehoben worden.
17582 Aber nicht nur das gedemütigte England beugte sich dem Sieger, der
17583 unter den Kanonen von Portsmouth dreihundert Kriegsschiffe binnen
17584 drei Stunden durch ein halbes Dutzend Luftschiffe mit nur 144 Mann
17585 Besatzung vernichtet hatte. Was die Nachrichten über die hohe
17586 Kulturaufgabe der Martier nicht vermocht hatten, das Entgegenkommen
17587 der zivilisierten Erdstaaten zu gewinnen, das brachte die
17588 Bezwingung Englands durch Nihilit und Repulsit alsbald zustande. Es
17589 begann ein förmlicher Wetteifer der Regierungen, die Gunst des
17590 martischen Machthabers zu gewinnen, der aus dem reichen englischen
17591 Besitz Länder und Meere verschenkte. Die Marsstaaten waren unter
17592 dem Namen ›Polreich der Nume‹ nicht nur als ein Faktor im Rat der
17593 Großmächte anerkannt, sie nahmen bereits tatsächlich die führende
17594 Stellung ein. Unter dem Titel eines Präsidenten des Polreichs und
17595 Residenten von England und Schottland übte Ill die Regierungsgewalt
17596 im Auftrag der Marsstaaten aus. Alles dies war geschehen, ohne daß
17597 ein Martier sein Luftschiff verlassen hatte. In dem großen, in
17598 einem Park Londons auf weiter Wiesenfläche ruhenden Luftschiff
17599 empfing Ill die Minister Englands und die Gesandten der fremden
17600 Staaten. Es erregte daher trotz allem Ungewöhnlichen, das man im
17601 letzten Jahr erlebt hatte, nicht geringe Spannung und Befriedigung,
17602 daß der Präsident des Polreichs bei den Höfen und Regierungen in
17603 Berlin, Wien, Petersburg, Rom, Paris und Washington um einen
17604 persönlichen Empfang nachsuchen ließ. Es verlautete, daß sich daran
17605 die Einsetzung ständiger Botschafter in diesen Hauptstädten und ein
17606 von den Martiern einzurichtender regelmäßiger Luftschiffverkehr mit
17607 dem Pol anschließen werde. Im stillen hoffte man, daß das
17608 geheimnisvolle Grauen, welches die Personen der Martier für die
17609 Menschen umhüllte, verschwinden werde, sobald man Gelegenheit haben
17610 würde, sie außerhalb des Schutzes ihrer Luftschiffe unter der
17611 natürlichen Schwerkraft der Erde sich beugen zu sehen.
17613 Der einzige Mensch auf der Erde, der diese Hoffnung nicht teilte,
17614 war vielleicht Grunthe. Er war überzeugt, daß Ill diesen Schritt
17615 nicht getan hätte, wenn nicht die Martier zuvor ein Mittel entdeckt
17616 hätten, sich auch außerhalb ihrer Schiffe vom Druck ihres
17617 Körpergewichts zu befreien.
17619 \section{42 - Das Protektorat über die Erde}
17621 Torm bewohnte in Berlin zwei bequem eingerichtete Zimmer in einem
17622 Hotel garni der Königgrätzer Straße. Nach seiner Rückkehr war er
17623 überall der Held des Tages gewesen, den man nicht genug feiern
17624 konnte und um so mehr feierte, als Grunthe sich sehr geschickt von
17625 der Öffentlichkeit zurückzuziehen wußte. Seit der Ankunft der
17626 Martier in Australien und dem Ausbruch ihres Krieges mit England
17627 waren aber die beiden Polarforscher, deren Reise die eigentliche
17628 Veranlassung war, daß die Martier mit den Staaten der Erde in
17629 Verbindung traten, ziemlich in Vergessenheit geraten. Das
17630 öffentliche Interesse hatte sich jetzt wichtigeren Gegenständen
17631 zugewendet.
17633 Am 20. März, dem Tag nach der Ankunft Ills am Pol, hatte Torm zwei
17634 in Calais aufgegebene Depeschen erhalten, datiert aus Kla auf dem
17635 Mars, vom 2. März. Die erste enthielt nur die Worte: „Ich komme mit
17636 dem nächsten Raumschiff. Deine Isma.“
17638 Die zweite war von Saltner und besagte, daß Frau Torm und er selbst
17639 die Erlaubnis zur Heimreise erhalten hätten, da sie aber zum Abgang
17640 des Regierungsschiffes nicht mehr zurechtkommen könnten, erst mit
17641 dem nächsten Schiff reisen und daher vor Mitte April nicht bei ihm
17642 eintreffen würden. Auch Ell habe sich entschlossen, sie zu
17643 begleiten. Seitdem hatte Torm keine Nachricht mehr erhalten und
17644 konnte auch keine erwarten. Denn kein anderes Raumschiff als der
17645 ›Glo‹ legte, wie Grunthe erklärte, bei der jetzigen
17646 Planetenentfernung den Weg unter fünf Wochen zurück.
17648 Heute schrieb man den 12. April. Es war ein Festtag in Berlin, das
17649 in verschwenderischem Schmuck prangte. Die Gesandtschaft des Mars
17650 sollte vom Kaiser empfangen werden. Unter Glockengeläut und
17651 Kanonendonner drängte sich eine jubelnde Menge in den Straßen. In
17652 goldigem Eigenlicht wie die Morgenröte strahlend, mit nie gesehenen
17653 Verzierungen geschmückt, bewegte sich ein glänzender Zug kleiner
17654 Luftgondeln, in Mannshöhe über dem Boden schwebend, durch die
17655 Straßen; von den Fenstern aus überschütteten die Damen den Zug,
17656 trotz der frühen Jahreszeit, mit kostbaren Blumen. Brausende
17657 Hurrarufe betäubten das empfindliche Ohr der Martier.
17659 Torm hatte seinen Platz auf der Tribüne im Lustgarten nicht
17660 benutzt. Ihm waren diese Martier verhaßt. Hatten sie ihm doch den
17661 Haupterfolg seiner Expedition und nun auch die Freude der Heimkehr
17662 ins eigene Haus geraubt. Unruhig ging er in seinem Zimmer auf und
17663 ab. Es klopfte, und Grunthe trat ein.
17665 „Sie sind auch nicht draußen bei den Narren, ich dachte es mir“,
17666 empfing ihn Torm.
17668 Grunthe runzelte die Stirn und blickte finster vor sich hin.
17670 „Es ist eine Schmach“, sagte er, „die Menge bejubelt ihre
17671 Unterdrücker. Aber das tut sie immer. Morgen wird sie ebenso in
17672 Paris, übermorgen in Rom jubeln, und noch viel ärger. Wenn man das
17673 sieht, so kann man nur sagen, diese Menschen verdienen es nicht
17674 besser, als von den Martiern vernichtet zu werden. Sie werfen sich
17675 ihnen zu Füßen, und so werden sie als Mittel ihrer Zwecke zertreten
17676 werden.“
17678 Torm zuckte die Achseln. „Was sollen sie tun? Nihilit ist kein
17679 Spaß.“
17681 „Und ich sage Ihnen“, entgegnete Grunthe fast heftig, „kein Martier
17682 vermag den Griff des Nihilitapparates zu drehen, keiner einem
17683 Menschen seinen Willen aufzuzwingen, wenn ihm der Mensch mit
17684 festem, sittlichem Willen gegenübertritt, mit einem Willen, in dem
17685 nichts ist als die reine Richtung auf das Gute. Aber jene Engländer
17686 – und wir sind nicht besser – hatten nur das eigene Interesse,
17687 ihren spezifisch nationalen Vorteil, nicht aber die Würde der
17688 Menschheit im Auge, und so sind sie Wachs in den Händen der
17689 Martier. Sie können mir glauben, denn ich habe jenem Ill getrotzt,
17690 vor dem jetzt Kaiser und Könige sich neigen. Ich weiß es freilich,
17691 daß wir verloren sind. Ich habe Ill gesehen, wie er mit seinen
17692 Martiern nur einige Schritte durch den Garten der Sternwarte von
17693 Friedau schlich, auf Krücken gestützt und zusammenbrechend unter
17694 der Erdschwere. Und ich habe ihn heute gesehen, durch den Garten
17695 des Kanzlerpalais schreitend, aufgerichtet wie ein Fürst, im
17696 schimmernden Panzerkleid; unter den Knien schützten ihn weit nach
17697 den Seiten ausgebogene Schäfte und über dem Haupt, auf kaum
17698 sichtbaren Stäben, von der Schulter gestützt, der glänzende
17699 diabarische Glockenschirm gegen die Schwere. So haben sie es
17700 verstanden, sich von dem Druck der Erde unabhängig zu machen. Aber
17701 dies alles würde ihnen nichts nützen, wenn wir selbst wüßten, was
17702 wir wollen.“
17704 Auf der Treppe entstand Lärm. Man vernahm eine helle Stimme.
17706 „Sakri, lassens mich los! Ich kenn’ mich schon aus.“
17708 „Das ist Saltner“, rief Torm. Er stürzte zur Tür. Sie flog auf.
17710 „Da bin ich halt wieder! Grüß Gott viel tausendmal!“
17712 Er schüttelte beiden die Hände.
17714 „Und meine Frau?“ war Torms erste Frage.
17716 „Machens sich keine Sorge!“ sagte Saltner. „Die Frau Gemahlin wird
17717 bald nachkommen, es geht ja jetzt alle paar Tage ein Schiff nach
17718 der Erde.“
17720 „So ist sie nicht mitgekommen?“ rief Torm erbleichend.
17722 „Sie hat halt nicht gekonnt. Sie ist ein bisserl bettlägrig, aber
17723 ’s hat weiter nichts auf sich, nur daß sie der Doktor nicht gerad
17724 wollt’ reisen lassen.“
17726 „So hat sie geschrieben?“
17728 „Schreiben konnte sie nicht. Aber grüßen tut sie gewiß vielmals.“
17730 „So haben Sie sie gar nicht gesprochen?“
17732 „Das war mir gerad in den Tagen nicht möglich, weil sie noch zu
17733 schwach war. Aber der Doktor sagt, sie wird bald soweit sein, daß
17734 sie reisen kann. Sie brauchen sich wirklich nicht zu ängstigen.“
17736 Torm setzte sich.
17738 „Und Ell?“ fragte er finster. „Wo ist Ell?“
17740 „Er ist zurückgeblieben, bis die Frau Gemahlin reisen kann. Er
17741 wollte sie nicht allein lassen. Es ist vielleicht unrecht, daß ich
17742 allein gereist bin und nicht gewartet hab. Aber schauen Sie, die
17743 Sehnsucht, und dann dacht’ ich, es wär doch besser, ich brächte
17744 Ihnen selbst die Auskunft, als daß wir bloß schreiben sollten.“
17746 „Es ist recht, daß Sie kamen“, sagte Torm, sich erhebend,
17747 „verzeihen Sie, daß ich zuerst an mich dachte, ich habe Ihnen ja
17748 soviel und herzlich zu danken. Und jetzt komme ich sogleich wieder
17749 mit einer Bitte. Sie sollen mir einen Platz auf dem nächsten
17750 Raumschiff erwirken, ich will nach dem Mars!“
17752 Saltner und Grunthe blickten ihn erstaunt an.
17754 „Das werden Sie doch nicht tun!“ rief Saltner. „Sie würden sich mit
17755 der Frau Gemahlin verfehlen.“
17757 „Das werde ich nicht. Ill ist hier. Grunthe wird mir die Bitte
17758 nicht verweigern, er wird mit ihm sprechen, uns eine Lichtdepesche
17759 zu gewähren. Wir werden erfahren, ob Isma noch dort ist, wir werden
17760 uns verständigen. Und wenn ihre Krankheit noch anhält, so werde ich
17761 reisen. Ich werde.“
17763 „Das Reisen läßt sich schon machen. Ich bin jetzt mit der
17764 Gesandtschaft, das heißt heute im Nachtrab, angekommen, daher weiß
17765 ich’s. Von jetzt ab geht alle Wochen ein Luftschiff von hier nach
17766 dem Pol, und von dort an jedem 15. des Monats ein Raumschiff nach
17767 dem Mars, das Menschen als Passagiere mitnimmt. Man will den
17768 Planetenverkehr eröffnen. Es kostet hin inklusive Verpflegung bloß
17769 500 Thekel – 5.000 Mark wollte ich sagen.“
17771 Torm sah ihn verwundert an. „Bloß?“ fragte er.
17773 „Ja, wir haben Geld. Fünftausend Mark sind die Währungseinheit.“
17775 Torm ergriff seine Hand. „Setzen Sie sich erst und erzählen Sie
17776 dann.“
17778 Saltner nahm Platz und begann zu sprechen. Grunthe fragte mitunter
17779 dazwischen. Torm aber hörte nur halb, seine Gedanken waren auf dem
17780 Mars. Sie war krank! Und immer wieder kam ihm die Frage, wie konnte
17781 Saltner dessen sicher sein? War sie auch wirklich krank? Und wenn
17782 sie nicht krank war?
17784 „Ich muß reisen!“ rief er plötzlich.
17786 „Nun, nun“, sagte Saltner beruhigend. „Im Moment können Sie nichts
17787 tun. Ill ist jetzt gerade im Schloß.“
17789 Torm sank auf seinen Platz zurück.
17791 Erneuter Kanonendonner verkündete, daß sich der Kaiser neben dem
17792 Präsidenten des Polreichs vor dem jubelnden Volk zeigte.
17794 Grunthe stand auf und schloß das Fenster.
17798 Isma lag bleich und angegriffen auf ihrem Sofa. Langsam genas sie
17799 von der schweren nervösen Krankheit, die sie unter dem
17800 Zusammenwirken der ungewohnten Lebensverhältnisse und der
17801 seelischen Aufregungen ergriffen hatte.
17803 Hil trat bei ihr ein.
17805 „Wann kann ich reisen?“ war, wie immer, ihre erste Frage.
17807 „Nun, nun“, sagte er, „sobald wir kräftig genug sind.“
17809 „Ach, Hil, das sagen Sie nun schon seit vierzehn Tagen. Lassen Sie
17810 es mich doch versuchen!“
17812 „Erst müssen wir einmal einen Versuch machen, wie es Ihnen bekommt,
17813 wenn Sie hier in Ihrem Zimmer anfangen, wieder ein wenig mit der
17814 Welt zu verkehren. Es wartet da schon lange einer, der Sie gern
17815 einmal sprechen und sehen möchte, aber ich habe bis jetzt nicht
17816 erlaubt –“
17818 „Und heute darf er kommen, ja?“ unterbrach ihn Isma lebhaft.
17820 Hil lächelte. „Es ist ein gutes Zeichen, daß Sie selbst danach
17821 verlangen. Aber hübsch ruhig, Frau Isma, und höchstens ein
17822 Viertelstündchen! So will ich es ihm sagen lassen.“
17824 Er verabschiedete sich.
17826 Es dauerte nur wenige Minuten, bis Ell eintrat.
17828 Eine leichte Blutwelle drängte sich in Ismas Wangen, als sie ihm
17829 langsam die schlanke Hand entgegenstreckte, die er leidenschaftlich
17830 küßte. Lange hielt er die Hand fest, bis sie sie ihm sanft entzog.
17832 „Sie sind schon lange zurück?“ sagte sie endlich verlegen.
17834 „Auf die Nachricht, daß Sie reisen dürften, kam ich hierher. Ich
17835 hätte Sie nicht allein reisen lassen, obwohl – doch sprechen wir
17836 von Ihnen. Ich fand Sie erkrankt. Es war unmöglich, Sie
17837 wiederzusehen.“
17839 „Und Sie sind mir nicht mehr böse?“
17841 „Isma!“
17843 „Ich habe es eingesehen, ich war ungerecht gegen Sie. Und ich war
17844 doch schuld, daß Sie Ihren Posten auf der Erde verließen –“
17846 „Sie wollten das Beste. Ich aber habe eine Schuld auf mich geladen
17847 – und ich werde sie büßen müssen. Jetzt ist für mich auf der Erde
17848 nichts mehr zu tun, aber die Zeit wird wieder kommen. Dann soll es
17849 nicht an mir fehlen.“
17851 „Und Sie wollen mich begleiten?“
17853 „Wenn Sie reisen dürfen. Aber –“
17855 „Was haben Sie, Ell? Seien Sie aufrichtig, ich beschwöre Sie –
17856 sagen Sie mir die Wahrheit! Sie glauben, ich werde nie wieder –“
17858 „Um Gottes willen, Isma, wenn Sie so sprechen, darf ich nicht
17859 hierbleiben. Sie dürfen sich nicht erregen. Sicherlich ist Ihr
17860 Gesundheitszustand in kurzer Zeit so vorgeschritten, daß Sie die
17861 Reise antreten dürfen. Nein, ich dachte nur an Verzögerungen, die
17862 möglicherweise aus anderen Gründen eintreten könnten, falls sich
17863 der Antritt der Reise nicht bald ermöglichen läßt –“
17865 „Verbergen Sie mir nichts. Man sagt mir sehr wenig von der Erde.
17866 Ich denke, Ill ist mit so großartigem Jubel in Berlin aufgenommen
17867 worden. Und mein Mann ist gesund –“
17869 „Darüber können Sie beruhigt sein. Ich darf Ihnen noch mehr sagen,
17870 Hil hat es jetzt erlaubt. Sollten Sie aus irgendeinem Grund an der
17871 Reise verhindert sein, so werden Sie Ihren Mann doch bald
17872 wiedersehen. Er ist an der Nordpolstation und erwartet dort die
17873 Nachricht, ob Sie kommen oder ob er nach dem Mars reisen soll.“
17875 „Nach dem Mars will er kommen! Und das wissen Sie? Und ich –?“
17877 „Briefe können noch nicht hier sein. Es kam nur eine Lichtdepesche
17878 von Ill. Aber Hil wollte Sie mit der Nachricht nicht aufregen – nun
17879 seien Sie auch vernünftig und zeigen Sie, daß Sie die Probe
17880 bestehen und uns nicht wieder kränker werden.“
17882 „Er will kommen! Aber wozu? Ich möchte doch lieber nach der Erde!“
17884 „Das sollen Sie ja auch. Nur für den Fall –“
17886 „Was für einen Fall?“
17888 „Wenn zum Beispiel die Verhältnisse auf der Erde in der nächsten
17889 Zeit sehr unruhig werden sollten –“
17891 „Ich denke, alles ist jetzt friedlich.“
17893 „Die letzten Nachrichten sind weniger erfreulich.“
17895 „Erzählen Sie, schnell! Unsre Viertelstunde ist bald um.“
17897 „Die Mächte sind in Streit geraten. Was soll ich Sie mit den
17898 politischen Einzelheiten ermüden, die ich selbst nur mangelhaft
17899 hier kenne, weil bisher erst Lichtdepeschen hergelangt sind. Es ist
17900 der Streit um die englische Erbschaft. Frankreich und Italien,
17901 Deutschland und Frankreich, Österreich und Rußland rechten um ihre
17902 Grenzen im Kolonialbesitz in Afrika, Asien und der Türkei. Am
17903 Mittelmeer gibt es kaum einen Punkt, über den man sich einigen
17904 kann. England ist ohnmächtig, die Marsstaaten schützen es in
17905 einigen Punkten, und gerade diese möchten die andern haben. Die
17906 Staaten rüsten gegeneinander, schon sind an den Kolonialgrenzen
17907 Schüsse gefallen, man muß darauf gefaßt sein, daß ein Weltkrieg
17908 ausbricht. Dies werden die Martier auf keinen Fall zugeben, und so
17909 steht zu befürchten, daß wir zu neuen Gewaltmaßregeln gegen die
17910 Menschen, diesmal auch gegen Deutschland, getrieben werden. Deshalb
17911 wäre es gut, wenn Sie bald reisen könnten, ehe vielleicht wieder
17912 eine Sperrung eintritt. Auf jeden Fall aber würde Torm
17913 hierherkommen dürfen. Das hat Ill ihm zugesichert.“
17915 Isma schüttelte den Kopf. „Was Sie da alles sagen, verwirrt mich,
17916 ängstigt mich –“ Und nach kurzem Schweigen fuhr sie fort: „Aber ich
17917 will gesund sein! Ich will gar nicht darüber nachdenken. Ich fühle,
17918 daß ich Ruhe brauche. Ich danke Ihnen herzlich, Ell, daß Sie
17919 gekommen sind. Nun weiß ich doch wieder, daß ich nicht verlassen
17920 bin.“
17922 Sie reichte ihm die Hand.
17924 „Leben Sie wohl, Isma. Sie können ganz ruhig sein. Sie werden bald
17925 gesund sein.“
17927 Er sah sie an mit den alten, treuen Augen und ging. Sie lächelte
17928 müde und lehnte sich zurück. Die Lider fielen ihr zu.
17930 „Ich will gesund sein“, dachte sie. Aber sie hörte schon nicht
17931 mehr, daß Hil bei ihr eintrat und sie teilnahmsvoll betrachtete.
17935 Eine Woche später, es war ein herrlicher Maitag, tobte eine
17936 aufgeregte Volksmenge in den Straßen der europäischen Städte.
17937 Überall hörte man Beschimpfungen der Martier. Wo man vor vier
17938 Wochen gejubelt hatte und Hurra geschrien, ertönte jetzt: „Nieder
17939 mit dem Mars!“ Die Geschäfte mit Marsartikeln, die wie Pilze in die
17940 Höhe geschossen waren, sahen sich genötigt, ihre Läden zu
17941 schließen. „Nieder mit den Glockenjungens“, hieß es in Berlin, wo
17942 man die Martier ihrer diabarischen Helme wegen mit diesem
17943 geschmackvollen Titel beehrte. Die Menge demonstrierte vor dem
17944 Gebäude, das die Marsstaaten für ihre Botschaft gemietet hatten.
17945 Auf dem flachen Dach ruhten die Luftschiffe, bereit, in der
17946 nächsten Stunde die Hauptstadt zu verlassen.
17948 Aber nicht weniger erregt, vielmehr erfüllt von einem heiligen
17949 Zorn, war die Stimmung auf dem Mars. Die Nachricht von einem
17950 ungeheuren Blutvergießen der Menschen untereinander war angelangt.
17951 In der Türkei und in Kleinasien, wo man hauptsächlich nur aus
17952 Furcht vor England sich soweit im Zaume gehalten hatte, daß die
17953 europäischen Fremden sich sicher fühlen durften, war jetzt diese
17954 Schranke gefallen. Der mohammedanische Fanatismus flutete über. Auf
17955 einen heimlichen Wink der türkischen Regierung erhoben sich die
17956 Massen. Ein entsetzliches Gemetzel begann gegen die Christen. Die
17957 Gebäude der Botschaften wurden erstürmt, Männer, Kinder und Frauen
17958 binnen einer Nacht in gräßlicher Weise gemordet. Und furchtbar war
17959 die Rache. So weit die Kanonen der fremden Kriegsschiffe reichten,
17960 wurden am andern Tag die blühenden Küsten, Paläste und Moscheen
17961 Konstantinopels in Trümmerhaufen verwandelt. Und nicht genug damit.
17962 Zwischen den europäischen Staaten selbst entbrannte die Eifersucht,
17963 wer die Trümmer mit seinen Truppen besetzen sollte. Der Krieg war
17964 so gut wie ausgebrochen, ehe er formell erklärt war.
17966 Tiefe Empörung ergriff die Bevölkerung der Marsstaaten. Der
17967 Antibatismus gewann die Oberhand. Das Parlament forderte von der
17968 Regierung die sofortige Unterdrückung der Greuel und die
17969 Herstellung des Friedenszustandes auf der Erde. Am 12. Mai beschloß
17970 das Parlament unter Zustimmung des Zentralrats folgendes:
17972 „Da die Menschen nicht fähig sind, aus eigener Macht unter sich
17973 einen friedlichen Kulturzustand zu erhalten, sieht sich die
17974 Regierung der Marsstaaten gezwungen, hiermit das \emph{Protektorat über
17975 die gesamte Erde} zu erklären und jede politische Aktion der
17976 Erdstaaten untereinander, ohne vorherige Zustimmung der
17977 Marsstaaten, zu verbieten. Der Präsident des Polreichs der Nume auf
17978 der Erde wird beauftragt und bevollmächtigt, alle Maßregeln sofort
17979 anzuordnen, die er für notwendig erachtet, um dem ausgesprochenen
17980 Willen der Marsstaaten auf der Erde, und zwar zunächst in Europa,
17981 Geltung zu verschaffen.“
17983 Es war dieser Beschluß der Marsstaaten und die von Ill hinzugefügte
17984 Erklärung, wodurch die Bevölkerung aller zivilisierten Staaten in
17985 so außerordentliche Aufregung geraten war. Die Mitteilung an die
17986 Regierungen war gleichzeitig in Form einer Bekanntmachung in den
17987 europäischen Staaten von den Martiern verbreitet worden. Man zerriß
17988 jetzt die Blätter, die sie enthielten, man entfernte die Plakate
17989 von den Häusern. Die Bekanntmachung lautete folgendermaßen:
17991 „Indem ich den vorstehenden Beschluß der Marsstaaten zur
17992 allgemeinen Kenntnis bringe, übernehme ich mit dem heutigen Tage in
17993 ihrem Namen die Schutzherrschaft über alle Staaten der Erde und
17994 bestimme wie folgt:
17996 Alle Regierungen und Nationen werden bis auf weiteres in ihren
17997 verfassungsmäßigen Rechten bestätigt und sind in ihren inneren
17998 Angelegenheiten frei, mit Ausnahme der unten angegebenen Bestimmung
17999 über das Heerwesen.
18001 Alle internationalen Verträge und Kundgebungen bedürfen zu ihrer
18002 Gültigkeit der durch mich zu vollziehenden Bestätigung der
18003 Marsstaaten.
18005 Alle Kriegsrüstungen sind verboten. Die von den europäischen
18006 Regierungen ausgegebenen Mobilisierungsbefehle sind aufzuheben. Die
18007 Friedenspräsenzstärke ihrer Heere wird auf die Hälfte der
18008 bisherigen herabgesetzt. Die Hauptwaffenplätze werden unter
18009 Oberaufsicht eines von mir zu ernennenden Beamten gestellt.
18011 Alle Regierungen werden eingeladen, bevollmächtigte Vertreter zu
18012 der Weltfriedenskonferenz zu entsenden, die am 30. Mai unter meinem
18013 Vorsitz am Nordpol der Erde wird eröffnet werden.
18015 Von der Bevölkerung der Erde erwarte ich, daß sie die Bemühungen
18016 der Marsstaaten, ihr die vollen Segnungen des Friedens und der
18017 Kultur zu bringen, mit allen Kräften unterstützen wird.
18019 Gegeben am Nordpol der Erde, den 15. Mai
18020 \begin{center}
18021 Ill,\\ \small
18022 Präsident des Polreichs der Nume.\\
18023 Bevollmächtigter Protektor der Erde.“
18024 \end{center}
18026 Mit klingendem Spiel und von der Menge mit Hochrufen begrüßt
18027 rückten zwei Kompagnien der Garde vor das Gebäude der Botschaft der
18028 Marsstaaten, um dasselbe gegen etwaige Übergriffe der aufgeregten
18029 Bevölkerung zu schützen. Ein Adjutant begab sich in das Haus, um
18030 dem Botschafter zu melden, daß die Regierung Seiner Majestät dem
18031 Präsidenten des Polreichs nach dem bereits telegraphisch
18032 übermittelten Protest nichts weiter mitzuteilen habe.
18034 Eine Viertelstunde später erhoben sich die Luftschiffe der Martier
18035 und richteten unter dem tobenden Gejohle der Menge ihren Flug nach
18036 Norden.
18038 \section{43 - Die Besiegten}
18040 Es war an einem regnerischen Augustabend des Jahres, das auf die
18041 tumultuarische Abreise der Gesandtschaft der Marsstaaten aus Berlin
18042 gefolgt war, als ein Mann, in einen Reisemantel gehüllt, hastig die
18043 menschenleere Straße hinaufstieg, die nach der Sternwarte in
18044 Friedau führte. Ein dichter Bart und der tief ins Gesicht gerückte
18045 Hut ließen wenig von seinen Zügen erkennen. Hin und wieder warf er
18046 aus scharfen Augen einen scheuen Blick nach der Seite, als
18047 fürchtete er, beobachtet zu werden. Aber niemand bemerkte ihn. Die
18048 Laternen waren noch nicht angezündet, und der leise niederrieselnde
18049 Regen verschluckte das letzte Licht der Dämmerung.
18051 Je näher der Fremde dem eisernen Gittertor der Sternwarte kam, um
18052 so mehr verzögerte sich sein Schritt, als suche er einen Augenblick
18053 hinauszuschieben, den er noch eben so eilig erstrebte. Vor dem Tor
18054 stand er eine Weile still. Er spähte nach den dunkeln Fenstern des
18055 Gebäudes. Er nahm den Hut ab und trocknete die Stirn. Sein Gesicht
18056 war tief gebräunt und trug die Spuren harter Entbehrungen und
18057 schwerer Sorgen, die ihm das Haar gebleicht hatten. Mit einem
18058 plötzlichen Entschluß zog er die Klingel.
18060 Es dauerte lange, ehe sich ein Schritt hören ließ. Ein junger
18061 Hausbursche öffnete die Tür.
18063 „Ist der Herr Direktor zu sprechen?“ fragte der Fremde mit tiefer
18064 Stimme.
18066 „Der Herr Doktor Grunthe ist ausgegangen“, antwortete der Diener.
18067 „Aber um halb neun kommt er wieder.“
18069 „Ist denn Herr Dr. Ell nicht mehr hier?“
18071 „Den kenne ich nicht. Oder – Sie meinen doch nicht etwa – aber das
18072 wissen Sie ja –“
18074 „Ich meine den Herrn Dr. Ell, der die Sternwarte gebaut hat.“
18076 „Ja – der Herr Kultor residieren doch in Berlin –“
18078 Der Fremde schüttelte den Kopf. „Ich werde in einer Stunde
18079 wiederkommen“, sagte er dann kurz.
18081 Er wandte sich um und ging. Der Herr Kultor? Was sollte das heißen?
18082 Er wußte es nicht. Gleichviel, er würde ihn finden. Also Grunthe
18083 war hier. Das war ihm lieb, bei ihm konnte er Auskunft erhalten.
18084 Aber wohin inzwischen?
18086 Einige Häuser weiter, in einem Nebengäßchen, leuchtete eine rote
18087 Laterne. Er fühlte das Bedürfnis nach Speise und Trank. Er wußte,
18088 die Laterne bezeichnete ein untergeordnetes Vorstadtlokal; von den
18089 Gästen, die dort verkehrten, kannte ihn gewiß niemand, würde ihn
18090 niemand wiedererkennen. Dorthin durfte er sich wagen.
18092 Er trat ein und nahm in einer Ecke Platz. Das Zimmer war fast leer.
18093 Er bestellte sich etwas zu essen.
18095 „Wünschen Sie gewachsen oder chemisch?“ fragte der Wirt.
18097 „Was ist das für ein Unterschied?“
18099 Der Wirt sah den Fremden erstaunt an. Dieser bedauerte seine Frage,
18100 da er sah, daß er dadurch auffiel, und sagte schnell: „Geben Sie
18101 mir nur, was das Beste ist.“
18103 „Das ist Geschmackssache“, sagte der Wirt. „Das Gewachsene ist
18104 teurer, aber wer nicht für das Neue ist, zieht es doch vor.“
18106 „Was essen Sie denn?“ fragte der Fremde.
18108 „Immer chemisch, ich habe eine große Familie. Und – es schmeckt
18109 auch besser. Aber, wissen Sie, man will es mit keinem verderben –
18110 und das Gewachsene gilt für patriotischer. Ich habe sehr
18111 patriotische Gäste.“
18113 „Vor allen Dingen bringen Sie mir etwas, ich habe nicht viel Zeit.
18114 Also chemisch.“
18116 „Kohlenwurst, Retortenbraten, Mineralbutter, Kunstbrot, alles
18117 modern, aus der besten Fabrik, à la Nume.“
18119 „Was Sie wollen, nur schnell.“
18121 Der Wirt verschwand, und der Fremde griff eifrig nach einer
18122 Zeitung, die auf dem Nebentisch lag. Es war das ›Friedauer
18123 Intelligenzblatt‹. Mit einer plötzlichen Regung des Ekels wollte er
18124 das Blatt wieder beiseite schieben, aber er überwand sich und
18125 begann zu lesen. Zufällig haftete sein Blick auf ›Gerichtliches‹.
18127 „Wegen mangelhaften Besuchs der Fortbildungsschule für Erwachsene
18128 wurden achtundzwanzig Personen mit Geldstrafen belegt; eine Person
18129 wurde wegen dauernder Versäumnis dem psychologischen Laboratorium
18130 auf sechs Tage überwiesen. Dem psychophysischen Laboratorium wurden
18131 auf je einen Tag überwiesen: drei Personen wegen Bettelns, eine
18132 Person wegen Tierquälerei, fünf Personen wegen Klavierspielens auf
18133 ungedämpften Instrumenten. Die Klaviere wurden eingezogen. Der
18134 ehemalige Leutnant v. Keltiz, welcher seinen Gegner im Duell
18135 verwundete, wurde zu zehnjähriger Dienstleistung in Kamerun, die
18136 beiden Kartellträger zu einjähriger Deportation nach Neu-Guinea
18137 verurteilt. Allen wurden die bürgerlichen Ehrenrechte aberkannt.
18138 Der vom Schwurgericht zum Tode verurteilte Raubmörder Schlack wurde
18139 zu zehnjähriger Zwangsarbeit in den Strahlenfeldern von Tibet
18140 begnadigt.“
18142 Kopfschüttelnd sah der Fremde nach einer andern Stelle und las:
18143 „Die Petition, welche mit mehreren tausend Unterschriften aus
18144 Friedau an den Verkehrsminister gerichtet war und die Bitte
18145 aussprach, unserer Stadt eine Haltestelle für das Luftschiff
18146 Nordpol-Rom zu gewähren, hat wieder keine Beachtung gefunden.
18147 Unsere Leser wissen wohl, warum unsere Stadt bei gewissen
18148 einflußreichen Numen schlecht angeschrieben steht. Wir werden uns
18149 trotzdem nicht abhalten lassen, immer wieder darauf hinzuweisen,
18150 daß das rätselhafte Verschwinden unseres großen Mitbürgers und
18151 Ehrenbürgers Torm im Mai vorigen Jahres noch immer nicht aufgeklärt
18152 worden ist, wie unangenehm die Erinnerung daran auch für manche
18153 sein mag.“
18155 Das Blatt zitterte in der Hand des Fremden. Seine Augen überflogen
18156 noch einmal die Stelle. Da trat der Wirt mit den Speisen herein.
18157 Der Gast legte die Zeitung möglichst unbefangen beiseite.
18159 „Der Retortenbraten ist leider ausgegangen“, sagte der Wirt. „Aber
18160 die Kohlenwurst ist zu empfehlen, von richtiger Friedauer
18161 Schweinewurst gar nicht zu unterscheiden. Bestes Mineralfett darin,
18162 nicht etwa Petroleum, die Kohle ist aus atmosphärischer Kohlensäure
18163 gezogen, der Wasserstoff aus Quellwasser, der Stickstoff ist
18164 vollständig argonfrei, die Zellbildung nach neuester martischer
18165 Methode im organischen Wachstumsapparat hergestellt mit absoluter
18166 Verdaulichkeit –“
18168 „Es ist wirklich sehr gut“, sagte der Gast, mit großem Appetit
18169 essend. „Aber wo haben Sie denn Ihre Chemie her?“
18171 „Ich? Was meinen Sie denn? Muß ich nicht jeden Tag zwei Stunden in
18172 der Fortbildungsschule sitzen? Denken Sie, ich gehe nur hin, um
18173 meine zwei Mark Lern-Entschädigung einzustreichen? Da war neulich
18174 einmal so ein König oder Herzog vom Mars hier durchgereist, der
18175 sich die Erde beschauen wollte, der wollte mich durchaus als
18176 chemischen Küchenchef mitnehmen, habe es aber abgeschlagen, weil es
18177 auf dem Mars keine Hühner gibt. Und ein richtiges Rührei, das ist
18178 das einzige Erdengut, wovon ich mich nicht trennen kann. Soll ich
18179 Ihnen vielleicht eins machen lassen?“
18181 „Ich danke, geben Sie mir noch ein Glas Bier.“
18183 „Sofort. Nicht wahr, das ist fein? Das exportieren wir sogar nach
18184 dem Mars. So was haben sie dort noch gar nicht gekannt, wie das
18185 Friedauer Batenbräu.“
18187 „Verkehren denn auch Martier bei Ihnen?“
18189 „Nume meinen Sie? Oh, ich könnte sie schon aufnehmen, habe ein paar
18190 Extrazimmer. Gewiß verkehren sie hier, ich meine, sie werden noch
18191 verkehren, ich werde auf dem Mars annoncieren lassen. Fritz, noch
18192 ein Bier für den Herrn! Das ist mein Oberkellner. Ist so vornehm
18193 daß er erst abends um acht Uhr antritt. Sie werden gleich sehen,
18194 wie voll mein Lokal wird, jetzt ist nämlich die Fortbildungsschule
18195 aus, dann kommen die Herren hierher.“
18197 „Wo ist denn die Fortbildungsschule?“
18199 „Die Kaserne ist gleich nebenan, in der nächsten Straße.“
18201 „Das weiß ich, aber die Schule?“
18203 Der Wirt machte wieder ein erstauntes Gesicht. „Entschuldigen Sie“,
18204 sagte er, „sind Sie denn nicht aus Europa? Dann müßten Sie doch
18205 wissen, daß die Kasernen so ziemlich alle in Schulen umgewandelt
18206 sind?“
18208 „Ich war allerdings zwei Jahre verreist, in China und Indien –“
18210 „Zwei Jahre! Ei, da wissen Sie wohl gar nicht –. Militär haben wir
18211 ja nicht mehr, bis auf fünf Prozent der früheren Präsenzstärke.
18212 Dafür bekommt jeder eine Mark pro Stunde, die er in der
18213 Fortbildungsschule sitzt. Ich sage Ihnen, gelehrt sind wir schon,
18214 das ist kolossal. Nächstens gebe ich ein philosophisches Buch
18215 heraus, auf das will ich Stadtrat werden, oder vielleicht
18216 Regierungsrat. Nämlich wegen der Schwerkraft. Auf dem Mars ist doch
18217 alles leichter. Nun schlage ich vor, wenn man schwer von Begriffen
18218 ist, so geht man auf den Mars, und dort – ah, guten Abend, Herr von
18219 Schnabel, guten Abend, Herr Doktor, guten Abend, Herr Direktor –,
18220 entschuldigen Sie, ich will nur die Herren bedienen –“
18222 Der Wirt wandte sich zu den eingetretenen Gästen, die sich an ihren
18223 Stammtisch setzten.
18225 Der Fremde hatte seine Mahlzeit beendet. Er sah nach der Uhr, es
18226 war noch zu früh, um Grunthe zu treffen. Er rückte sich tiefer in
18227 die Ecke, blickte in die Zeitung und wandte den Gästen den Rücken
18228 zu. Sie waren ihm bekannt. Seltsam, dachte er im stillen, während
18229 er, scheinbar in seine Lektüre vertieft, auf ihre Stimmen hörte,
18230 wie kommen die Leute in diese Vorstadtkneipe? Früher hatten sie
18231 ihren Stammtisch im ›Fürst Karl Sigmund‹, dieser Schnabel führte da
18232 das große Wort. Er scheint auch jetzt wieder zu schimpfen.
18234 Die halblauten Stimmen der Stammgäste waren deutlich vernehmbar,
18235 insbesondere das hohe, quetschige Organ Schnabels.
18237 „Haben Sie wieder den Knicks von der Warsolska gesehen“, sagte
18238 Schnabel, „wie der Kerl, der Dor, rausging? Und wie die Anton die
18239 Augen verdrehte? Und die haben am allermeisten geschimpft, als die
18240 ersten Instruktoren herkamen. Und jetzt fletschen sie vor Vergnügen
18241 die Mäuler.“
18243 „Und bei Ihnen war’s umgekehrt, lieber Schnabel“, sagte Doktor
18244 Wagner, mit einem Auge blinzelnd. „Jetzt schimpfen Sie, aber ich
18245 kenne einen, der an den ersten Instruktor Wol einen großen
18246 Rosenkorb geschickt hat mit den schönen Versen:
18248 \begin{verse}
18249 Sei mir gegrüßt, erhabner Nume,\\
18250 Dich kränzet zu der Erde Ruhme\\
18251 Ein Bat mit seiner schönsten Blume –“
18252 \end{verse}
18254 „Ach, hören Sie auf“, rief Schnabel ärgerlich. „ich hatte mir die
18255 Geschichte anders gedacht. Ich bin von den Numen enttäuscht worden
18256 –“
18258 „Und die Warsolska ist wahrscheinlich nicht enttäuscht worden.“
18260 „Die verdammten Kerle. Aber die Anton ist doch eigentlich über die
18261 Jahre hinaus –“
18263 „Pst! meine Herren, Vorsicht!“ sagte der Fabrikbesitzer Pellinger,
18264 den der Wirt mit Herr Direktor angeredet hatte. „Das Klatschgesetz
18265 ist bereits in erster Lesung angenommen. § 1: Wer unberufenerweise
18266 das Privatleben abwesender Personen beurteilt, wird mit
18267 psychologischem Laboratorium nicht unter zwölf Tagen bestraft.“ Und
18268 sein kahles Haupt über den Tisch beugend, richtete er seine
18269 schwarzen Augen auf Schnabel und fuhr fort: „Wie sagt doch der
18270 Dichter?
18272 \begin{verse}
18273 Denn herrlicher als Kant und Hume\\
18274 Hebt uns die Weisheit hoher Nume\\
18275 Empor zu freiem Menschentume.“
18276 \end{verse}
18278 Darauf brach er in ein kräftiges Lachen aus.
18280 „Seien Sie endlich still mit Ihren Versen, es ist gar nicht zum
18281 Lachen“, brummte Schnabel.
18283 „Es sind ja auch gar nicht meine Verse.“
18285 „Na, meine auch nicht.“
18287 „Ei, ei“, sagte Wagner, „von wem haben Sie sie denn machen
18288 lassen?“
18290 „Ich glaube, Sie wollen mich beleidigen!“ rief Schnabel.
18292 „§ 2 des Klatschgesetzes!“ sagte Pellinger: „Der Begriff der
18293 Beleidigung ist aufgehoben. Eine Minderung der Ehre kann nur durch
18294 eigene unwürdige Handlungen, niemals durch die Handlungen anderer
18295 erfolgen.“
18297 „Das ist die richtige dumme Martiermoral. Wie kann der Reichstag
18298 sich auf solche Gesetze einlassen? Die Demokraten haben ja freilich
18299 die Majorität. Aber die Regierung! Sie dürfte sich nicht von den
18300 Martiern einschüchtern lassen.“
18302 „Die Regierung heißt Ell, Kultor der Numenheit für das deutsche
18303 Sprachgebiet in Europa“, sagte Wagner.
18305 „Dieser Schuft“, rief Schnabel. „Der Kerl hat elend vor meiner
18306 Pistole gekniffen und ist auf den Mars ausgerissen. Und jetzt
18307 spielt er hier den Diktator. Ich werde den Burschen –“
18309 „Pst, meine Herren, Vorsicht!“ flüsterte Pellinger. „Schimpfen
18310 können Sie, soviel Sie wollen, Herr von Schnabel. Sehen Sie, das
18311 ist eben das Gute an der Numenherrschaft, das müßten Sie doch
18312 dankbar anerkennen, es kann Sie niemand wegen Beleidigungen
18313 verantwortlich machen. Aber um Himmels willen nicht vom Fordern
18314 reden. Seien Sie froh, wenn Ell Gründe hat, nicht auf Ihre Affäre
18315 vor zwei Jahren zurückzukommen. Mit dem Laboratorium ist es dann
18316 nicht abgetan, Sie kommen nach Neu-Guinea oder auf die neuen
18317 Strahlungsfelder in der Libyschen Wüste.“
18319 „Sie beschönigen natürlich alles, Herr Pellinger.“
18321 „Wieso?“
18323 „Wie war denn das, als wir neulich von Leipzig zurückkamen und
18324 gemütlich in unserm Wagenabteil schliefen. In – Dingsda – auf
18325 einmal wird die Tür aufgerissen – steht so ein Nume da in
18326 abarischen Stiefeln mit seiner Käseglocke über dem Kopf und winkt
18327 bloß mit der Hand. Im Augenblick ist alles hinaus, und der Kerl
18328 setzt sich allein in unsern schönen Wagen. Wir mußten in die
18329 vollgepfropfte dritte Klasse kriechen. Da haben Sie auch gesagt:
18330 Das ist ganz in der Ordnung, als Nume kann der Mann ein Coupé für
18331 sich allein beanspruchen.“
18333 „Wo soll er denn sonst mit seinem Helm hin? Und wenn kein anderes
18334 frei ist? Wir sind doch einmal die Besiegten!“
18336 „Deswegen brauchen wir nicht so feig zu sein. Aber Sie haben ja
18337 auch damals den Kerl, den Ell, verteidigt –“
18339 „Das möchte ich wirklich wissen“, fiel Wagner ein, „ob er an dem
18340 Verschwinden von Torm unschuldig ist. Man sagt doch, Torm habe ihn
18341 gefordert und sei deshalb von den Martiern beseitigt worden.“
18343 „Das ist nicht möglich“, rief Pellinger. „Damals existierte das
18344 Duellgesetz noch nicht.“
18346 „Aber es war Krieg, und die Martier brauchten unsere Gesetze nicht
18347 anzuerkennen.“
18349 „Da sehen Sie wieder einmal, wie ungerecht Sie urteilen“, sagte
18350 Pellinger. „Torm ist verschwunden, ehe Ell überhaupt auf die Erde
18351 zurückkam. Ich weiß es ganz genau. Ell ist erst nach dem
18352 Friedensschluß am 21. Juni vorigen Jahres zurückgekehrt, Torm ist
18353 aber schon beim Ausbruch des Krieges im Mai verschwunden. Die Sache
18354 muß also anders liegen. Und Grunthe ist auch der Ansicht, daß Ell
18355 unschuldig ist.“
18357 „Ach, Grunthe!“ rief Schnabel. „Das ist ein Mathematikus, der sich
18358 den Teufel um Weiberangelegenheiten kümmert. Davon versteht er
18359 nichts. Und daß die Frau hier dahintersteckt, da will ich meinen
18360 Kopf verwetten. Warum säße sie denn sonst jetzt in Berlin?“
18362 Der Fremde hatte sich plötzlich auf seinem Stuhl bewegt, sich aber
18363 sogleich wieder hinter seine Zeitung zurückgezogen. Doch war
18364 Pellinger dadurch auf ihn aufmerksam geworden, er bedeutete
18365 Schnabel, seine Stimme zu mäßigen.
18367 „Erhitzen Sie sich nicht“, sagte er, „die Sache geht uns eigentlich
18368 gar nichts an. Ich möchte auch nicht gern nach dem neuen
18369 Klatschgesetz ins Laboratorium wandern.“
18371 „Sie würden sich aber ausgezeichnet zu Durchleuchtungsversuchen des
18372 Gehirns eignen“, sagte Wagner. „Das Opfer wären Sie eigentlich der
18373 Wissenschaft schuldig. Sie brauchen sich den Schädel nicht erst
18374 rasieren zu lassen.“
18376 „Mein Gehirn ist zu normal“, antwortete Pellinger. „Aber Sie müssen
18377 ja wissen, Herr Doktor, wie’s dort zugeht, Sie sind ja wohl schon
18378 einen Tag drin gewesen. Haben Sie nicht Übungen machen müssen über
18379 die Ermüdung beim Kopfrechnen? Was hatten Sie denn eigentlich
18380 verbrochen?“
18382 „Was Sie alles wissen wollen!“ sagte Wagner etwas verlegen. „Ich
18383 wollte mir die Apparate einmal ansehen. Ich sage Ihnen, da habe ich
18384 ein Instrument gesehen, mit dem kann man die Träume
18385 photographieren.“
18387 „Ach was“, rief Schnabel, „flunkern Sie doch nicht so, ich war ja
18388 auch –“
18390 „Ei, Sie waren auch schon einmal drin? Prosit, da gratuliere ich.“
18392 Beide gerieten in ein Wortgefecht, während Pellinger aufmerksam den
18393 Fremden am Nebentisch beobachtete. Dieser beglich jetzt seine
18394 Rechnung mit dem Wirt, stand dann auf, setzte den Hut auf den Kopf
18395 und verließ das Zimmer, ohne sich umzublicken.
18397 „Den Mann sollte ich kennen“, sagte Pellinger vor sich hin.
18399 „Wie meinen Sie?“
18401 „Oh, nichts. Es kam mir nur so vor, als wäre der Herr, der eben
18402 fortging, ein alter Bekannter. Aber ich habe mich wohl geirrt. Sie
18403 wollten ja erzählen, wie Sie sich im Laboratorium amüsiert haben.
18404 Hahaha!“
18406 \section{44 - Torms Flucht}
18408 Der Fremde war inzwischen auf die Straße getreten, wo jetzt der
18409 Schein der spärlichen Laternen auf dem feuchten Pflaster glitzerte.
18410 Bald war er wieder vor der Sternwarte angelangt und wurde in das
18411 Haus geführt. Im Vorflur trat ihm Grunthe entgegen.
18413 „Was wünschen Sie?“ fragte dieser, den späten Gast mißtrauisch
18414 musternd.
18416 „Ich möchte Sie in einer Privatangelegenheit sprechen“, sagte der
18417 Fremde mit einem Blick auf den Hausburschen.
18419 Beim Klang der Stimme zuckte Grunthe zusammen.
18421 „Bitte, treten Sie in mein Zimmer.“
18423 Der Fremde schritt voran. Grunthe schloß die Tür. Beide blickten
18424 sich eine Weile wortlos an.
18426 „Erkennen Sie mich wieder?“ fragte der Fremde langsam.
18428 „Torm?“ rief Grunthe fragend.
18430 „Ich bin es. Zum zweiten Male von den Toten erstanden. Ja, ich habe
18431 noch zu leben, bis –“
18433 Er schwankte und ließ sich auf einen Stuhl nieder.
18435 „Wo ist meine Frau?“ fragte er dann.
18437 „In Berlin.“
18439 „Und Ell?“
18441 „In Berlin.“
18443 Torm erhob sich wieder. Seine Augen funkelten unheimlich.
18445 „Und wie – wovon lebt sie dort?“ sagte er stockend. „Was wissen Sie
18446 von ihr?“
18448 „Ich – ich bitte Sie, legen Sie zunächst ab, machen Sie es sich
18449 bequem. Was ich weiß, ist nicht viel. Ihre Frau Gemahlin ist
18450 vollständig selbständig und lebt in gesicherten Verhältnissen. Sie
18451 hat alle Anerbietungen von der Familie Ills und von Ell
18452 zurückgewiesen und nur die Stelle als Leiterin einer der martischen
18453 Bildungsschulen angenommen. Sie müssen wissen, daß sich vieles bei
18454 uns geändert hat –“
18456 „Ich meine, was wissen Sie sonst? Was sagt man –“
18458 Er brach ab. Nein, er konnte nicht von dem sprechen, was ihm am
18459 meisten am Herzen lag, am wenigsten mit Grunthe.
18461 „Was sagt man von mir?“ fragte er. „Meinen Sie, daß ich mich zeigen
18462 darf, daß ich wagen darf, nach Berlin zu reisen?“
18464 „Ich wüßte nicht, was Sie abhalten sollte. Allerdings weiß ich ja
18465 auch nicht, was mit Ihnen geschehen ist, wie es kam, daß Sie
18466 plötzlich verschwunden waren –“
18468 „Werde ich denn nicht verfolgt? Bin ich nicht von den Martiern, die
18469 ja jetzt die Gewalt in Händen zu haben scheinen, verurteilt? Hat
18470 man keine Bekanntmachung erlassen?“
18472 „Ich weiß von nichts – ich würde es doch aus den Zeitungen erfahren
18473 haben, oder sicherlich von Saltner, von Ell selbst – ich weiß wohl,
18474 daß Ell sich bemüht hat, Ihren Aufenthalt ausfindig machen zu
18475 lassen, aber ich habe das als persönliches Interesse aufgefaßt, es
18476 ist niemals eine Äußerung gefallen, daß man Sie – sozusagen –
18477 kriminell sucht. \ldots{}
18479 „Das verstehe ich nicht. Dann müssen besondere Gründe vorliegen,
18480 weshalb die Martier schweigen – ich vermute, man will mich sicher
18481 machen, um mich alsdann dauernd zu beseitigen. \ldots{}
18483 „Aber ich bitte Sie, ich habe nie gehört, daß Sie Feinde bei den
18484 Numen haben.“
18486 Torm lachte bitter. „Es könnte doch jemand ein Interesse haben –“
18488 Grunthe runzelte die Stirn und zog die Lippen zusammen. Torm sah,
18489 daß es vergeblich wäre, mit Grunthe von diesen
18490 Privatangelegenheiten zu sprechen.
18492 „Ich bin in der Tat“ sagte er leise, „in den Augen der Martier ein
18493 Verbrecher, obwohl ich von meinem Standpunkt aus in einer
18494 berechtigten Notlage gehandelt habe. Und in diesem Gefühl bin ich
18495 hierhergekommen und schleiche umher wie ein Bösewicht, in der
18496 Furcht, erkannt zu werden. Ich weiß nichts von den Verhältnissen in
18497 Europa. Ich bin hierhergekommen, weil ich glaubte, Ell sei hier,
18498 und mit ihm wollte ich ab–, wollte ich sprechen, gleichviel, was
18499 dann aus mir würde. Mein einziger Gedanke war, nicht eher von den
18500 Martiern gefaßt zu werden, bis ich Ell persönlich gegenübergetreten
18501 war. Und das werde ich auch jetzt ausführen. Ich gehe morgen nach
18502 Berlin. Ich habe noch Gelder auf der hiesigen Bank, aber ich habe
18503 nicht gewagt, sie zu erheben, weil ich überzeugt war, man warte nur
18504 darauf, mich bei dieser Gelegenheit festzunehmen.“
18506 „Ich stehe natürlich zu Ihrer Verfügung, aber ich glaube, daß Ihre
18507 Befürchtungen völlig grundlos sind. Und, wenn ich das sagen darf,
18508 daß Sie auch Ell irrtümlich für Ihren Feind halten. Er hat sich
18509 stets gegen Ihre Frau Gemahlin so rücksichtsvoll, freundschaftlich
18510 und fürsorgend verhalten, daß ich wirklich nicht weiß, worauf sich
18511 Ihr Argwohn stützt –“
18513 „Lassen wir das, Grunthe, lassen wir das. Sagen Sie mir vor allem,
18514 wie ist das alles gekommen, wie sind diese Martier hier Herren
18515 geworden, wie sind die politischen Verhältnisse?“
18517 „Sie sollen alles erfahren. Aber ich bitte Sie, erklären Sie mir
18518 zunächst, worauf Ihre Besorgnis gegen die Martier sich gründet –
18519 ich bin ja völlig unwissend über Ihre Erlebnisse. Wir hatten die
18520 Hoffnung aufgegeben, Sie wiederzusehen. Wo kommen Sie her, wo waren
18521 Sie, daß Sie so ohne jeden Zusammenhang blieben mit den
18522 Ereignissen, welche die ganze Welt umgestürzt haben?“
18524 „Nun gut, hören Sie zuerst, was mir geschehen ist. Ich kann mich
18525 kurz fassen. Sie wissen, daß ich die Absicht hatte, selbst nach dem
18526 Mars zu reisen, falls meine Frau nicht kräftig genug war, die Reise
18527 nach der Erde anzutreten.“
18529 „Gewiß. Ill bewilligte Ihnen eine Lichtdepesche, und Sie erfuhren
18530 daraus, daß Sie nicht abreisen sollten, da Ihre Frau Gemahlin mit
18531 einem der nächsten Raumschiffe nach der Erde käme. Sie gingen
18532 darauf Anfang Mai nach dem Nordpol, um Ihre Frau dort zu erwarten.
18533 Ich erhielt noch am 10. Mai einen Brief von Ihnen, in welchem Sie
18534 die Hoffnung aussprachen, bald mit Ihrer Frau, die in den nächsten
18535 Tagen zu erwarten sei, nach Deutschland zurückzukehren. Am 12. war
18536 dann jener unselige Tag der Protektoratserklärung – und seitdem war
18537 jede Spur von ihnen verschwunden.“
18539 „So ist es“, sagte Torm. „An dem Tag, dem 12. Mai kam das
18540 Raumschiff, aber es brachte weder meine Frau noch Ell, sondern die
18541 Nachricht, daß der Arzt die Reise für die nächste Zeit noch
18542 untersagt hätte. Ich geriet dadurch in eine gereizte Stimmung, die
18543 sich noch steigerte, als ich erfuhr, daß die politischen
18544 Verhältnisse sich bis zum Abbruch der friedlichen Beziehungen
18545 zugespitzt hatten. Meine Pflicht rief mich nun unbedingt nach
18546 Deutschland zurück; denn obwohl seit diesem Tag der Verkehr mit
18547 Deutschland aufgehoben war, mußte ich doch annehmen und erfuhr es
18548 auch bald aus ausländischen Blättern, daß das gesamte Heer
18549 mobilisiert werde. Wie aber sollte ich in die Heimat gelangen? Die
18550 Luftboote nach Deutschland verkehrten nicht mehr, und auf meine
18551 direkte Bitte um Beförderung nach einem englischen Platz wurde mir
18552 erwidert, daß ich in meiner Eigenschaft als Offizier der Landwehr
18553 während der Dauer des Kriegszustandes zurückgehalten werden müßte,
18554 es sei denn, daß ich mich ehrenwörtlich verpflichtete, mich nicht
18555 zu den Waffen zu stellen. Das konnte ich selbstverständlich nicht
18556 tun. Nach dem Mars zu gehen, war mir gestattet, aber damit war mir
18557 nun nicht mehr gedient. Ich mußte nach Deutschland. Wiederholte
18558 unangenehme Dispute mit den Offizieren der Martier, von denen die
18559 Insel jetzt wimmelte, machten mir den Aufenthalt unerträglich. Ich
18560 erwog hundert Pläne zur Flucht, selbst an unsern alten Ballon, der
18561 noch immer dort lagert, dachte ich. Endlich beschloß ich auf eigene
18562 Faust die Wanderung über das Eis zu versuchen, die mir ja schon
18563 einmal gelungen war. Im Fall der vorzeitigen Entdeckung konnte
18564 doch, wie ich meinte, meine Lage nicht verschlimmert werden.
18565 Natürlich wurde ich entdeckt und zurückgebracht. Man kündete mir
18566 an, daß ich wegen Verdachts der Spionage die Insel Ara nicht mehr
18567 verlassen dürfe – vorher hatte man meinen Besuchen auf den
18568 benachbarten Inseln nichts in den Weg gelegt – und daß ein
18569 Kriegsgericht oder dergleichen über mein weiteres Schicksal
18570 beschließen würde. Schon glaubte ich, daß man mich nach dem Mars
18571 bringen würde; dann konnte ich wenigstens hoffen, meine Frau zu
18572 treffen. Aber ich erfuhr bald, daß ich jedenfalls auf der
18573 Außenstation interniert werden würde, von wo jede Flucht für mich
18574 unmöglich war. In dieser Zeit dort untätig als Gefangener zu
18575 sitzen, war mir ein entsetzlicher Gedanke. Ich faßte einen
18576 Entschluß der Verzweiflung. Jetzt sehe ich ein, daß es eine Torheit
18577 war. Doch Sie müssen sich in meine damalige Stimmung versetzen –
18578 wenn Sie es können. Ich bildete mir außerdem ein, man werde mich
18579 daheim für einen fahnenflüchtigen Feigling halten, wenn ich nicht
18580 vom Pol zurückkehrte. Ich hatte auch keine Zeit zur Überlegung,
18581 denn am nächsten Tag sollte das Kriegsgericht sein, worauf ich
18582 sofort in den Flugwagen gebracht worden wäre. – Kurzum, ich
18583 beschloß, die Zeit zu benutzen, während der ich mich noch auf der
18584 Insel frei bewegen durfte. Die Luftschiffe zu betreten und zu
18585 studieren, war mir immer erlaubt gewesen, ich kannte jetzt ihre
18586 Einrichtung genau und erinnerte mich an das Abenteuer, das Saltner
18587 auf dem Mars erlebt hatte, als er sich in dem Luftschiff des
18588 Schießstandes versteckte. Ich wußte, welches Schiff im Lauf der
18589 nächsten Stunden abgehen würde, denn sowohl nach dem Schutzstaat
18590 England als auch nach andern Teilen der Erde fand lebhafter Verkehr
18591 statt. So glaubte ich, wenn es mir gelänge, mich in dem nach
18592 England gehenden Schiffe zu bergen, von den Martiern selbst
18593 fortbefördert zu werden. Ich wollte es wagen. Ich versah mich mit
18594 etwas Proviant, denn ich war entschlossen, im Notfall zwei Tage in
18595 meinem Versteck zu verbleiben. Da fiel mir ein, daß ich ohne
18596 Sauerstoff apparat unmöglich in der Höhe aushalten könnte, in der
18597 die Schiffe zu fahren pflegen. Hier blieb mir nichts anderes übrig,
18598 als zu stehlen. Ich eignete mir zwei von den Absorptionsbüchsen der
18599 Martier an, mehr konnte ich nicht fortschaffen. Trübes Wetter – wir
18600 hatten ja freilich keine Nacht – begünstigte mein Vorhaben durch
18601 ein starkes Schneegestöber, so daß kein Martier, der nicht durch
18602 sein Amt gezwungen war, sich auf dem Dach der Insel sehen ließ. So
18603 gelang es mir leichter, als ich glaubte, mich in das noch gänzlich
18604 unbesetzte Schiff einzuschleichen, dessen Wächter in einer der
18605 Kajüten beschäftigt war. Es war ein ausnehmend geräumiges Boot, und
18606 ich fand meine Zuflucht, wie damals Saltner, zwischen und hinter
18607 dem Stoff, den Saltner für Heu hielt, der aber, wie Sie jetzt
18608 wissen werden, den besondern Zwecken der Diabarieverteilung dient.
18609 Bei gutem Glück rechnete ich, da noch drei Stunden bis zur Abfahrt
18610 des Schiffes waren, in acht oder neun Stunden in England zu sein
18611 und dann das Schiff ebenso unbemerkt verlassen zu können. Und
18612 wirklich hatte man mich noch nicht vermißt oder nicht im Schiff
18613 gesucht – das Schiff erhob sich. Stunde auf Stunde verging, und ich
18614 schlummerte von Zeit zu Zeit in meinem dunklen Gefängnis ein. Nun
18615 sagte mir meine Uhr, daß wir in England sein müßten. Aber aufs neue
18616 verging Stunde auf Stunde, ohne daß das Schiff zur Ruhe kam. Ich
18617 bemerkte die Bewegung natürlich nur an dem leichten Geräusch des
18618 Reaktionsapparats und dem Zischen der Luft. So oft ich aus
18619 Sparsamkeit mit dem Sauerstoffatmen aufhörte, fühlte ich alsbald,
18620 daß wir noch immer in sehr hohen Schichten sein müßten, und ich
18621 geriet in große Sorge, ob mein Vorrat ausreichen würde. Endlich,
18622 nach mehr als zehnstündiger Fahrt, als ich schon überlegte, ob ich
18623 mich nicht, um dem Erstickungstod zu entgehen, den Martiern ergeben
18624 sollte, erkannte ich zu meiner unbeschreiblichen Freude an der
18625 Veränderung der Luft, daß das Schiff sich senke. Bald hörte ich
18626 auch aus dem veränderten Geräusch, daß es mit Segelflug arbeite.
18627 Ich schloß daraus, daß man eine Landungsstelle suche und sich also
18628 nicht einem der gewohnten Anlegeplätze nähere.
18630 Können Sie sich meinen Zustand, meine nervöse Erregung vorstellen?
18631 Seit zehn Stunden im Finstern eingeschlossen, zuletzt unter
18632 Atemnot, in fortwährender Gefahr, entdeckt zu werden, ohne zu
18633 wissen, wohin die Reise geht, wo ich das Licht des Tages wieder
18634 erblicken werde und wie es mir möglich werden wird, unbemerkt dem
18635 Schiff zu entfliehen! Ich suchte mir einen Plan zu machen – aber wo
18636 würde ich mich dann befinden? Der Zeit nach zu schließen, mußten
18637 wir sechs- bis siebentausend Kilometer zurückgelegt haben. Ich
18638 konnte in Alexandria sein oder in New-Orleans, ebensogut auch in
18639 der Sahara oder in China. Wie sollte ich dann weiterkommen, falls
18640 ich den Martiern entfliehen konnte? Ich mußte alles vom Augenblick
18641 abhängig machen.
18643 Endlich verstummte das Geräusch der Fahrt, ich fühlte den
18644 Landungsstoß, das Schiff ruhte. Es kam nun darauf an, ob es die
18645 Martier verlassen würden. Wenn ich wenigstens gewußt hätte, ob es
18646 Tag oder Nacht war. Aber das hing ja ganz davon ab, nach welcher
18647 Himmelsrichtung wir gefahren waren. Aus der Landung selbst konnte
18648 ich nichts schließen, da ich nichts von der Bestimmung des Schiffes
18649 wußte, für welche ebensogut die Nacht als der Tag die passende
18650 Ankunftszeit sein konnte, je nach den Absichten der Martier. Noch
18651 eine Stunde vielleicht hörte ich über mir Tritte und Stimmen, dann
18652 wurde es still. Ich schlich aus meinem Versteck nach der Drehtür.
18653 Geräuschlos öffnete sich eine Spalte. Es war Nacht! Denn nur ein
18654 ganz schwaches Fluoreszenzlicht schimmerte durch das Innere des
18655 Schiffes. Man hatte also Grund, nach außen hin kein Licht zu
18656 zeigen, man wollte nicht bemerkt sein. Nun öffnete ich die Drehtür
18657 vollends und spähte in den Raum. Die Martier lagen in ihren
18658 Hängematten und schliefen. Wachen befanden sich jedenfalls
18659 außerhalb des Schiffes, aber nach innen konnten sie nicht gut
18660 blicken und hatten auch dort nichts zu suchen. Ich konnte also ohne
18661 Bedenken aus dem untern Raum heraussteigen und zwischen den
18662 Hängematten nach dem Ausgang schreiten; selbst wenn mich jemand
18663 hier bemerkte, hätte er mich doch für einen von der Besatzung
18664 gehalten. So gelangte ich ungefährdet bis an die Treppe, die aufs
18665 Verdeck und von dort ins Freie führte. Die Luke stand offen, aber
18666 auf der obersten Stufe der Treppe saß ein Martier, der, von seinem
18667 Helm gegen die Schwere geschützt, nach außen hin Wache hielt. An
18668 ihm mußte ich vorüber. Ich stieg möglichst unbefangen und ohne mein
18669 Nahen verbergen zu wollen die Stufen hinauf und drängte mich an ihm
18670 vorüber, indem ich die gebückte Haltung der Martier ohne
18671 Schwereschirm annahm. Ich hatte keine andre Wahl, durch List hätte
18672 ich nichts erreicht. So stand ich schon auf dem Verdeck, als der
18673 Martier mich anrief, wo ich hinwollte. Ich antwortete nicht,
18674 sondern suchte nur nach der abwärts führenden Treppe. Sie war aber
18675 eingezogen. Da faßte der Wächter mich an und rief: ›Das ist ja ein
18676 Bat. Was willst du?‹
18678 Zugleich drückte er die Alarmglocke. Was im nächsten Augenblick
18679 geschah, weiß ich nicht mehr deutlich. Ich höre nur einen
18680 Schmerzensschrei, den der Martier ausstieß, als er, von meinem
18681 Faustschlag gegen die Stirn getroffen, die Treppe hinabstürzte. Ich
18682 selbst fühle mich das gewölbte Dach des Schiffes hinabgleiten, doch
18683 ich komme auf die Füße und laufe auf gut Glück vom Schiff fort, so
18684 schnell meine Beine mich tragen wollen. Die Nacht war klar, aber
18685 nur vom Sternenlicht erhellt. Der Boden senkte sich, denn das
18686 Luftschiff war, wie nicht anders zu erwarten, auf einem Hügel
18687 gelandet. Eine endlose Ebene schien sich vor mir auszudehnen; ich
18688 fühlte kurzes Gras unter mir. Als ich es wagte, mich einen
18689 Augenblick rückwärts zu wenden, bemerkte ich, daß hinter mir sich
18690 eine Hügellandschaft befand, die zu einem schneebedeckten Gebirge
18691 aufstieg. Ich hoffte, irgendwo ein Versteck zu finden, das mich vor
18692 den ersten Nachforschungen der Martier verbarg, um mich dann im
18693 Lauf der Nacht noch möglichst weit zu entfernen und bei den
18694 unbekannten Bewohnern des Landes Schutz zu suchen. Da plötzlich
18695 tauchte, wie aus der Erde gestiegen, eine Reihe dunkler Gestalten
18696 vor mir auf, die sich sofort auf mich stürzten und mich
18697 niederwarfen. Ich sah Messer vor meinen Augen blitzen und glaubte
18698 mich verloren.
18700 In diesem furchtbaren Augenblick wurde die Nacht mit einem Schlag
18701 zum Tag. Das Marsschiff hatte seine Scheinwerfer erglühen lassen.
18702 Wie eine Sonne in blendendem Licht strahlend erhob es sich langsam
18703 in die Luft, jedenfalls um mich zu suchen. Dieser Anblick versetzte
18704 die Eingeborenen, die mich überfallen hatten, in einen
18705 unbeschreiblichen Schrecken. Zunächst warfen sie sich auf den
18706 Boden, dann krochen sie, ohne sich um mich zu kümmern, auf diesem
18707 fort und waren in wenigen Augenblicken ebenso plötzlich
18708 verschwunden, wie sie gekommen waren. Ich war frei. Aber was sollte
18709 ich tun? Wenn ich hier blieb, so mußte ich in wenigen Minuten von
18710 den Martiern entdeckt werden. Ich sagte mir, daß sich dort, wo die
18711 Eingeborenen verschwunden waren, auch ein Versteck für mich finden
18712 würde. In der Tat, wenige Schritte vor mir zog eine trockene
18713 Erdspalte quer durch die Steppe. Ich stieg hinab und schmiegte mich
18714 in den tiefen Schatten eines Risses. Von oben konnte ich hier nicht
18715 gesehen werden. Die Martier hatten natürlich bald die Spalte
18716 bemerkt und schwebten langsam über derselben hin, aber ich wurde
18717 nicht entdeckt. Noch mehrfach sah ich das Licht aufleuchten,
18718 endlich verschwand es. Auch von den Eingeborenen sah ich nichts
18719 mehr.
18721 Etwa eine Stunde mochte ich so gelegen haben – es war unangenehm
18722 kalt –, als der erste Schimmer der Dämmerung den Anbruch des Tages
18723 verkündete. Ich verzehrte den Rest meines Proviants, und als es
18724 hell genug geworden war, lugte ich vorsichtig über die Ebene. Das
18725 Schiff mußte sich entfernt haben, es war keine Spur mehr zu sehen.
18726 Ich wanderte nun am Rande des Spaltes weiter. Nicht lange, so
18727 bemerkte ich, daß mir eine große Schar von Bewohnern des Landes
18728 entgegenkam. Ich blieb stehen und suchte durch Bewegungen der Arme
18729 meine friedlichen Absichten verständlich zu machen. Erst glaubte
18730 ich, das Schlimmste befürchten zu müssen, denn die Leute liefen
18731 unter lautem Geschrei auf mich zu und schossen ihre langen Flinten
18732 ab, aber sie zielten nicht auf mich. Bald erkannte ich, daß dies
18733 eine Freudenbezeugung sein sollte. Einige ältere Männer, offenbar
18734 die Anführer, traten an mich heran und verbeugten sich mit allen
18735 Zeichen der Ehrfurcht. Dann kauerten sie sich im Halbkreis um mich
18736 nieder, und ich setzte mich ebenfalls auf den Boden. Allmählich
18737 verständigten wir uns durch Pantomimen, und ich folgte ihrer
18738 Einladung, sie zu begleiten. Nach einer langen Wanderung erweiterte
18739 sich die Spalte zu einem kleinen Tal, und hier fand sich eine
18740 Niederlassung, wo ich mit allen Ehren eines angesehenen Gastes
18741 aufgenommen wurde. Ich blieb einige Tage dort und wurde dann von
18742 meinen Gastfreunden nach Süden geleitet. Nach mehreren Tagereisen
18743 erreichten wir eine ausgedehnte Stadt. Jetzt erst wurde mir nach
18744 und nach klar, wo ich hingeraten war. Die Stadt war Lhasa, die
18745 Hauptstadt von Tibet, der Sitz des Dalai-Lama. Die Tibetaner waren
18746 durch die überirdische Erscheinung des lichtstrahlenden
18747 Luftschiffes in ihrer Gesinnung völlig umgewandelt. Sie hielten
18748 mich für ein wunderbares Wesen, das in einem leuchtenden Wagen
18749 direkt vom Himmel gekommen war. Ich wurde auch in Lhasa sehr
18750 ehrenvoll aufgenommen, aber alle Bemühungen, von hier
18751 weiterzureisen, waren vergebens. Man gestattete nicht, daß ich mich
18752 aus der Stadt entferne. Und so war ich fast ein Jahr in dieser
18753 allen Fremden verschlossenen Stadt. Aber auch dies hatte
18754 schließlich ein Ende.
18756 Sie werden wahrscheinlich wissen, daß die Martier jetzt auf dem
18757 Hochplateau von Tibet große Strahlungsfelder angelegt haben, um
18758 während des Sommers die Sonnenenergie zu sammeln. Die Trockenheit
18759 des Klimas bei der hohen Lage von 5.000 Meter überm Meer sagt ihrer
18760 Konstitution am meisten zu von allen Ländern der Erde. Das Schiff,
18761 mit welchem ich hingekommen war, stellte die ersten Nachforschungen
18762 an, und bald hatten mehr und mehr Schiffe eine große Anzahl der
18763 Martier, vornehmlich die Bewohner ihrer Wüsten, die Beds, dahin
18764 gebracht. Die Tibetaner fühlten sich dadurch beunruhigt und wandten
18765 sich an die chinesische Regierung. Zugleich aber glaubten sie, daß
18766 meine Anwesenheit, die sie übrigens sorgfältig geheimhielten,
18767 Ursache sei, weshalb die wunderbaren Fremden durch die Luft in ihr
18768 Land kämen. So erhielt ich die Erlaubnis, mich einer Karawane
18769 anzuschließen, die über den Himalaja nach Indien ging. Nach
18770 mannigfachen Abenteuern, mit denen ich Sie nicht aufhalten will,
18771 gelang es mir schließlich, mich bis nach Kalkutta durchzuschlagen.
18772 Ich besaß noch eine nicht unbedeutende Summe deutschen Geldes,
18773 durch das ich mich hier wieder in einen europäischen Zustand
18774 versetzen konnte. Indessen wagte ich nicht, mich bei den Behörden
18775 zu melden oder mich zu erkennen zu geben, da ich fürchtete, von den
18776 Martiern verfolgt zu werden. Aus den Zeitungen ersah ich, daß das
18777 Luftschiff, welches von Kalkutta allwöchentlich nach London geht,
18778 in Teheran, Stambul, Wien und Leipzig anlegt. Von Leipzig benutzte
18779 ich den nächsten Zug nach Friedau. Und mein erster Gang war
18780 hierher. Ich habe es vermieden, mit jemand zu sprechen. Ich bin
18781 entsetzt über die Veränderung der Verhältnisse. Nun sagen Sie mir
18782 vor allem, was war unser Schicksal im Krieg mit dem Mars?“
18784 Grunthe hatte ohne eine Miene zu verziehen zugehört. Jetzt sagte er
18785 bedächtig, ohne auf Torms letzte Frage zu achten:
18787 „Hatten Sie Ihren Chronometer und unsern Taschenkalender mit?“
18789 „Ja, aber –“
18791 „So haben Sie doch wohl einige Ortsbestimmungen machen können? Ich
18792 meine nach dem Harzerschen Fadenverfahren, mit bloßem Auge?“
18794 Torm lächelte trüb. „Ich hatte freilich Zeit dazu“, sagte er, „und
18795 habe es auch getan. Sie können sie berechnen. Aber zuerst –“
18797 „Oh, entschuldigen Sie“, unterbrach ihn Grunthe. „Sie wissen, ich
18798 bin ein sehr unaufmerksamer Wirt. Ich hätte ihnen doch zuerst ein
18799 Abendessen anbieten sollen. Allerdings habe ich nichts zu Hause,
18800 doch – wir könnten vielleicht –“
18802 Seine Lippen zogen sich zusammen. Das Problem schien ihm sehr
18803 schwer. „Ich danke herzlich“, sagte Torm. „Ich habe gegessen und
18804 getrunken.“
18806 „Um so besser“, rief Grunthe erleichtert. „Aber logieren werden Sie
18807 bei mir. Das läßt sich machen.“
18809 „Das nehme ich an, weil ich mich nicht gern hier in den Hotels
18810 sehen lassen möchte. Morgen fahre ich ja nach Berlin.“
18812 „Wollen Sie denn nicht an Ihre Frau Gemahlin telegraphieren, daß
18813 Sie kommen? Ich habe die Adresse, da ich wegen der Abrechnungen –
18814 warten Sie, es muß hier stehen – ich kann unsern Burschen nach der
18815 Post schicken
18817 „Das ist nicht nötig“, sagte Torm. „Ich werde – doch die Adresse
18818 können Sie mir immerhin geben.“
18820 Grunthe suchte unter seinen Büchern.
18822 „Ach, sehen Sie“, sagte er, „da finde ich doch noch etwas – im
18823 Frühjahr hat mich Saltner einmal besucht – da ließ ich Wein holen,
18824 und hier ist noch eine Flasche. Gläser habe ich von Ell. Sie müssen
18825 da irgendwo stehen. Das trifft sich gut – wissen Sie denn, was
18826 heute für ein Tag ist? Der neunzehnte August. Heute vor zwei Jahren
18827 kamen wir am Nordpol an. Wie schade, daß Saltner nicht hier ist, er
18828 könnte wieder ein Hoch ausbringen –“
18830 Torm fuhr aus seinem Nachsinnen empor.
18832 „Erinnern Sie mich nicht daran“, sagte er finster. „Mit jener
18833 Stunde begann mein Unglück. Wie kam denn jener Flaschenkorb –“ Er
18834 schlug mit der Hand auf den Tisch und sprang auf. Er unterbrach
18835 sich und murmelte nur noch für sich: „Ich stoße nicht mehr an.“
18837 „Geben Sie nur die Gläser her“, sagte er darauf ruhiger. „Ja, wir
18838 wollen uns setzen. Und nun sind Sie daran zu berichten.“
18840 Grunthe blickte starr vor sich hin.
18842 „Wir sind in der Gewalt der Nume“, begann er nach einer Pause.
18843 „Ganz Europa, außer Rußland. Wir beugen uns vor unserm Herrn. Wir
18844 sind Kinder geworden, die in die Schule geschickt werden. Man hat
18845 sogenannte Kultoren eingesetzt über die verschiedenen
18846 Sprachgebiete. Der größte Teil des Deutschen Reichs, die deutschen
18847 Teile von Österreich und der Schweiz stehen unter Ell. Man will uns
18848 erziehen, intellektuell und ethisch. Die Absicht ist gut, aber
18849 undurchführbar. Das Ende wird entsetzlich sein – wenn es nicht
18850 gelingt –, doch davon später.“
18852 Grunthe schwieg.
18854 „Ich begreife noch nicht“, sagte Torm, „wie war es möglich, daß wir
18855 in diese Abhängigkeit gerieten? Warum unterwarfen wir uns?“
18857 „Entschuldigen Sie mich“, antwortete Grunthe. „Ich bin nicht
18858 imstande, von diesen schmerzlichen Ereignissen zu sprechen. Ich
18859 bringe es nicht über die Lippen. Lassen wir es lieber. Ich werde
18860 Ihnen eine Zusammenstellung der Ereignisse in einer Broschüre geben
18861 – hier sind mehrere. Lesen Sie selbst, für sich allein. Sie werden
18862 auch müde sein. Lesen Sie morgen früh. Reden wir von etwas
18863 anderm.“
18865 Aber sie redeten nicht. Der Wein blieb unberührt. Das Herz war
18866 beiden zu schwer. Einmal sagte Grunthe vor sich hin: „Es ist nicht
18867 der Verlust der politischen Macht für unser Vaterland, der mich am
18868 meisten schmerzt, so weh er mir tut. Schließlich müßte es
18869 zurückstehen, wenn es bessere Mittel gäbe, die Würde der Menschheit
18870 zu verwirklichen. Was mir unmöglich macht, ohne die tiefste
18871 Erregung von diesen Dingen zu reden, ist die demütigende
18872 Überzeugung, daß wir es eigentlich nicht besser verdienen. Haben
18873 wir es verstanden, die Würde des Menschen zu wahren? Haben nicht
18874 seit mehr als einem Menschenalter alle Berufsklassen ihre
18875 politische Macht nur gebraucht, um sich wirtschaftliche Vorteile
18876 auf Kosten der andern zu verschaffen? Haben wir gelernt, auf den
18877 eigenen Vorteil zu verzichten, wenn es die Gerechtigkeit verlangte?
18878 Haben die führenden Kreise sittlichen Ernst gezeigt, wenn es galt,
18879 das Gesetz auch ihrer Tradition entgegen durchzuführen? Haben sie
18880 ihre Ehre gesucht in der absoluten Achtung des Gesetzes, statt in
18881 äußerlichen Formen? Haben wir unsern Gott im Herzen verehrt, statt
18882 in Dogmen und konventionellen Kulten? Haben wir das Grundgesetz
18883 aller Sittlichkeit gewahrt, daß der Mensch Selbstzweck ist und
18884 nicht bloß als Mittel gebraucht werden darf? Oh, das ist es ja
18885 eben, daß die Nume in allem vollständig recht haben, was sie lehren
18886 und an uns verachten, und daß wir doch als Menschen es nicht von
18887 ihnen annehmen dürfen, weil wir nur frei werden können aus eigener
18888 Arbeit. Und so ist es unser tragisches Schicksal, daß wir uns
18889 auflehnen müssen gegen das Gute! Und es ist das tragische Geschick
18890 der Nume, daß sie um des Guten willen schlecht werden müssen!“
18892 Er stand auf und trat an das Fenster.
18894 „Es scheint sich aufzuklären. Vielleicht kann ich noch eine
18895 Beobachtung machen. Wollen Sie mitkommen? Ich zeige Ihnen dabei Ihr
18896 Zimmer.“
18898 Torm ergriff die Broschüren und folgte ihm.
18900 \section{45 - Des Unglück des Vaterlands}
18902 Torm ging unruhig in seinem Zimmer auf und ab. Seine Liebe zu Isma,
18903 das alte, feste Vertrauen, das sich wieder hervordrängte, die
18904 Mitteilungen Grunthes über Ells freundschaftliches Verhalten, das
18905 alles kämpfte in seinem Innern mit dem feindlichen Argwohn, in den
18906 er sich in der Einsamkeit seiner Verbannung immer fester
18907 hineingelebt hatte. Die stets erneute Verzögerung der Heimkehr
18908 Ismas und das gleichzeitige Zurückbleiben Ells, wofür er keinen
18909 Grund einzusehen vermochte, hatten allmählich in ihm den Verdacht
18910 erweckt, daß es Ell doch nicht ehrlich mit ihm meine. Von nun ab
18911 glaubte er überall die Hand Ells im Spiele zu sehen. Die
18912 Verhinderung seiner Heimreise vom Pol schob er ebenfalls auf einen
18913 Einfluß Ells. Wer konnte wissen, welche Lichtdepeschen zwischen den
18914 Planeten, zwischen Neffe und Oheim, gewechselt wurden? Zu seiner
18915 verzweifelten Flucht hatte er sich in einem Moment der Erregung
18916 entschlossen, der noch einen andern Grund hatte, als er Grunthe
18917 gegenüber aussprechen wollte. Bei seinen Disputen mit den Martiern
18918 am Pol hatte er aus der hingeworfenen Bemerkung eines der
18919 martischen Offiziere entnommen, daß man nach den Gesetzen der Nume
18920 ihm überhaupt keinerlei Recht zuerkannte, die Rückkehr seiner Frau
18921 zu verlangen. Die formale Gültigkeit seiner Ehe war auf dem Mars
18922 nicht anerkannt. Niemand hätte es unter den vorliegenden Umständen
18923 Isma verdacht, wenn sie sich als frei erklärt hätte. Dies hatte
18924 Torm in die höchste Aufregung versetzt, und ein nagendes Gefühl der
18925 Eifersucht hatte ihm einen Teil seiner ruhigen Besinnung geraubt.
18927 Jetzt freilich mußte ihm Isma in anderm Licht erscheinen. Hatte er
18928 denn irgendeinen bestimmten Vorwurf gegen sie zu erheben? Sie war
18929 ja zurückgekehrt, und sie hatte sich damit offenbar zu ihm bekannt.
18930 Sollte er nun zu Ell rücksichtslos vordringen und sich vielleicht
18931 rettungslos der Gewalt der Martier ausliefern? War Ell unschuldig,
18932 so war dieses Opfer ganz unnötig gebracht. War Ell aber schlecht,
18933 so gab er sich in seine Hand. Als er seinen Entschluß gefaßt hatte,
18934 zuerst zu Ell zu gehen, wußte er ja noch nicht, daß sich dieser in
18935 einer so unerreichbaren Machtstellung befand. So schien es ihm
18936 jetzt doch als das richtige, sich mit Isma in Verbindung zu
18937 setzen.
18939 Aber wie konnte das ohne Gefahr geschehen? Und vor seinem Geist
18940 stieg die furchtbare Anklage auf, einen Nume bei der Ausübung
18941 seiner Pflicht verletzt, vielleicht getötet zu haben – –. Was ihm
18942 das Mittel werden sollte, Isma wiederzugewinnen, die rücksichtslose
18943 Flucht, nun erschien es ihm als ein verhängnisvolles Schicksal, das
18944 ihn für immer von ihr trennen sollte. Unter dem Druck der schweren
18945 Anklage, die auf ihm lastete, durfte er vor ihre Augen treten? Was
18946 sollte er tun? Mechanisch griff er nach einer der Broschüren, an
18947 die er nicht mehr gedacht hatte. Sein Auge fiel auf die
18948 Überschrift: „Das Unglück vom 30. Mai.“ Er begann zu lesen. Und der
18949 Schmerz um das Vaterland drängte die eigene Sorge zurück.
18951 „Ihr sollt es einst wissen, Kinder und Enkel“, so hieß es, „was uns
18952 geschehen ist, damit ihr weinen könnt und zürnen wie wir. Darum
18953 schreiben wir das Traurige auf, obwohl die Hand unwillig sich
18954 sträubt.
18956 Es war der Tag der großen Parade, an dem der oberste Kriegsherr
18957 sein herrliches Heer musterte, das um die Hauptstadt
18958 zusammengezogen war. Von der zahllosen, begeisterten Menge der
18959 Zuschauer umgeben, waren die glänzenden Regimenter
18960 vorübermarschiert an der ›einsamen Pappel‹. So hieß die Stelle nach
18961 einem Baum, der sich einstmals hier befunden hatte, wo der Monarch,
18962 umringt von der Mehrzahl der deutschen Fürsten und seinen
18963 Generälen, die Heerschau hielt. Nun hatten sich die Truppen weiter
18964 auseinandergezogen und die Gewehre zusammengestellt, während der
18965 Kriegsherr den Führern seine Anerkennung aussprach.
18967 Und da geschah es.
18969 Vor der Hauptstadt des Reiches, an dessen Grenzen man nirgends die
18970 Spur eines Feindes hatte beobachten können.
18972 Im Augenblick der größten Machtentfaltung des stärksten
18973 Landheeres.
18975 Wie ein Schwarm von Raubvögeln schoß es vom Himmel hernieder,
18976 geräuschlos, glänzende, glatte Ungetüme. Und im Moment, da man sie
18977 bemerkte, waren sie auch schon da und hatten die Schar der Anführer
18978 umringt.
18980 ›Zu den Truppen!‹ hieß es.
18982 Die Kommandierenden stoben auseinander.
18984 ›Zurück! Ergebt euch! Der Weg ist gesperrt!‹ tönte es ihnen aus den
18985 feindlichen Luftschiffen entgegen.
18987 Die Offiziere kümmerten sich nicht darum, sie sprengten weiter.
18988 Aber nicht lange. Keiner passierte den Kreis, den die Schiffe
18989 absperrten. Von einer unsichtbaren Macht zurückgeworfen, stürzten
18990 Roß und Reiter zusammen. Enger schloß sich der Ring der Schiffe,
18991 die nur wenige Meter über dem Boden schwebten, um die Fürsten und
18992 ihre Begleitung, so daß die gestürzten Offiziere jetzt außerhalb
18993 des gesperrten Kreises lagen.
18995 Die Truppen, soweit sie nahe genug waren, um den Vorgang zu
18996 beobachten, waren sofort unter das Gewehr getreten. Als die
18997 Bataillonsführer bemerkten, daß ihre Kommandierenden nicht zu ihnen
18998 gelangen konnten, als sie sahen, daß die plötzlich erschienenen
18999 Schiffe einen feindlichen Angriff bedeuteten, dem der oberste
19000 Kriegsherr selbst mit allen Fürsten und Generälen ausgeliefert war,
19001 da bebte ihnen wohl das Herz in der Brust unter der Verantwortung,
19002 die sie auf sich gelegt fühlten. Aber nun bewährte sich der Geist
19003 unseres Heeres in erhebender Weise. Nicht ein Augenblick der
19004 Verwirrung, nicht ein Moment des Schreckens trat ein. Die Truppen
19005 einer andern Nation, falls sie sich nicht in zuchtlose Flucht
19006 aufgelöst hätten, wären vielleicht in wahnsinnigem Todesmut zur
19007 Befreiung ihres Feldherrn vorgestürzt, um in den Repulsitstrahlen
19008 und Nihilitsphären der Marsschiffe ihren Untergang zu finden, ohne
19009 daß sie auch das Geringste hätten ausrichten können. Die deutschen
19010 Offiziere indessen verloren ihre Instruktion auch in diesem
19011 schrecklichen Moment nicht aus den Augen. Nach den Erfahrungen, die
19012 man in England gemacht hatte, war es von der deutschen
19013 Heeresleitung als erster Grundsatz ausgesprochen worden, unter
19014 keinen Umständen Munition und Menschenleben gegen ein mit
19015 Nihilitsphäre versehenes Marsschiff zu verschwenden, da man wußte,
19016 daß dies ein völlig fruchtloses Beginnen sei. Die Truppen waren
19017 überhaupt nicht zusammengezogen worden, um sich irgendwo in offenem
19018 Kampf mit den Martiern zu versuchen. Man hatte vielmehr ein ganz
19019 anderes System der Verteidigung aufgestellt, und von diesem auch im
19020 Moment der äußersten Überraschung nicht abzuweichen, das war die
19021 höchste Aufgabe, welche die Disziplin zu leisten hatte.
19023 Man sagte sich, daß den Machtmitteln der Martier gegenüber eine
19024 Armee im freien Feld wie in den Forts der Festungen ohnmächtig und
19025 dem Untergang geweiht war, daß aber ihrerseits die Martier machtlos
19026 sein würden, wenn sie verhindert würden, sich der Organe der
19027 Regierung zu bemächtigen. Man hatte deswegen die Truppen lediglich
19028 zum Schutz der Hauptstädte als der Zentralpunkte der
19029 Staatsverwaltung zusammengezogen. Hier sollten sie verhindern, daß
19030 die öffentlichen Gebäude von den Martiern besetzt und in Beschlag
19031 genommen würden. Man nahm mit Recht an, daß in den Städten, mitten
19032 zwischen den Häusern der friedlichen Bürger, die Martier von
19033 gewaltsamen Zerstörungen absehen würden; daß sie, wenn sie einen
19034 Einfluß auf die Regierung gewinnen wollten, gezwungen sein würden,
19035 ihre schützenden Schiffe zu verlassen und den festen Boden zu
19036 betreten. Und hier sollte dann die starke militärische Besatzung es
19037 unmöglich machen, daß die Kassen, die Büros, die Archive und die
19038 leitenden Amtspersonen selbst in feindliche Gewalt gerieten.
19039 Deswegen hatte jedes einzelne Bataillon bereits seine bestimmte
19040 Instruktion, wohin es sich beim ersten Erscheinen der Feinde sofort
19041 zu begeben habe. Dies allein war auszuführen.
19043 Die große Parade war zum Verderben ausgeschlagen. Aber in
19044 Erinnerung an hergebrachte und liebgewordene Gewohnheiten hatte der
19045 oberste Kriegsherr geglaubt, dieselbe ohne Gefahr anordnen zu
19046 können, weil trotz des sorgfältigsten Nachrichtendienstes noch
19047 keinerlei Spur einer feindlichen Annäherung gefunden worden war.
19049 Nun war der Feind dennoch da. Jeder sah ein, daß man nichts tun
19050 konnte, als der ursprünglichen Anordnung zu folgen. Auf die
19051 feindlichen Luftschiffe schießen oder gegen sie anstürmen wäre
19052 Unsinn gewesen. Das ganze große Feld war noch von Zuschauern
19053 überflutet, die sich jetzt in eiliger Flucht nach der Stadt
19054 zurückwälzten. Auf den Chausseen drängten sich die Wagen, darunter
19055 die Equipagen, welche die fürstlichen Gemahlinnen und Prinzessinnen
19056 vom Paradefeld fortführten. So taten die Truppen ihre einfache
19057 Pflicht. Sie marschierten, so schnell sie konnten, auf den im
19058 voraus festgesetzten Wegen nach ihren Bestimmungsorten. Nur das
19059 erste Gardegrenadierregiment und das Gardekürassierregiment blieben
19060 zur persönlichen Bedeckung des Kriegsherrn zurück.
19062 Der Monarch blickte mit finsterem Ernst auf seine Umgebung, auf die
19063 feindlichen Schiffe und die betäubt oder tot am Boden liegenden
19064 Offiziere, um welche jetzt Ärzte und Krankenträger bemüht waren.
19065 Dann riß er den Degen aus der Scheide und rief:
19067 ›Meine Herren! Hier gibt es nur einen Weg hindurch!‹
19069 Er spornte sein Pferd an. Seine Begleitung warf sich ihm entgegen
19070 und beschwor ihn, sich dem sichern Verderben nicht auszusetzen. Er
19071 wollte nicht hören.
19073 ›Nun denn‹, rief da der greise General von Dollig, ›zuerst wir!‹
19075 Und einen Teil der Offiziere mit sich fortreißend, jagte er im
19076 Galopp gegen die unsichtbare Schranke, die sich nur durch eine
19077 Staubschicht über dem Boden verriet.
19079 Sobald man bei den außerhalb des Ringes der Marsschiffe haltenden
19080 Schwadronen der Gardekürassiere die Bewegung in der Begleitung des
19081 Feldherrn wahrgenommen hatte, ließen sie sich nicht länger
19082 zurückhalten. Unter brausendem Hurraruf sprengten die glänzenden
19083 Reitermassen heran, um ihren Feldherrn aufzunehmen oder mit ihm
19084 unterzugehen. Es war ein furchtbarer Moment. Starres Entsetzen
19085 faßte alle, die den Vorgang zu bemerken vermochten. Und als ob die
19086 Kühnheit des Entschlusses den übermächtigen Feind bezwänge, so kam
19087 jetzt neue Bewegung in seine Schiffe. Sie erhoben sich, als wollten
19088 sie den Weg freigeben. Gleichzeitig aber senkte es sich von oben
19089 herab wie eine dunkle, langgestreckte Masse, die eben erst auf dem
19090 Feld erschien. Wie ein breites, schwebendes Band, von den
19091 Luftschiffen begleitet, dehnte sich diese Masse jetzt in den kurzen
19092 Sekunden aus, welche die heranstürmende Kavallerie zur Annäherung
19093 brauchte. Und nun kam die erste Reihe der Reiter in den Bereich
19094 ihrer Wirkung, und gleich darauf zog die seltsame Maschine über das
19095 ganze Regiment hinweg.
19097 Die Wirkung war so ungeheuerlich, daß die Schar der ansprengenden
19098 Fürsten und Generale stockte und ein Schrei des Entsetzens vom
19099 weiten Feld her herüberhallte. Kein einziges Pferd mehr stand
19100 aufrecht. Roß und Reiter wälzten sich in einem weiten, wirren
19101 Knäuel, eine Wolke von Lanzen, Säbeln, Karabinern erfüllte die
19102 Luft, flog donnernd gegen die Maschine in der Höhe und blieb dort
19103 haften. Die Maschine glitt eine Strecke weiter und ließ dann ihre
19104 eiserne Ernte herabstürzen, wo die Waffen von den Nihilitströmen
19105 der Luftschiffe vernichtet wurden. Noch zweimal kehrte die Maschine
19106 zurück und mähte gleichsam das Waffenfeld ab. Keine Hand vermochte
19107 Säbel oder Lanze festzuhalten, und wo die Befestigung an Roß und
19108 Reiter nicht nachgab, wurden beide eine Strecke fortgeschleift. Die
19109 Hufeisen wurden in die Höhe gerissen, und dadurch waren sämtliche
19110 Pferde zum Sturz gebracht worden. Jene Maschine war die neue,
19111 gewaltige Erfindung der Martier, eine Entwaffnungsmaschine von
19112 unwiderstehlicher Kraft für jedes eiserne Gerät – ein magnetisches
19113 Feld von kolossaler Stärke und weiter Ausdehnung. Mit Hilfe dieses
19114 in der Luft schwebenden Magneten entrissen die Martier ihren
19115 Gegnern die Waffen, ohne sie in anderer Weise zu beschädigen, als
19116 es durch das Umreißen unvermeidlich war.
19118 Während die Kavallerie aus ihrer Verwirrung sich aufzuraffen
19119 versuchte, war der Luftmagnet schon weitergezogen und hatte sich
19120 der Infanterie genähert. Vergeblich umklammerten die Soldaten mit
19121 beiden Händen ihre Gewehre, eine unwiderstehliche Gewalt zerrte sie
19122 in die Höhe, und mancher, der nicht nachgeben wollte, wurde ein
19123 Stück in die Luft geschleudert, um dann schwer zu Boden zu stürzen.
19124 In wenigen Minuten war das 1. Garderegiment entwaffnet. Die
19125 Maschine flog weiter, um die auf dem Marsch befindlichen Regimenter
19126 einzuholen und dasselbe Manöver an ihnen vorzunehmen. Binnen kurzem
19127 mußte so selbst die stärkste Armee kampfunfähig gemacht sein. Auch
19128 die Geschütze der Artillerie wurden fortgerissen.
19130 Während der Monarch und seine Begleitung in tiefer Erschütterung
19131 auf das Unfaßliche starrten, senkte sich aus der Höhe dicht vor
19132 ihnen ein schlankes Schiff hernieder, das ein leuchtender Stern als
19133 das Admiralsschiff bezeichnete. Demselben entstieg, während die
19134 übrigen die Absperrung aufrecht erhielten, der Befehlshaber der
19135 Martier. Zwei Adjutanten begleiteten ihn. Über ihren Köpfen
19136 glänzten die diabarischen Helme. So traten sie langsam einige
19137 Schritte vor, die großen Augen scharf auf die Offiziere gerichtet.
19138 Unwillkürlich wichen alle zur Seite, eine Gasse öffnete sich, und
19139 der Nume stand dem Monarchen gegenüber.
19141 Der Martier grüßte mit einer ehrfurchtsvollen Handbewegung und
19142 sagte:
19144 ›Mein Auftraggeber, der Protektor der Erde, lädt Ew. Majestät und
19145 Ihre hohen Verbündeten zu einer Besprechung ein und bittet, zu
19146 diesem Zwecke dieses Schiff allergnädigst besteigen zu wollen. Ich
19147 bemerke, daß es unmöglich ist, diesen von unserer Repulsitzone
19148 umgebenen Platz auf andere Weise zu verlassen.‹
19150 Niemand wagte sich zu bewegen. Lange blickte der Fürst mit strenger
19151 Miene in das Auge des Numen, der den Blick ruhig erwiderte; keiner
19152 zuckte mit einer Wimper. Dann steckte der Monarch mit einer
19153 entschlossenen Bewegung den Degen in die Scheide und sprach
19154 nachdrücklich:
19156 ›Sie haben einen General gefangengenommen, nichts weiter. Seine
19157 Majestät, mein Herr Sohn, befindet sich nicht unter uns.‹
19159 ›Ew. Majestät werden ihn im Schiffe finden‹, sagte der Nume mit
19160 einer Verbeugung.
19162 Der Feldherr schwang sich vom Pferd. Hoch aufgerichtet, die Hand
19163 auf dem Griff des Degens, stieg er die herabgelassene Schiffstreppe
19164 hinan.
19166 Das Luftschiff, das bereits vor einer Stunde die Kommandierenden
19167 der Armeekorps in Königsberg, Breslau und Posen aufgehoben hatte,
19168 entfernte sich nach Westen – –“
19170 Torm ließ die Blätter aus seiner Hand sinken.
19172 Das also war das Unglück vom dreißigsten Mai!
19174 Er nahm die Broschüre wieder auf, er blätterte weiter, er blickte
19175 auch in die übrigen Hefte.
19177 An demselben Tag waren die Festungswerke von Spandau durch die
19178 Martier zerstört, die Kriegsvorräte unbrauchbar gemacht worden. Man
19179 hatte die Fürsten nach Berlin geführt, die ganze Stadt wurde jetzt
19180 zerniert. Wo sich Truppen im Freien zeigten, erschienen alsbald die
19181 Elektromagnete der Martier und entrissen ihnen die Waffen. Nach
19182 drei Tagen waren alle größeren Waffenplätze außer Funktion
19183 gesetzt.
19185 Jetzt liefen die Nachrichten aus Wien, Paris, Rom ein. Die Martier
19186 waren überall in ähnlicher Weise vorgegangen. Zuerst hatten sie
19187 sich der Personen der Fürsten, Präsidenten und Minister bemächtigt.
19188 Man hatte den Kaiser von Österreich auf der Jagd, den König von
19189 Indien während eines großen Empfanges aufgehoben, der Präsident der
19190 französischen Republik spielte gerade mit dem Kriegsminister eine
19191 Partie Billard, als er in das Luftschiff der Martier eingeladen
19192 wurde. Die Kammer wurde im Palais Bourbon eingeschlossen, bis der
19193 Friedensvertrag unterzeichnet war. Die gefangenen Fürsten dankten
19194 zugunsten ihrer Thronerben ab, und die jungen Nachfolger konnten
19195 zuletzt nichts anderes tun, als in die Friedensbedingungen der
19196 Martier willigen, da ihre Armeen machtlos waren und ein längerer
19197 Widerstand nur zu einer Auflösung der staatlichen Ordnung geführt
19198 hätte.
19200 Rußland allein war vorläufig von einem Angriff der Martier
19201 verschont geblieben. Die Gründe dafür wußte man nicht, doch nahm
19202 man allgemein an, daß die Martier nur eine günstige Gelegenheit
19203 abwarteten, bis ihnen die Zustände in den westlichen Staaten mehr
19204 freie Hand ließen. Das Protektorat über die Erde blieb erklärt, war
19205 aber zunächst nur für die westlichen Staaten Europas durchgeführt.
19206 Hier wartete in jeder Hauptstadt ein Resident der Marsstaaten und
19207 ein Kultor seines Amtes. Zwar war die Freiheit der Verwaltung im
19208 Innern garantiert, doch tatsächlich war auch in bezug auf
19209 Gesetzgebung und Regierungsmaßregeln der Wille der Marsstaaten im
19210 letzten Grunde ausschlaggebend. Die allgemeine Entwaffnung bis auf
19211 eine Präsenzstärke von ein halb Promille der Bevölkerung war eine
19212 der Friedensbedingungen gewesen. Trotz allen Sträubens mußten die
19213 Fürsten sie annehmen, da es tatsächlich unmöglich gewesen wäre, den
19214 technischen Machtmitteln der Martier gegenüber ohne ihren Willen
19215 eine Truppe auszubilden.
19217 Eine Reihe von Vorteilen in volkswirtschaftlicher Beziehung wurde
19218 nun angebahnt. Produkte des Mars wurden eingeführt, neue
19219 Betriebsformen von Fabriken, vor allem die Herstellung künstlicher
19220 Nahrungsmittel. Die Landwirte wurden vorläufig damit beruhigt, daß
19221 ihnen aus den Fonds der Marsstaaten große unverzinsliche Darlehen
19222 gegeben wurden, um die Kosten der Umwandlung des Fruchtbetriebs in
19223 Maschinenbetrieb durch Sonnenstrahlung zu bestreiten. Ingenieure
19224 der Martier leiteten die Einrichtung der Strahlungsfelder, zu denen
19225 vorläufig nur unfruchtbarer Boden benutzt wurde. Alles dies aber
19226 waren bloß vorbereitende Schritte, die eigentlich mehr erziehen als
19227 wirtschaftlich nützen sollten. Die Ausbeutung der Sonnenenergie
19228 suchten die Martier auf den großen Wüsten und Steppen Asiens,
19229 Afrikas und Nordamerikas. Sie hatten deshalb mit Rußland und den
19230 Vereinigten Staaten neue Verhandlungen angeknüpft.
19232 Inzwischen erstrebten sie in Europa rein ideale Ziele.
19233 Kriegskostenentschädigung verlangte man nicht, die großen Summen,
19234 die für das Militär erspart wurden, kamen den Fortbildungsschulen
19235 zugute. Die Martier wollten die Menschheit für ihre höhere
19236 Auffassung der Kultur und Sittlichkeit erziehen, und dem sollte die
19237 Einsetzung der Kultoren, die Einrichtung obligatorischer
19238 Fortbildungsschulen dienen.
19240 Torm war zu abgespannt, um weiterzulesen. Er legte die Papiere
19241 beiseite. Ein einzelnes Blatt schob sich vor. Er sah alsbald, daß
19242 es ein Flugblatt sei, zu irgendeinem bestimmten Zweck verbreitet,
19243 und sein Blick richtete sich nur noch einmal darauf, weil er mit
19244 fetten Lettern die Worte gedruckt sah: „Glaubt nicht an ihren
19245 Edelmut“, „Die Mörder von Podgoritza“, „Aber auch sie sind
19246 sterblich“. Er las das Blatt jetzt durch, einmal, zweimal. Es
19247 handelte von der sogenannten ›Bestrafung‹ von Podgoritza in
19248 Montenegro. Diese Stadt war tatsächlich von den Martiern dem
19249 Erdboden gleichgemacht worden. Allerdings hatte man den Einwohnern
19250 Zeit gelassen, sie zu räumen, aber nicht alle hatten gehorcht; da
19251 waren die Nume zum erstenmal auf der Erde schonungslos vorgegangen
19252 und hatten ohne Rücksicht auf Menschenleben ihre Drohung
19253 ausgeführt. Es waren wohl einige hundert Personen dabei umgekommen,
19254 wütende Männer, die sich den Luftschiffen entgegengeworfen hatten.
19255 Aber warum war dieses ungewöhnliche Strafgericht ergangen? Es war
19256 kurz nach der Unterwerfung der westeuropäischen Staaten gewesen,
19257 als ein großes Luftschiff der Martier, das von einer
19258 wissenschaftlichen Expedition zurückkam und zum Zweck einer kleinen
19259 Ausbesserung in der Nähe von Podgoritza anlegte, in der Nacht
19260 unvermutet von bewaffneten Bewohnern der Stadt und Umgegend
19261 überfallen worden war. Die Martier waren überrascht und bis auf den
19262 letzten Mann, zum großen Teil im Schlaf, niedergemacht worden. Es
19263 war der einzige Verlust, den die Nume bisher auf der Erde erlitten
19264 hatten und die Empörung in den Marsstaaten war ungeheuer. Man war
19265 nahe daran, die ganze Menschheit für die Bluttat unzivilisierter
19266 Albaner verantwortlich zu machen. Etwas Derartiges war den Martiern
19267 bisher undenkbar gewesen; und so wurde bestimmt, daß die Strafe
19268 ausnahmsweise nach menschlicher Art, das heißt durch Vernichtung
19269 des Gegners, vollzogen werde, weil man glaubte, sonst bei der
19270 barbarischen Bevölkerung keinen Eindruck zu erzielen. Diese
19271 Handlungsweise der Martier wurde nun in Europa ausgebeutet, um sie
19272 in üblem Licht darzustellen.
19274 Aber warum machte die Tat auf Torm einen so tiefen Eindruck? Immer
19275 und immer wieder beschäftigte ihn die Frage, welches Schiff es wohl
19276 gewesen sei, von dem kein Lebender zu den Martiern zurückkehrte.
19277 Und eine Vermutung stieg in ihm auf, an die er kaum zu glauben
19278 wagte.
19280 \section{46 - Der Kultor der Deutschen}
19282 „Unmöglich, Herr Kultor, unmöglich“, sagte der Justizminister
19283 Kreuther, indem er seine hohe Stirn mit dem Taschentuch tupfte. „In
19284 dieser Form, welche der Reichstag dem Gesetzentwurf zum Schutz der
19285 individuellen Freiheit gegeben hat, ist er für uns unannehmbar. Sie
19286 müssen das selbst zugeben. Es würden die Paragraphen 95 bis 101 des
19287 Strafgesetzbuches hinfällig werden.“
19289 „Und was schadet dies?“ fragte der Kultor kühl. Er lehnte sich
19290 bequem in seinen Stuhl zurück und ließ seine großen Augen ruhig von
19291 einem der beiden ihm gegenübersitzenden Herrn zum andern wandern.
19293 Der Justizminister blickte ihn fassungslos an. Sein Begleiter, der
19294 Minister des Innern, von Huhnschlott, richtete sich gerade auf und
19295 zerrte an seinem grauen Backenbart.
19297 „Was das schadet?“ sagte er mit mühsam zurückgehaltener Empörung.
19298 „Das heißt, die Majestät schutzlos machen, das heißt, jeder
19299 pöbelhaften Gemeinheit einen Freibrief ausstellen, das heißt, unsre
19300 heiligsten, angestammten Gefühle angreifen und die Autorität
19301 untergraben.“
19303 „Sie irren, Exzellenz“, antwortete der Kultor mit einem überlegenen
19304 Lächeln. „Es heißt nur, die Wahrheit festlegen, daß die Majestät
19305 ebensowenig durch Äußerungen anderer beleidigt werden kann, wie die
19306 Vernunft überhaupt, daß die sittliche Persönlichkeit dadurch nicht
19307 berührt wird. Die Verleumdung bleibt strafbar wie jede Schädigung,
19308 und die Autorität ist genügend geschätzt durch die
19309 Unverletzlichkeit der Person der Fürsten. Wir können es aber als
19310 keine Schädigung der Person erachten, wenn jemand ohne seine Schuld
19311 lediglich beschimpft wird. Das ist eben die Grundanschauung, die
19312 wir durchführen wollen, daß es keine solche Beleidigung gibt, daß
19313 die Injurie nicht denjenigen verächtlich macht und in der
19314 öffentlichen Meinung herabsetzt, den sie treffen soll, sondern
19315 denjenigen, der sie ausspricht. Wir erstreben mit diesem Gesetz,
19316 einen Teil unsres allgemeinen Erziehungsplanes durchzuführen. Die
19317 Menschen sollen lernen, ihre Ehre allein zu finden in dem
19318 Bewußtsein ihres reinen sittlichen Willens, und sie sollen
19319 verachten lernen den äußern Schein, der dem Schlechten ebenso
19320 zugute kommt wie dem Ehrenmann. Wir wollen die Erziehung zur innern
19321 Wahrheit, indem wir den Schutz des Gesetzes dem entziehen, was dazu
19322 verleitet, die Ehre im Urteil oder Vorurteil der Menge zu sehen.
19323 Alle unsre Maßregeln, die volkswirtschaftlichen wie die ethischen,
19324 haben nur das eine Ziel, den Menschen das höchste aller Güter zu
19325 verschaffen, die innere Freiheit.“
19327 Der Justizminister schüttelte den Kopf. „Das ist ein kindlicher
19328 Idealismus“, dachte er, aber er wußte nicht gleich, wie er dies,
19329 was er für beleidigend hielt, höflich ausdrücken solle.
19331 „Herr Kultor“, sagte von Huhnschlott, „das bedeutet eine gänzlich
19332 von der unsrigen abweichende Weltanschauung, das kann nur die
19333 Umsturzideen fördern. Wir bitten Sie inständig –“
19335 „Das ist keine neue Weltanschauung“, unterbrach ihn der Kultor
19336 streng, „es ist nur der Kern der Religion, zu deren äußeren Formen
19337 Sie sich so eifrig bekennen. Es ist die innere Freiheit im Sinne
19338 des Christentums, nur daß sein Begründer, im Zusammensturz der
19339 antiken Welt, machtlos im römischen Weltreich, sie allein finden
19340 konnte in der Verachtung und Flucht der Welt und daß seine
19341 angeblichen Nachfolger sie bloß verstanden als den Verzicht des
19342 Armseligen zugunsten des Mächtigen. Wir aber sind die Herren der
19343 Natur und der Welt und wollen nun der Pflicht nicht vergessen, für
19344 jeden diese innere Freiheit zu ermöglichen, ohne daß er auf die
19345 Güter dieses Lebens zu verzichten braucht. Und darum, meine Herren,
19346 ist es ganz vergeblich, daß Sie sich weiter bemühen. Sie werden dem
19347 Gesetz die Zustimmung der Regierung geben.“
19349 Der Kultor erhob sich.
19351 Die Minister standen sogleich auf und sahen sich verlegen an.
19353 „Verzeihen Sie, Herr Kultor“, begann der Justizminister nach einer
19354 Pause, „wir haben diese Unterredung als eine private nachgesucht;
19355 ich sehe, daß sie leider erfolglos war. Was werden Sie tun, wenn
19356 das Gesamtministerium Ihnen eine offizielle Vorstellung macht?“
19358 „Ich werde auf der Sanktionierung des Gesetzes bestehen.“
19360 „Und wenn der Bundesrat dennoch ablehnt?“
19362 „Er wird es nicht.“
19364 „Ich würde eher meine Demission einreichen, als die Annahme
19365 empfehlen“, sagte Kreuther mit Haltung.
19367 „Das Ministerium ist darin einig“, fügte Huhnschlott hinzu.
19369 „Das täte mir leid, meine Herren, aber es würden sich andere
19370 Minister finden.“
19372 „Und wenn nicht?“ rief Huhnschlott auffahrend.
19374 „Dann wird Ihnen der Herr Resident die Antwort erteilen. Bemühen
19375 Sie sich nur zu ihm, ich weiß, was er Ihnen antworten wird. Hätten
19376 Sie sich der Protektoratserklärung vom 12. Mai vorigen Jahres
19377 unterworfen, so wäre eine Einmischung in innere Angelegenheiten
19378 ausgeschlossen. So aber wird er sie auf Artikel 7 des nordpolaren
19379 Friedensvertrages vom 21. Juni verweisen. Die Garantien für den
19380 Rechtsbestand der Verfassung sind aufgehoben, wenn sich die
19381 Regierung weigert, diejenigen Maßregeln zu unterstützen, welche die
19382 Marsstaaten für notwendig zur wirtschaftlichen, intellektuellen
19383 oder ethischen Erziehung der Menschheit hält.“
19385 „Die Entscheidung des Kultors und des Residenten ist noch nicht
19386 maßgebend“, erwiderte Huhnschlott finster. „Es steht uns der Appell
19387 an den Protektor der Erde offen.“
19389 „Appellieren Sie“, sagte der Kultor.
19391 Die Minister verbeugten sich förmlich und verließen das Zimmer.
19392 Langsam stiegen sie die breite Treppe hinab. In der Vorhalle
19393 standen zwei riesenhafte Beds unter ihren diabarischen
19394 Glockenhelmen Posten und senkten salutierend ihre Telelytrevolver.
19395 Die Minister grüßten mechanisch und stiegen in den vor der Tür
19396 haltenden elektrischen Wagen. Er rollte aus der bedeckten Auffahrt
19397 auf den regennassen Asphalt der breiten Straße. Huhnschlott warf
19398 einen Blick rückwärts auf das flache Dach des Gebäudes, wo die
19399 glatten Rücken dreier Marsschiffe durch den grauen Schleier des
19400 herabrieselnden Regens glänzten und ihre Repulsitrohre nach drei
19401 Richtungen drohend der Hauptstadt entgegenstreckten. Kreuther war
19402 dem Blick gefolgt und seufzte tief.
19404 „Zum Kanzlerpalais“, rief Huhnschlott dem Wagenführer zu und
19405 murmelte einen Fluch zwischen den Zähnen.
19407 Der Kultor war an eines der hohen Fenster des Gemaches getreten und
19408 blickte hinüber auf den Verkehr der Straße. Seine Stirn zog sich
19409 finster zusammen. Das tut’s freilich nicht, so gingen seine
19410 Gedanken, aber die Gängelbänder müssen fort, wenn die Kinder allein
19411 und aufrecht zu gehen lernen sollen. Und diese Huhnschlotts sind
19412 die gefährlichsten Feinde der Selbstzucht; doch ihre Macht ist
19413 gebrochen. Sie werden nicht wagen, sich zu widersetzen.
19415 In seinen Augen leuchtete es triumphierend auf. Es muß gelingen! Er
19416 wandte sich nach seinem Arbeitszimmer.
19418 „Die Berichte der Herren Instruktoren!“ sprach er ins Telephon.
19420 Der Aufzug beförderte ein dickes Aktenbündel herauf. Er begann
19421 darin zu blättern und sich Notizen zu machen. Sein Auge
19422 verfinsterte sich wieder. Die Bestrafungen wegen Versäumnis der
19423 Fortbildungsschulen vermehrten sich von Monat zu Monat. Auf dem
19424 Land hatte man jetzt während der Erntezeit die Einrichtung
19425 überhaupt pausieren lassen müssen. Und wie oft waren die Lehrpläne
19426 falsch aufgestellt! Nicht wenige Instruktoren ließen Dinge lehren,
19427 zu denen die Vorkenntnisse fehlten. Aber es fanden sich doch auch
19428 erfreuliche Erfolge. In manchen Landesteilen, besonders bei der
19429 industriellen Bevölkerung, drängte man sich nach den
19430 Bildungsstätten. Merkwürdigerweise zeigte sich auch in
19431 Süddeutschland, sogar in Tirol, ein Fortschritt in der Popularität
19432 der Schulen. Hier stand den Bestrebungen der Nume die feste
19433 Organisation der kirchlichen Macht feindlich gegenüber; es schien
19434 zuerst, als würde es unmöglich sein, gegen den Fanatismus der von
19435 der Geistlichkeit gelenkten Bevölkerung aufzukommen. Aber gerade in
19436 diesen Gegenden wurde der Besuch, trotz der lokalen Schwierigkeiten
19437 in den Gebirgen, immer lebhafter, es gründeten sich selbständige
19438 Vereine, zahlreich wurden Lehrer verlangt.
19440 Der Kultor sann lange über die Ursache dieser Erscheinung nach. War
19441 es die natürliche Opposition gegen die Macht, die bisher das
19442 Nachdenken geflissentlich vom Volk ferngehalten hatte? Brauchte man
19443 dem menschlichen Geist nur die Freiheit und die Gelegenheit des
19444 Denkens zu geben, um sicher zu sein, daß er seinen Aufflug gewinnen
19445 werde? Oder waren die Instruktoren hier geschickter? Der Kultor las
19446 einige der Einzelberichte, und er sah mit Vergnügen, wie gut es die
19447 Sendboten der Numenheit verstanden hatten, sich vollständig nach
19448 den kirchlichen Gewohnheiten der Bevölkerung zu richten. Nirgends
19449 suchten sie Zweifel zu erwecken, nirgends gegen die traditionelle
19450 Form zu verstoßen. Sie beschränkten sich zunächst auf rein
19451 praktische Kenntnisse, deren Wirkung sich sofort in der Hebung des
19452 wirtschaftlichen Lebens zeigte. So gewannen sie Vertrauen. Der Weg
19453 ist lang, dachte der Kultor, aber er ist der einzig mögliche.
19455 Der Kultor blickte auf seine Notizen und sprach eifrig in den vom
19456 Mars eingeführten Phonographen, der ihm zum Festhalten seiner
19457 Gedanken diente. Er entwarf eine Erläuterung zur Instruktion der
19458 einzelnen Bezirkskultoren. Die süddeutschen Erfolge sollten zum
19459 Vorbild genommen werden. Als er einiges aus der Statistik anführen
19460 wollte, stutzte er bei einer Zahl, die von den übrigen auffallend
19461 abwich. Wie kam es, daß in dem Bezirk von Bozen die Resultate so
19462 ungünstig waren? Er suchte in den Akten den Bericht des
19463 Instruktors. Es war die erste Arbeit eines neu hingekommenen
19464 Beamten. Die Instruktoren mußten sehr häufig wechseln, das war ein
19465 großer Übelstand; sie vertrugen das Erdklima nicht.
19467 Eben begann der Kultor den Bericht zu lesen, als ihm gemeldet
19468 wurde, daß der Vorsteher des Gesundheitsamtes von seiner
19469 Inspektionsreise zurückgekehrt sei und anfrage, ob er ihn sprechen
19470 könne.
19472 „Ich bitte, sogleich“, war die Antwort.
19474 Die Tür öffnete sich, und ein älterer Herr trat ein. Trotz der
19475 diabarischen Glocke, die über seinem Haupt schwebte, ging er
19476 gebückt und mühsam.
19478 Der Kultor sprang auf und eilte ihm entgegen.
19480 „Mein lieber, teurer Freund“, sagte er, seine Hände fassend, „was
19481 ist Ihnen? Sie sehen angegriffen aus, sind Sie nicht wohl? Machen
19482 Sie es sich bequem. Legen Sie den Helm ab, und setzen Sie sich hier
19483 auf das Sofa unter dem Baldachin, dieses Eckchen ist auf
19484 Marsschwere eingerichtet. Ihre Reise hat Sie gewiß sehr
19485 angestrengt?“
19487 „Es muß meine letzte sein. Sobald ich meinen offiziellen Bericht
19488 abgegeben habe, spätestens in zwei bis drei Wochen, komme ich um
19489 Urlaub ein. Ich hoffe, Sie werden mir keine Schwierigkeiten
19490 machen.“
19492 „Sie erschrecken mich, Hil! Selbstverständlich können Sie reisen,
19493 sobald Sie wollen, sollen Sie reisen, wenn es Ihre Gesundheit
19494 erfordert. Aber mir tut es von Herzen leid. Und wie sollen Sie
19495 ersetzt werden? In diesem unausgesetzten Wechsel der Beamten – wir
19496 haben nun schon den vierten Residenten – waren Sie mir die festeste
19497 Stütze. Indessen, ich hoffe, es handelt sich nur um eine
19498 vorübergehende Indisposition. Das feuchte Wetter –“
19500 „Ja das Wetter! Sehen Sie, Ell – ich spreche im Vertrauen –, an dem
19501 Wetter wird unsre Kunst zuschanden. Der Winter läßt sich allenfalls
19502 ertragen, aber gegen diese feuchte Wärme kommen wir nicht auf. Oft
19503 habe ich geglaubt, wenn unsre Beamten schon nach wenigen Wochen um
19504 Urlaub einkamen, es liege an ihrer Willensschwäche. Ich habe jetzt
19505 auf meiner Reise durch die Tiefebene und durch die feuchten
19506 Waldtäler der Gebirge gesehen, daß dieses Klima für den Numen, der
19507 sich wenigstens einen Teil des Tages im Freien aufhalten muß, wie
19508 es doch auf Reisen unvermeidlich ist, in gefährlichster Weise
19509 wirkt. Der Regen, der Regen! Wer diese Himmelsplage erfunden hat!
19510 Bald prickelt es von allen Seiten in mikroskopischen
19511 Wassertröpfchen, bald braust es in Sturzgüssen hernieder, bald
19512 fällt es mit jener eintönigen, hypnotisierenden, tödlichen
19513 Langeweile herab wie heute. Die Luft, mit Dampf gesättigt, lähmt
19514 die Tätigkeit der Haut und läßt uns ersticken. Ich war manchmal wie
19515 verzweifelt. Wir dürfen niemand länger als ein halbes Jahr im
19516 Winter oder ein Vierteljahr im Sommer hier lassen, oder wir bringen
19517 Lungen und Herz nicht wieder gesund nach dem Nu. Was nutzen uns die
19518 trefflichen antibarischen Apparate, wenn das infame Wasser uns im
19519 wahren Sinne des Wortes ersäuft? Da oben am Pol war das nicht so
19520 merklich, wir lebten ja auch mehr nach unsrer eignen Weise. Aber
19521 hier in Deutschland –. Warum mußten Sie sich auch gerade dieses
19522 Volk zu Ihrem Experiment ausersehen? Es gibt doch Gegenden, in
19523 denen wir einigermaßen besser fortkommen würden, zum Beispiel die
19524 großen Steppen im Osten, und überall, wo es trocken ist –“
19526 „Aber mein verehrter Hil! Unsre Kulturbestrebungen können wir doch
19527 nur dort betreiben, wo wir die Bevölkerung am besten vorbereitet
19528 finden, also wo die Volksbildung die vorgeschrittenste ist.
19529 Deswegen mußte ich Deutschland wählen, und vornehmlich darum, weil
19530 ich es am besten kenne. Höchstens an England hätte ich, aus andern
19531 Gründen, denken können, aber dort ist es noch viel feuchter. Und
19532 aus allen andern Staaten klagen die Kultoren und Residenten ebenso.
19533 Hier liegt ein ganzer Stoß von Urlaubs- und Entlassungsgesuchen von
19534 Leuten, die noch keine drei Monate im Lande sind. Doch Sie setzten
19535 ja so viele Hoffnung auf das Anthygrin. Hat sich denn dieses
19536 Heilmittel nicht bewährt?“
19538 „Das Anthygrin ist in der Tat ein ausgezeichnetes Spezifikum gegen
19539 das Erdfieber, und mit dem Chinin zusammen hält es uns einige Zeit
19540 aufrecht. Aber es wird nicht lange vertragen, andere Organe werden
19541 ruiniert. Ich habe es jetzt sehr stark anwenden müssen, und nun bin
19542 ich hauptsächlich deswegen so schwach, weil ich nichts mehr essen
19543 kann.“
19545 „Sie sollten sich an Menschenkost gewöhnen. Man muß sich eben nach
19546 dem Land richten. Im übrigen müssen wir uns damit abfinden, daß
19547 unsre Beamten schnell wechseln. Wir wollen versuchen, ihnen öfter
19548 einen kürzeren Urlaub in günstigere klimatische Verhältnisse, etwa
19549 nach Tibet, zu geben. Dort hat sich ja jetzt eine vollständige
19550 Marskolonie entwickelt. Und wissen Sie, Sie brauchen Ihren Bericht
19551 nicht hier abzufassen, Sie können das tun, wo Sie sich wohler
19552 fühlen, vielleicht in den Alpen, oder auch weiter fort. Ich stelle
19553 Ihnen ein Regierungsschiff zur Verfügung.“
19555 „Ja, wenn wir in der Lage wären, jedem ein Luftschiff mitzugeben –
19556 das wäre freilich das beste Mittel. Zehntausend Meter in die Höhe,
19557 das kuriert besser als Anthygrin und alle Mittel.“
19559 „Das können wir freilich uns vorläufig nicht leisten, aber in
19560 einigen Jahren, wenn wir die Energiestrahlung auf der Erde besser
19561 ausnutzen können, wird es hoffentlich möglich sein. Etwas ließe
19562 sich inzwischen schon tun. Man könnte einige Schiffe zu einer
19563 Höhen-Luftstation einrichten und so doch abwechselnd den einzelnen
19564 Erleichterung schaffen.“
19566 „Tun Sie darin bald, was Sie tun können.“
19568 „Ich kann jetzt nicht größere Geldmittel verlangen. Der Etat für
19569 dieses Jahr ist erschöpft. Wir haben kolossale Anlagekosten
19570 gehabt.“
19572 „Ganz gleich, mögen es die Menschen bezahlen.“
19574 Ell sah den Arzt erstaunt an.
19576 „Nun ja“, lenkte Hil ein, „es klingt etwas roh. Schließlich wird es
19577 doch darauf hinauskommen. Doch entschuldigen Sie meine – meine
19578 Ausdrucksweise. Ich fühle selbst, daß ich jetzt so leicht heftig,
19579 nervös gereizt bin. Man lernt ja die Menschen nicht gerade sehr
19580 hoch schätzen – übrigens ist das die allgemeine Ansicht bei unsern
19581 Beamten, daß es ganz gut wäre, lieber Steuern zu erheben als
19582 Entschädigungsgelder zu zahlen.“
19584 „Ich verstehe Sie gar nicht mehr, lieber Freund. Das wäre die
19585 Ansicht bei unsern Beamten? Dagegen würde ich mich doch recht
19586 ernstlich erklären.“
19588 „Da es mir einmal so – wie man hier redet – herausgefahren ist, so
19589 mag es denn auch gesagt sein“, erwiderte Hil, „obwohl ich erst in
19590 meinem Bericht davon sprechen wollte, weil ich ihnen erst darin die
19591 formellen Belege für meine Beobachtungen geben kann. Es ist
19592 allerdings eine Gefahr da, eine moralische, die Ihnen in der
19593 Auswahl der Beamten ganz besondere Vorsicht auferlegen wird. Es ist
19594 mir im allgemeinen aufgefallen, daß die Instruktoren nach einigen
19595 Monaten nicht mehr die Ruhe und das heitere Gleichmaß der Gesinnung
19596 haben, die wir an den Numen gewohnt sind. Der Umgang mit den
19597 Menschen, wenigstens in der autokratischen Stellung, die sie
19598 einnehmen, wirkt – verzeihen Sie den Ausdruck – gewissermaßen
19599 verrohend, und das äußert sich zunächst in der Sprechweise, in
19600 einer Geringschätzung der ästhetischen Form, weiterhin in einer
19601 Überschätzung der eigenen Bedeutung, schließlich in einer schon das
19602 ethisch Statthafte überschreitenden Selbstherrlichkeit. Ja, ich
19603 habe leider einzelne Fälle beobachtet, wo man direkt von einer
19604 Psychose sprechen kann, ich möchte sie geradezu den ›Erdkoller‹
19605 nennen.“
19607 „Aber ich bitte Sie, da muß sofort eingeschritten werden. Darüber
19608 werden Sie mir eingehend berichten.“
19610 „Als Arzt, gewiß. Das andere wird Sache der revidierenden
19611 Unterkultoren sein, wenn nicht gar des Residenten. Denn es können
19612 politische Verwicklungen entstehen. Bis jetzt ist die Sache noch
19613 verhältnismäßig harmlos, und ich werde die betreffenden Herren
19614 schon morgen zur Beurlaubung vorschlagen. Da komme ich zum Beispiel
19615 – ich weiß den Namen nicht auswendig – auf eine Kreuzungsstation,
19616 wo ich umsteigen muß. Aber der neue Zug kommt nicht und kommt nicht
19617 – er hat über eine halbe Stunde Verspätung. Ich erkundige mich dann
19618 bei dem Zugführer und höre: Ja, der Herr Bezirksinstruktor ist ein
19619 Stück mitgefahren. Ich frage, warum das so lange aufgehalten habe.
19620 Der Herr Bezirksinstruktor habe einen eigenen Wagen verlangt, der
19621 mußte erst geholt werden. Dann könne er aber den Lärm und Dampf der
19622 Maschine nicht vertragen, und so mußte man den Wagen erst an das
19623 Ende des Zuges bringen und noch einige leere Wagen
19624 dazwischenschalten. Und endlich mußte man mitten auf der Strecke an
19625 einem Dorf halten, weil es ihm beliebte, dort auszusteigen.“
19627 „Und sagten Sie nicht, daß die Bahnbeamten solchem unberechtigten
19628 Verlangen nicht nachgeben durften?“
19630 „Die zuckten die Achseln und meinten, was will man tun? Man darf
19631 sich den nicht zum Feind machen.“
19633 „Die feigen Toren! Aber der Instruktor muß sofort von seinem Amt
19634 suspendiert und vor das Disziplinargericht gestellt werden. Das ist
19635 ja unerhört, wenn sich diese Angaben bestätigen, ich werde aufs
19636 genaueste untersuchen lassen. Wie kann ein Nume seine
19637 Berechtigungen so überschreiten!“
19639 „Es würde ihm auf dem Nu nie einfallen. Hier achtet er niemand als
19640 seinesgleichen. Die Theorie, daß Bate keine Numenheit besäßen, ist
19641 ja sehr verbreitet.“
19643 „Ich werde dafür sorgen, daß sich meine Beamten ihrer Pflicht
19644 erinnern, die Gesetze dieses Staates als die ihrigen zu betrachten,
19645 so lange sie hier sind, und sich keine privaten Vorrechte
19646 anzumaßen. Wie sollen die Menschen lernen, sich dem Gesetz zu
19647 fügen, wenn Nume solche Beispiele geben? Ich hätte das nicht
19648 geglaubt. Warum aber beschwert sich niemand? Sobald die Presse über
19649 einen derartigen Fall berichtete, würde ich sofort untersuchen
19650 lassen.“
19652 Hil zuckte mit den Achseln. „Die Untersuchung ist nicht immer sehr
19653 angenehm. Es ist schwer, alle Einzelheiten zu beweisen. Übrigens
19654 sind solche Fälle glücklicherweise noch vereinzelt. Sollten sie
19655 sich wiederholen, so würde die Presse nicht schweigen. Das sehen
19656 Sie ja an dem Fall Stuh.“
19658 „Was meinen Sie da?“
19660 „Haben Sie denn die heutigen Mittagsblätter nicht gelesen?“
19662 „Es war mir bis jetzt unmöglich. Aber ich würde natürlich nachher
19663 –. Doch was ist denn geschehen? Sie meinen doch nicht Stuh in
19664 Frankfurt?“
19666 „Die Sache spielt in der Nähe von Frankfurt. Der Bezirksinstruktor
19667 ist vier Stunden im Regen gefahren – beachten Sie das –, kommt in
19668 einen kleinen Ort und ist sehr hungrig. Er läßt vor dem Wirtshaus
19669 halten. Es ist Sonntag, alle Zimmer sind überfüllt, der Wirt hat
19670 selbst Taufe im Hause. Stuh geht in das Gastzimmer und bestellt
19671 sich Essen. Die Bauern rücken auch zusammen und machen ihm eine
19672 Ecke frei. Nun kommt das Essen. Stuh sagt dem Wirt, die Leute
19673 möchten jetzt das Zimmer verlassen, er wolle essen. Der Wirt stellt
19674 ihm vor, das könne er nicht verlangen, es sei kein Raum im ganzen
19675 Hause frei; selbst der Hausflur war besetzt, und draußen regnete es
19676 in Strömen. Da wird Stuh von Hunger und Regen wütend und herrscht
19677 die Leute an, sie möchten sich hinausscheren, wenn ein Nume esse,
19678 habe kein Bat zuzusehen. Die Bauern haben keine Ahnung, daß es uns
19679 nicht möglich ist, so öffentlich den Hunger zu stillen. Sie halten
19680 die Anforderung für eine Unverschämtheit und lachen Stuh einfach
19681 aus. Ganz nüchtern waren sie auch nicht mehr. Kurzum, es kommt zum
19682 Streit. Stuh will nun hinaus, jetzt aber verhöhnen ihn die Bauern
19683 und klopfen ihm mit ihren Stöcken auf den Glockenhelm.
19684 Unglücklicherweise hat Stuh an seiner Uhr ein kleines
19685 Telelytstiftchen. Er nimmt die Uhr heraus, hält sie den Umstehenden
19686 entgegen und sagt: ›Wenn ihr jetzt nicht macht, daß ihr
19687 hinauskommt, so lasse ich hier einen Feuerregen heraus, daß ihr
19688 alle verbrennen müßt.‹ Das war ja natürlich eine Aufschneiderei,
19689 mit dem Stiftchen konnte er höchstens einem die Kleider versengen.
19690 Und da nun nicht gleich Platz wird, so läßt er die Funkengarbe aus
19691 dem Stiftchen sprühen. Nun denken die Leute wirklich, das Haus muß
19692 anbrennen, und drängen sich zur Tür. Es entsteht ein Gewühl, und
19693 eine Menge Verwundungen kommen vor. Das ganze Haus gerät in
19694 Aufruhr. Stuh verriegelt die Tür und setzt sich ruhig zum Essen.
19695 Als nun die Bauern sahen, daß weiter nichts geschehen war und sie
19696 sich nur selbst gestoßen und getreten hatten, wurden sie wütend und
19697 wollten die Tür einschlagen, um Stuh zu verhauen. Zum Glück war
19698 inzwischen Polizei herbeigekommen und brachte Stuh unversehrt zum
19699 Ort hinaus. Aber Sie können sich denken, welche Empörung jetzt in
19700 dem Städtchen herrscht.“
19702 „Das ist unangenehm, sehr unangenehm“, sagte Ell. „Und ich kenne
19703 doch Stuh als einen ruhigen, menschenfreundlichen Mann.“
19705 „Der Regen, Ell! Fahren Sie einmal vier Stunden im Regen – mit
19706 Pferden, entsetzlicher Gedanke! Schon der Geruch kann einen
19707 wahnsinnig machen. Aber freilich, das können Sie nicht so
19708 nachfühlen –“
19710 Ell war aufgestanden und auf und ab gegangen. Er blieb nun stehen
19711 und sprach: „Aber das sind Zwischenfälle, die sich nicht vermeiden
19712 lassen. Man muß sie korrigieren, ihnen jedoch kein großes Gewicht
19713 beilegen. Unsere Aufgabe werden wir trotzdem erfüllen.“
19715 „Ich zweifle nicht. Aber es sind Symptome. Möchten sie sich nicht
19716 häufen! Indessen, sie sind nicht das Schlimmste. Es gibt eine viel
19717 größere Gefahr. Deswegen kam ich her. Eine Gefahr für die
19718 Menschen.“
19720 „Sprechen Sie, Hil.“
19722 „Wissen Sie, was bei uns Gragra ist?“
19724 „Das ist, wenn ich mich recht erinnere, eine Kinderkrankheit auf
19725 dem Mars, die ohne jede Bedeutung ist.“
19727 „Ganz richtig, das ist sie jetzt, seit einigen tausend Jahren. Die
19728 Kinder sind ein paar Tage müde, bekommen einen leichten Ausschlag,
19729 und dann ist die Sache vorüber. Aber es war nicht immer so. Im
19730 agrarischen Zeitalter war die Gragra eine furchtbare Plage, eine
19731 entsetzliche Pest, welche ganze Landstriche bei uns entvölkerte,
19732 nicht durch einen akuten Verlauf, sondern durch eine langsame,
19733 chronische Vergiftung. Wir sind ihrer Herr geworden, teils durch
19734 unsre Impfungen, teils durch die allmähliche Veränderung der
19735 Ernährung. Und nun – die ersten Spuren dieser chronischen Form –,
19736 doch setzen Sie sich her zu mir, ich muß leise sprechen.“
19738 Ell ließ sich neben Hil nieder. Dieser sprach lange mit ihm. Ells
19739 Gesicht war tiefernst geworden.
19741 „Das ist ja furchtbar“, sagte er. „Und was können wir tun?“
19743 „Noch weiß kein Mensch von der drohenden Gefahr. Die menschlichen
19744 Ärzte sind noch nicht einmal auf diese leichten, ihnen unbekannten
19745 ersten Symptome aufmerksam geworden. Und wenn die Krankheit
19746 allmählich stärker unter den Menschen auftreten sollte, werden
19747 Jahre vergehen, ehe sie erkennen werden, daß es sich um eine für
19748 sie ganz neue Form von Bakterien handelt. Denn diese sind so klein,
19749 daß sie nur durch unsere besonderen Strahlungsmethoden nachweisbar
19750 sind. Ich habe die Überzeugung, daß die Krankheit in ihrer milden
19751 Form vom Mars eingeschleppt worden ist und daß die Bazillen unter
19752 den auf der Erde, respektive im menschlichen Körper herrschenden
19753 Verhältnissen so günstige Bedingungen für ihre Vermehrung gefunden
19754 haben, daß die alte perniziöse Form, die bei uns ausgestorben war,
19755 wieder auftritt. In einigen Jahren werden wir die Verheerungen
19756 sehen.“
19758 „So müssen wir sofort die Ärzte auf diese Krankheit aufmerksam
19759 machen –“
19761 „Überlegen Sie das sehr sorgfältig, Ell. Wie gesagt, von selbst
19762 würde kein Mensch auf Jahre hinaus auf die Ursachen der
19763 Erscheinungen kommen, die sich zweifellos mit der Zeit zeigen
19764 werden. Und bisher sind die Symptome selbst erst für uns
19765 wahrnehmbar. Wollen Sie jetzt den Menschen sagen, wir haben Euch
19766 ein furchtbares Übel auf die Erde gebracht, schlimmer vielleicht
19767 als die Tuberkulose? Wäre das nicht der sichere Weg, unsern Einfluß
19768 aufzuheben? Würde das nicht zu einem allgemeinen Aufstand führen,
19769 den wir nur mit neuen Greueln unterdrücken könnten? Nein, es darf
19770 kein Mensch ahnen, daß wir ihm nicht bloß Heilsames auf der Erde
19771 verbreiten.“
19773 „Aber wir müssen die Menschen vor dem drohenden Unheil schützen.“
19775 „Es ist, wie ich überzeugt bin, möglich, aber es ist sehr
19776 schwierig. Zunächst müssen die Nume sich jeder unmittelbaren
19777 Berührung mit dem Körper der Menschen enthalten, es sei denn unter
19778 den besonderen Vorsichtsmaßregeln, wie sie der Arzt bei einer
19779 Untersuchung anwenden kann. Und es fragt sich, ob alle der Unseren
19780 in dieser Hinsicht zuverlässig sein werden. Für die Menschen aber
19781 ist zweierlei notwendig: Ernährung durch chemische Nahrungsmittel
19782 und allgemein durchgeführte Impfung. Unter diesen Umständen würde
19783 auch die Berührung mit den Numen nichts schaden können. Aber diese
19784 Mittel werden nicht anwendbar sein.“
19786 „Die allgemeine Verbannung der agrarischen Nahrungsmittel ist jetzt
19787 noch nicht möglich, sie wird sich nur nach und nach einführen
19788 lassen. Und bis dahin könnte schon viel Schaden geschehen sein. Die
19789 Impfung ließe sich ja zwangsweise durchsetzen, aber man müßte doch
19790 den Grund mindestens andeuten, und wir würden jedenfalls auf
19791 Widerstand stoßen und Unwillen erregen. Indessen, geschehen muß
19792 etwas. Ich erwarte baldigst die eingehenden Belege für die
19793 Richtigkeit Ihrer Ansicht und werde dann mit dem Residenten und dem
19794 Protektor konferieren. Es müßte wohl sicher international
19795 vorgegangen werden. Ach Hil, was für eine neue große Sorge haben
19796 Sie mir da gemacht!“
19798 „Es war meine Pflicht.“
19800 „Gewiß, mein verehrter Freund. Und vergessen Sie nicht bei Ihren
19801 Besprechungen mit den Kollegen, daß es sich um ein Numengeheimnis
19802 handelt. Es ist zu abscheulich! Nichts ist mir unangenehmer als der
19803 Zwang, mit der vollen Wahrheit zurückzuhalten. Und doch muß hier
19804 aufs sorgfältigste überlegt werden, ob wir reden dürfen. Darin
19805 haben Sie leider recht.“
19807 Ell trat an das Fenster und blickte, in Nachsinnen verloren,
19808 hinaus.
19810 Hil erhob sich, um sich zu verabschieden.
19812 Plötzlich zuckte Ell, wie von einem innern Schreck ergriffen,
19813 zusammen. Er drehte sich schnell nach Hil um und sagte:
19815 „Noch eins, Hil, noch eine Frage. Schenken Sie mir noch einen
19816 Augenblick. Ich möchte wissen –: Was halten Sie von der Gefahr, die
19817 der Aufenthalt auf dem Mars für die Menschen bietet? Glauben Sie,
19818 daß diejenigen, die dort waren, zum Beispiel unsre Freunde, den
19819 Keim der Krankheit in sich aufgenommen haben könnten?“
19821 Ein leichtes Lächeln spielte um Hils Züge, als er antwortete:
19823 „Für Ihre Person können Sie ganz unbesorgt sein. Bei Ihrem
19824 Numenblut und Ihrer Bevorzugung der chemischen Nahrungsmittel –“
19826 Ell winkte mit der Hand. „Nicht doch, ich dachte wirklich nicht an
19827 mich, ich dachte – zum Beispiel Saltner – und die Forschungs- und
19828 Vergnügungsreisenden. Wir können ja jetzt kaum Raumschiffe genug
19829 stellen. Glauben Sie, daß wir den Verkehr beschränken müßten?“
19831 „In dieser Frage haben wir noch keine Erfahrung. Indessen könnte es
19832 kein Bedenken erregen, wenn man die Impfung zum Beispiel für das
19833 Betreten der Raumschiffe unter irgendeinem Vorwand zur Bedingung
19834 machte.“
19836 „Aber diejenigen, die nun schon zurück sind?“
19838 „Saltner ist auf der Reise nach dem Mars geimpft worden, weil ihm
19839 sonst das Ehrenrecht als Nume nicht hätte erteilt werden können.
19840 Und was – was Frau Torm betrifft, so kann ich Sie ebenfalls
19841 beruhigen. Ich habe es für gut gehalten, während ihrer Krankheit
19842 nach und nach die bei uns vorgeschriebenen Impfungen zu vollziehen,
19843 und ich halte sie jetzt überhaupt für vollständig
19844 wiederhergestellt.“
19846 Ell, der Hil gespannt angeblickt hatte, atmete auf. Er sagte jetzt
19847 lächelnd: „Und halten Sie mich selbst für einen Ansteckungsherd?“
19849 „Nein, ich halte Sie in dieser Hinsicht für ganz ungefährlich.“
19851 „Ich danke Ihnen. Und wir wollen den Mut nicht verlieren. Ich will
19852 nachdenken, was wir tun können. Leben Sie wohl, und schonen Sie
19853 sich. Bestimmen Sie, wann Sie Höhenluft schöpfen wollen, das
19854 Luftschiff soll zu Ihrer Verfügung stehen.“
19856 Er begleitete Hil bis an die Tür und schüttelte ihm die Hand. Dann
19857 kehrte er zurück. Ein Seufzer entrang sich seiner Brust. Lange
19858 schritt er im Zimmer auf und ab. „Nur den Mut nicht verlieren!“
19859 sagte er zu sich selbst. Dann glitt ein stilles Lächeln über seine
19860 Züge. „Ja, das wird mir gut tun“, dachte er.
19862 „Den Wagen!“ rief er ins Telephon.
19864 \section{47 - Isma}
19866 Die Martier besaßen ein Verfahren zur Herstellung von
19867 Akkumulatoren, die nur ein sehr geringes Gewicht hatten. Diese
19868 waren sehr bald auf der Erde eingeführt worden und hatten das
19869 Fuhrwesen umgestaltet. In Berlin waren die Pferde vollständig aus
19870 dem Verkehr geschwunden. Die Nähe größerer Tiere war den Martiern
19871 wegen der damit verbundenen Unreinlichkeit und des Geruches ein
19872 Abscheu, und der Umgang der Menschen mit ihren Haustieren erschien
19873 ihnen als einer der barbarischsten Züge im Leben der Erde. In der
19874 Hauptstadt waren jetzt nur noch elektrische Wagen und Droschken im
19875 Gebrauch.
19877 Der elegante Wagen des Kultoramts führte Ell durch einen großen
19878 Teil der Stadt, vom fernen Südwest bis zum Südost. Als Ziel hatte
19879 er die Bildungsanstalt 27 angegeben, die sich in der ehemaligen
19880 Kaserne des dritten Garde-Infanterieregiments befand. Vor einer
19881 Nebenpforte des großen Gebäudes verließ Ell den Wagen, der dort
19882 warten sollte. Er trat in das Haus, aber er durchschritt nur einige
19883 Korridore und Höfe und verließ es wieder durch einen Ausgang nach
19884 der Zeughofstraße. Von hier kehrte er in die Wrangelstraße zurück
19885 und trat nach wenigen Minuten in eines der dortigen Mietshäuser, wo
19886 er in dem nach dem Garten zu liegenden Flügel drei Treppen
19887 hinaufstieg.
19889 Hier wohnte Isma. Sie saß an dem weitgeöffneten Fenster, aus
19890 welchem ihr Blick über die regenfeuchten Bäume des Gartens nach den
19891 dahinter anfragenden Häusermassen und Schornsteinen schweifte. Das
19892 Buch, in dem sie gelesen hatte, lag neben ihr. Von Zeit zu Zeit,
19893 wenn sie ein Geräusch von Tritten zu vernehmen glaubte, blickte sie
19894 nach der Tür, als erwartete sie, daß sie sich öffnen werde.
19896 Und nun klingelte es draußen. Sie stand auf und strich sich das
19897 Haar aus den Schläfen. Dann ging sie auf die Tür zu, aus welcher
19898 ihr Ell entgegentrat.
19900 „Endlich“, sagte er, ihre Hand ergreifend, „endlich wieder einmal
19901 bei Ihnen. Es tat mir zu leid, daß ich unsern letzten Abend nicht
19902 einhalten konnte, aber ich durfte die Einladung da oben nicht
19903 ablehnen. Fühlen Sie sich auch ganz wohl?“
19905 Sein Blick ruhte mit zärtlicher Besorgnis auf ihren Zügen.
19907 „Es geht mir besser wie je“, sagte Isma lächelnd.
19909 „Fühlen Sie gar keine Beschwerden?“ fragte er weiter. „Kein
19910 Kopfweh, keine Müdigkeit?“
19912 „Gar nichts. Sie fragen ja gerade, als wenn Sie Hil wären. Was
19913 haben Sie denn? Ich kann Ihnen wirklich nicht die Freude machen,
19914 mich pflegen zu lassen. Aber wissen Sie, Ell, daß Sie mir
19915 eigentlich gar nicht gefallen? Sie strengen sich offenbar zu sehr
19916 an, Sie sehen angegriffen aus und sollten sich mehr schonen.“
19918 „Ach, Isma, davon kann keine Rede sein“, erwiderte Ell, indem er
19919 sich neben ihr niederließ. „Mir ist manchmal zumute, als wüchse mir
19920 die Arbeit über den Kopf. Und dann die Sorge! Doch nichts davon!
19921 Dann gibt es kein andres Heilmittel für mich, als hier die drei
19922 Treppen hinaufzusteigen –“
19924 „Das freut mich, daß Ihnen das Treppensteigen so gut bekommt. Ich
19925 könnte ja auch noch eine Stiege höher ziehen.“
19927 „Oh, es genügt. Wenn ich nur die schmale Hand fassen und Ihnen in
19928 die lieben Augen sehen kann! Dann möchte ich wieder an die Menschen
19929 glauben und wieder hoffen!“
19931 „Sie dürfen so nicht sprechen, Ell, Sie ängstigen mich. Auf dem Weg
19932 zu Ihrem hohen Ziel darf es kein Schwanken geben. Dazu waren unsre
19933 Opfer zu groß, zu schmerzlich.“
19935 Sie hob die Augen, die mit Tränen kämpften, wie bittend zu ihm
19936 empor.
19938 „Verzeihen Sie mir, Isma. Ich weiß es längst, daß ich für mich kein
19939 Glück beanspruchen darf, der ich mir anmaßte, es der Menschheit zu
19940 bringen. Aber wenn ich hier bei Ihnen sitze – und Sie wissen, daß
19941 ich die neue Kraft hier schöpfe –, ach, dann ist es auch so
19942 unendlich schwer, auf das einzige zu verzichten, was ich je vom
19943 Leben für mich ersehnte. Und immer fester wird mir die Überzeugung,
19944 daß beides zusammengehört, wenn ich meinen Lauf erfüllen soll.“
19946 „Noch ist die Zeit nicht da, von uns zu sprechen. O Ell, sagen Sie,
19947 was quält Sie, was ist geschehen? Ich kenne Sie kaum wieder, noch
19948 vor kurzem waren Sie so siegesgewiß.“
19950 „Es geht wohl vorüber. Gerade heute haben sich allerlei Nachrichten
19951 gehäuft, die mir Schwierigkeiten machen. Die neuen Verhältnisse
19952 wirken ungünstig auf die Nume, das ruhige Gleichgewicht, das sie in
19953 den festen Kulturzuständen des Mars haben, wird zerstört, es
19954 entstehen Konflikte, und das Ende vom Liede wird sein, daß ich von
19955 beiden Seiten für alles verantwortlich gemacht werde.“
19957 „Das müssen Sie tragen. Und Sie wußten es im voraus, Ell, als Sie
19958 das verantwortliche Amt annahmen, daß Sie angefeindet werden
19959 würden. Erinnern Sie sich noch? Es war kurz nach meiner Krankheit,
19960 als ich wieder den ersten größeren Ausflug mit ihnen unternahm, zur
19961 Probe, wie Hil sagte, ob ich das Reisen vertrüge. Wir waren nach
19962 den großen Schleusen der Emm-Kanäle gefahren, dort zeigten Sie
19963 mir, wie das Wasser auf das zweihundert Meter hohe Wüstenplateau
19964 gehoben wird. Und da sagten Sie mir, daß der Zentralrat Ihren
19965 Vorschlag über die Einsetzung von Kultoren angenommen habe und daß
19966 Ihnen das Kultoramt für den deutschen Sprachbezirk angetragen sei.
19967 Sie waren im Zweifel, ob Sie es annehmen durften, und Sie sprachen
19968 ja ganz klar ihre Befürchtung aus. Ihre Landsleute, sagten Sie,
19969 werden auf jeden Fall unzufrieden sein, weil sie die
19970 Bildungsanstalten als einen Zwang empfinden werden, den die
19971 Resultate doch erst nach Jahren rechtfertigen würden. Die Nume aber
19972 würden es Ihnen nicht vergeben, daß ein Heer von Beamten unter
19973 Ihnen stehen solle, der Sie auf der Erde geboren sind.“
19975 „Ich weiß es, Isma, ich sehe Sie noch dort an dem Geländer lehnen
19976 und in Nachsinnen verloren hinabblicken auf die Baumwipfel, und ich
19977 höre Ihr Wort: Wenn ich glaube, daß die Nume solchen Vorurteilen
19978 zugänglich sind, so sei es nicht notwendig, daß die Menschen von
19979 ihnen lernen. Dann hätte ich meinen großen Kulturplan überhaupt
19980 nicht fassen dürfen. Wenn ich aber an den Beruf der Nume glaube,
19981 die Menschheit vom Druck ihrer Geschichte zu erlösen, so dürfe ich
19982 auch keinen Zweifel hegen, daß die Nume um der Sache willen sich
19983 gern und frei unterordnen würden. Wenn mich der Zentralrat zu einem
19984 Amt beriefe, wie es noch niemals auf Erden ausgeübt worden, so
19985 geschehe es, weil jeder weiß, daß ich der geeignetste,
19986 gewissermaßen der geborene Vermittler sei zwischen den Planeten und
19987 daß ich mein ganzes Leben lang auf eine solche Aufgabe mich
19988 vorbereitet habe. Und darauf –“
19990 „Oh, ich habe es nicht vergessen, Ell“, fiel Isma ein. „Ich
19991 erinnere mich an jedes Wort. Denn in all meinem eignen Leid steht
19992 mir jener Moment vor Augen als der größte meines Lebens. Unter mir
19993 schwand mein eignes Dasein vor dem erhabenen Gefühl, daß wir der
19994 Menschheit dienen müssen, und ich war stolz und glücklich, in dem
19995 Augenblick bei Ihnen sein zu dürfen, da von Ihrem Entschluß der
19996 Beginn eines neuen Zeitalters abhing. Sie wiesen hinab, wo zwischen
19997 dem Laub die weiten Wasserflächen schimmerten, und sagten: Da
19998 unten, wo die Schmelzwasser des Pols in ihrem natürlichen Bett sich
19999 sammeln, sind sie klar und ruhig und versiegen nimmer. Aber wir
20000 heben sie mit unsern Maschinen in den Sonnenbrand der Wüste, und
20001 trübe verrinnen sie allmählich in dem Bett, das Tausende von
20002 Kilometern sich hinzieht. Wer sagt uns, wie der heitere
20003 Seelenspiegel des Numen sich trübt, wenn wir ihn künstlich auf die
20004 Erde versetzen und auf unübersehbare Jahre seine Reinheit im
20005 Schlamm der Menschheit vergraben? Und da erwiderte ich Ihnen: So
20006 weit die Kanäle sich füllen, sproßt das Leben in der Wüste, und die
20007 Kultur des Mars beruht auf diesen sich selbst verzehrenden Adern. –
20008 Würden die Nume diese Riesenlasten von Wasser heben und verrinnen
20009 lassen, wenn sie nicht glaubten, daß es seine begebende Kraft auch
20010 behält in dem künstlichen Bett? Und wer schafft es herauf? Es ist
20011 doch die Vernunft, die die Natur leitet. Glauben Sie nicht an die
20012 Vernunft? Und als ich dies sagte, da blitzte es drunten auf über
20013 den Bäumen, und helle Strahlen stiegen in die Höhe und mehrten
20014 sich, und so weit der Blick reichte, zitterten die Lichtfontänen in
20015 der Luft, und die Leute liefen durcheinander und riefen sich zu:
20016 ›Der Friede ist geschlossen! Die Erde gehört uns – –‹ Und Sie
20017 faßten meine Hand und sagten: ›Ja, ich glaube an die Vernunft!‹ Und
20018 sehen Sie, Ell, ich glaube! An die Vernunft und an Sie! Und wenn
20019 ich das nicht mehr könnte –“
20021 Sie brach ab. Ell aber ergriff ihre Hand und rief:
20023 „Sie können es, Isma, Sie können es! Mein Glaube an die Vernunft
20024 ist nicht erschüttert, und mich sollen Sie nicht weichen sehen aus
20025 feiger Schwäche. Aber die Vernunft ist ewig, ich bin ein
20026 vergänglicher Zeuge ihres zeitlichen Gesetzes, und ich muß gefaßt
20027 sein, daß sie über mich hinwegschreitet. Denn ich habe mir angemaßt
20028 zu beginnen, was zu vollenden Geschlechter gehören. Wenn ich mich
20029 nun täuschte in den Mitteln, die ich für die richtigen hielt?“
20031 „Es wird nicht sein. Es werden Fehler gemacht werden, das ist
20032 natürlich. Aber die Grundlagen werden sich bewähren. Sie müssen
20033 Geduld haben.“
20035 „Wie danke ich Ihnen, Isma, für Ihr Vertrauen, das mich vor mir
20036 selbst rechtfertigt. Einen Fehler habe ich begangen von Anfang an,
20037 der mehr ist als ein Fehler, daß ich eine Zeitlang die Erde vergaß
20038 –“
20040 „O mein Freund, den büße ich für Sie –, davon nichts mehr –“
20042 „Und das andere, wenn es ein Fehler ist, so weiß ich nicht, wie ich
20043 ihn hätte vermeiden sollen. Wenn ich auf die Menschen wirken
20044 wollte, konnte ich es anders als durch die Mittel, an die sie
20045 gewöhnt sind, durch die Autorität der Macht? Und doch weiß ich, daß
20046 hier ein Widerspruch liegt mit dem Zweck, den ich erstrebe, der
20047 inneren Freiheit. Den Zustand will ich aufheben, daß irgendeine
20048 Klasse der Bevölkerung ihre Macht dazu mißbraucht, durch
20049 Einschüchterung und Beherrschung der übrigen die freie Entwicklung
20050 aller Kräfte und Meinungen zu verhindern, und was tue ich? Ich übe
20051 einen neuen Zwang aus, ohne zu wissen, ob ich die eingewurzelten
20052 Vorurteile zu brechen vermag. Ich hoffe es, doch ob ich es erlebe?
20053 Und was dann? Droht nicht eine neue Bürokratie über der alten?“
20055 „Ell, vergessen Sie nicht den Glauben an die Nume! Es sind nicht
20056 Menschen, es sind Nume, welche die Menschheit erziehen. Sie werden
20057 ihre Zöglinge als freie Männer aus der Schule entlassen, sobald sie
20058 sehen, daß ihre Lehrarbeit getan ist.“
20060 „Das ist meine Hoffnung. Das ist ja das absolut Neue an der
20061 Umwälzung der Verhältnisse. Die zur Macht gekommen sind, sind es
20062 nicht, wie die Geschlechter der Menschen, in der Absicht, die Macht
20063 um ihrer selbst, ihrer Klasse und Nachkommen willen zu erhalten,
20064 sondern um sie als freies Gut der Menschheit, der geläuterten
20065 Menschheit zurückzugeben.“
20067 „Sie werden es.“
20069 „Sie werden es, wenn sie Nume bleiben. Wenn aber die Berührung mit
20070 der Erde sie ihrer Numenheit entkleidet und die Menschen sie
20071 anstecken mit ihrem Eigennutz? Wenn die alte Kultur zurückschlägt
20072 in die Barbarei der Erde und aus den Kultoren gewöhnliche Despoten
20073 werden, wie Päpste aus Aposteln?“
20075 Isma schüttelte den Kopf.
20077 „Ich weiß nicht, Ell, was Sie im Sinn haben“, sagte sie. „Es mögen
20078 auch solche Fälle vorkommen. Aber drüben, jenseits der Erde, kreist
20079 der Mars mit seinen drei Milliarden Bewohnern. Diese sind der feste
20080 Kern der Kultur, der jede Entartung wieder aufheben wird.“
20082 Ell blickte schweigend vor sich hin. Er dachte daran, ob nicht in
20083 den Menschen der Widerstand der Natur zu groß sein würde. Aber er
20084 sprach es nicht aus. Seine Augen wandten sich auf Isma. Sie hatte
20085 sich in ihrem Sessel zurückgelehnt und die Hände auf dem Schoß
20086 gefaltet. Ein einfaches schwarzes Kleid umschloß ihre Gestalt, und
20087 das feine Profil hob sich wie eine Silhouette gegen das Fenster ab,
20088 vor welchem der Tag bereits in Dämmerung überging. Er wollte ihr
20089 nicht neue Sorgen erwecken. Und doch, sie jetzt schon verlassen? Es
20090 schien ihm unmöglich. Oh, wenn er sie immer so neben sich hätte,
20091 wie ganz anders müßte sich der schwere Kampf des Lebens aufnehmen
20092 lassen! Sie erschien ihm begehrenswerter wie je, so lieb in ihrer
20093 treuen Freundschaft, so groß in ihrem einfachen Vertrauen.
20095 „Isma“, kam es fast unbewußt über seine Lippen.
20097 Sie reichte ihm ihre Hand hinüber mit dem milden, ernsten Lächeln,
20098 das ihre Züge mitunter in seiner Nähe verklärte.
20100 „Mein Freund“, sagte sie.
20102 „Isma“, sprach er leise, „wollen Sie nicht bei mir bleiben?“
20104 Sie drückte seine Hand, ohne sie ihm zu entziehen.
20106 „Sie wissen, Ell“, antwortete sie ebenso leise, „daß ich es nicht
20107 darf, ja auch nicht will, so lange noch eine Möglichkeit ist –“
20109 „Aber wenn einmal die Zeit kommt, daß keine Möglichkeit mehr ist?“
20111 „Dann sprechen wir wieder davon. Bis dahin –. Sie kennen meine
20112 Bitte. – Wo ist die Grenze zwischen Gedanke und Wunsch? Und das ist
20113 Frevel.“
20115 „Aber ich darf annehmen, Isma –“
20117 „Nehmen Sie an, was Sie wollen. Wenn mein Leben keinem andern
20118 gehört, wem könnte es gehören als der Idee, der wir dienen? Und
20119 dann mögen Sie nachdenken, wie das am besten geschehen kann.“
20121 Sie entzog ihm sanft ihre Hand und trat an das Fenster. Er stellte
20122 sich neben sie. Schweigend blickten sie hinaus, dann begann Ell:
20124 „Die Nachforschungen ruhen niemals, und alles, was sich hat
20125 ermitteln lassen, weist jetzt auf eine Vermutung hin, die jede
20126 Hoffnung fast mit Sicherheit ausschließt.“
20128 Isma zuckte zusammen. Ell schwieg.
20130 „Sprechen Sie weiter“, sagte sie dann gefaßt. „Ich habe mir ja
20131 soviel hundertmal gesagt, daß ich nicht mehr hoffen darf. Und doch
20132 ist das Wort der Gewißheit wie ein Stahl, der ins Herz trifft. Aber
20133 – sprechen Sie weiter.“
20135 „Er konnte die Insel Ara nur verlassen durch Schwimmen nach einer
20136 der Nachbarinseln, das war unsere Annahme. Dann mußte er in der
20137 Umgebung des Pols aufgefunden werden; es ist jetzt dort kein
20138 Fleckchen mehr ununtersucht, wo Menschen existieren können. Demnach
20139 nahmen wir an, daß er unter das Eis geraten sei –“
20141 Isma bedeckte die Augen mit der Hand.
20143 „Eine Möglichkeit aber war noch da, so unwahrscheinlich, daß man
20144 erst spät daran gedacht hat. Wenige Stunden, bevor man ihn
20145 vermißte, ging ein Luftschiff ab, das nach Tibet bestimmt war, um
20146 dort Vermessungen zur Anlegung von Strahlungsfeldern zu machen.
20147 Wenn er sich unbemerkt in diesem versteckt hätte obwohl ich nicht
20148 begreife, wie das geschehen konnte –“
20150 „Ell“, rief Isma, „warum haben Sie mir das nicht gesagt!“
20152 „Weil ich Ihnen keine Hoffnungen erwecken wollte, die nur zu neuen
20153 Befürchtungen führen konnten. Jetzt haben Sie sich damit vertraut
20154 gemacht, daß wir ihn verloren haben, und Gewißheit wird besser sein
20155 als die Angst. Denn dieses Luftschiff – der Zusammenhang ist mir
20156 selbst erst vor kurzem durch neue Untersuchungen klar geworden –
20157 als das Unglück geschah, war ich selbst noch nicht auf der Erde,
20158 die Akten über Torm waren abgeschlossen, und die Vermutung, daß er
20159 sich auf dem Schiff befand, ist erst durch meine erneute Aufnahme
20160 des Falles aufgetaucht –, jenes Luftschiff war dasselbe, das im
20161 Juni vorigen Jahres bei Podgoritza von den Albanern zerstört und
20162 dessen Besatzung bis auf den letzten Mann ermordet wurde. Also auch
20163 diese Spur, wenn sie überhaupt eine war, blieb hoffnungslos. Sind
20164 Sie mir böse, daß ich jetzt davon gesprochen habe?“
20166 Isma seufzte tief. „Nein, Ell, Sie müssen mir alles sagen, und ich
20167 muß es zu ertragen wissen.“
20169 Sie blickte wieder stumm in den Abend hinaus. Plötzlich ergriff sie
20170 mit einer krampfhaften Bewegung Ells Arm.
20172 „Aber wenn er auf dem Schiff war, Ell, wenn er darauf war –“
20174 „Es ist ja nicht sicher, Isma, ich bitte Sie, beruhigen Sie sich.
20175 Niemand weiß es, es ist nur die einzige noch denkbare Vermutung –“
20177 „Wenn er darauf war, wer sagt Ihnen, daß er auch noch in Podgoritza
20178 darauf war? Konnte er nicht in Tibet das Schiff verlassen haben?“
20180 „Wie sollte er es unbemerkt im fremden Land, in der Wüste
20181 verlassen? Und wenn man ihn bemerkte, hätte man ihn gefangen
20182 genommen, und das ist auch, falls die erste Vermutung überhaupt
20183 zutrifft, das Wahrscheinliche. Er wird bei einem Fluchtversuch vom
20184 Schiff entdeckt und als Gefangener unter der Besatzung –“
20186 „Dann aber kann er bei dem Überfall entkommen sein“, unterbrach
20187 Isma hastig. „Das ist sehr leicht möglich. O Ell, ich habe noch
20188 Hoffnung. Er wird sich unter jene Halbwilden geflüchtet haben, dort
20189 muß er gesucht werden. Das müssen Sie tun, Ell! Und wenn wir ihn
20190 finden – o Gott!“
20192 Sie warf sich auf einen Sessel und schluchzte. Endlich wurde sie
20193 ruhiger.
20195 „Er hat ja nichts mehr zu befürchten“, sagte sie, „nicht wahr? Mit
20196 dem Frieden ist die Amnestie für alles ausgesprochen, was während
20197 des Krieges geschehen ist.“
20199 „Nicht gerade für alles.“
20201 „Aber für seine Flucht kann er nicht mehr bestraft werden?“
20203 „Nein, Isma. Aber ich bitte Sie, klammern Sie sich nicht wieder an
20204 diese Unmöglichkeit. Oh, hätte ich doch nicht davon gesprochen!
20205 Fassen Sie sich! Ich kann Sie so nicht verlassen.“
20207 „Sie haben recht“, sagte sie endlich. „Ich bin so töricht.“ Sie
20208 stand auf, schloß das Fenster und schaltete das Licht ein.
20210 „Setzen wir uns noch ein wenig“, sagte sie dann. „Es ist ja alles
20211 so unwahrscheinlich, bei ruhiger Überlegung. Aber wer klammert sich
20212 nicht an einen Strohhalm?“
20214 „Sehen Sie, Isma, Sie müssen sich mit dem Geschehenen abfinden, wie
20215 Sie es bisher getan. Wäre er in Podgoritza entflohen, so wäre er
20216 längst hier, oder wir hätten Nachricht. Er hatte ja nun nichts mehr
20217 von den Martiern zu befürchten. Es ist seitdem über ein Jahr
20218 vergangen, deshalb glaubte ich darüber sprechen zu dürfen.“
20220 Sie reichte ihm wieder die Hand. „Ich weiß ja“, sagte sie, „daß Sie
20221 es gut meinten. Aber eins müssen Sie mir doch noch sagen. Bei
20222 wichtigen Ereignissen wenden Sie sonst das Retrospektiv an, um den
20223 Vorgang zu beobachten. Warum ging es denn nicht – der Überfall von
20224 Podgoritza zum Beispiel ist doch wichtig genug –, warum wurde er
20225 nicht vorn Mars aus –?“
20227 „Glauben Sie mir, Isma, ich hätte es durchgesetzt, um Ihretwillen,
20228 das Retrospektiv anzuwenden, wenn ich mir den geringsten Erfolg
20229 hätte versprechen können. Aber an dem Tag der Flucht lagen dichte
20230 Wolken über dem Pol, die Landung des Schiffes in Tibet ist,
20231 vermutlich wenigstens, in der Nacht erfolgt, jedenfalls aber wird
20232 Torm, wenn er entfliehen wollte, die Nacht dazu benutzt haben. Auch
20233 wissen wir gar nicht, in welcher Gegend des weiten Hochasien das
20234 Schiff angelegt hat, und es ist doch unmöglich, diese großen
20235 Landgebiete mit dem Retrospektiv abzusuchen. Der Überfall von
20236 Podgoritza endlich fand ebenfalls in der Nacht statt, und ehe wir
20237 etwas davon erfuhren, hatten die Räuber alle Spuren vernichtet. Die
20238 Tat kam erst später durch den Verrat eines feindlichen Stammes an
20239 den Tag. Da war also nicht die geringste Aussicht, etwas in den
20240 Lichtspuren des Weltraums zu lesen.“
20242 „Ich sehe es ein, Ell. Und es war recht, daß Sie sprachen. Was
20243 haben wir auch Besseres in unsrer Freundschaft, als das volle
20244 Vertrauen? Und nun –“
20246 „Ich soll gehen?“
20248 „Nein, nein, im Gegenteil. Sie sollen noch bleiben, und wir wollen
20249 von gleichgültigeren Dingen reden, von gegenwärtigen, mein’ ich.
20250 Sie haben mir noch nichts von der Politik erzählt. Wie steht es mit
20251 dem Klatschgesetz? Was sagt denn Herr von Huhnschlott dazu?“
20253 Jetzt lächelte Ell. „Er speit Feuer und Flammen“, sagte er.
20254 „Natürlich, diese Herren haben nie gelernt, daß sich die Welt auch
20255 anders regieren lasse als mit Polizeivorschriften. Ich wünschte,
20256 Sie hätten das Gesicht unsres geschmeidigen Kreuther sehen können,
20257 als ich ihm meine Auffassung der Lage auseinandersetzte. Ich bin
20258 überzeugt, morgen bekommen wir die Sanktion. Sie werden nicht an
20259 Ill appellieren, wenn sie klug sind, denn er ist viel
20260 rücksichtsloser gegen die Vorurteile unsrer Regierungen als ich,
20261 der ich ihren historischen Zusammenhang besser kenne. Ich gelte ja
20262 natürlich bei den Konservativen als ein roter Revolutionär, auf dem
20263 Mars sehen sie mich als einen schwachmütigen Leisetreter an.“
20265 „Ich weiß wohl“, sagte Isma. „Ich lese ja die Marsblätter,
20266 namentlich die ›Ba‹. Solche Dinge wie Zweikampf, Beleidigungsklagen
20267 und dergleichen kommen den Numen gerade so vor, wie uns etwa die
20268 Menschenfresserei oder die Blutrache bei den Wilden, und sie
20269 meinen, das müsse man einfach mit Gewalt ausrotten.“
20271 Ell erzählte, daß Hil von seiner Reise zurück sei, und schilderte
20272 sein Entsetzen über den Regen. Mit stiller Freude sah er, daß Isma
20273 ihre Ruhe wiedergewonnen hatte.
20275 Es waren wohl zwei Stunden vergangen, als Ell sich endlich herzlich
20276 von Isma verabschiedete. Als er auf die Straße trat, war es bereits
20277 vollständig Nacht, und die Laternen brannten. Er schritt eilig die
20278 Straße entlang und bestieg wieder seinen vor der Tür der
20279 Bildungsanstalt haltenden Wagen. Er hatte den in einen Mantel
20280 gehüllten Mann nicht bemerkt, der wie zögernd vor der Tür des
20281 Hauses gestanden hatte, wo Isma wohnte. Bei Ells Erscheinen hatte
20282 er plötzlich kehrtgemacht, dann aber schien es, als wolle er ihm
20283 eilig nachgehen, um ihn anzureden. Doch bald blieb er wieder
20284 zögernd zurück und blickte nur dem Wagen nach, der Ell schnell von
20285 dannen führte.
20287 \section{48 - Der Instruktor von Bozen}
20289 Durch die engen Felsschluchten des Eisacktales brauste der von Wien
20290 kommende Schnellzug nach Süden und überholte die schäumenden Fluten
20291 des wild dahinstürmenden Baches. Der größere Teil der Fahrgäste
20292 drängte sich an den Fenstern, um das von der klaren Septembersonne
20293 vergoldete Naturschauspiel zu genießen. Einer jedoch, offenbar kein
20294 Fremder in dieser Gegend, kümmerte sich wenig darum. Er saß in eine
20295 Ecke gelehnt, mit geschlossenen Augen in seine Gedanken versunken,
20296 unter denen seine Stirn sich von Zeit zu Zeit zu sorgenvollen
20297 Falten zusammenzog. Dann blickte er nach seiner Uhr, als ob der Zug
20298 ihn nicht schnell genug seinem Ziel zuführe.
20300 „Noch zehn Minuten“, murmelte er.
20302 Aus der Brusttasche seiner Joppe zog er einige Papiere, ein
20303 Telegramm und eine Zeitung. Er hatte sie schon oft gelesen, dennoch
20304 blickte er wieder hinein, als könnten sie ihm noch etwas Neues
20305 sagen.
20307 Das Telegramm war von einem seiner Freunde und enthielt nur die
20308 Worte: „Komme sofort zu Deiner Mutter, sie bedarf Deiner.“
20310 Die Zeitung war, wie das Telegramm, schon einige Tage alt. Aber er
20311 hatte sie erst zu Gesicht bekommen, als er gestern von einer
20312 vierzehntägigen Studienreise in einsamen Gebirgsgegenden nach Lienz
20313 zurückgekehrt war. Sie enthielt die neuen Verordnungen, welche das
20314 Kultoramt in Berlin mit Ermächtigung der Residenten in Berlin, Wien
20315 und Bern und unter Bestätigung der Regierungen in der vorigen Woche
20316 erlassen hatte.
20318 Die Schwierigkeiten, auf welche die Martier bei der deutschen
20319 Regierung in bezug auf das Gesetz zum Schutz der individuellen
20320 Freiheit gestoßen waren, hatten den Protektor der Erde darauf
20321 geführt, sie in künftigen Fällen auf eine sehr einfache Weise zu
20322 umgehen. Er hatte gefunden, daß Bestimmungen über Beziehungen der
20323 Menschen zu den Numen und Einrichtungen der Nume gar keiner
20324 Gesetzgebung durch die Erdstaaten bedürfen, sondern auf dem
20325 Verordnungsweg durch die Residenten erlassen werden können. Die
20326 Regierungen aber mußten, wie gern sie es auch abgelehnt hätten,
20327 sich der Macht beugen und ihr Ja dazu geben. Sie taten es immerhin
20328 lieber, als sich einem Beschluß der Opposition in den Parlamenten
20329 zu fügen.
20331 Die Verordnung hatte im allgemeinen Mißstimmung hervorgerufen. Sie
20332 bestimmte nämlich, daß jeder Mensch, ohne Unterschied des Alters,
20333 sich einer von den Bezirksinstruktoren zu beaufsichtigenden Impfung
20334 unter Leitung martischer Ärzte zu unterziehen habe. Bis diese
20335 vollzogen sei, dürfe kein Ungeimpfter sich einem Numen bis zu einer
20336 gewissen Distanz nähern, keine von Numen bewohnte Räume betreten
20337 und die Luftschiffe und Fahrzeuge der Martier nicht benutzen.
20338 Zuwiderhandlungen waren mit strengen Strafen bedroht.
20340 Die Bestimmungen waren lediglich in Rücksicht auf die Menschen
20341 getroffen, um sie vor den drohenden Verwüstungen der Gragra zu
20342 schützen. Aber man hatte sich gescheut, diesen Grund anzugeben,
20343 weil man fürchtete, dadurch eine größere Beunruhigung und
20344 Unzufriedenheit zu erregen als durch die Maßregel selbst; man hatte
20345 die Impfung nur durch einen allgemeinen Hinweis auf Besserung des
20346 Gesundheitszustandes begründet. Der Beschluß war von den
20347 europäischen Residenten gegen Ells Stimme gefaßt worden, der
20348 eindringlich vor einem derartigen despotischen Eingriff gewarnt
20349 hatte. Doch hatte sich bei den maßgebenden Numen auf der Erde mehr
20350 und mehr die Ansicht herausgebildet, daß man die Menschen nur durch
20351 Anwendung von Zwang zu ihrem Besten leiten könne. Ell fühlte sich
20352 durch den Beschluß sehr bedrückt, hatte sich aber der Majorität
20353 fügen müssen.
20355 Saltner steckte das Blatt kopfschüttelnd wieder ein.
20357 „Es muß da noch etwas im Hintergrund liegen, worüber sie nicht mit
20358 der Sprache herauswollen“, dachte er bei sich. „Aber eine sakrische
20359 Dummheit bleibt’s doch, die ich dem Ell nicht zugetraut hätte. Oder
20360 vielleicht doch. Wie er sich damals aussprach –“
20362 Er dachte an jene Stunde bei La, in der er sich gegen Ells Pläne
20363 zur gewaltsamen Erziehung der Menschen aufgelehnt hatte. Und er sah
20364 die Geliebte wieder vor sich mit der feinen Stirn unter dem
20365 schimmernden Haar, er sah den tiefen Blick der dunklen Augen in
20366 zärtlicher Achtung auf sich gerichtet und fühlte die unvergeßlichen
20367 Küsse auf seinen Lippen. Wo mochte sie weilen? Ob sie seiner
20368 gedachte? Ob sie wußte von dem Leid, das über die Menschen gekommen
20369 war, ob sie es mit ihm fühlte? Verloren! Verloren!
20371 Aus seinen Träumen weckte ihn der Pfiff der Maschine. Die Berge
20372 waren zurückgewichen, grüne Hügel, auf denen Trauben und Kastanien
20373 reiften, zogen sich zur Seite. Die Passagiere suchten ihr
20374 Handgepäck zusammen, und der Zug hielt auf dem Bahnhof in Bozen.
20376 Saltner stieg aus und drängte sich eilig durch die Menge. Am
20377 Ausgang fiel ihm ein Plakat auf, das durch seine gelbrote Farbe
20378 schon weithin als eine amtliche Bekanntmachung des martischen
20379 Bezirksinstruktors kenntlich war. Er blieb stehen und las. Zuerst
20380 war die allgemeine Verordnung über die Impfung mitgeteilt, die er
20381 schon kannte. Daran aber schlossen sich spezielle Bestimmungen über
20382 den hiesigen Bezirk, Er traute seinen Augen nicht. Nach Angabe von
20383 Einzelheiten über die Ausführung der Impfung, die in den und den
20384 näher bezeichneten Lokalen stattfinde, stand da: Die als
20385 Bescheinigung der vollzogenen Impfung erteilte Marke ist sichtbar
20386 an der Kopfbedeckung zu tragen. Wer sich ohne dieselbe einem Numen
20387 auf mehr als sechs Schritt annähert, wird mit fünfhundert Gulden
20388 Geldbuße oder entsprechendem Aufenthalt im psychologischen
20389 Laboratorium bestraft. Unterredungen mit dem Instruktor finden nur
20390 noch telephonisch statt. Jeder Anordnung eines Numen gleichviel,
20391 worauf sie sich beziehe, ist ohne Widerspruch Folge zu leisten. Den
20392 Numen steht das Recht zu, Menschen, welche sich ihnen ohne
20393 Erlaubnis nähern, mit der Telelytwaffe zurückzuweisen. Das Halten
20394 von Haustieren in menschlichen Wohnungen wird nochmals aufs
20395 strengste untersagt.
20397 Saltner ballte die Faust. Er wandte sich an einen neben ihm
20398 stehenden Herrn und sagte: „Der hiesige Instruktor ist wohl
20399 verrückt geworden?“
20401 „Das ist schon recht“, antwortete der ernsthaft.
20403 „Und das lassen Sie sich gefallen? Wie heißt denn der Kerl?“
20405 „Der heißt Oß.“
20407 „Der Name kommt mir bekannt vor. Haben Sie sich denn noch nicht in
20408 Berlin beim deutschen Kultor beschwert?“
20410 „Das wird geschehn. Aber es dauert halt eine Weile, und die
20411 Verordnung ist erst von gestern.“
20413 „Aber wenn Sie telegraphieren oder telephonieren?“
20415 „Das wird nicht zugelassen. Es ist schon einer nach Innsbruck
20416 gereist, aber sie haben’s auch dort nicht zugelassen. Sie meinen,
20417 die Nume stecken halt alle unter einer Decke, und wenn es auch der
20418 Kultor erfährt, so wird es doch nichts nutzen.“
20420 „Es wird nutzen, das können Sie mir glauben. So etwas hat sich
20421 keiner herauszunehmen und nimmt sich auch keiner woanders heraus.
20422 Das ist nur eine Verrücktheit von diesem Oß, und der wird sehr bald
20423 abgesetzt sein.“
20425 „Das mag schon sein, so lange halten wir’s wohl aus. Aber die
20426 Hauptverordnung bleibt doch bestehen, und dagegen ist nichts zu
20427 machen. Ich mein’ so, den Oß werden sie schon wegjagen, vielleicht
20428 gar bald, denn der Herr Bezirkshauptmann reist heute nach Wien und
20429 wenn nötig nach Berlin. Aber inzwischen müssen wir folgen. Denn
20430 wenn sich einer was gegen den Oß herausnähme und es ginge auch
20431 nachher dem Oß schlecht, so ginge es uns doch noch schlechter. Wir
20432 würden wegen Aufruhr nach Afrika oder sonstwohin geschickt. Also
20433 lassen wir’s lieber. Habe die Ehre!“
20435 Damit lüftete er den Hut und wollte sich entfernen. Gleich darauf
20436 wandte er sich jedoch zurück und sagte mit einem fragenden Blick:
20437 „Verzeihen Sie, ich irre mich doch wohl nicht, sind Sie nicht der
20438 Herr von Saltner?“
20440 „Mein Name ist Saltner.“
20442 „Dann nehmen Sie’s nicht übel, wenn ich mir einen Rat erlaube – Sie
20443 sind ja doch auf dem Mars gewesen, und da muß wohl irgend etwas
20444 passiert sein –, nehmen Sie sich nur vor dem Oß in acht, ich weiß,
20445 daß der sich schon mehrfach erkundigt hat, ob Sie nicht hier sind –
20446 der muß irgend etwas gegen Sie haben. Lassen Sie sich lieber nicht
20447 hier sehen, es kann ja nur ein paar Tage dauern, bis der Mann
20448 abgesetzt ist.“ Und vertraulicher fuhr er fort: „Sie haben ja
20449 vollständig recht, ich weiß, daß diese Bekanntmachung zu Unrecht
20450 besteht und der Oß den Erdkoller hat – ich bin nämlich der Doktor
20451 Schauthaler.“
20453 „Ach, jawohl“, sagte Saltner, „ich erinnere mich jetzt sehr wohl,
20454 entschuldigen Sie, daß ich Sie nicht gleich erkannte.“
20456 „Bitte sehr. Nun also, solche Ausschreitung wird ja rektifiziert
20457 werden. Aber lassen wir uns dadurch zu irgendeiner eigenmächtigen
20458 Handlung hinreißen, so würde uns das trotzdem sehr schlecht
20459 bekommen. Deswegen versuch ich mein Möglichstes, unsre Mitbürger zu
20460 beruhigen. Wenn Sie indessen etwas tun wollen, so bringen Sie sich
20461 selbst in Sicherheit, bis der Mann hier keine Gewalt mehr hat;
20462 vorläufig hat er sie nun einmal, und Sie sind dagegen ohnmächtig.
20463 Sie sind ja doch mit dem Herrn Kultor befreundet, reisen Sie sofort
20464 zu ihm – in zehn Minuten kommt der Blitzzug von Venedig –, das
20465 Luftschiff dürfen Sie jetzt nicht benutzen – aber auch so sind Sie
20466 morgen in Berlin –“
20468 „Ich danke Ihnen sehr für den Rat, Herr Doktor, nur kann ich ihn
20469 leider nicht sogleich befolgen. Ich habe hier zunächst
20470 unaufschiebbare Geschäfte –. Aber ich werde dann –“
20472 „Dann, Herr von Saltner, dann? Sie wissen nicht, ob Sie dann noch
20473 ein freier Mann sind –“
20475 „Das wollen wir doch sehen! Da können Sie ganz unbesorgt sein!“
20477 „Was nützt es Ihnen, wenn der Oß in ein paar Tagen vor das
20478 Disziplinargericht gestellt wird, und Sie sind inzwischen irgendwie
20479 verunglückt?“
20481 „Ich verunglücke nicht so leicht. Aber was will denn der Mann von
20482 mir?“
20484 „Ich weiß es nicht. Ich weiß nur privatim durch den
20485 Bezirkshauptmann, daß Sie gesucht werden, aber amtlich ist es
20486 nicht. Es muß irgend etwas sein, worüber der Oß vorläufig nicht
20487 reden will.“
20489 Saltner runzelte die Stirn.
20491 „Nun, wie gesagt, ich danke Ihnen und will mich vorsehen. Jetzt
20492 entschuldigen Sie mich, ich darf nicht länger zögern.“
20494 Er schritt eilend durch die Straßen der Stadt, ohne auf die
20495 Umgebung zu achten. Was konnte dieser Oß von ihm wollen? Wo hatte
20496 er ihn gesehen? Oß war ja der Name des Kapitäns gewesen, auf dessen
20497 Raumschiff ›Meteor‹ Saltner die Reise nach dem Mars gemacht hatte,
20498 und dann war er ihm manchmal in Frus Haus begegnet. Sollte es
20499 derselbe sein? Er hatte sich mit ihm ganz gut unterhalten, und der
20500 tüchtige, wenngleich etwas selbstbewußte Mann war mit La und Se
20501 immer sehr vertraut gewesen. Mit Se? Sein Gewissen schlug ihm. Das
20502 war das einzige, was er sich hatte zuschulden kommen lassen, die
20503 Belauschung der Schießversuche und die Flucht aus dem als Ziel
20504 dienenden Schiff. Aber dann hätte ihn Se verraten müssen, das war
20505 unmöglich, ganz unmöglich.
20507 Saltner hatte die Stadt durchschritten und betrat die Brücke,
20508 welche über die Talfer führt. Drüben, jenseits des Flusses, wohnte
20509 seine Mutter. Sie war diesmal schon früher als sonst von dem
20510 kleinen Häuschen, das sie oben in den Bergen besaß, in die Stadt
20511 herabgezogen, er selbst hatte noch den Umzug mit ihr besorgt und
20512 war dann auf eine Studienreise gegangen. Was war nun geschehen?
20514 Es fiel ihm auf, wie leer die Brücke war, auf der sonst um diese
20515 Zeit, gegen Abend, ein reger Verkehr herrschte. Als er die Mitte
20516 überschritten hatte, blieb er stehen und wandte sich nach alter
20517 Gewohnheit rückwärts, um einen Blick auf das entzückende Panorama
20518 zu werfen. Freudig hing sein Auge, über die altertümlichen Giebel
20519 der Stadt wegschweifend, an den rötlich schimmernden Zacken und
20520 Zinnen der Dolomiten, die der Rosengarten kühn in die Luft
20521 streckte, und seine Seele schwebte über den freien Höhen. Aber er
20522 durfte nicht lange weilen. Die Sorge um die Mutter trieb ihn
20523 vorwärts.
20525 Wenige Schritte hatte er zurückgelegt, als ihm einige Leute
20526 entgegenkamen, die eilend an ihm vorüber der Stadt zuschritten und
20527 ihn durch Winke zur Umkehr aufforderten. Er achtete nicht darauf,
20528 sondern richtete seine Aufmerksamkeit auf einen seltsamen Aufzug,
20529 der jetzt aus den Talfer-Anlagen herauskommend die Brücke betrat.
20530 Eine Anzahl Neugierige, halbwüchsige Jungen, liefen voran, hielten
20531 sich aber immer in respektvoller Entfernung. Dann folgte auf einem
20532 Akkumulator-Dreirad ein Martier mit seinem diabarischen
20533 Glockenhelm, ein riesiger Bed oder Wüstenbewohner, der hier
20534 ähnliche Dienste verrichtete wie die Kawassen der Konsuln in der
20535 Türkei. Er schwang ein langes Rohr mit einem Fähnchen in der Hand,
20536 womit er die Begegnenden bedeutete, schleunigst zur Seite zu
20537 weichen. Darauf folgte ein vierrädriger elektrischer Wagen, auf
20538 dessen Polster in bequemer Stellung der Instruktor und zur Zeit
20539 Tyrann von Bozen, der Nume Oß, ruhte, ebenfalls von dem Glockenhelm
20540 gegen die Erdschwere geschützt. Den Beschluß bildete wieder ein Bed
20541 auf seinem Dreirad.
20543 Saltner erkannte auf den ersten Blick, daß er wirklich seinen alten
20544 Bekannten, den ehemaligen Kapitän des Raumschiffs ›Meteor‹, vor
20545 sich hatte. Er trat zur Seite in die halbkreisförmige Ausbuchtung
20546 eines Brückenpfeilers, um den Zug an sich vorüberzulassen. Dem
20547 voranfahrenden Bed erschien jedoch die Entfernung noch nicht
20548 genügend, er winkte mit seiner Fahne und rief sein eintöniges:
20549 „Entfernt euch!“ Saltner blieb ruhig stehen. Er streckte den linken
20550 Arm gegen den Bed aus und wandte ihm die Handfläche mit gespreizten
20551 Fingern zu. Der Bed stutzte. Das war ein nur bei den Numen
20552 gebräuchliches Zeichen und bedeutete ungefähr soviel als: „Dein
20553 Auftrag geht mich nichts an, ich besitze eine weitergehende
20554 Vollmacht.“ Dann rief er ihm auf martisch in entschiedenem Ton zu:
20555 „Fahr zu, ich bin ein alter Freund deines Herrn.“
20557 Der Bed wußte nicht recht, was er davon denken sollte, ließ sich
20558 jedoch in der Meinung, es vielleicht mit einem Numen zu tun zu
20559 haben, einschüchtern und fuhr weiter. Saltner, den sein Stolz
20560 verhindert hatte, sich fortweisen zu lassen, wollte doch lieber die
20561 Begegnung mit Oß vermeiden und blickte über das Geländer der Brücke
20562 in die Landschaft, indem er dem Wagen den Rücken zukehrte. Oß
20563 dagegen hemmte den Wagen und herrschte Saltner an:
20565 „Kann der Bat nicht grüßen!“
20567 Saltner trat jetzt ohne weiteres auf den Wagen von Oß zu, grüßte
20568 höflich nach martischer Sitte und sagte, ebenfalls martisch
20569 sprechend, ganz unbefangen:
20571 „Es freut mich sehr, einem alten Bekannten zu begegnen. Wie geht es
20572 Ihnen, Oß?“
20574 Dabei sah er ihn, die Augen soweit wie möglich aufreißend,
20575 unverwandt an.
20577 Oß hatte Saltner sofort erkannt. In seinen Augen blitzte es
20578 unheimlich, indem er seinen Blick auf Saltner richtete, als ob er
20579 ihn niederschmettern wolle. Aber Saltner kannte die Augen der Nume.
20580 Dieses unruhige Funkeln war nicht der reine Blick des Numen, aus
20581 dem der sittliche Wille sprach, er war getrübt von etwas
20582 Krankhaftem, Selbstischem und besaß nicht mehr die Kraft, den des
20583 Rechts sich bewußten Menschenwillen zu beugen. Er hielt den Blick
20584 aus, während Oß in hochmütigen Worten ihn anherrschte:
20586 „Was fällt dem Bat ein? Wer sind Sie? Wissen Sie nicht, daß Sie
20587 sich sechs Schritt entfernt zu halten und überhaupt nicht mit mir
20588 zu reden haben? Entfernen Sie sich sofort, oder –“
20590 Er griff nach dem Telelytrevolver in seiner Tasche.
20592 Saltner trat jede Bewegung von Oß genau im Auge behaltend,
20593 vorläufig einen Schritt zurück und sagte laut, jetzt auf deutsch,
20594 von dem er wußte, daß Oß, wie jeder Instruktor im deutschen
20595 Sprachgebiet, es verstand, so laut, daß es bis zu den Neugierigen
20596 vor und hinter dem Zug schallte:
20598 „Sie scheinen mich nicht mehr kennen zu wollen. Gestatten Sie, daß
20599 ich Ihrem Gedächtnis nachhelfe. Mein Name ist Josef Saltner,
20600 Ehrengast der Marsstaaten auf Beschluß des Zentralrats mit allen
20601 Rechten des Numen, und hier ist mein Paß, lautend auf zwei
20602 Marsjahre, unterzeichnet von Ill, zur Zeit Protektor der Erde.
20603 Bitte, mit dem gehörigen Respekt zu betrachten.“
20605 Er zog aus seiner Tasche das nach Art der Marsbücher an einem Griff
20606 befindliche Täfelchen und ließ es aufklappen.
20608 „Der Paß ist noch nicht abgelaufen“, sagte er darauf leiser, „ich
20609 denke, Sie lassen jetzt das Ding stecken. Erkennen Sie mich nun
20610 wieder?“
20612 Dabei trat er unmittelbar an den Wagen heran. Er sah, welche
20613 Überwindung es Oß kostete, sich zu bezwingen, aber diesem Dokument
20614 gegenüber blieb ihm kein anderer Ausweg. Oß versuchte jetzt
20615 möglichst unbefangen zu lächeln und sagte:
20617 „Ach, Sie sind Sal – entschuldigen Sie, daß ich Sie nicht gleich
20618 erkannte. Das ist etwas anderes. Es freut mich sehr, Sie zu sehen.
20619 Aber warum beehren Sie mich nicht in meinem Haus? Hier auf der
20620 Straße bin ich gezwungen, sehr vorsichtig zu sein, Sie werden ja
20621 wissen –“
20623 „Die Begegnung überraschte mich, entschuldigen Sie daher diese
20624 formlose Begrüßung auf der Straße. Ich konnte nicht annehmen, daß
20625 der Unterzeichner jener Verordnung identisch sei mit dem Oß, den
20626 ich –“
20628 „Herr, Sie sprechen in einem Ton, den ich zurückweise.“
20630 „Das nützt Ihnen nichts. Sie wissen so gut wie ich, daß derartigen
20631 Befehlen niemand Folge zu leisten braucht.“
20633 „Ich verbitte mir alle Einmischung in meine Angelegenheiten. Ich
20634 bin hier der alleinige Befehlshaber und werde Ihren Widerspruch
20635 bändigen. Wenn Sie auch durch Ihren Paß dagegen geschützt sind, von
20636 meiner bisherigen Verordnung getroffen zu werden, so hindert mich
20637 doch nichts, über Sie selbst einen speziellen Befehl auszusprechen,
20638 so lange Sie sich in dem mir unterstellten Bezirk befinden. Merken
20639 Sie sich das. Ich habe Sie im Verdacht, gegen amtliche Anordnungen
20640 aufzuwiegeln. Sie werden sich deshalb noch heute zu verantworten
20641 haben.“
20643 Ohne Saltner Zeit zu einer Antwort zu lassen, hatte Oß bereits
20644 seinen Wagen in Gang gesetzt und fuhr davon. Saltner blickte ihm
20645 spöttisch nach und schritt dann eilig weiter. Wenige Minuten später
20646 stand er vor dem Haus seiner Mutter. Es war ein altes, nicht großes
20647 Haus. Im unteren Stockwerk wohnte Frau Saltner mit ihrer Bedienung,
20648 einer älteren Frau. Das obere wurde im Winter an Kurgäste
20649 vermietet, war aber jetzt noch unbesetzt. Saltner hatte den
20650 Hausflur schnell durchschritten und die Tür des Wohnzimmers
20651 geöffnet. Es war leer. Der Platz an dem nach dem Garten sich
20652 öffnenden Fenster, an dem seine Mutter den größten Teil des Tages
20653 zu sitzen pflegte, war unbesetzt. Saltner erschrak. Sollte sie
20654 krank sein und zu Bett liegen? Er schaute vorsichtig, um nicht zu
20655 stören, in das Schlafzimmer, aber auch hier war niemand. Besorgt
20656 durchsuchte er nun das ganze Haus, weder seine Mutter noch ihre
20657 alte Magd und Gehilfin, die Kathrin, waren zu finden. Aber auch der
20658 Karo, der Hund, war nicht da, der sonst jeden Kommenden durch sein
20659 Gebell anmeldete und ihm sicher zuerst entgegengesprungen wäre.
20660 Wären die Frauen beide ausgegangen, so hätten sie gewiß das Haus
20661 verschlossen. Doch vielleicht waren sie nur auf einen Augenblick in
20662 den Garten gegangen. Eben wollte sich Saltner Gewißheit holen, als
20663 sich die Hintertür des Hauses öffnete und die Kathrin hereintrat.
20664 Der Korb mit Obst, den sie trug, entfiel fast ihren Händen, so
20665 schnell setzte sie ihn zu Boden, als sie Saltner erblickte.
20667 „Gelobt sei die heilige Jungfrau!“ rief sie aus. „Da ist ja der
20668 Herr Josef.“
20670 „Grüß Gott, Kathrin“, sagte Saltner. „Wo ist denn die Mutter? Es
20671 fehlt ihr doch nichts?“
20673 Die Dienerin brach sogleich in einen Tränenstrom aus.
20675 „Sie haben sie ja, sie haben sie ja!“ rief sie unter Schluchzen.
20677 „Was haben sie denn? So reden Sie doch schon! Kommen Sie hier
20678 herein, Kathrin, und reden Sie vernünftig.“
20680 Die Frau trat in das Zimmer, aber aus ihrem von Weinen
20681 unterbrochenen Redeschwall konnte Saltner zunächst nichts verstehen
20682 als unzusammenhängende Worte, wie „mit dem Karo hat’s angefangen“,
20683 „in den Arm wollen sie stechen“, „den Hund haben’s genommen“, „mich
20684 wollen’s auch impfen“, „sie haben sie“, „im Laboratorium“ und „wenn
20685 sie der Herr Josef nicht schnell herausholt, so werden sie sie doch
20686 noch braten“ und „fünfhundert Gulden sollt’ sie zahlen“. Endlich
20687 beruhigte sie sich soweit, daß Saltner über den Zusammenhang
20688 allmählich klar wurde.
20690 „Mit dem Karo hat’s angefangen.“ Die Hunde waren den Numen ein
20691 Greuel. War ihnen schon die Berührung mit Tieren überhaupt ein
20692 Zeichen der Barbarei, so waren ihnen die Hunde wegen ihres
20693 ekelhaften Treibens auf der Straße und ihres abscheulichen Gekläffs
20694 ganz besonders verhaßt. Sie machten ihnen den Aufenthalt auf der
20695 Erde um so unleidlicher, als sie auch ihrerseits gegen die Martier
20696 eine besondere Abneigung zu haben schienen und sie überall mit
20697 ihrem Gebell verfolgten. Es waren deswegen schon überall
20698 einschränkende Bestimmungen über das Herumtreiben der Hunde auf der
20699 Straße ergangen. Oß aber hatte kurzen Prozeß gemacht, nachdem er
20700 einmal von einem Hund angefallen worden war, und die Tötung aller
20701 Hunde befohlen. Dies war kurz nach Saltners Abreise geschehen, und
20702 das erste Zeichen der bei Oß im Ausbruch begriffenen nervösen
20703 Überreizung gewesen. Die Polizeimannschaften führten den Befehl
20704 möglichst langsam und absichtlich ungeschickt aus und wußten es so
20705 einzurichten, daß viele ihre Lieblinge rechtzeitig in Sicherheit
20706 bringen konnten. Das Haus von Frau Saltner hatte sich aber Oß
20707 einmal zeigen lassen und dabei den Hund bemerkt, ja, er hatte dann
20708 gefragt, ob denn das Vieh noch nicht totgeschossen sei. So mußte
20709 der arme Karo als ein Opfer zur Zivilisation der Menschheit fallen.
20710 Das hatte nun die Frauen, die innigst an dem Hund hingen, in größte
20711 Aufregung versetzt. Frau Saltner war ganz melancholisch geworden
20712 und wurde von einer krankhaften Ängstlichkeit ergriffen, sobald
20713 jemand in das Haus trat.
20715 Nun war die Verordnung über das Impfen gekommen. Unglücklicherweise
20716 war ihr Straßenviertel das erste gewesen, in welchem die Impfung
20717 vollzogen wurde. Sie stellte sich dies als eine fürchterliche
20718 Operation vor und schickte zu einem Freund Saltners, um sich Rat zu
20719 holen, was sie tun solle. Alle seine Vorstellungen waren vergebens,
20720 sie ließ sich nicht bereden, ebensowenig wie Kathrin, zu dem Termin
20721 zu gehen, und der Freund wußte nichts Besseres zu tun, als an
20722 Saltner zu telegraphieren. Inzwischen war der Termin verfallen, und
20723 Frau Saltner wie ihre Dienerin wurden zu je fünfhundert Gulden
20724 Strafe verurteilt. Nun gab es erst recht ein großes Wehklagen, das
20725 Geld war, zumal in Saltners Abwesenheit, nicht zur Stelle zu
20726 schaffen, und die beiden Frauen sollten in das psychophysische
20727 Laboratorium zur Abbüßung der Strafe und zur Vollziehung der
20728 Impfung abgeholt werden.
20730 Die Beamten, welche die Anordnungen des Instruktors nur widerwillig
20731 vollzogen, hätten es gern gesehen, wenn die Frauen sich auf
20732 irgendeine Weise unsichtbar gemacht hätten. Und als sie endlich in
20733 das Haus traten, hatte sich auch Kathrin versteckt und war nicht zu
20734 finden. Frau Saltner aber saß auf ihrem Platz und sagte nur: „Ich
20735 bin eine alte Frau und geh nicht eher hier fort, bis mein Sohn
20736 kommt. Ihr könnt machen, was ihr wollt.“
20738 Da sie keine andre Antwort erhielten und gegen die alte Frau, noch
20739 dazu die Mutter eines in der ganzen Umgegend gekannten und
20740 beliebten Mannes, keine Gewalt brauchen wollten, entfernten sie
20741 sich wieder und brachten irgendeine Entschuldigung vor. Es war
20742 aber, als ob der Instruktor alles heraussuchte, womit er Saltner
20743 Kränkungen bereiten konnte, so daß er sich persönlich um die
20744 Einzelheiten kümmerte, wenn Saltner in Frage kam. Er schickte einen
20745 der Assistenten des Laboratoriums, einen jungen Nume, der hier
20746 seine Studien machte, mit seinen beiden Beds ab, und Frau Saltner
20747 wurde in einem Krankenstuhl in das Laboratorium geschafft.
20749 „Sie haben es gewagt, diese Schufte?“ rief Saltner wütend.
20751 „Eine fast siebzigjährige Frau! Und das nennt sich Nume! Und was
20752 hat denn die Mutter gesagt?“
20754 „Gar nichts hat sie gesagt“, antwortete Kathrin unter neuem
20755 Schluchzen, „als nur immer, mein Josef, mein armer Josef, und, ich
20756 überleb’s nimmer, und geweint hat sie, aber gesagt hat sie nichts
20757 mehr.“
20759 Saltner stand stumm und überlegte, was zu tun sei. Die Tränen
20760 traten ihm in die Augen, wenn er an die Angst dachte, die seine
20761 Mutter ausstand. Er wußte ja, daß ihr tatsächlich nichts geschehe,
20762 daß man sie als eine Kranke behandeln würde und sie vielleicht
20763 sicherer aufgehoben sei als zu Hause. Denn wenn auch Oß
20764 unzurechnungsfähig war, der Leiter des Laboratoriums war ein Arzt,
20765 ein wohlwollender Mann, der seine Aufgabe ernst im Sinn von Ell
20766 nahm, und die Strafanstalt, als welche das Laboratorium diente, mit
20767 Rücksicht auf jeden individuellen Fall leitete. Aber die Angst, die
20768 Furcht, die Vorstellungen, die sich seine Mutter machen mochte, und
20769 die Kränkung! Das konnte wirklich ihr Tod sein. Nicht eine Stunde
20770 länger wollte er sie in dieser Besorgnis allein lassen, er mußte
20771 sie herausholen.
20773 Kathrin begann aufs neue zu jammern.
20775 „Ist es denn wahr, Herr Josef, im Laboratorium, daß die Leute da
20776 gebraten werden –“
20778 „Reden Sie nicht so dummes Zeug, Kathrin, gar nichts geschieht
20779 ihnen, als daß sie ein bißchen beobachtet werden, wie der Puls
20780 geht, wenn sie so oder so liegen, oder wenn sie kopfrechnen –“
20782 „Kopfrechnen, Jesus Maria, das könnt’ ich nun schon gar nicht.“
20784 „Jedenfalls seien Sie still, und hören Sie, was ich sage, aber
20785 passen Sie genau auf. Ich werde jetzt gleich die Mutter holen.“
20787 „Ach Herr Josef, Sie werden sich doch nicht dahin wagen!“
20789 Aber Saltner sprach nicht sogleich weiter. Er ging im Zimmer auf
20790 und ab, während Kathrin lamentierte, und dachte seinen Entschluß
20791 genau durch. Er dachte an die Warnung Schauthalers und an die
20792 Begegnung mit Oß und sagte sich, daß er selbst keinen Augenblick
20793 sicher sei. Aber die Mutter durfte er nicht ohne die größte Gefahr
20794 für ihre Gesundheit länger in ihrer Angst und Einsamkeit lassen. Er
20795 mußte sie und zugleich sich in Sicherheit bringen. Er war in
20796 Sicherheit, sobald er das Gebiet verlassen hatte, das Oß
20797 unterstellt war. Die Instruktoren der Nachbargebiete würden solchen
20798 ungesetzlichen Forderungen nicht nachgeben, außerdem konnte er sich
20799 auch einige Zeit im verborgenen halten. Er mußte sich nur hüten,
20800 etwas zu tun, was von der Oberbehörde der Nume aus verboten war,
20801 denn dadurch hätte er sich auf der ganzen Erde der Verfolgung
20802 ausgesetzt. Sonst aber kam es allein darauf an, den Bezirk von Oß
20803 zu vermeiden, bis dieser abgesetzt war. Dieser Bezirk erstreckte
20804 sich über das westliche Südtirol, fiel aber nicht mit der
20805 österreichischen Landesgrenze zusammen, sondern reichte nur bis an
20806 die Grenzen des deutschen Sprachgebiets. Diese lief in wenigen
20807 Stunden Entfernung im Westen, Süden und Osten über die Berge.
20808 Dahinter war italienisches Sprachgebiet, das einem Kultor in Rom
20809 unterstand. Über diese Grenze mußte er zunächst und auf der
20810 Stelle.
20812 Saltner ging an die Haustür, die er verschloß, ebenso verschloß er,
20813 soweit dies Kathrin nicht schon getan hatte, die Fensterläden. Aus
20814 einer Kassette in seinem Schreibtisch nahm er Papiere, die er zu
20815 sich steckte. Dann ging er in den Garten und rief die Dienerin zu
20816 sich.
20818 „Kathrin“, sagte er, „nun seien Sie ganz still und tun Sie genau,
20819 was ich sage. Ich werde die Mutter und Sie in Sicherheit bringen,
20820 aber wenn Sie nicht genau alles tun, kommen Sie doch noch ins
20821 Laboratorium. Schon gut! Jetzt gehen Sie – aber hier hinten zum
20822 Garten hinaus – zum Rieser und sagen ihm, er möchte sogleich
20823 einspannen und mit dem Wagen hinten am Tor, wo’s nach der Meraner
20824 Straße geht, warten. In einer halben Stunde ist’s dunkel, dann
20825 komme ich. Es wäre aber eine wichtige und geheime Sache, er wird
20826 sich’s schon denken. Dann laufen Sie schnell – ist der Palaoro zu
20827 Haus, der Sohn, mein ich?“
20829 „Er wird schon zu Haus sein. Es gibt jetzt wenig Touren.“
20831 „Er soll mit zwei zuverlässigen Leuten und zwei Maultieren mit
20832 Frauensätteln sogleich nach Andrian aufbrechen, und wenn ich noch
20833 nicht da bin, mich dort erwarten. Er soll auch den Schlüssel zur
20834 kleinen Hütte mitnehmen. Dann laufen Sie gleich wieder nach Hause,
20835 aber von hinten herein, und nehmen die Decken und etwas Zeug für
20836 die Mutter und für sich, aber nur ein kleines Bündel – etwas zu
20837 essen soll der Rieser besorgen –, und kommen wieder zum Rieser, wo
20838 der Wagen hält. Und das weitere wird sich finden. Haben Sie alles
20839 verstanden?“
20841 „Ganz genau, Herr Josef, ich laufe bald.“
20843 \section{49 - Die Flucht in die Berge}
20845 Saltner verließ durch die Hintertür des Gartens seine Wohnung. In
20846 wenigen Minuten stand er vor der Kaserne, die jetzt den Martiern
20847 als Laboratorium, Schule und Strafanstalt diente. Er trat in das
20848 Wartezimmer und verlangte den dirigierenden Arzt oder dessen
20849 Stellvertreter zu sprechen.
20851 Beide hatten bereits die Anstalt verlassen und sich in die Stadt
20852 begeben. Der zweite Assistent, ein ganz junger Mann, der erst vor
20853 kurzem vom Mars gekommen war, empfing ihn. Saltner stellte sich vor
20854 und legitimierte sich durch seinen Paß. Der junge Nume wurde
20855 außerordentlich höflich und etwas verlegen. Er sagte sogleich: „Sie
20856 kommen gewiß wegen Ihrer Frau Mutter. Ich muß gestehen, ich weiß
20857 nicht recht, wie es zusammenhängt, daß Ihre Frau Mutter hier
20858 festgehalten wird, wir wissen ja doch alle, mit welchen Ehren Sie
20859 als der erste Bat auf dem Nu empfangen wurden – aber es liegt ein
20860 ausdrücklicher Befehl des Instruktors vor.“
20862 „Das hängt einfach so zusammen“, sagte Saltner, „daß ich verreist
20863 war und meine Mutter mit den Verhältnissen nicht Bescheid wußte,
20864 auch während meiner Abwesenheit nicht über die Mittel verfügte, die
20865 geforderte Geldstrafe wegen des versäumten Termins zu bezahlen. Ich
20866 komme jetzt, um meine Mutter abzuholen, und deponiere hier
20867 Obligationen im Betrag von tausend Gulden für meine Mutter und
20868 unsere Dienerin Katharina Wackner, mit dem Vorbehalt, die
20869 Gültigkeit der Verordnung auf dem Rechtswege zu bestreiten. Wollen
20870 Sie die Güte haben, meine Mutter holen zu lassen.“
20872 „Ich bin sehr gern bereit, Sie zu Ihrer Frau Mutter zu führen, aber
20873 das Geld kann ich nicht annehmen, Sie müssen dasselbe auf der
20874 Bezirkskasse deponieren, auf den erhaltenen Schein wird die
20875 Entlassung verfügt werden. Ich bin dazu nicht ermächtigt.“
20877 „Das ist aber äußerst fatal. Ich kann meine Mutter keinen
20878 Augenblick länger hier lassen, sie wird dadurch im höchsten Grade
20879 deprimiert, und es steht für ihre Gesundheit das Schlimmste zu
20880 befürchten.“
20882 „Ich muß zugeben, es wäre sehr wünschenswert, daß Ihre Frau Mutter
20883 zu Ihnen käme – unsrerseits würden wir ja gern sofort –, wenn nicht
20884 –“ Er zuckte mit einem bedeutungsvollen Blick die Achseln.
20885 „Indessen, es wird sie beruhigen, wenn ich Sie inzwischen zu ihr
20886 führe. Ich möchte Ihnen gern in jeder Hinsicht gefällig sein und
20887 Ihnen daher folgendes vorschlagen. Um zehn Uhr kommt der Direktor
20888 zurück, es sind dann noch einige Schlaf- und Traumversuche
20889 anzustellen. Inzwischen fahre ich mit dem Geld nach der Kasse,
20890 vielleicht treffe ich noch einen Beamten, ich besorge Ihnen den
20891 Schein, und darauf wird der Direktor die Entlassung verfügen.“
20893 „Sie sind außerordentlich liebenswürdig“, sagte Saltner. „Es ist
20894 nur fraglich, ob es nicht schon zu spät am Tage ist – wollen Sie
20895 mir nicht auf Ihre Verantwortung meine Mutter anvertrauen?“
20897 „Das ist mir ganz unmöglich, so gern ich möchte.“
20899 „Nun“, sagte Saltner mit einem Gesicht, das wenig Freude verriet,
20900 „dann bleibt mir nichts anderes übrig, als ihr freundliches
20901 Anerbieten anzunehmen.“
20903 „Sehr gern. Sobald ich Sie zu Ihrer Mutter gebracht habe, fahre
20904 ich, und in einer halben Stunde bin ich wieder hier.“
20906 Saltner war in verzweifelter Stimmung. Er konnte das Anerbieten des
20907 Numen nicht ablehnen, aber er konnte auch unmöglich diese
20908 Entwicklung der Angelegenheit abwarten. Denn abgesehen davon, daß
20909 sich heute vielleicht überhaupt nichts mehr erreichen ließ, so
20910 mußten doch noch gegen zwei Stunden vergehen, ehe die Entlassung
20911 vom Direktor zu erhalten war. Das war für Saltner so gut als die
20912 Vereitelung seiner Rettung. Denn selbst wenn, was keineswegs
20913 ausgeschlossen war, Oß von der Zahlung nichts erfuhr, so mußte doch
20914 Saltner mit Gewißheit annehmen, daß noch in dieser Stunde Oß seine
20915 Drohung ausführen und ihn persönlich zur Rechenschaft ziehen würde.
20916 Vermutlich war sein Haus jetzt schon besetzt; wenn er nicht
20917 zurückkehrte, so würde man ihn sicher bei seiner Mutter suchen; er
20918 konnte jeden Augenblick erwarten, daß man ihn auf Grund einer
20919 besonderen Order, die der Instruktor durchsetzen würde, hier
20920 verhaften werde. Jede Minute war ihm kostbar. Das ging ihm durch
20921 den Kopf, während er mit dem Assistenten durch die Korridore nach
20922 dem Zimmer seiner Mutter schritt.
20924 Der Nume blieb vor einer Tür stehen.
20926 „Hier ist es“, sagte er, „gehen Sie allein hinein. Ich will
20927 inzwischen in Ihrem Interesse eilen.“
20929 Saltner schoß ein Gedanke durch den Kopf.
20931 „Gestatten Sie noch eine Frage“, sagte er. „Wer vertritt Sie in
20932 Ihrer Abwesenheit von hier?“
20934 „Dr. Frank, der frühere Stabsarzt.“
20936 „Ich kenne ihn. Ich möchte mit ihm über meine Mutter sprechen;
20937 würden Sie die Güte haben, ihm sagen zu lassen, daß er sich hierher
20938 bemühe?“
20940 „Sehr gern.“ Der Nume verabschiedete sich.
20942 Saltner blieb kurze Zeit pochenden Herzens vor der Tür stehen.
20944 Leise klopfte er an. Es erfolgte keine Antwort. Er öffnete die Tür
20945 geräuschlos und trat in das Zimmer. Es war fast dunkel, nur ein
20946 letzter Schein der Dämmerung ließ noch einen unsichern Überblick
20947 zu. Über einem Betstuhl in der Ecke brannte eine ewige Lampe. Davor
20948 kniete Frau Saltner, in inbrünstigem Gebet begriffen. Er hörte sie
20949 leise Worte murmeln.
20951 Saltner wagte kaum zu atmen. Seine Augen füllten sich mit Tränen.
20952 Und doch hing vielleicht alles an einer Minute.
20954 „Mutter“, sagte er leise.
20956 Ihre Lippen verstummten. Ihr Blick richtete sich wie verzückt nach
20957 oben.
20959 „Mutter“, wiederholte er. „ich bin’s, der Josef.“
20961 Sie blieb in ihrer Stellung, als fürchtete sie, durch eine Bewegung
20962 die Erscheinung zu verscheuchen.
20964 „Es ist seine Stimme“, flüsterte sie. „Die heilige Jungfrau hat
20965 mein Gebet erhört.“
20967 Er kniete neben ihr nieder und umschlang sie mit seinem Arm. Jetzt
20968 erst wandte sie ihm das Gesicht zu. Mit einem Freudenschrei fiel
20969 sie ihm um den Hals.
20971 „Steh auf, Mutter“, sagte er, „und komm schnell, ich bin hier, um
20972 dich abzuholen. Wir müssen sogleich gehen.“
20974 Er zog sie empor. Sie küßte ihn zärtlich. Sie sprach kein Wort. Nun
20975 er da war, nun war es ihr wie selbstverständlich, daß sie fortgehen
20976 konnte. Sie suchte ihre Sachen zusammen.
20978 „Laß nur alles liegen“, sagte er, „es wird alles geholt werden. Nur
20979 dein Tuch nimm um, es wird kühl. So, nun komm!“
20981 Ihre Knie zitterten, er mußte sie stützen. Langsam gingen sie zur
20982 Tür und betraten den Korridor.
20984 Nach wenigen Schritten kam ihnen Doktor Frank entgegen.
20986 „Guten Abend, Saltner“, sagte er herzlich. „Nun werden Sie ja
20987 hoffentlich bald die liebe Frau Mutter wieder haben. Kommen Sie mit
20988 mir in mein Zimmer, und essen Sie mit mir zu Abend, dort können Sie
20989 alles gemütlich abwarten.“
20991 „Lieber Freund“, antwortete Saltner, „ich danke Ihnen innig, aber
20992 ich muß Ihnen eine Überraschung bereiten. Ich gehe jetzt mit meiner
20993 Mutter sogleich fort. Ich habe Gründe, weshalb ich nicht warten
20994 kann.“
20996 „Haben Sie denn den Schein und das Attest vom Direktor?“
20998 „Nein, das brauche ich nicht, wir gehen so.“
21000 „Aber ich bitte Sie, bester Freund, das ist unmöglich, das darf ich
21001 ja leider nicht zulassen –“
21003 „Sie müssen es.“
21005 „Es geht nicht. Sie bringen mich in Teufels Küche. Es geht mir an
21006 den Kragen.“
21008 „Ihnen kann gar nichts passieren. Kennen Sie die Verordnung von Oß,
21009 wo es heißt: ›Jeder Anordnung eines Numen, gleichviel, worauf sie
21010 sich beziehe, ist ohne Widerspruch Folge zu leisten‹, von den
21011 Menschen nämlich?“
21013 „Leider ja, ich kenne den Unsinn, muß mich aber danach richten.“
21015 „Nun denn, führen Sie uns in Ihr Zimmer, ich will Ihnen etwas
21016 zeigen.“
21018 Sie traten in das Sprechzimmer des Arztes.
21020 „Können Sie martisch lesen?“ fragte Saltner.
21022 „Ich habe es einigermaßen lernen müssen.“
21024 „Dann sehen Sie sich das an.“ Er zeigte seinen Paß.
21026 „Erkennen Sie an, daß mir danach alle Rechte eines Numen
21027 ausnahmslos zuerkannt sind?“
21029 „Ich muß es anerkennen.“
21031 „Demnach befehle ich Ihnen, meine Mutter und mich sogleich aus
21032 diesem Hause zu entlassen.“
21034 Der Arzt sah ihn verdutzt an. Dann blinzelten die Augen unter
21035 seiner Brille, und ein vergnügtes Schmunzeln ging über sein ganzes
21036 Gesicht. Endlich lachte er und rieb sich die Hände.
21038 „Das ist gut!“ rief er. „Das nenne ich den Jäger in seiner eignen
21039 Falle gefangen. Ja, wenn Eure Numenheit befehlen, so muß ein armer
21040 Bat ja folgen. Aber um meiner Sicherheit willen möchte ich mir den
21041 Befehl doch schriftlich ausbitten.“
21043 Er rückte Papier und Feder zurecht.
21045 Saltner schrieb eilig in martischer Sprache: „Auf Grund der
21046 Verordnung des Instruktors von Südtirol vom 18. September kommt Dr.
21047 Frank, in Vertretung des Direktors des Laboratoriums, meinem Befehl
21048 nach, Frau Marie Saltner aus der Anstalt zu entlassen. Josef
21049 Saltner, Ehrenbürger der Marsstaaten. Bozen, am 20. September.“
21051 Frank verbeugte sich und nahm das Papier in Empfang. Er schüttelte
21052 Saltner die Hand und sagte: „Nun wünsche ich recht glückliche
21053 Reise, denn Sie werden sich wohl auf einige Zeit aus der Nähe
21054 verziehen. Ich begleite Sie bis vors Haus.“
21056 Langsam stiegen sie die Treppe hinab, denn Frau Saltner fiel das
21057 Gehen noch immer schwer. Da kam ihnen ein Diener eilig entgegen.
21059 „Herr Doktor“, rief er, „eben kommt der Instruktor vor die Tür
21060 gefahren. Er wird gleich hier sein.“
21062 Saltner stand erstarrt. Im letzten Augenblick sollte er scheitern?
21064 „Haben Sie nicht einen Nebenausgang, durch den Sie uns führen
21065 können?“ fragte er schnell.
21067 Frank verstand. „Kommen Sie“, sagte er. Und zu dem Diener: „Sagen
21068 Sie dem Herrn Instruktor, ich würde sofort zur Stelle sein. Sie
21069 sehen, ich bin eben bei einer Kranken.“
21071 Damit faßte er Frau Saltner unter den andern Arm, und sie gingen
21072 schnell durch einen Korridor nach einer Nebentreppe und durch
21073 einige Wirtschaftsräume in den Hof. Hier führte eine kleine Tür auf
21074 einen schmalen Weg, der sich hinter dem Haus zwischen den
21075 Weingärten hinzog. Schnell schloß Frank die Tür hinter Saltner und
21076 seiner Mutter zu und eilte ins Haus zurück.
21078 Jetzt tat Eile not.
21080 „Wir müssen uns eilen, Mutter“, sagte er, „damit wir fortkommen,
21081 denn in unserm Haus dürfen wir nicht bleiben. Ich habe einen Wagen
21082 bestellt, wir wollen über die Berge, wo der Oß nichts mehr zu sagen
21083 hat. Ich will dich deshalb das Stückchen tragen.“
21085 „Du wirst es schon recht machen“, sagte sie.
21087 Er nahm sie auf den Arm wie ein Kind und schritt rasch und ohne
21088 Beschwerden zwischen den Mauern dahin. Der Weinhüter kam ihm
21089 entgegen. Als er ihn erkannte, grüßte er ehrerbietig und öffnete
21090 ihm die Türen. So kam er schnell an die Stelle, wo der Wagen hielt.
21091 Kathrin saß schon darin, Rieser stand selbst bei den Pferden.
21092 Saltner hob seine Mutter hinein, Kathrin wickelte sie in eine Decke
21093 und bot ihr Wein an.
21095 Saltner schwang sich auf den Bock. Der Weinhüter war herangetreten.
21096 Hier kannte ihn jeder und liebte ihn, keiner hätte ihn verraten.
21097 Saltner beugte sich zu dem Mann herab und sagte: „Die Nume sind
21098 hinter uns her, sie dürfen uns nicht kriegen.“
21100 „Schon recht“, sagte der Hüter, „ich habe nichts gesehen, hier ist
21101 niemand gewesen.“ Damit tauchte er wieder in das Dunkel der Mauern.
21102 Die Pferde zogen an, der Wagen rollte auf der Straße nach Meran
21103 davon.
21105 Saltner sprach zurück in den halbgedeckten Wagen. Er erkundigte
21106 sich, wie Kathrin ihre Aufträge ausgerichtet habe. Palaoro war zu
21107 Hause gewesen, er hatte gesagt, zwei zuverlässige Leute, die
21108 besten, die da seien, würden gern mit ihm kommen, weil es für den
21109 Herrn Saltner sei. Aber ob er die Maultiere gleich bekommen würde,
21110 wüßte er nicht, doch werde er sein Möglichstes tun. Der Herr
21111 Saltner möge sich nur nicht sorgen, wenn es etwas spät in der Nacht
21112 würde. Dann wäre sie nach Hause gelaufen und hätte die Sachen
21113 zusammengepackt. Als sie gerade wieder hinten zum Hause
21114 hinausgewollt, hätte es vorn gepocht. Da hat sie das Licht schnell
21115 ausgelöscht und zum Guckfenster hinausgeschaut. Dort ist der Wagen
21116 des Herrn Instruktor gestanden, und noch eine Menge von Fahrrädern
21117 mit den großen elektrischen Lampen sind dagewesen und wohl zehn
21118 Leute mit Glockenhelmen, die haben ins Haus gewollt. Da ist sie
21119 schnell hinten hinaus und hat die Tür verschlossen und ist zum
21120 Rieser gelaufen, und der ist auch gerade mit dem Wagen gekommen.
21122 Die Häuser des Ortes lagen hinter den Flüchtlingen. Die Nacht war
21123 klar, und eine Spur von Dämmerung erleuchtete den Weg. Saltner
21124 besprach sich mit dem Besitzer des Fuhrwerks und setzte ihm
21125 auseinander, worauf es ankäme. Sobald Oß die Entführung aus dem
21126 Laboratorium erfahren haben würde, und das war jetzt natürlich
21127 schon geschehen, würde er sie jedenfalls verfolgen lassen. Er
21128 konnte zwar nicht wissen, ob sie sich nicht in Gries versteckt
21129 hielten, aber er würde jedenfalls auch seine fahrenden Gendarmen
21130 die Hauptstraßen entlangschicken. Diese mußten mit ihren schnellen
21131 elektrischen Rädern auf den glatten Chausseen den Wagen bald
21132 einholen. Sie durften also nicht auf der Chaussee bleiben, wenn
21133 auch die Fahrt auf diese Weise viel länger dauern mußte. Hatte Oß
21134 nach den umliegenden Ortschaften telephonisch den Befehl gesandt,
21135 sie aufzuhalten, so war ihnen die Nachricht doch in jedem Fall
21136 vorangeeilt. Man mußte dann sehen, wie man durchkam.
21138 „In der Hinsicht“, sagte Rieser, „brauchen Sie nichts zu
21139 befürchten, wenn nicht gerade ein Nume in Andrian ist. Aber wie
21140 sollte da einer hinkommen? Der Vorsteher sieht gern durch die
21141 Finger, wenn er den Numen ein Schnippchen schlagen kann. Sie setzen
21142 sich dann in den Wagen, und wenn ich mit dem Mann gesprochen habe,
21143 wird er Sie gar nicht erkennen.“
21145 Sie hatten jetzt die Straße verlassen und verfolgten einen
21146 schlechten Feldweg, zwischen Obst- und Weingärten oder Rohrfeldern.
21147 Die Schwierigkeit lag aber darin, über die Eisenbahn und die Etsch
21148 hinüberzukommen. Dazu mußten sie bis Sigmundskron heran, und hier
21149 galt es vorsichtig sein. Die Mitte des Bozener Bodens war noch
21150 nicht erreicht, als sie hinter sich, wo die Straße nach Meran sich
21151 etwas erhöht am Berg hinzieht, die unverkennbaren Lichter der
21152 Martier sich in schneller Fahrt in der Richtung nach Terlan
21153 hinbewegen sahen. Gleich darauf bemerkten sie auch vor sich
21154 Lichter, die in derselben Richtung wie sie auf den dunkel
21155 vorspringenden Felsen von Sigmundskron hineilten. Sie waren aber
21156 auf der Chaussee ihnen bereits voraus und verschwanden bald hinter
21157 den Bäumen und Baulichkeiten des Orts.
21159 „Nun so schnell wie möglich ihnen nach“, rief Saltner. „Die fahren
21160 sicher den Berg hinan, um zu sehen, ob wir über die Mendel wollen.
21161 Bis sie zurückkommen, muß der Weg frei sein.“
21163 „Sie werden aber nicht weit fahren“, sagte Rieser. „Denn das wissen
21164 sie doch, daß sie uns in der ersten halben Stunde einholen müssen,
21165 wenn sie auf dem richtigen Weg sind.“
21167 „Wir müssen unser Glück versuchen.“
21169 Ohne aufgehalten zu werden, passierten sie den Ort und den Fluß und
21170 waren glücklich an der Stelle vorüber, wo links die Straße nach dem
21171 Mendelpaß abgeht. Sie wandten sich rechts, um am Gebirge entlang
21172 ihr Ziel zu erreichen. Jetzt durften sie hoffen, keinem Verfolger
21173 mehr zu begegnen. Die Straße führte hier ein großes Stück
21174 geradeaus, das sie schon zurückgelegt hatten, und Saltner spähte
21175 vorsichtshalber noch einmal rückwärts. Da bemerkte er plötzlich,
21176 wie hinter ihnen das elektrische Licht eines Rades auftauchte. Es
21177 näherte sich nur langsam, da der Weg kein schnelles Fahren
21178 gestaltete. Sie wurden verfolgt.
21180 Saltner verlor die Geistesgegenwart nicht. Er sah, daß es nur ein
21181 einzelner Bed war, der diese Straße einschlug; vielleicht hatte man
21182 ihm gesagt, daß ein Wagen diesen Weg gefahren sei. Er durfte es
21183 nicht darauf ankommen lassen, daß der Wagen erkannt wurde. Der Bed
21184 hätte Hilfe herbeigeholt, und man hätte ihn jedenfalls noch in
21185 Andrian erreicht. Er fühlte nach der Telelytwaffe, die er vom Mars
21186 mitgebracht und heute zu sich gesteckt hatte. Ohne Rieser etwas von
21187 dem Verfolger zu sagen, rief er ihm nur zu: „Fahren Sie weiter, ich
21188 komme gleich nach!“und sprang während der Fahrt vom Wagen.
21190 Er mußte den Bed abhalten, ihnen zu folgen, aber er durfte ihn auch
21191 nicht zurückkehren lassen, um zu melden, daß er durch einen
21192 Überfall verhindert worden sei, die Verfolgung fortzusetzen;
21193 vielmehr mußte er es so einrichten, daß der Bed an einen zufälligen
21194 Unfall glaubte. Und er hatte schon unterwegs daran gedacht, wie er
21195 das einrichten könne. Saltner sprang hinter einen Baum, der ihn
21196 gegen das Licht der Laterne deckte. Die Telelytwaffe ließ sich
21197 ausziehen, daß man wie mit einem Gewehr genau zielen konnte. Das
21198 Rad mit dem Bed näherte sich hell beleuchtet und mochte noch etwa
21199 hundert Schritt entfernt sein. Saltner setzte eine kleine
21200 Sprengpatrone ein und zielte an die Stelle, wo der diabarische
21201 Glockenhelm von den beiden dünnen Stützen getragen wird, die ihn
21202 mit der Fußbekleidung verbinden. Wird diese Verbindung
21203 unterbrochen, so ist die Diabarität aufgehoben, da der zu
21204 schützende Körper nach beiden Seiten gegen die Richtung der
21205 Schwerkraft gedeckt sein muß. Es kommt beim Gebrauch des Telelyts
21206 nicht wie bei einem Schuß auf eine einzige Entladung an, sondern
21207 man kann die Wirkung, die sich wie das Licht in Ätherwellen
21208 fortpflanzt, einige Zeit wirken lassen. Saltner war daher sicher,
21209 wenn er auch bei den Schwankungen des Helms einigemal das Ziel
21210 verlor, doch den Sprengerfolg zu erreichen. Und in der Tat, nach
21211 fünf bis sechs Sekunden begann der Helm sich zu neigen, und die
21212 eine Stütze brach. Der Bed hielt erschrocken sein Rad an. Diesen
21213 Moment der Ruhe benutzte Saltner, um auch die andere Stütze zu
21214 sprengen. Der Helm fiel herab, und der Bed bückte sich sichtlich
21215 unter dem Druck der Erdschwere. Er konnte jedenfalls so bald weder
21216 vorwärts noch rückwärts weit gelangen und war mit seinem Unfall so
21217 beschäftigt, daß er nicht mehr auf den Weg achtete.
21219 In schnellen Sprüngen eilte Saltner dem Wagen nach. Ohne ein Wort
21220 zu sagen, schwang er sich wieder auf den Bock. Eine Stunde später
21221 traf der Wagen in Andrian ein. Rieser ging voraus und überzeugte
21222 sich, daß hier noch keine Nachforschungen angestellt seien. Der
21223 Wirt brachte die Frauen in seiner eignen Wohnung unter, und auch
21224 Saltner legte sich einige Stunden zur Ruhe, um die Ankunft der
21225 Führer abzuwarten.
21227 Um drei Uhr wurde er geweckt. Palaoro war mit zwei Führern und den
21228 Maultieren eingetroffen. Alles wurde sogleich zum Aufbruch
21229 vorbereitet. Frau Saltner fühlte sich vollkommen kräftig, die
21230 Befreiung von ihrer Angst hatte ihr aufgeholfen. Nur die Füße
21231 konnte sie nicht gut gebrauchen, aber auf dem bequemen Sattel des
21232 Maultiers hatte sie keinerlei Beschwerden. Es war noch finster, als
21233 der kleine Zug aufbrach und auf schmalen Pfaden durch eine enge
21234 Schlucht zur Stufe des Mittelgebirges hinaufklomm. Sie waren erst
21235 ein kurzes Stück vorwärts gekommen, als Palaoro in seine Tasche
21236 griff und zu Saltner sagte:
21238 „Da habe ich doch noch etwas vergessen. Gehen Sie nur ruhig
21239 vorwärts, ich hole Sie bald wieder ein.“
21241 Er schritt gemächlich den Weg zurück. Der Wirt, der zugleich
21242 Ortsvorsteher war, trat eben ins Haus, um sich noch ein wenig aufs
21243 Ohr zu legen, als Palaoro herankam.
21245 Er überreichte ihm eine Depesche und sagte: „Das hat mir diese
21246 Nacht der Postmeister in Terlan mitgegeben. Er hatte nach allen
21247 Richtungen Boten ausschicken müssen, so daß er keinen mehr an euch
21248 hatte; da hab ich gesagt, ich wolle das Telegramm mitnehmen.
21249 Beinahe hätt’ ich’s vergessen. B’hüt euch Gott.“
21251 Und schon war er mit raschen Schritten in der Dunkelheit
21252 verschwunden. Der Wirt ging langsam ins Zimmer und entfaltete beim
21253 Schein der Laterne das Telegramm. Es lautete:
21255 „Josef Saltner mit Frau Marie Saltner und Katharina Wackner sind,
21256 wo sie auch auf diesseitigem Gebiet betroffen werden, zu verhaften
21257 und sogleich der hiesigen Gerichtsstelle zuzuführen.“
21259 Der Ortsvorsteher faltete das Papier zusammen und sprach: „Das
21260 hätte halt nachher schon vorher kommen gesollt.“ Dann ging er
21261 wieder zu Bett.
21263 Die Flüchtenden hatten das Mittelgebirge überschritten und
21264 kletterten jetzt auf halsbrecherischen Pfaden die steilen Abstürze
21265 des Gantkofels hinauf. Immer mit gleicher Sicherheit ging Palaoro
21266 voran, die Saumtiere folgten an der Hand ihrer Führer mit festem
21267 Tritt, und Saltner beschloß den Zug. Die Sonne ging auf und
21268 vergoldete die Bergspitzen. Ohne Rast, den Abgrund zur einen, die
21269 Felswand zur andern Seite, setzten die Reisenden ihren Anstieg
21270 fort. Nach vier Stunden war der Rücken erreicht, mit welchem das
21271 Mendelgebirge steil gegen das Etschtal abbricht. Dieser Rücken ist
21272 die deutsch-italienische Sprachgrenze und das Ende des Oß’schen
21273 Machtbereichs.
21275 Menschen und Tiere blieben stehen und erholten sich. Der Blick
21276 hatte sich nach Süden und Westen geöffnet. Auf den schlanken
21277 Pyramiden der Presanella, auf den ewigen Schneemassen der
21278 Ortler-Alpen glänzte strahlend das Sonnenlicht. Drunten im Tal
21279 zogen Nebelstreifen, und über ihnen ruhten dunkel die bizarren
21280 Formen der Dolomiten.
21282 Saltner winkte einen Gruß zurück ins Tal.
21284 „Auf Wiedersehen“, rief er, „wenn die Nebel vergangen sind. Jetzt
21285 sind wir frei!“
21287 Noch eine Viertelstunde mäßig bergab. Dann tat eine grüne, schmale
21288 Talschlucht sich auf, von einem frischen Gebirgsbächlein
21289 durchrieselt. Auf dem Rasen winkte eine Schutzhütte auf einem
21290 verborgenen, selten besuchten Platz. Palaoro schloß auf.
21292 „Hier werden wir wohnen“, sagte Saltner, indem er seine Mutter vom
21293 Maultier hob, „bis das Recht wieder eingezogen ist in unser Land.“
21295 „Wo könnte es schöner sein?“ sagte sie. „Und du bist hier.“
21297 \section{50 - Die Luft-Yacht}
21299 Die Strahlen der aufgehenden Sonne vergoldeten ein prachtvolles
21300 Luftschiff, das aus den äußersten Höhen des Luftmeers von Norden
21301 her herabschießend jetzt seine Geschwindigkeit mäßigte und seine
21302 glänzenden Schwingen ausbreitend langsam und majestätisch, in
21303 geringer Höhe über den Wogen, der nördlichen Küste von Rügen
21304 entgegenschwebte.
21306 Die Fischer in ihren Booten und die Badegäste, die am Strand
21307 lustwandelten, verfolgten das Schiff mit erstaunten Blicken. An den
21308 Anblick von Luftschiffen waren sie gewöhnt, denn der direkte Weg
21309 vom Nordpol nach Berlin führte hier vorüber, wenn auch freilich
21310 diese Schiffe in viel größeren Höhen zu ziehen pflegten. Aber ein
21311 derartiges Fahrzeug hatten sie noch nicht gesehen. Es war keines
21312 der furchtbaren Kriegsschiffe, deren farblose Einfachheit nur die
21313 drohenden Öffnungen der Repulsitgeschütze unterbrach, es war auch
21314 keines der langen und breiten Postschiffe, die den Personenverkehr
21315 vermittelten. Für eines der Boote, die den höheren Beamten der Nume
21316 zur Verfügung standen, war es zu groß und prächtig. Es war in der
21317 Tat ein Schiff, wie es bisher auf der Erde nicht verkehrt hatte,
21318 eine Privatyacht, von einem reichen Numen zu Vergnügungsreisen
21319 erbaut. Seine glatte Oberfläche schimmerte rot und golden, auf
21320 beiden Seiten wie auf den jetzt ausgebreiteten Flügeln glänzte
21321 weithin sichtbar der Name des Schiffes, als wäre er von riesigen
21322 Edelsteinen gebildet, ein nach rechts offener Halbkreis. Wer
21323 martisch zu lesen verstand, erkannte darin den Namen ›La‹.
21325 In der Mitte des Schiffes, auf dessen unterer Seite, befand sich
21326 ein kleiner Salon, ausgestattet in einer ebenso kostbaren als
21327 einfach wirkenden Eleganz und mit jeder Bequemlichkeit, die
21328 martische Kunst zu erdenken vermochte. Eine hier zum erstenmal
21329 angewandte Konstruktion ließ nach beiden Seiten erkerartige Ansätze
21330 so hervortreten, daß sie, ohne die Bewegung des Schiffes zu
21331 verhindern, eine freie Aussicht nach den Seiten und nach unten
21332 gestatteten. Auf einem freihängenden Polster, wie auf einer
21333 Schaukel halb liegend, ruhte hier eine graziöse weibliche Gestalt
21334 in bequemem Morgenanzug, den der mit glänzenden Deli-Kristallen
21335 bedeckte Lisschleier umhüllte. Es war Se. Sie beugte den schlanken
21336 Hals herab, um das Meer zu betrachten. Sobald sie den Kopf bewegte,
21337 spielten die braunen Locken in den lichten Farben des Regenbogens.
21338 Von Zeit zu Zeit betrachtete sie Einzelheiten durch ein Glas, dann
21339 ließ sie wieder den Blick rückwärts über die schaumgekrönten Wogen
21340 in die uferlose Ferne schweifen. Sie konnte sich an diesem
21341 Schauspiel nicht sattsehen. Daß es so viel Wasser gab, Wasser und
21342 immer Wasser auf dieser Erde, wie wunderbar kam es ihr vor, die bis
21343 jetzt nur das eisschollenbedeckte und beschränkte Meer am Nordpol
21344 erblickt hatte.
21346 Eine leise Berührung ihrer Schulter ließ sie aufblicken. Die Herrin
21347 dieses fliegenden Wunderbaus stand vor ihr.
21349 „Da bist du ja, La“, rief sie, sich aufrichtend, der ihr
21350 zunickenden Freundin entgegen. „Hast du endlich ausgeschlafen?“
21352 „Ich bin auch nicht so früh eingeschlafen wie du. Ich glaube, du
21353 träumtest schon, als wir gestern vom Pol abreisten.“
21355 „Ich war furchtbar müde. Ich hatte ja den ganzen Tag gearbeitet, um
21356 mich noch rechtzeitig für dich freizumachen. Ach, La, das war doch
21357 einer deiner gescheitesten Gedanken, mich zu dieser Reise
21358 einzuladen. Aber diese Eile! In der Nacht kommst du mit dem ›Glo‹
21359 an, ganz unerwartet. Früh läßt mich dein Vater nach dem Ring holen,
21360 und abends muß ich schon mit dir fort nach Deutschland. Ich habe
21361 noch gar keine Zeit gehabt, dich irgend etwas zu fragen.“
21363 „Weil du gestern gleich eingeschlafen bist.“
21365 „Ich bin ganz starr über diesen fabelhaften Luxus, das heißt für
21366 ein Luftschiff. Sonst ist es ja gerade so wie zu Hause, aber das
21367 auf einem Schiff zu haben, das ist eben das Überraschende. Wie bist
21368 du nur dazu gekommen?“
21370 „Das hat mir alles der Vater geschenkt.“
21372 „Und das konnte er?“
21374 La nickte.
21376 „Aber du siehst gar nicht so vergnügt aus, wie es sich für eine
21377 solche Prinzessin schickt. Komm, setz dich her und gestehe! Was ist
21378 eigentlich mit euch vorgegangen? Ich versuchte vorhin in dein
21379 Zimmer zu kommen, aber ich glaube gar, du hast es mit einer
21380 akustischen Tür geschlossen, die nur auf das Stichwort aufgeht.“
21382 La lehnte sich auf die schwebenden Polster und blickte zur Erde
21383 hinab. Dann sagte sie:
21385 „Du siehst, wir sind reiche Leute geworden. Der Vater hat eine
21386 wichtige Erfindung gemacht, eine Verbesserung am
21387 Fortbewegungsmechanismus der Raumschiffe.“
21389 „Das weiß ich natürlich, den Fru’schen Gleitrepulsor, der das
21390 Repulsit noch einmal so stark ausnutzen läßt. Das erspart dem Staat
21391 Hunderte von Millionen im Jahr.“
21393 „Nun ja, und einige davon haben wir als Ehrengabe bekommen. Dafür
21394 hat mir der Vater dies schöne Schiff geschenkt und ein Reisejahr
21395 für die Erde. Ich freue mich sehr darüber.“
21397 „Wenn du es nicht sagtest, würde man es kaum glauben. Was hast du
21398 also noch für Sorgen?“
21400 „Weißt du, Se, schreiben oder in die Ferne sprechen kann man solche
21401 Sachen nicht. Drum hab ich dich vor allen Dingen abgeholt, denn das
21402 mußt du doch erfahren, daß wir mit Oß nicht mehr verkehren.“
21404 „Aber Oß ist doch an der Erfindung deines Vaters beteiligt, er war
21405 ja sein Assistent bei den Versuchen?“
21407 „Ja, leider. Er hat auch vom Staat seine Million bekommen, und das
21408 ist eben das Unglück, das ist ihm in den Kopf gestiegen.“
21410 „Wieso? Ein bißchen exzentrisch freilich war er ja immer. Weißt du
21411 noch? Damals am Pol, als Ill die Versammlung abhielt und Grunthe
21412 und Saltner fortgegangen waren, da beantragte er doch, den Menschen
21413 die persönliche Freiheit abzusprechen. Aber was hat er denn
21414 getan?“
21416 „Es war damals nach dem Friedensschluß mit der Erde, als der Vater
21417 die Versuche machte, und Oß war deshalb viel bei uns, wir hielten
21418 uns auf der Außenstation am Nordpol des Mars auf. Und da wollte er
21419 mich binden.“
21421 „Im Spiel? Ja? Nun, das ist doch noch kein Größenwahnsinn. Wer war
21422 denn dabei?“
21424 „Ich wollte aber nicht.“
21426 „Und das hat er übelgenommen, das kannst du ihm nicht verdenken.
21427 Warum wolltest du nicht?“
21429 „Ich – ich war nicht in der Stimmung. Aber er hat das falsch
21430 verstanden. Ich machte mir eben gar nichts aus ihm, und er bildete
21431 sich ein, mir wäre das Spiel zu wenig. Er kam mit einem Antrag
21433 „Im Ernst?“
21435 La bewegte den Kopf bejahend. Ihre Augen blickten in die Ferne
21436 hinaus, aber sie sah nichts von der anmutigen Landschaft, den
21437 buchengekrönten Kreidefelsen zu ihren Füßen.
21439 „Und du hast ihn abgewiesen? La! Das ist freilich schlimm. Das geht
21440 doch nicht. Du mußtest das Spiel annehmen und dann so unausstehlich
21441 sein, daß er von selber –. Aber La, du Liebling, ich glaube gar, du
21442 weinst?“
21444 Sie zog sie an sich und streichelte ihr die Wangen.
21446 „Warum regt dich das so auf, macht dich so traurig? Du bereust? Du
21447 liebst ihn? Darf ich es wissen?“
21449 „Wirklich nicht“, sagte La mit so ruhiger Stimme, daß Se an ihrem
21450 Wort nicht zweifeln konnte. „Ich konnte nicht anders, ich mochte
21451 nichts von ihm wissen.“
21453 „Ach so!“ Se faßte ihre Hand und drückte sie leise. „Also ein
21454 anderer.“
21456 Und bei sich dachte sie: „Also Ell!“ Aber das sagte sie nicht. Vor
21457 solchen Gewissensfragen blieb auch die Freundschaft stehen.
21459 La erhob sich heftig. „Lassen wir das nun“, sagte sie. „Es ist
21460 nichts daran zu ändern. Ich hätte auch jeden andern abgewiesen –
21461 das zu deiner Beruhigung. Ich wollte dir das nur mitteilen, damit
21462 du dich nicht wunderst, wenn ich von Oß nichts mehr hören mag.“
21464 „Und wo ist er denn jetzt?“
21466 „Ich weiß es nicht, ich habe mich nicht darum gekümmert. Der Nu ist
21467 groß. Er ist aus unserer Umgebung verschwunden.“
21469 „Und deine Reise nach der Erde, nach Berlin? Hängt die damit
21470 zusammen?“ fragte Se etwas neugierig.
21472 „Indirekt ja. Ich habe mich über die ganze Sache geärgert. Ich war,
21473 ich weiß nicht warum, in diesem Jahr recht wenig zufrieden mit mir.
21474 Die Ärzte schickten mich hier- und dahin, aber ich war gar nicht
21475 krank, ich war nur – ich weiß nicht. Da kam der Vater auf die Idee,
21476 mich nach der Erde kommen zu lassen. Er mußte wieder hierher zu den
21477 Erweiterungsbauten an der Außenstation. Und da schenkte er mir
21478 vorher das schöne Schiff. Ich wollte die Mutter gern mitnehmen,
21479 aber es wäre für sie zu anstrengend gewesen. Da dachte ich an dich.
21480 Und nun hab ich dich ja.“
21482 Sie küßte Se auf den Mund und sprach weiter: „Sei mir gut und tu
21483 mir den einen Gefallen, wundere dich nicht über mich, ich weiß, was
21484 ich tue, auch wenn es dir seltsam vorkommt. Ich will nämlich einmal
21485 versuchen, wie es sich auf der Erde lebt, ob man überhaupt hier
21486 leben kann.“
21488 Se lächelte still für sich.
21490 „In einem solchen Luftschiff läßt es sich schon leben“, sagte sie.
21491 „Und im Palast des Kultors wird es sich wohl auch leben lassen.
21492 Dort wirst du sicherlich diese La, ich meine die fliegende, in der
21493 wir sitzen, unterbringen.“
21495 „Nein, das werde ich nicht, ich will dir’s gleich verraten. Ich
21496 habe nur dem Vater nicht widersprochen, als er es vorschlug. Aber
21497 ich habe ganz andre Dinge vor. Ich will mir einmal die Bate in
21498 ihrer Heimat ansehen, nicht als Nume, sondern wie ein Mensch möchte
21499 ich unter Menschen verkehren. Wir wollen nicht in dem Schiff
21500 wohnen, sondern in einem Hotel wie gewöhnliche Menschen.“
21502 Se sah die Freundin erstaunt an.
21504 „Was für Ideen du da ausheckst“, sagte sie. „Zur Abwechslung wäre
21505 es vielleicht nicht übel, und ich wäre ganz gern dabei – wenn es
21506 nur ginge. Aber die Schwere, La, die Schwere! Wenn wir als Menschen
21507 auftreten wollen, können wir doch nicht mit den Helmen über dem
21508 Kopf herumlaufen.“
21510 „Könnten wir uns nicht ein bißchen an die Erdschwere gewöhnen? Ein
21511 bißchen nur?“ fragte La, indem sie Se schelmisch ansah.
21513 „Nein“, rief Se abwehrend, „dazu bekommst du mich nicht! Es ist ja
21514 gar nicht dein Ernst!“
21516 „Höre einmal“, sagte La, indem sie sich neben Se setzte und den Arm
21517 um sie schlang. „Ich habe mir etwas ausgedacht und mir in Kla in
21518 aller Stille anfertigen lassen. Darauf bin ich gekommen, wie ich in
21519 einem Blatt die neuesten Moden auf der Erde gesehen habe. Sieh
21520 einmal her.“
21522 Sie holte vom Bücherbrett ein Journal der Erde und schlug es auf.
21524 „Siehst du“, sagte sie, „man trägt jetzt diese merkwürdigen Hüte
21525 mit breiten Krempen, die bis über die Schultern hinausragen, und an
21526 beiden Seiten fallen Bänder herab. Ich vermute, daß unsre
21527 diabarischen Glockenhelme das Muster dazu geliefert haben, unschön
21528 genug sind sie dazu. Da dachte ich mir, so ein Hut müßte sich
21529 diabarisch herstellen lassen, und ich ließ einige Modelle aus
21530 Stellit anfertigen. Ich werde sie dir dann zeigen. Sie sehen aus
21531 wie diese Hüte. Die Verbindung geht durch diese Bänder, die
21532 allerdings an der Schulter befestigt werden müssen. Von dort geht
21533 sie an den Seiten unter den Kleidern fort bis an die Stiefel, die
21534 man aber unter den langen menschlichen Frauenkleidern nicht sieht.
21535 Dieser Anzug schützt zwar nicht so gut wie der übliche Erdanzug mit
21536 Helm, aber in der Hauptsache genügt er völlig. Nur die Oberkleider
21537 und die Arme bleiben ohne Schutz, indessen das kann man schon
21538 aushalten, es ist nicht so schwer; wir brauchen ja die Arme nicht
21539 zu bewegen, sondern können sie meist am Gürtel oder an einem
21540 Seitentäschchen aufstützen. Außerdem habe ich auch diabarische
21541 Schirme gegen Sonne und Regen, die wir durch eine Stellitkette mit
21542 dem Anzug verbinden können. Auf der Straße können wir also überall
21543 ohne Beschwerde gehen, nur dürfen wir die Hüte nicht abnehmen. Aber
21544 bei den menschlichen Damen ist es ja Sitte, bei vielen
21545 Gelegenheiten auch im Zimmer die Hüte aufzubehalten.“
21547 „Das ist fein. Man wird zwar gräßlich aussehen, doch wir sind ja
21548 auf der Erde, da nimmt man es nicht so genau. Aber ich bitte dich,
21549 wir können doch nicht zu Hause immer in Hüten sitzen und damit zu
21550 Bett gehen.“
21552 „Nein, das ist nicht zu verlangen. Trotzdem, im Schiff möchte ich
21553 nicht wohnen, es braucht vorläufig niemand zu wissen, daß wir da
21554 sind. Aber es gibt ja in Berlin Hotels für Nume, mit Zimmern, die
21555 abarisch gemacht werden können. Dort mieten wir uns ein, daß wir
21556 uns zu Hause erholen können. Das Schiff geht sofort weiter, daß die
21557 Leute meinen, wir sind mit irgendeinem Mietschiff angekommen. Die
21558 Schiffer nehmen mit dem Schiff in einem der Vororte Quartier, so
21559 daß wir sie jederzeit herbeirufen können.“
21561 „Das hast du alles sehr hübsch ausgedacht. Aber wie kommen wir denn
21562 zu der nötigen menschlichen Toilette?“
21564 „Das ist das wenigste! Es gibt doch in Berlin große Magazine, wo
21565 man alles haben kann, was Menschen brauchen. Sobald wir im Hotel
21566 angekommen sind, lassen wir uns von dort jemand kommen, und ich bin
21567 überzeugt, in einer Stunde sind wir aufs Eleganteste
21568 ausstaffiert.“
21570 „Du bist gelungen! Was hast du für Ansichten von meinem
21571 Geldbeutel!“
21573 „Sei doch nicht töricht, Liebling. Du bist mein Gast, und ich habe
21574 für dich zu sorgen. Das ist ganz selbstverständlich.“
21576 „Nun, meinetwegen. Ich will dir deine Freude nicht verderben.“
21578 „Ich danke dir, gute Se. Und nun komm, ich will dir die Hüte
21579 zeigen. Wir wollen sie einmal probieren. Auf dem Verdeck ist
21580 Erdschwere, und wir sind dennoch gegen den Luftzug geschützt.“
21582 Die Probe wurde unter Lachen und Necken gemacht. Es ging alles nach
21583 Wunsch, und Se erklärte, daß sie es wohl wagen würde, so spazieren
21584 zu gehen. Aber Gesicht und Haar müßten unter einem Schleier
21585 verborgen werden, und wenn sie so ein bißchen gebückt
21586 einherhumpelten, werde man sie ja wohl für zwei alte Erdmütterchen
21587 halten.
21589 „Aber wenn wir Ell besuchen“, sagte sie fragend zu La, „da wirst du
21590 doch nicht in diesem Aufzug hingehen?“
21592 Sie waren wieder in den Salon getreten, und La war gerade damit
21593 beschäftigt, ihren Hut abzulegen. Währenddessen antwortete sie
21594 unbefangen: „Ell zu besuchen ist gar nicht meine Absicht.
21595 Wenigstens nicht eher, als es die Höflichkeit unbedingt erfordert.
21596 Weißt du, wen wir zuerst aufsuchen werden?“
21598 „Nun dann vielleicht Grunthe?“
21600 La lachte. „Das ist wahr“, sagte sie, „den müßten wir eigentlich
21601 auch einmal heimsuchen. Aber im Ernst, ich will zuerst zu Isma. Wir
21602 haben uns einigemal geschrieben.“
21604 „Mir ist alles recht“, antwortete Se. Und nach einer Pause begann
21605 sie ein wenig zögernd, indem sie La nur verstohlen betrachtete:
21606 „Hast du denn eigentlich wieder einmal etwas von Saltner gehört? Er
21607 ist doch so ohne Abschied vom Mars verschwunden.“
21609 La ergriff das neben ihr liegende Fernglas und richtete es auf die
21610 Landschaft. Dabei sagte sie mit möglichst gleichgültiger Stimme:
21612 „Nur indirekt, hin und wieder. Er lebt, soviel ich weiß, bei seiner
21613 Mutter da irgendwo in den Bergen. Übrigens hat er sich bei mir
21614 verabschiedet, aber, du weißt ja, er hat sich damals auch mit Ell
21615 überworfen wegen der Briefe –“
21617 Se sah, wie Las Hand, die das Glas hielt, leise zitterte. Es war
21618 unmöglich, daß sie etwas durch das Glas zu erkennen vermochte.
21620 „Ach ja“, sagte Se, „ich weiß.“
21622 Beide schwiegen. La sah wieder angelegentlich nach der Landschaft.
21623 Se blickte zu ihr hinüber. Sie konnte aus der Freundin nicht klug
21624 werden. Endlich sagte sie: „Übrigens, wenn wir ihn wiedersehen
21625 sollten, die Bindung ist aufgehoben. Ich will nicht mehr.“
21627 La antwortete nicht. Es war ganz still, man hörte das leise Zischen
21628 der treibenden Maschine.
21630 Plötzlich unterbrach der laute Pfiff einer Lokomotive die Stille.
21631 Hundegebell wurde vernehmbar.
21633 „Oh“, rief Se, „das ist Lärm, das ist die Erde!“
21635 „Ich glaube, wir müssen schon weit über dem Binnenland sein. Ich
21636 sagte dem Schiffer, er solle von Sonnenaufgang an ganz tief und
21637 langsam fahren. Aber wir wollen nun etwas schneller vorwärts, die
21638 Landschaft da unten ist recht eintönig.“
21640 La rief den Schiffer. „Können wir in einer Stunde am Ziel sein?“
21642 „In einer Viertelstunde, wenn Sie wollen.“
21644 „Eine Stunde genügt.“ Der Schiffer ging.
21646 „Wir wollen frühstücken und Toilette machen, ganz einfach“, sagte
21647 sie zu Se.
21649 Das Schiff zog die Flügel ein. Wie ein Pfeil durchschoß es die
21650 Luft.
21652 \section{51 - Martierinnen in Berlin}
21654 In der glänzend ausgestatteten Vorhalle des neuen ›Marshotels‹ an
21655 der Straße ›Unter den Linden‹ in Berlin standen zwei elegant
21656 gekleidete Damen. In ihren gemessenen Bewegungen, mit denen sie die
21657 Einrichtungen des Hotels aufmerksam musterten, machten sie einen
21658 ebenso vornehmen Eindruck, als er dem Reichtum ihrer Toilette
21659 entsprach. Ihr Gesicht war von einem dichten Schleier bedeckt, so
21660 daß es schwer war, über ihr Alter ein Urteil zu gewinnen.
21662 Als sie im Begriff waren, auf die Straße zu treten, näherte sich
21663 ihnen ein Kellner und fragte ehrerbietig: „Befehlen die Damen
21664 Plätze zur Table d’hôte?“
21666 Se trat, entsetzt über diese Zumutung, einen Schritt zurück.
21667 Schnell gefaßt sagte La:
21669 „Wir können darüber noch nicht entscheiden.“
21671 „Wagen gefällig?“ fragte der Portier.
21673 La schüttelte nur den Kopf und ging vorüber.
21675 Der Kellner und der Portier tauschten einen Blick, aus dem wenig
21676 Hochachtung für die beiden Gäste sprach.
21678 Die Damen schritten die Straße entlang nach dem Opernplatz zu. Sie
21679 spannten ihre Sonnenschirme auf, und ihre Bewegungen wurden
21680 sichtlich freier und lebhafter.
21682 „Du hast doch nicht etwa die Absicht“, sagte Se leise, „wirklich
21683 mit diesen Baten essen zu wollen? Das ist doch unmöglich.“
21685 „Mit dem Hut und dem Schleier wird es nicht gehen, sonst aber – man
21686 muß sich an alles gewöhnen.“
21688 „Aber das ist doch zu unanständig.“
21690 „Wir sind auf der Erde. In irgendeine der Restaurationen, die hier,
21691 wie es scheint, in jedem Hause sind, wollen wir jedenfalls einmal
21692 eintreten. Sieh nur, wo man hinblickt, sitzen Leute und trinken
21693 Bier. Das nennen sie Frühschoppen.“
21695 Sie schritten weiter durch das Gewühl der Menschen, über breite
21696 Plätze, dann in engere, noch dichter belebte Straßen hinein. Ihre
21697 Blicke schweiften über Gebäude und Denkmäler, über die begegnenden
21698 Personen und Wagen oder verweilten auf den glänzenden Auslagen in
21699 den Schaufenstern.
21701 „Es gefällt mir gar nicht“, sagte Se. „Alles ist nüchtern, klein
21702 und eng. Man sieht förmlich, wie die Schwere die Gebäude
21703 zusammendrückt, die Dächer herabklappt. Die Wände, die Erker, alles
21704 ist vertikal gezogen, eine horizontale Schwingung ins Freie scheint
21705 es gar nicht zu geben. Sieh nur, wie dieser Balkon mühsam von unten
21706 gestützt ist! Und wie ärmlich und geschmacklos all dies Zeug in den
21707 Läden! Und das ist nun die Hauptstadt! Wie mag es auf dem Lande
21708 aussehen? Denn diese ganze Herrlichkeit reicht nicht weit, selbst
21709 wenn man zu Fuß geht, ist sie in ein paar Stunden zu Ende.“
21711 „Du mußt doch nicht immer unsre Verhältnisse zum Vergleich
21712 heranziehen“, entgegnete La. „Im ganzen ist es staunenswert, was
21713 die Leute für ihre Kulturstufe leisten. Sie haben doch eine
21714 Industrie. Natürlich müssen sie sich nach der Schwere richten und
21715 können nicht wie wir in die Luft hinausbauen. Aber wie angenehm
21716 kann man dafür hier im warmen Sonnenschein gehen, ohne verbrannt zu
21717 werden. Und sieh nur, diese entzückenden weißen Wölkchen, wie sie
21718 über den blauen Grund ziehen. Das gefällt mir besser als unser
21719 ewiger grüner Baumschimmer oder der fast schwarze Himmel darüber.“
21721 „Mir scheint, du willst dich zur Erdschwärmerin ausbilden. Mich
21722 stößt schon dieser entsetzliche Lärm ab. Die Leute unterhalten sich
21723 ja so laut, daß man es auf mehrere Schritte hört. Und dort zanken
21724 sich gar zwei auf offener Straße. Auch die Wagen sind unausstehlich
21725 geräuschvoll, man hört das Rollen der Räder auf weithin. Wie muß
21726 das erst gewesen sein, als noch Pferde vor die Wagen gespannt
21727 waren. Höre nur das unanständige Rufen der Wagenführer: He! He! Das
21728 Klingeln und Pfeifen! Ich möchte mir die Ohren verstopfen.“
21730 „Man gewöhnt sich daran.“
21732 „Was kommt denn dort? Hoch oben sitzen Menschen, und unten ist ein
21733 Tier mit vier Beinen. So was habe ich noch nie gesehen, das müssen
21734 wir uns betrachten.“
21736 „Es sind Reiter“, sagte La. „Sie sitzen auf Pferden. Es sieht gut
21737 aus.“
21739 „O nein, abscheulich! Diese Tiere, wie häßlich. Und wie das riecht!
21740 O pfui! Komm, komm, das halte ich nicht aus.“
21742 Aus der Tür eines Hauses trat ein Nume, mit dem großen, glänzenden
21743 Glockenhelm über dem Kopf. Er schritt bis in die Mitte der Straße,
21744 um sich nach seinem Wagen umzusehen. Ein Teil der Vorübergehenden
21745 wich ihm in einem Bogen aus, andre, die gelbe Marken an der
21746 Kopfbedeckung trugen, gingen zwar dicht an ihm vorüber, blickten
21747 aber finster nach der andern Seite. Gerade jetzt waren die Reiter
21748 bis hierher gelangt. Das Pferd des ersten scheute vor dem Helm des
21749 Martiers, der, ohne an ein Ausweichen zu denken, in der Mitte der
21750 Straße stand. Kerzengerade stieg es in die Höhe. Der gewandte
21751 Reiter behauptete sich im Sattel, er wollte das Pferd an dem
21752 Martier vorüberbringen. In unregelmäßigen Sätzen sprang es hin und
21753 her und schlug aus. So drängte es in die Zuschauermenge hinein, die
21754 sich schnell angesammelt hatte. Diese stob erschrocken auseinander,
21755 auch La und Se wurden gestoßen, allgemeines Geschrei entstand.
21756 Schreckensbleich sahen sie, in die Ecke einer Haustür gedrückt, der
21757 Szene zu. Von den Sporen des Reiters getroffen, machte jetzt das
21758 Pferd einen gewaltigen Satz nach vorn. Es streifte den Helm des
21759 Martiers und riß diesen zu Boden. Die Reiter galoppierten davon,
21760 und ein Hohngeschrei der angesammelten Straßenjugend begleitete die
21761 Niederlage des Numen.
21763 Wütend sprang der Nume in die Höhe, das Publikum beeilte sich, aus
21764 seiner Nähe zu kommen. Ein Schutzmann hatte sich inzwischen
21765 eingefunden und war dem Numen behilflich, in seinen Wagen zu
21766 steigen.
21768 „Wer waren die Reiter?“ fragte der Martier.
21770 „Es waren Herren vom Rennklub.“
21772 „Gut, diesem Unfug muß gesteuert werden.“
21774 Der Nume fuhr davon.
21776 „Das geht ja hier entsetzlich zu“, sagte Se schaudernd. „Man ist
21777 seines Lebens nicht sicher. Ich gehe nicht weiter.“
21779 „Nur noch bis an jene Ecke. Dort in der Restauration hinter den
21780 großen Scheiben sehe ich Damen in Hüten sitzen, da wollen wir uns
21781 ein wenig erholen. Und dann fahren wir direkt zu Isma.“
21783 Sie traten in das reich ausgestattete Lokal ein und schritten
21784 zwischen den Tischen, die Gäste musternd, hindurch, bis sie neben
21785 einem der Fenster an einem noch unbesetzten kleinen Tisch Platz
21786 fanden. Obwohl ihnen alle Verhältnisse fremd und ungewohnt waren,
21787 so machte sie das doch in keiner Weise befangen; es waren ja nur
21788 ›Bate‹, die hier ihren barbarischen Sitten huldigten, und sie
21789 wollten sich das nur einmal ansehen. So dachte wenigstens Se. Sie
21790 rümpfte das Näschen und sagte:
21792 „Eine furchtbare Luft! Diese Gerüche und dieser Lärm – wie kannst
21793 du es nur hier aushalten.“
21795 Das Gemisch von Düften nach Bier, Tabak und geräucherten Würstchen,
21796 in Verbindung mit dem Geräusch der Stimmen, war für martische Sinne
21797 betäubend.
21799 „Wir können hier ein wenig das Fenster öffnen“, sagte La.
21801 Sie befanden sich in dem großen Ausschank einer süddeutschen
21802 Brauerei. Ein Kellner setzte unaufgefordert zwei Glas Bier vor sie
21803 hin, und eine Kellnerin brachte ihnen die Speisekarte.
21805 Se amüsierte sich. „Diesen Topf soll man austrinken?“ sagte sie.
21806 „Aber wie macht man denn das, es ist ja kein Saugrohr dabei?“
21808 La warf einen etwas verzweifelten Blick umher, dann hob sie das
21809 Glas und sagte: „Wir müssen eben trinken wie die Menschen.“ Und sie
21810 nahm einen tüchtigen Zug.
21812 Se versuchte es gleichfalls, aber sie kam nicht recht damit zu
21813 Rande. „Woher kannst du das nur?“ fragte sie lachend. „Ich glaube,
21814 du hast dich auf deine Erd-Expedition vorbereitet!“
21816 „Ich habe es wirklich eingeübt“, antwortete La. „ich habe mir nun
21817 einmal vorgenommen, unter den Menschen so wenig wie möglich
21818 aufzufallen.“
21820 „Und das sagst du so ernsthaft – man möchte es wirklich glauben.
21821 Nun, was steht denn auf dieser wunderbaren Speisekarte, die man mit
21822 beiden Händen halten muß?“
21824 „Ich werde nicht klug daraus. Doch, da –“ sie hielt inne, „– ich
21825 werde mir – dies da –“
21827 Ein wehmütiges Lächeln ging flüchtig über ihre Züge, dann wandte
21828 sie den Kopf ab und blickte sinnend zum Fenster hinaus.
21830 Se las die Stelle, die La mit dem Finger bezeichnet hatte, und warf
21831 dann einen verwunderten Blick auf die Freundin. Sie suchte in ihrem
21832 Gedächtnis, und nun hatte sie es gefunden. Ihre Augen blitzten
21833 schelmisch auf, und plötzlich sagte sie, ganz mit Saltners Akzent:
21835 „Ein Paar Geselchte mit Kraut, die wenn i’ hätt’, ’s wär’ schon
21836 recht.“
21838 La zuckte zusammen. Sie sah Se mit einem flehenden Blick an. Diese
21839 ergriff ihre Hand und sagte, ihr Lachen unterdrückend: „Sei nicht
21840 böse, liebe La, aber eine Nume, der bei der Erinnerung an ›ein Paar
21841 Geselchte‹, die sie noch dazu nie mit ihren Augen gesehen hat, die
21842 Tränen in diese schönen Augen treten, das ist doch ein Anblick, um
21843 Götter zum Lachen zu bringen. Aber es ist wahr, diesen würdigen
21844 Gegenstand müssen wir kennenlernen, aus Dankbarkeit an die lustigen
21845 Zeiten. Und heute habe ich schon viel daraus gelernt“, setzte sie
21846 im stillen für sich dazu.
21848 Se bestellte. Und wieder mußte sie leise lachen. Sie sah sich mit
21849 La und Saltner auf der Aussichtsbrücke des Raumschiffs stehen, als
21850 sich die leuchtenden Flächen des Mars zum erstenmal vor den
21851 Ankommenden im Sonnenschein ausbreiteten, und der Kapitän Oß, der
21852 zu Saltners Ärger La nicht von der Seite wich, sagte: „Morgen
21853 werden wir landen. Es ist ein hübscher Raumschifferglaube, daß der
21854 Wunsch in Erfüllung geht, den man bei der Landung ausspricht; es
21855 muß aber etwas Praktisches und etwas Kleines sein. Was werden Sie
21856 denn sagen?“ Er blickte La schmachtend an, die aber nicht
21857 antwortete. Da tat Saltner in seinem trockenen Ton den klassischen
21858 Ausspruch von den Würstchen. La und Se hatten lange gefragt, was
21859 denn dies sei, und er hatte sie immer mit diesem Geheimnis geneckt,
21860 bis er es ihnen einmal erklärte, und dann war es eine scherzhafte
21861 Redensart geworden.
21863 „Das sind ein paar patente Frauenzimmer“, sagte ein Herr am
21864 Nebentisch zu seinem Nachbar.
21866 „Es sind Tirolerinnen, ich hab’ vorhin die eine sprechen hören“,
21867 sagte der andre. „Sie sind gewiß von der Stürzerschen
21868 Sängergesellschaft.“
21870 Das Essen war gebracht worden. Die Würstchen dampften verlockend
21871 auf den Tellern, nur nicht für die Freundinnen. Sie tauschten
21872 verzweifelte Blicke miteinander.
21874 „Es ist keine Waage unter dem Teller“, sagte La, „man weiß nicht,
21875 wieviel man eigentlich zu sich nimmt. Willst du dir vielleicht
21876 lieber etwas Chemisches geben lassen?“
21878 „Ich bringe es überhaupt nicht fertig, vor allen diesen Leuten zu
21879 essen. Ich schäme mich halbtot.“
21881 „Es kommt ja kein Nume herein, und niemand kennt uns. Ich will dir
21882 etwas sagen – entweder, oder! In dem Schleier können wir überhaupt
21883 nicht essen. Wir drehen dem Publikum den Rücken zu und nehmen die
21884 Schleier ab. Ich stelle mir jetzt vor, ein Mensch zu sein!“
21886 Und mit einem kühnen Entschluß löste La den Schleier von ihrem
21887 Gesicht und begann zu essen.
21889 „Es ist wirklich gut“, sagte sie. „Es ist fett und schmeckt wie
21890 Al-Keht. Versuch es nur!“
21892 Se sah ihr gespannt zu. Sie bewunderte die Seelengröße der
21893 Freundin, aber sie konnte sich nicht zu dem gleichen Opfer für die
21894 Menschheit entschließen.
21896 „Es ist zu viel“, sagte La.
21898 „So wollen wir gehen. Die Leute sehen uns zu. Himmel, da draußen
21899 geht ein Nume vorüber.“
21901 Se drehte sich schnell um, indem sie den Schleier zu befestigen
21902 suchte. Indessen bezahlte La, und sie verließen das Lokal.
21904 Die beiden Herren waren ihnen gefolgt. Als Se und La auf der Straße
21905 stehen blieben, um sich nach einer Droschke umzublicken, trat einer
21906 der Herren an sie heran.
21908 „Die Damen sind fremd und wissen den Weg nicht“, sagte er, den Hut
21909 lüftend, „dürfte ich vielleicht die Ehre haben –“
21911 Ohne ihn einer Antwort zu würdigen, wendeten sie ihm den Rücken zu
21912 und setzten ihren Weg fort. Sie bemerkten alsbald, daß die beiden
21913 ihnen unter anzüglichen Bemerkungen folgten.
21915 „Das ist ja eine unverschämte Gesellschaft“, sagte Se, „es ist
21916 wirklich recht nett hier unter den Baten, man kann sich nicht
21917 einmal frei bewegen.“
21919 „Du mußt bedenken“, bemerkte La entschuldigend, „das sind
21920 ungebildete Leute, die nichts zu tun haben, sonst würden sie um
21921 diese Zeit nicht im Gasthaus sitzen. Dort drüben stehen übrigens
21922 Wagen.“
21924 „Ich werde ihnen aber erst eine kleine Ermahnung geben. Paß auf,
21925 wie sie verschwinden werden.“
21927 Se nestelte an ihrem Schleier und blieb dann stehen. Als sich die
21928 beiden Herren dicht hinter ihr befanden, drehte sie sich plötzlich
21929 um und riß den Schleier herab. Der Glanz ihrer mächtigen Augen und
21930 das Gebietende ihres Blickes zeigte den Abenteuerlustigen sofort,
21931 daß sie vor einer Nume standen. Erschrocken prallten sie zurück.
21933 „Macht, daß ihr in die Schule kommt!“ rief sie ihnen zu.
21935 Beide entfernten sich aufs schleunigste.
21937 Se lachte. „Aber nun habe ich wirklich Hunger“, sagte sie. „Isma
21938 muß mir etwas zum Frühstück verschaffen.“
21940 Eine Droschke brachte sie vor das Haus, wo Isma wohnte. Enttäuscht
21941 sahen sie sich um, nachdem sie den Hof überschritten hatten. Kein
21942 Aufzug im Haus, und drei Treppen! Es war eine mühsame Partie. Se
21943 seufzte wiederholt.
21945 „Man braucht ja nicht in einem solchen Haus zu wohnen oder nicht so
21946 hoch“, sagte La begütigend.
21948 „Man braucht glücklicherweise überhaupt nicht auf der Erde zu
21949 wohnen, sollte ich denken.“
21951 „Nun ja, ich meinte nur, wenn man – zum Beispiel amtlich –“
21953 „Ach so.“
21955 Endlich standen sie vor der Tür, welche die Aufschrift ›Isma Torm‹
21956 trug. Sie hatten nun ihre Schleier abgenommen. Auf ihr Klingeln
21957 öffnete sich die gegenüberliegende Tür, und eine ältere,
21958 freundliche Dame sagte, Frau Torm sei nicht zu Hause. Jetzt
21959 erkannte sie, daß sie zwei Damen vom Mars vor sich habe und
21960 erschöpfte sich in Entschuldigungen. Frau Torm werde sogleich nach
21961 Hause kommen, es sei jetzt ihre Zeit, und die Damen möchten nur
21962 einen Augenblick warten, es sei alles geimpft im Haus, und sie
21963 werde sie sogleich in Frau Torms Zimmer führen. Das geschah denn,
21964 und die unterhaltende Dame ließ sie nun allein.
21966 Die beiden Martierinnen sahen sich sorgfältig in dem freundlichen
21967 und geräumigen Zimmer um. In dem lebensgroßen Porträt an der Wand
21968 erkannte Se sogleich Ismas Gatten, dessen Bild ihr in allen
21969 Schriften über die Erde begegnet war. Mit besonderem Interesse
21970 betrachtete La die Einrichtung im einzelnen, nur irrte sie sich,
21971 wenn sie glaubte, etwa hier den Typus des Wohnzimmers einer
21972 deutschen Hausfrau vor sich zu haben. Denn wenn auch die Tätigkeit
21973 der weiblichen Hand unverkennbar war, so enthielt doch die
21974 Einrichtung nicht nur viele Züge des Studierzimmers eines Mannes,
21975 sondern auch allerlei, was von den landesüblichen Gewohnheiten
21976 abwich und an den Einfluß des Mars erinnerte. Da waren zahlreiche
21977 Kleinigkeiten, die von Ismas Planetenreise erzählten, eine
21978 Fluoreszenzlampe über dem Schreibtisch hing an einem Lisfaden, so
21979 daß sie in der Luft zu schweben schien, ein Bücherbrett war ganz
21980 nach martischem Muster eingerichtet, und es fehlte sogar nicht der
21981 Phonograph, ein Geschenk Ells.
21983 Unter den Drucksachen, die auf dem Tisch lagen, fiel La ein
21984 Flugblatt auf, das in mehreren Exemplaren vorhanden war. Es trug
21985 die Überschrift: ›An die Menschheit!‹ und begann mit den Worten:
21986 „Numenheit ohne Nume! Das sei der Wahlspruch des allgemeinen
21987 Menschenbundes, den wir aufrichten wollen unter allen Kulturvölkern
21988 der Erde.“
21990 La las weiter. Der Inhalt fesselte sie. In feurigen Worten war die
21991 ideale Kultur der Martier gepriesen, aber ebenso entschieden
21992 eifriger Protest erhoben gegen die Form, welche ihre Herrschaft auf
21993 der Erde angenommen hatte. „Ergreifen wir“, so hieß es, „was sie
21994 uns bieten, mit klarer Einsicht und offenem Herzen, so werden wir
21995 ihrer selbst nicht mehr bedürfen. Zeigen wir, daß wir das große
21996 Beispiel ihres Planeten begriffen haben, eine Gemeinschaft freier
21997 Vernunftwesen zu bilden, in der die Ordnung herrscht nicht durch
21998 die egoistische Gewalt einzelner Klassen, sondern durch das
21999 lebendige Gemeinschaftsgefühl aller. Das neue Zeitalter ist
22000 vorbereitet. Der Mars hat uns den gewaltigen Dienst geleistet, uns
22001 zu zeigen, wie die Not des Daseins bezwungen werden kann durch eine
22002 reichere Ausbeutung der Natur und eine größere Selbstbeherrschung
22003 der Menschen. Er hat die historischen Fesseln gebrochen, die uns
22004 verhinderten, die neuen Ideen in der Menschheit lebendig zu machen.
22005 Er hat die Völker geeint in dem gemeinsamen Bewußtsein, daß sie als
22006 Kinder der Erde zusammengehören und ihre häuslichen Streitigkeiten
22007 zu begraben haben, um die Kräfte des Planeten zusammenzufassen; er
22008 hat uns gezeigt, daß es gilt, dem überlegenen und geeinten Planeten
22009 zu begegnen, nicht um ihn zu bekämpfen als einen Feind, sondern um
22010 seiner Freundschaft würdig zu werden und ihn als Bundesgenossen zu
22011 begreifen. Menschliche Wissenschaft und menschliche Arbeit möge
22012 unser Leben mit dem Bewußtsein durchdringen, daß es nur nötig ist,
22013 dem Gesetz der Vernunft zu folgen, um auch unsern Willen auf der
22014 Höhe des sittlichen Ideals zu halten. Wagen wir es zu denken und an
22015 uns selbst zu glauben! Fahren wir fort zu lehren und zu lernen,
22016 damit wir verstehen, was menschliche Freiheit erfordert! Und aus
22017 der Vertiefung des befreiten Menschengefühls heraus einigen wir uns
22018 in einem großen geistigen Bund, daß wir von uns sagen können: Hier
22019 ist die Menschheit, hier ist die Gemeinschaft des Willens, uns frei
22020 unterzuordnen dem Gesetz der Vernunft, hier ist die Erde, um dem
22021 Mars die Bruderhand zu reichen! Und dann, das laßt uns mit
22022 Gewißheit glauben, wird der ältere Bruder uns ebenso frei die Hand
22023 entgegenstrecken und sprechen: Ihr seid würdig der Freiheit, die
22024 Ihr Euch gewonnen habt, nehmt sie hin, wir verzichten freiwillig
22025 auf unsre Herrschaft. Unser Ziel ist erreicht, wenn Ihr Menschen
22026 seid.“ – Daran waren Mitteilungen über die Organisation des Bundes
22027 geknüpft.
22029 Indessen hatte Se in den Zeitungen geblättert, als sie plötzlich
22030 ausrief: „Höre, La, hier steht etwas, das dich interessieren wird,
22031 von Oß und Saltner –“
22033 La griff nach dem Blatt. Noch hatte sie kaum die Stelle gefunden,
22034 als die Tür sich öffnete und Isma eintrat.
22036 Ihre Überraschung war groß und die Begrüßung lebhaft. Und doch
22037 fühlte sich Isma befangen. Warum hatte ihr Ell nichts von dem
22038 bevorstehenden Besuch gesagt? Sie fühlte sich freier, als sie im
22039 Lauf des Gespräches vernahm, daß Ell gar nichts von dem Eintreffen
22040 Las wußte, und gewann bald die Überzeugung, daß es nicht der Wunsch
22041 war, Ell wiederzusehen, der La nach der Erde geführt habe. La
22042 erzählte von ihren Eindrücken und Erlebnissen auf dem Weg vom Hotel
22043 zu Isma, und Se erhielt die ersehnte Kräftigung. Dann brachte Se
22044 das Gespräch auf den Zeitungsartikel über Oß und Saltner.
22046 Es war darin gesagt, daß auf Veranlassung des Instruktors für
22047 Bozen, Oß, der bekannte Forschungsreisende Saltner steckbrieflich
22048 verfolgt werde wegen öffentlicher Anreizung zum Ungehorsam gegen
22049 die Gesetze, Widerstands gegen den vorgesetzten Numen, Bedrohung
22050 des Instruktors, Mißbrauchs amtlicher Papiere und Befreiung von
22051 Gefangenen. Es war noch hinzugefügt, daß hoffentlich die Schwere
22052 der Anklage sich nicht bestätigen werde, da es bekannt sei, daß
22053 gegen den Instruktor Oß selbst eine Untersuchung wegen
22054 Überschreitung der Amtsgewalt schwebe und seine Abberufung
22055 bevorstehe. Saltners Aufenthalt sei unbekannt, doch werde von allen
22056 Behörden aufs angelegentlichste nach ihm geforscht.
22058 La sagte kein Wort. Sie suchte ihre Erregung zu beherrschen. Aber
22059 das Herz schlug ihr in Angst und Sorge. Gewiß hatte Oß Saltner
22060 gereizt, um seine Rache an ihm nehmen zu können. Und sie fühlte
22061 sich schuldig als die geheime Ursache dieser Gegnerschaft. Sie
22062 horchte mit Bangigkeit auf die Erklärungen, die Isma jetzt auf Ses
22063 Frage gab.
22065 Ell hatte Isma am Tag vorher besucht, an demselben Tag, an welchem
22066 er genauere Nachricht über die Vorgänge in Bozen erhalten hatte und
22067 auch die ersten Mitteilungen an die Zeitungen gelangt waren. Die
22068 Klagen über Oß waren zuerst beim Unterkultor in Wien erhoben
22069 worden. Dieser befand sich in der schwierigen Stellung, daß er
22070 amtlich dem Kultor des gesamten deutschen Sprachgebiets in Berlin
22071 verantwortlich, in der Durchführung seiner Anordnungen aber an die
22072 Zustimmung der politischen Oberbehörde, nämlich an das
22073 österreichische Ministerium gebunden war. Infolgedessen konnte er
22074 nicht ohne weiteres die Suspendierung des Oß von seinem Amt
22075 verfügen, sondern es wurden Verhandlungen mit der Wiener Regierung
22076 notwendig. Von dort aus konnte erst an Ell berichtet werden.
22078 So waren mehrere Tage seit der Flucht Saltners vergangen, ehe Ell
22079 von derselben erfuhr. Nun wurde auf Grund der Klage der Behörden
22080 und der Einwohner des Bozener Instruktionsbezirks die
22081 Disziplinaruntersuchung gegen Oß erhoben und der Unterkultor in
22082 Wien angewiesen, sich persönlich nach Bozen zu begeben. Man konnte
22083 annehmen, daß er heute daselbst eintreffen würde. Aber für Saltner
22084 wurde der Stand der Sache dadurch nicht gebessert. Seine
22085 Selbsthilfe war vom Standpunkt der Martier aus eine
22086 Gesetzesverletzung, die eine eindringliche strafrechtliche
22087 Verfolgung erforderte, weil man die Autorität der Nume unbedingt
22088 aufrechterhalten wollte. Ell konnte daher nicht anders handeln, als
22089 die Maßregeln zu bestätigen, durch welche die Verhaftung Saltners
22090 erzielt werden sollte. Isma berichtete ausführlicher über die
22091 Beschuldigung, die von dem Instruktor gegen Saltner erhoben wurde.
22092 Danach erschien es, als hätte Saltner den Instruktor auf offner
22093 Straße insultiert, die Einwohner zum Widerstand aufgefordert, seine
22094 Mutter und die Magd endlich durch einen raffinierten Betrug aus dem
22095 Laboratorium entführt.
22097 Se dachte im stillen: Wie gut, daß man nicht weiß, was er schon auf
22098 dem Mars verbrochen hat! La jedoch sagte mit künstlicher Ruhe: „Man
22099 wird doch erst hören müssen, wie sich die Sache von Saltners Seite
22100 aus ansieht.“
22102 „Gewiß“, erwiderte Isma „und ich kann Ihnen auch darüber Auskunft
22103 geben. Ell hat nämlich gestern einen Brief von Saltner selbst
22104 erhalten, worin er ihm offen seine Handlungsweise darlegt und ihn
22105 um Hilfe gegen die ihm drohende Verfolgung angeht.“
22107 „Einen Brief? So weiß man also, wo er sich aufhält? So ist er in
22108 Sicherheit?“
22110 „Das kann man nicht sagen. Der Brief ist auf einer Station zwischen
22111 Bozen und Trient aufgegeben. Die dortigen Einwohner sind natürlich
22112 alle auf Saltners Seite und werden ihn nicht verraten. Jedenfalls
22113 hat einer der Führer oder Träger, die ohne Zweifel bei Saltners
22114 Flucht beteiligt waren, den Brief zur Station gebracht. Saltner
22115 selbst hält sich wahrscheinlich im Hochgebirge auf irgendeiner
22116 versteckt liegenden Hütte auf.“
22118 Isma erzählte nun, was Saltner getan hatte, nach seiner eigenen
22119 Schilderung in dem Brief, den Ell ihr gestern vorgelesen hatte.
22121 Se schüttelte den Kopf und sagte: „Das sieht alles Saltner ganz
22122 ähnlich. Aber die Sache steht doch recht schlimm. Wenn man ihn
22123 bekommt, wird es ihm sehr übel ergehen.“
22125 „Warum?“ fuhr La plötzlich auf. „Ich glaube jedes Wort, was Saltner
22126 schreibt, und dann hat er sich gar nichts zuschulden kommen lassen.
22127 Er hat Oß nicht angegriffen und sich seinen Befehlen nicht
22128 widersetzt, denn es waren ihm noch keine zur Kenntnis gekommen; und
22129 die Befreiung seiner Mutter hat er auf einem Weg bewirkt, der rein
22130 formell nicht anzugreifen ist.“
22132 „Ell ist doch anderer Ansicht“, erwiderte Isma. „Er entschuldigt
22133 zwar Saltner, der in seiner Lage und nach seinem Charakter nicht
22134 wohl anders handeln konnte, aber er glaubt doch, daß man ihn
22135 verurteilen wird. Und jedenfalls muß er dem Gesetze freien Lauf
22136 gestatten, und, so leid es ihm tut, Saltner aufheben lassen.“
22138 La erblaßte in heimlicher Angst. „Und wie glaubt man seiner habhaft
22139 zu werden?“ fragte sie.
22141 „Ganz leicht wird es ja nicht sein, aber in einigen Tagen bekommt
22142 man ihn sicher. Nur wenige der dortigen Führer kennen seinen
22143 Aufenthalt, und von ihnen verrät ihn keiner. Auch die Kenner der
22144 dortigen Berge werden sich nicht dazu hergeben. Nume können
22145 überhaupt nicht auf diese Höhen steigen und die verborgenen
22146 Schluchten durchsuchen. Aber der Wiener Unterkultor hat ein
22147 Luftboot zur Verfügung, und auch Ell würde nicht anders können, als
22148 ein solches bereitzustellen. Dann lassen sich die Berge mit
22149 Leichtigkeit absuchen, und es ist nicht denkbar, wie Saltner
22150 entkommen sollte.“
22152 „Wenn er aber doch entkäme?“
22154 „Wohin reichte die Macht der Nume nicht?“
22156 „Es handelt sich zuerst nur um die Behörden des Mars auf der Erde.
22157 Auf dem Nu selbst hört jede obrigkeitliche Gewalt der Kultoren oder
22158 Residenten auf. Dann müßte erst der Zentralrat selbst die
22159 Auslieferung beschließen. Und selbst dieser könnte nicht in den
22160 Privatbesitz, in das Haus eindringen, um den Besitzer zu
22161 verhaften.“
22163 „Ich weiß wohl, aber wie sollte Saltner auf den Nu gelangen? Und
22164 wenngleich, die Frage ist ja eben, ob man dem Paß, den Saltner
22165 besitzt, die Bedeutung zuerkennt, daß ihm auch jetzt noch die
22166 Rechte eines Numen zukommen. Man könnte ihn für ungültig
22167 erklären.“
22169 „Es gibt ein unverletzliches Asyl“, sagte La leise, den Blick wie
22170 in weite Ferne gerichtet.
22172 Isma verstand sie nicht. Se sah die Freundin an, als traute sie
22173 ihren Ohren nicht. Dann legte sie ihr liebkosend die Hand auf die
22174 Schulter und sagte lächelnd:
22176 „Ich glaube, du siehst nun wieder zu schwarz. Saltner kann
22177 überhaupt nur so weit verfolgt werden, als das martische
22178 Schutzgebiet auf der Erde effektiv ist. Er wäre also in
22179 außereuropäischen Staaten schon sicher, denn um von dort eine
22180 Auslieferung zu erzwingen, wären Maßregeln erforderlich, die man um
22181 einer solchen Kleinigkeit willen nicht ergreifen wird. Und was Ell
22182 nicht geradezu tun muß, das wird er auch nicht tun.“
22184 „Das glaube ich ja“, sagte Isma. „Unter uns gesagt, Ell äußerte
22185 sich gestern: ich wünschte nichts mehr, als daß wir Saltner nicht
22186 fänden, dann wird der Prozeß in absentia geführt, und in einem Jahr
22187 kann bei der Amnestie die Sache eingeschlossen werden.“
22189 „Nun denn, so wollen wir uns nicht weiter Sorge machen. Saltner
22190 wird sich schon zu helfen wissen. Sagen Sie uns lieber, was wir bei
22191 dem schönen Wetter hier machen sollen.“
22193 „Ich möchte doch wissen“, sagte La zögernd, „wann etwa die
22194 Verfolgung Saltners durch die Luftschiffe aufgenommen werden
22195 könnte.“
22197 „Heute und morgen sicher noch nicht, das weiß ich“, entgegnete
22198 Isma. „Denn Ell sagte, daß der Kultor erst die Verhandlung gegen Oß
22199 zu führen hat, und solange behält er sein Schiff bei sich. Soll ich
22200 noch einmal bei Ell anfragen?“ Sie wies auf das Telephon.
22202 „Ach nein“, sagte La, „wir wollen uns noch gar nicht beim Herrn
22203 Kultor melden. Nun machen Sie Ihre Vorschläge.“
22205 „Das Wetter ist eigentlich zu schön für Berlin.“
22207 „Ach ja“, rief Se. „Wir wollen lieber hinaus. Haben Sie heute
22208 nachmittag für uns Zeit?“
22210 „Bis heute abend, gewiß.“
22212 „Was meinst du, La, dann sehen wir uns einmal Ihren deutschen Wald
22213 dort in der Nähe von Friedau an, den Sie uns so schön geschildert
22214 haben.“
22216 La sann nach. Dann nickte sie und sagte: „Das ist mir sehr recht.“
22218 „Aber wohin denken Sie“, rief Isma. „Dazu brauchen wir ja allein
22219 fünf bis sechs Stunden Eisenbahnfahrt, um nur bis hin zu kommen.“
22221 Jetzt lächelte La. „In zwanzig, in fünfzehn Minuten, wenn Sie
22222 wollen, sind wir da. Machen Sie sich nur zurecht, Sie sollen
22223 sogleich unsre Reisegelegenheit sehen.“
22225 „Sie haben ein Luftschiff?“
22227 „Und was für eins!“ lächelte Se. „Wenn wir wollen, holt uns das
22228 größte Kriegsschiff nicht ein.“
22230 \section{52 - Im Erdgewitter}
22232 Aus den Wipfeln des weiten Bergwaldes ragt ein Felsvorsprung und
22233 blickt hinab auf das grüne Tal und die sanften Höhenzüge, die es
22234 gegen die Ebene abschließen. Hier, zwischen dem blühenden
22235 Heidekraut, hatten La und Se sich gelagert, während Isma, auf den
22236 Ast einer verkrüppelten Fichte gelehnt, träumerisch in das Land
22237 hinausblickte.
22239 „Dies gefällt mir am besten von allem, was ich bis jetzt auf der
22240 Erde gesehen habe“, sagte Se, die violetten Blüten der Erika zu
22241 einem Kranz zusammenfügend. „Und zwar darum, weil es so still, ganz
22242 still ist, fast wie auf dem Nu.“
22244 „Und vieles ist noch schöner“, fügte La hinzu. „Daß wir im milden
22245 Sonnenschein hier sitzen können, über uns das wunderbare Licht des
22246 Himmels! Wie leichte Federn ziehen die weißen Wolkenstreifen dort
22247 oben ihre zierlichen Figuren, und wie seltsam es sich da hinten
22248 ballt über der dunklen Wand, die der sinkenden Sonne
22249 entgegensteigt. Ach, seht doch, was ist das, drüben auf der Wiese
22250 am Rande des Waldes? Ein vorsintflutliches Geschöpf.“
22252 „Es ist ein Hirsch“, sagte Isma, „der auf die Wiese tritt. Sehen
22253 Sie, wie er den Kopf hebt und die Luft einzieht, ob alles sicher
22254 ist. Ach, er verschwindet wieder, vielleicht hat er uns bemerkt.
22255 Übrigens, die Wolken gefallen mir am wenigsten. Es sieht aus, als
22256 sollten wir ein Gewitter bekommen.“
22258 „Ein Gewitter? Oh, davon haben wir gelesen. Das möchte ich einmal
22259 erleben. Ich kann mir keine Vorstellung davon machen. Aber was
22260 blicken Sie denn immer dort hinüber in die Ebene?“ fragte La.
22262 „Sehen Sie dort hinten jenen dunklen Streifen?“ erwiderte Isma.
22263 „Links davon erblicken Sie zwei Türme, das ist das Schloß von
22264 Friedau. Und über dem Streifen – es ist ein bewaldeter Hügelrücken
22265 – glänzt ein heller Punkt in der Sonne. Das ist die Sternwarte Ells
22266 – –“
22268 „Wo?“ rief La eifrig, nach ihrem Glas greifend. „Ja, ich sehe es
22269 ganz deutlich. Den Turm und die Plattform des Hauses. Das möchte
22270 ich einmal in der Nähe sehen. Es ist ja gar nicht weit.“
22272 „Doch mehr als zwanzig Kilometer.“
22274 „In drei Minuten sind wir drüben. Hätten Sie nicht Lust, Ihre
22275 Heimat wieder einmal zu besuchen?“
22277 „Jetzt?“ sagte Isma. „Was sollte ich dort? Alles würde mich nur
22278 traurig stimmen. Nein, auf keinen Fall. Und noch dazu mit dem
22279 Luftschiff, bei welchem die ganze Stadt zusammenlaufen würde. Oh,
22280 Sie wissen nicht, wie man in Friedau über mich denkt.“
22282 „Das ist schade. Ich möchte so gern –“ La zögerte einen Augenblick
22283 und fuhr dann fort: „Ich möchte, offen gestanden, gern einmal mit
22284 Grunthe sprechen. Wir hatten uns eigentlich vorgenommen, ihn zu
22285 besuchen, nicht wahr, Se?“
22287 „Natürlich“, sagte Se lächelnd. „Wir wollen einmal sehen, was er
22288 für Augen macht. Und vielleicht weiß er, wo Sal –“
22290 Sie unterbrach sich auf einen Blick von La.
22292 „Ich aber muß, wie Sie wissen“, sagte Isma, „gegen sieben Uhr
22293 wieder in Berlin sein, ich habe noch eine Vorlesung heute abend –
22294 und jetzt – es ist schon fünf Uhr vorüber.“
22296 „Nun, dann müssen wir Sie freilich nach Hause bringen. Oder noch
22297 einfacher, wir können ja beides vereinigen – das Schiff führt Sie
22298 nach Berlin und holt uns dann wieder hier ab. Es ist so schön hier,
22299 und ich sitze sehr gern noch ein Stündchen im Freien.“
22301 Isma überlegte. „Aber dann ist es doch besser“, sagte sie, „Sie
22302 suchen einen geschützteren Ort auf, daß Sie eine Unterkunft finden
22303 können, falls das Gewitter heraufkommt. Hier wäre es auch für das
22304 Schiff nicht möglich, Sie während des Unwetters aufzunehmen, denn
22305 dann ist alles dicht in Wolken gehüllt. Wollen Sie denn überhaupt
22306 mit diesem auffallenden Schiff bei Grunthe ankommen?“
22308 „Sie haben recht“, sagte La, „er ist imstande und macht sich vor
22309 uns aus dem Staub, wenn wir ihn nicht überraschen. Sie kennen die
22310 Gegend, geben Sie uns einen Rat, wo wir uns am besten wieder
22311 abholen lassen können.“
22313 „Sobald es dunkel ist“, antwortete Isma nach einigem Nachsinnen,
22314 „findet Sie das Schiff nirgends besser als im Garten der Sternwarte
22315 selbst. Dort hat sich Ill, als er Grunthe vom Pol zurückbrachte und
22316 dann mit mir –, dort hat das Luftschiff Ills zwei Tage unbemerkt
22317 von den neugierigen Friedauern gelegen.“
22319 „Aber wie kommen wir dahin?“
22321 „Wir fahren jetzt nach einer Stelle im Wald, von wo Sie in wenigen
22322 Minuten nach einem bekannten Aussichtspunkt zu Fuß gelangen können.
22323 Von dort fährt die Bahn nach Friedau, jede Viertelstunde geht ein
22324 Wagen. In fünfundvierzig Minuten kommen Sie damit nach der Stadt
22325 bis dicht an die Sternwarte. Daß auf der Sternwarte noch abends
22326 Fremdenbesuch eintrifft, ist ja nichts Ungewöhnliches.“
22328 „Gut, so wollen wir es machen. Von halb neun Uhr an soll mein
22329 Schiff für uns im Garten der Sternwarte bereitliegen. Wenn Sie dem
22330 Schiffer bei der Rückfahrt von weitem die Stelle zeigen und die
22331 Lokalität ein wenig beschreiben, findet er sich zurecht. Er ist ein
22332 sehr geschickter Mann. Nun lassen Sie uns zum Schiff gehen.“
22334 Ein schmaler Fußweg zwischen dichtem, jungem Fichtengebüsch, auf
22335 dem nur eine Person hinter der andern schreiten konnte, führte die
22336 drei Damen nach einer Lichtung, wo die schimmernde Luftyacht ›La‹
22337 ruhte. Kaum hatten sie diese betreten, als sie sich in die Lüfte
22338 erhob und nach Ismas Weisung einem der bewaldeten Hügel zuflog, mit
22339 denen der Höhenzug nach der Ebene hin abfiel. Hier fand sich wieder
22340 eine Waldwiese, auf welcher das Schiff sich bequem niederlassen
22341 konnte. Isma führte La und Se durch den Wald bis nach einem
22342 sorgfältig gebauten Promenadenweg.
22344 „Wenn Sie nun in dieser Richtung weitergehen“, sagte sie, „so sind
22345 Sie in fünf Minuten an dem großen Gasthaus ›Zur schönen Aussicht‹,
22346 und unmittelbar unter demselben liegt die Haltestelle der Bahn. Sie
22347 können nicht mehr fehlen. Halten Sie sich aber nicht auf, denn das
22348 Gewitter kommt näher, und auch ich muß mich eilen, damit ich vor
22349 seinem Ausbruch fortkommen
22351 „Seien Sie unbesorgt und reisen Sie glücklich!“ sagte La. „Wir
22352 sehen uns bald wieder. Sind Sie einmal im Schiff, so kann Ihnen
22353 kein Wetter etwas anhaben. Sie sind im Augenblick darüber oder so
22354 weit, als Sie wollen.“
22356 Nach herzlichem Abschied ging Isma durch den Wald zurück, während
22357 La und Se auf dem bequemen Weg sanft bergab stiegen. Bald gelangten
22358 sie an eine Bank, von welcher sich ein lieblicher Blick über den
22359 Wiesengrund des Tales mit seinen Villen und kleinen Teichen und
22360 weit in die Ebene hinaus eröffnete. La ließ sich nieder und sagte:
22361 „Hier wollen wir so lange warten, bis wir das Schiff erblicken und
22362 sehen, daß Isma glücklich abgereist ist.“
22364 Längere Zeit saßen sie schweigend, während ihre Blicke bald über
22365 das Land, bald über den Himmel schweiften. Der Sonnenglanz über der
22366 Ebene war verschwunden. Nur die fernen Höhen im Osten leuchteten
22367 noch in gelblichem Licht. Vergebens suchte La die Türme von Friedau
22368 aus dem Gewirr der dunklen Flecken und Streifen herauszuerkennen.
22369 Der Himmel hatte sich mit einer gleichmäßigen Schicht von Grau
22370 überzogen, unter welcher jetzt von Westen her dunkelbraune
22371 Wolkenmassen sich heranschoben.
22373 „Das Schiff müßte längst sichtbar sein – ich glaube, wir dürfen
22374 nicht länger warten“, sagte Se ängstlich, indem sie den drohenden
22375 Himmel musterte.
22377 „Ich glaube auch, wir warten vergebens“, antwortete La. „Sie werden
22378 gleich bis über die Wolken gestiegen sein, und wir können sie daher
22379 nicht sehen. Horch, was ist das?“
22381 Ein dumpfes Rollen wurde vernehmlich, verstärkte sich und kehrte,
22382 von den Bergen zurückgeworfen, mit erneuter Schärfe wieder.
22384 Se faßte Las Arm. „Komm, komm“, sagte sie hastig.
22386 La fühlte, wie ihr Herz lebhafter schlug, sie zwang sich, ruhig zu
22387 bleiben.
22389 „Wie wunderbar“, sagte sie, „das muß der Donner sein. Laß uns noch
22390 lauschen.“
22392 „Nein, nein, das ist nichts für mich.“
22394 Ein Rauschen und Brausen kam durch den Wald. Plötzlich beugten sich
22395 die Bäume unter der Gewalt eines Windstoßes, ringsumher wirbelten
22396 Tannennadeln und dürre Zweige in einer Wolke von Staub. Die
22397 Martierinnen griffen nach ihren Hüten und banden sie fester. Sie
22398 zogen ihre fast unsichtbaren Listücher aus dem kleinen Futteral,
22399 warfen sie über den Kopf und hüllten sich hinein. Lauter warnte der
22400 Donner.
22402 Von oben her ertönten eilende Schritte. Ein Herr, den Hut in die
22403 Stirn gedrückt, mit einem Wettermantel um die Schultern, kam
22404 schnell den Weg herab. Er grüßte, ohne die Damen genauer zu
22405 beachten. Einige Schritte nachher drehte er sich noch einmal um. Er
22406 wollte sie zur Eile mahnen, aber jetzt erkannte er, daß er
22407 Martierinnen vor sich habe, und setzte seinen Weg ohne zu sprechen
22408 fort.
22410 Der Wind hinderte La und Se an der Bewegung. Jetzt hörte er
22411 plötzlich auf, und sie schritten schnell aus. Der Weg zog sich in
22412 engen Windungen bergab; an der Stelle, an welcher sie sich
22413 befanden, hatten sie jetzt das Wetter mit seinen finstern
22414 Wolkenmassen vor sich.
22416 „Das sieht schrecklich aus“, sagte Se.
22418 Sie hatte noch nicht ausgesprochen, als sie sich mit einem leichten
22419 Schrei zurückwarf und an Las Arm klammerte, die ebenfalls
22420 erschrocken stehenblieb. Ein blendender Blitzstrahl war drüben
22421 jenseits des Tales niedergefahren. Während sie noch erschüttert
22422 standen, begannen einige große Tropfen zu fallen, und nun kam der
22423 Donner mit knatternden Schlägen, die sich in ein langes Rollen
22424 auflösten, und ehe noch der Widerhall geendet, zuckte ein neuer
22425 Blitz, näher und stärker – –
22427 Sie sprachen nicht mehr, sie liefen den Weg hinab. Jetzt brach der
22428 Regen in mächtigem Guß los, im Augenblick war der Weg mit
22429 rieselnden Bächlein bedeckt.
22431 „Ich kann nicht mehr!“ stöhnte Se.
22433 La blieb stehen und sah sich um. „Da, dort!“ rief sie.
22435 Der Weg machte wieder eine Windung. Hier stand, mit dem Blick ins
22436 Tal, ein kleiner Pavillon, nur aus Fichtenstämmchen kunstlos
22437 aufgezimmert und mit Baumrinde bedeckt; aus den ausgesparten
22438 Fenstern hatte man dieselbe Aussicht wie oben, nur beschränkter,
22439 jetzt aber blickte man auf nichts als strömende Wassermassen. Hier
22440 fand man wenigstens einen notdürftigen Schutz gegen den Regen. Die
22441 Freundinnen eilten in die Hütte.
22443 Als sie eintraten, erhob sich von der Bank an der einzigen Seite,
22444 die gegen den Regen und Wind geschützt war, der Herr, der vorhin an
22445 ihnen vorübergegangen war.
22447 „Oh, ich bitte“, sagte La, „lassen Sie sich nicht stören, wir
22448 finden schon Platz.“
22450 Der Herr verbeugte sich nur höflich, verließ aber die Hütte. Er
22451 stellte sich vor derselben neben die Tür unter das vorspringende
22452 Dach.
22454 Ein Blitz, dem betäubender Donner im Moment folgte, ließ die
22455 Martierinnen zusammenschrecken, sie sanken erschöpft auf die
22456 hölzerne Bank.
22458 „Das ist schrecklich“, sagte Se mit bebender Stimme. „ich zittere
22459 am ganzen Körper. Ich will nichts mehr wissen von dieser Erde!“
22461 La nahm ihre Hände zwischen die ihrigen.
22463 „Zage nicht“, sagte sie. „Es ist leicht, ein freier Nume sein, wo
22464 wir herrschen über die Natur und mächtig leben wie die Götter. Aber
22465 hier, in der Gewalt der sinnlosen Mächte, die uns fremd sind und
22466 ungewohnt, müssen wir den Mut des Willens erweisen. Sieh, dieser
22467 Mensch hat uns seinen Platz eingeräumt, uns, die er vielleicht
22468 haßt, und er steht draußen im Sturm und blickt furchtlos in das
22469 tobende Wetter. Was der Mensch kann, muß auch ich können, oder ich
22470 bin nicht wert der Erde. Und das will ich sehen!“
22472 Sie erhob sich und trat an die Brüstung des offenen Fensters, unter
22473 welcher der Fels ins Tal abfiel, so daß gerade nur noch die Wipfel
22474 der hohen Tannen bis herauf reichten. Wind und Regen schlugen von
22475 der Seite herein, La kümmerte sich nicht darum. Die Schulter an die
22476 Pfosten des Fensters gelehnt, stand sie hochaufgerichtet, den
22477 Elementen trotzend, in ihren Lisschleier gehüllt, dessen Zipfel der
22478 Sturm zerzauste. Ihre großen Augen richteten sich gegen den Himmel,
22479 als wollte sie den Wetterstrahl herausfordern. Und wie zürnend über
22480 die Verwegenheit der Nume öffnete sich die Wolke, und die feurigen
22481 Schlangen züngelten nach dem Talgrund, und gleichzeitig dröhnte ein
22482 Donnerschlag, der die Luft erzittern machte.
22484 Geblendet und betäubt hatten alle einen Moment die Augen
22485 geschlossen.
22487 „La, La“, rief dann Se, „was fällt dir ein, was soll das heißen?“
22489 La stand aufgerichtet wie zuvor an ihrem Platz. Sie schüttelte
22490 stolz das Haupt und sprach heiterer als vorher, fast jubelnd:
22492 „Ich kann es, ich kann’s!“
22494 „Wozu das alles!“ rief Se. „Komm her zu mir, du wirst völlig naß.“
22496 „Ich will es. Dieser junge Planet tobt wie ein Jüngling in Launen
22497 und Übermut, nicht achtend der Geschöpfe, die er behüten soll.
22498 Unser Nu ist ein Greis, der uns verwöhnt hat in seiner sicheren
22499 Ruhe. So verwöhnt, daß wir die Gefahr suchen mußten draußen im
22500 Weltraum. Auf der Erde ist die Jugend mit ihrem Wetterunfug, mit
22501 ihrer blinden Torheit, mit ihrem schwankenden Wechsel von Leid und
22502 Glück. Zum Leid ward sie mir, zum Glück soll sie mir werden!“
22504 Sie schwieg, noch einmal vom Rollen des Donners unterbrochen. Aber
22505 sie hatte den Blitz nicht mehr gesehen, das Wetter war über ihrem
22506 Haupt hinweggezogen. Se antwortete nicht. Das Geschick der Freundin
22507 stand vor ihrer Seele wie eine Frage, deren Antwort mächtiger und
22508 immer deutlicher sich ihr aufdrängte und die sie sich dennoch nicht
22509 zu geben wagte. Jetzt lauschte sie wieder auf den Donner, dessen
22510 Stärke sich verringert hatte. Sie fühlte sich freier. Der Nachlaß
22511 der elektrischen Spannung oder die Entfernung der Gefahr, sie wußte
22512 nicht, was es war, aber sie atmete auf. Ihr Blick richtete sich
22513 nach dem Weg, wo sie das Knirschen von Tritten vernahm. Der Fremde
22514 entfernte sich. Er hatte den Hut in die Hand genommen, deutlich sah
22515 sie sein Profil, als er jetzt, einen Blick nach den Wolken werfend,
22516 um die Ecke des Weges bog. Und wie ein Aufleuchten der Erinnerung
22517 durchzuckte es sie. Das Bild hatte sie gesehen, oft gesehen, und
22518 erst heute, die große Kreidezeichnung über Ismas Schreibtisch – nur
22519 freilich, älter sah dieser Mann aus, abgehärmter und dennoch, es
22520 konnte nicht anders sein \ldots{} doch es war ja nicht möglich – –
22522 Sie wollte etwas zu La sagen. Aber diese stand ganz in den Anblick
22523 der Gegend versunken. Und nun fing La aufs neue zu sprechen an, nur
22524 mit ihrem eigenen Gedankengang beschäftigt. Und Se wandte wieder
22525 der Freundin allein ihre Aufmerksamkeit zu.
22527 Wie in einer stillen Freude begann La:
22529 „Sieh, der Regen wird sanfter, drüben über dem Wald wird’s hell.
22530 Und dort über dem Land, o welch ein frohes Wunder, in bunten Farben
22531 flammt der Bogen über den Himmel, und grollend zieht der Donner
22532 unter ihm hinweg.“
22534 Se stand auf und trat neben La. Die Schritte des Fremden waren
22535 längst verhallt. Sie schlang den Arm um die Freundin und fragte:
22536 „Was ist es mit dir, La? Ich verstehe dich nicht!“
22538 La blickte schweigend in die Ferne, wo die untergehende Sonne und
22539 der abziehende Regen in wundersamer Farbenschlacht sich bekämpften.
22540 Dann zog sie Se an sich und sagte: „Ich liebe die Erde.“
22542 Se blickte ihr in die Augen. „Es wird wohl nicht die ganze Erde
22543 sein“, sagte sie mit stillem Lächeln. „Komm, wir wollen uns auf
22544 diese Bank setzen – der Regen rieselt noch immer im Gebirge –, bis
22545 die Wasser von dem Weg sich ein wenig verlaufen haben, und du wirst
22546 mir beichten, was du darfst, oder wenigstens, was du vorhast; denn
22547 ich ahne wohl, was du fühlst, aber das Ganze, Ungeheure, was du zu
22548 wollen scheinst, vermag ich nicht zu begreifen.“
22550 „Du vermagst es wohl nicht zu begreifen“, sprach La mit kaum
22551 hörbarer Stimme, indem sie Se folgte. „So hab ich auch oft zu mir gesagt,
22552 und wer vermöcht’ es wohl, der es nicht erlebt? Aber nun weiß ich,
22553 daß es so sein muß. Glaube nicht, ich hätte vergessen, daß ich eine
22554 Nume bin. Ich habe gekämpft um meine Freiheit, um meine Würde, und
22555 mit bittern Tränen hab ich sie mir errungen, glaubt’ ich sie mir
22556 errungen mit jenem Abschiedskuß in Sei. Ein Marsjahr ist
22557 dahingegangen seitdem, zweimal hat die Erde ihren Sonnenlauf
22558 vollbracht, aber frage nicht, wie ich die Zeit durchlebte! – Ich
22559 habe mich aufgerieben in diesem nutzlosen Kampf. Ich hatte ja nicht
22560 gesiegt, ich war geflohen vor mir selbst. Freiheit und Würde hatte
22561 ich nicht gewonnen in meiner Seele, nur Weltraum und Sonne, die
22562 trennenden Mächte der Planeten, hielten mich in dem leeren Schein,
22563 daß der Nu meine Heimat und ich eine Nume sei. So lebt’ ich, mich
22564 selbst betrügend und verzehrend, bis der Morgenstern wieder
22565 leuchtete. Da trieb es mich her. Würde des Numen! Ist sie noch
22566 Würde, wenn sie erhalten wird durch den äußeren Zwang? Nein, Se, es
22567 wurde mir klar, Würde wie Freiheit wiedergewinnen konnte ich nur,
22568 wenn ich selbst mich hingab, um sie in dieser Welt des Scheines zu
22569 verlieren. Und wie ein Zeichen heiliger Bestimmung wurden mir die
22570 Mittel der Macht, die in meine Hände gegeben war. Versuchen wollt’
22571 ich, ob ich auf der Erde das sein kann, was der Geringsten Eine
22572 unter den Menschen ihm hier sein könnte. Ihm! Se, dies eine Wort
22573 verstehst du nicht – Ihm? Warum ihm? Das ist das Geheimnis, das
22574 unauflösliche, das weder Menschen noch Nume wissen. Ihm, weil ich
22575 bin, weil wir so wollten, ehe noch Mars und Erde vom uralten
22576 Sonnenschoß sich trennten. Ein lächerlicher Zufall, daß ihm der
22577 Leib gebildet ward in diesem, mir in jenem Abstand vom Sonnenball!
22578 Die Bestimmung ist nur eine, es ist
22579 die der Vernunft im zeitlosen Willen, daß ich sein soll und daß wir
22580 das eine, dasselbe Ich sein sollen – das ist die
22581 Liebe. Dieser Bestimmung folgen ist
22582 Freiheit. Dieser Bestimmung genügen ist Würde. Ich habe die Erde
22583 versucht, ich kann ich gehe jetzt hin, ich hole ihn und rede zu
22584 ihm, hier bin ich, und anders kann ich nicht sein. Als Nume oder
22585 als Mensch, wie du mich haben willst, ich bin La, deine La. Und
22586 nun, meine Se, schilt nicht, lästre nicht, es nutzt nichts. Komm
22587 mit, laß uns zur Station hinabsteigen, Grunthe soll mir sagen, wo
22588 er ist.“ ihren Mächten trotzen. Und damit du’s weißt, was ich will
22591 „Ja, wer denn?“
22593 „Wer? Es gibt nur einen Menschen.“
22595 \section{53 - Schwankungen}
22597 Die Wohnung Torms auf der Gartenstraße in Friedau stand noch immer
22598 verschlossen, die Jalousien vor den Fenstern waren herabgelassen,
22599 niemand betrat die Räume. Isma hatte sich nicht entschließen
22600 können, die Wohnung aufzugeben, es war ihr, als gäbe sie damit die
22601 letzte Hoffnung auf, noch einmal in ihre Häuslichkeit
22602 zurückzukehren, als raubte sie ihrem Mann das Heim, das er
22603 vielleicht in Schmerz und Elend suchte und ersehnte.
22605 Und dennoch lebte Torm in Friedau in tiefster Verborgenheit. Er
22606 wohnte bei Grunthe. Es war nichts Ungewöhnliches, daß fremde
22607 Gelehrte sich längere Zeit auf der Friedauer Sternwarte zu Studien
22608 aufhielten und dann Ells Gäste waren. So fiel es auch den wenigen
22609 nicht auf, die darum wußten, daß bei Grunthe ein ausländischer
22610 Astronom wohnte, der sich nirgends in der Stadt sehen ließ.
22612 Torm war am Tag, nachdem er von Grunthe die erschütternden
22613 Nachrichten über die Umwandlung der Verhältnisse in Europa erhalten
22614 hatte, nach Berlin gereist. Die Sehnsucht trieb ihn, zu Isma zu
22615 eilen, ihr die Sorge, die Trauer um den Verschollenen zu nehmen,
22616 glücklich bei ihr zu sein und mit ihr vereint dann zu erwarten, was
22617 sein Geschick über ihn bestimmen werde, wenn seine Rückkehr bekannt
22618 geworden sei. Das war ja doch das Natürliche, zu ihr gehörte er, um
22619 zu ihr zu gelangen hatte er sich in die neuen Gefahren gestürzt und
22620 – in die Schuld. Seine Zweifel waren zerstreut, sein Vertrauen
22621 zurückgekehrt. Wenn sie ihn nicht liebte, wenn sie nicht fest an
22622 ihm hielt, was hätte sie gehindert, ihn zu verlassen, um den
22623 mächtigen Freund zu wählen? Was sie offen tun konnte, warum hätte
22624 sie es heimlich tun sollen? Nein, sie hatte es nicht getan, und da
22625 sie es nicht getan, was ging Ell ihn an? Nicht zu Ell wollte er,
22626 sondern zu ihr. Aber ohne vorherige Nachricht. Erst mußte er mit
22627 ihr besprechen, was zu tun sei, wie sie es halten wollten, ehe
22628 jemand erfahren durfte, daß er gerettet sei, wo er sich aufhalte.
22629 Und in diesem Sinne hatte er Grunthe gebeten, das Geheimnis seiner
22630 Wiederkehr zu bewahren.
22632 Wie würde er Isma antreffen, wie würde sie ihm begegnen? Er konnte
22633 sich kein Bild davon machen, vergebens versuchte er sich im Beginn
22634 seiner Fahrt das Wiedersehen auszumalen. Noch immer lag der
22635 Gedanke, als ein Geächteter zu reisen, wie ein Druck auf ihm,
22636 unwillkürlich sah er die Mitreisenden darauf an, ob sie ihn wohl
22637 erkannten. Mitunter erschien er sich als ein Fremder, der sich eine
22638 Entschuldigung ersinnen müsse, um seinen Besuch zu rechtfertigen,
22639 und er mußte sich erst daran erinnern, daß er als der Gatte zu
22640 seiner Frau fahre, die seit zwei Jahren seine Wiederkehr erhoffte.
22641 Dazwischen stellte er Betrachtungen über das Verhalten der
22642 Passagiere an. Es fiel ihm eine Änderung darin auf, die seit seiner
22643 letzten Fahrt durch Deutschland auf der Eisenbahn vor sich gegangen
22644 war. Das war vor dem Antritt seiner Entdeckungsreise gewesen, denn
22645 bei seiner Wiederkehr war er als Triumphator empfangen, überall in
22646 Extrazügen eingeholt worden und nicht als einfacher Passagier
22647 gereist. Ein Typus der Reisenden war ganz verschwunden, der
22648 anspruchsvolle, geringschätzig auf die andern herabblickende,
22649 hochmütige Elegant. Man sah vornehme Leute, aber keine Überhebung;
22650 nicht nur ein höflicher, fast ein kameradschaftlicher Ton herrschte
22651 überall; die verschiedenen Berufsarten und Stände hatten sich unter
22652 dem allgemeinen Druck näher aneinander geschlossen, suchten sich
22653 besser zu verstehen. Und ebenso auffallend war das Fehlen aller
22654 Uniformen.
22656 In Halle kaufte sich Torm eine Zeitung, er gedachte, sich den
22657 übrigen Teil der Fahrt damit zu unterhalten. Aber alsbald stieß er
22658 auf eine Nachricht, die ihm neue Sorgen erweckte. Die Zeitung
22659 brachte die erste Mitteilung über den ›Fall Stuh‹ bei Frankfurt, wo
22660 die Bauern in einem Ort sich an dem durchreisenden Instruktor
22661 vergriffen hatten. Es war hinzugefügt, daß bereits vier der
22662 Tumultuanten als Rädelsführer verhaftet seien und der Instruktor
22663 die Überweisung an den Numengerichtshof verlangt habe. In diesem
22664 Fall fürchte man sehr strenge Strafen für die Schuldigen. Im
22665 Anschluß hieran behandelte ein Artikel die Frage nach der
22666 Gerichtsbarkeit, sofern in einer Streitfrage Nume in Betracht
22667 kämen. In dem Friedensvertrag war festgesetzt, daß Nume überhaupt
22668 nur von martischen Richtern abgeurteilt werden konnten, aber es war
22669 nicht ganz klar, in welchen Fällen Menschen, die sich gegen Nume
22670 vergingen, vor die martischen statt vor die Landesgerichte kämen.
22671 Sicher war dies in politischen Prozessen, aber ob ein Tumult, wie
22672 gegen Stuh, zu den politischen zu zählen sei, war fraglich. Es
22673 wurde nun darauf hingewiesen, daß der Protektor der Erde, als
22674 oberste Instanz in Kompetenzkonflikten, in einem ähnlichen Fall
22675 entschieden hatte, daß es sich um eine Auflehnung gegen martische
22676 Anordnungen zur Kulturleitung der Menschen und somit um ein
22677 hochverräterisches Unternehmen handle, das vor das Numengericht
22678 gehöre.
22680 Es handelte sich um einen jungen Mann namens Erbelein, der wegen
22681 Versäumnis der Fortbildungsschule ins psychophysische Laboratorium
22682 geschickt worden war und sich hier den Anordnungen nicht gefügt
22683 hatte. Aus einem Schrank mit Chemikalien hatte er eine Flasche mit
22684 einem Narkotikum entwendet, seinen Beobachter eingeschläfert und
22685 sich entfernt. Von zwei Beds verfolgt und eingeholt, hatte er
22686 dieselben plötzlich überrumpelt und einen von ihnen nicht
22687 unbedenklich verletzt. Dies war als offene Empörung angesehen und
22688 mit der schwersten Strafe belegt worden, mit lebenslänglicher
22689 Deportation nach einem Dorf der Beds in einer der ödesten
22690 Wüstengegenden des Mars.
22692 Durch diesen Präzedenzfall, der in den Hauptsachen ganz mit seiner
22693 eigenen Verschuldung übereinstimmte, fühlte sich Torm schwer
22694 betroffen. Das alles und noch mehr hatte er sich ja auch zuschulden
22695 kommen lassen. Er hatte sich dem Spruch des Kriegsgerichts
22696 entzogen, Sauerstoff entwendet, ohne Befugnis ein Luftschiff
22697 benutzt, endlich einen Wächter bei Ausübung seines Berufes
22698 niedergeschlagen. Er konnte sich nun die Frage beantworten, was ihm
22699 bevorstand, wenn er für seine Handlungsweise zur Verantwortung
22700 gezogen wurde.
22702 Und nun entdeckte er in demselben Blatt eine weitere Notiz, die ihn
22703 stutzen ließ. Es war darin gesagt, daß die Regierung des Polreichs
22704 der Nume auf der Erde infolge der allgemeinen Teilnahme, die das
22705 Verschwinden des hochverdienten Forschers Torm hervorgerufen habe,
22706 nochmals in allen Teilen der Erde sorgfältige Nachforschungen nach
22707 seinem Verbleib anstellen ließe. Es läge die Möglichkeit vor, daß
22708 er auf eine noch nicht aufgeklärte Weise doch im Mai vorigen Jahres
22709 den Pol verlassen habe und sich vielleicht in unzugänglichen
22710 Gegenden oder bei wilden Völkerschaften aufhalte.
22712 Es war nicht gesagt, daß er eines Verbrechens wegen verfolgt würde.
22713 Aber war das nicht vielleicht bloß eine Vorsichtsmaßregel, sollte
22714 ihm nicht eine Falle gestellt werden? Und wenn er nun plötzlich
22715 auftauchte, würde man dann nicht die Anklage gegen ihn erheben? Die
22716 Flucht vor dem Kriegsgericht mochte durch die Amnestie beim
22717 Friedensschluß von der Anklage ausgeschieden sein, die
22718 Gewaltätigkeit bei der Flucht in Tibet aber jedenfalls nicht. Wenn
22719 diese neuen Nachforschungen jetzt erst geschahen, weil vielleicht
22720 diese seine Tat erst jetzt den Martiern bekannt geworden war?
22722 Torm ließ sein leichtes Gepäck auf dem Bahnhof und trat unschlüssig
22723 in den leise herabrieselnden Regen hinaus. Zu Fuß verfolgte er den
22724 weiten Weg nach Ismas Wohnung, gleichsam als wollte er dem Zufall
22725 noch eine Bestimmung über sein Schicksal einräumen. Dabei musterte
22726 er die eilend einherschreitenden Fußgänger, und je näher er dem
22727 Osten der Stadt kam, um so unruhiger fühlte er sein Herz schlagen.
22728 So oft eine schlanke Frauengestalt ihm begegnete, immer durchzuckte
22729 ihn der Gedanke, ob es nicht Isma sein könnte, und wenn er die
22730 fremden Züge erkannte, wußte er kaum, ob er sich enttäuscht oder
22731 befreit fühlte.
22733 Es war bereits dunkel geworden, als er die Wrangelstraße erreichte
22734 und nach den Hausnummern spähte. Jetzt stand er vor Ismas Haus. Er
22735 mußte sich entscheiden. Er schämte sich seiner selbst. So kam er
22736 nach Hause, den die gebildete Welt als den Entdecker des wahren
22737 Nordpols gefeiert hatte? Heimlich wie ein Flüchtling, der das Licht
22738 des Tages scheut, der die Schwelle des Hauses zu betreten zögert?
22739 War es denn sein Haus? Nein, auch sie war ja geflüchtet –. Und
22740 seine Frau? War sie es denn noch? Nicht mehr nach dem Gesetz des Nu
22741 – wenn sie nicht wollte! Aber sie wollte doch wohl! Nein, nein,
22742 nicht mehr diesen Zweifel! Aber er! Was brachte er ihr? Den
22743 sonnigen Schein des Ruhmes, darin er vor sie zu treten hoffte, um
22744 mit ihr auf den Höhen des Lebens zu wandeln? Konnte er sie
22745 zurückführen in das verlassene Haus, in die friedliche Heimat?
22746 Brachte er ihr den Frieden und die Ruhe, und nicht vielmehr neue
22747 Sorge und rastlose Flucht? Riß er sie nicht heraus aus einem
22748 stillen Glück, aus einer sich begnügenden Tätigkeit, um sie in
22749 unübersehbares Leid zu stürzen? Das alles zog noch einmal, in einen
22750 Moment sich zusammendrängend, vor seinem Bewußtsein vorüber, und
22751 schon wandte er den Fuß, um wieder in das Dunkel der Straße
22752 zurückzutreten.
22754 Da öffnete sich die Tür. Der Portier hatte ihn durch sein Fenster
22755 vor der Haustür stehen sehen. „Zu wem wünschen Sie?“ fragte er
22756 mißtrauisch.
22758 „Wohnt Frau Torm hier?“ fragte Torm heiser.
22760 „Jawohl, im hinteren Flügel, drei Treppen.“
22762 „Wissen Sie vielleicht, ob sie zu Hause ist?“
22764 „Jawohl, es ist eben Besuch nach oben.“
22766 Einen Moment zögerte Torm. Dann sagte er:
22768 „Ich will wiederkommen.“
22770 Die Tür schloß sich hinter ihm. Langsam schritt er die Straße
22771 hinauf. Besuch? Wer war es? Gleichviel – sie mußte allein sein,
22772 wenn er sie wiedersehen wollte. Besuch! Und er, der totgeglaubte,
22773 nach drei Jahren heimkehrende, der überall gesuchte Gatte, er ließ
22774 sich abschrecken durch das Wörtchen Besuch! Das trennte ihn von
22775 ihr, der Heißersehnten. Warum? Er schauderte vor sich selbst.
22777 Warum? Weil er nicht sagen konnte, hier bin ich, dein Hugo, mit dem
22778 das Glück wieder einkehrt am Herd! Weil sie nicht sagen konnte,
22779 hier ist er, den ihr jubelnd bewillkommt habt, hier ist mein Gatte!
22780 Weil er vor ihr stehen mußte als ein Verbrecher, über welchem das
22781 Schwert hängt, die lebenslängliche Verbannung. Weil er seinen Blick
22782 niederschlagen mußte vor ihr, als ein unbesonnener Verletzer des
22783 Gesetzes! Weil er wieder fort mußte von ihr auf immer, oder sie mit
22784 sich ziehen ins Elend, wenn sie ihm folgte in die Wüsten des
22785 feindlichen Planeten –. Nein, nein, dann lieber diesen Schmerz ihr
22786 ersparen! Dann lieber sie in dem Glauben lassen, daß er verschollen
22787 sei, unter dem Eis, oder wo auch immer – –
22789 Und so schritt er die Straße hinab und wieder hinauf, und fragte
22790 sich nochmals, welcher Besuch? Und die Tür öffnete sich jetzt, und
22791 der heraustrat – – es war Ell. Ja, er durfte bei ihr sein, er, der
22792 ihn hinausgelockt in die Gefahren des Pols, er –. Und nun war es
22793 ihm, als müsse er sich auf ihn stürzen –. Doch der sah ihn nicht,
22794 er schritt ruhig, aufgerichtet voran, ein glänzender Wagen hielt in
22795 der Nähe, er stieg hinein.
22797 Torm wandte sich um. Wieder suchte er durch den Regen den Weg nach
22798 dem Bahnhof. Der Nachtzug führte ihn nach Friedau zurück.
22800 Er sagte Grunthe, daß er erst noch nähere Aufklärung über die
22801 Absichten der Martier und das Schicksal des nach Tibet gegangenen
22802 Schiffes abwarten wolle, ehe er es wage, sich zu erkennen zu geben.
22803 Solange wolle er versuchen, verborgen zu bleiben. Bereitwillig bot
22804 ihm Grunthe das abgelegene stille Asyl der Sternwarte zum
22805 Aufenthalt an. Hier weihte er Torm in seine schon längst
22806 vorbereiteten Bestrebungen ein, einen allgemeinen Menschenbund zu
22807 gründen, der durch eine freiwillige Aufnahme der von den Martiern
22808 gebotenen Kulturmittel sich von der Fremdherrschaft der Martier
22809 unabhängig zu machen suchen sollte. Von hier aus reichten die Fäden
22810 der durchaus nicht geheimgehaltenen Verbindung zu den führenden
22811 Geistern aller Kulturstaaten. Hier entwarf Grunthe mit Torm den
22812 Aufruf mit dem Motto: ›Numenheit ohne Nume!‹
22814 Und sie trafen damit einen Ton, der in der Seele der Völker
22815 widerhallte. In Millionen und Abermillionen Köpfen und Herzen waren
22816 dieselben Gedanken, dieselben Gefühle mächtig, es bedurfte nur der
22817 Anregung, um sie zur lebendigen Bewegung auszulösen. Das Wort war
22818 gefunden und gesprochen. Die Menschen waren ja einig, weil sie es
22819 sein mußten; es war nur erforderlich, daß sie es nun auch
22820 freiwillig sein wollten. Nicht Verbrüderung aus Schwärmerei,
22821 sondern gleiche Ziele aus Vernunft. Zahllos strömten die
22822 Zustimmungen in den organisierten Zentren der Vereinigung zusammen.
22823 Es war klar, daß der Menschenbund bald eine Macht werden mußte, mit
22824 der man zu rechnen hatte. Alle politischen und wirtschaftlichen
22825 Parteien konnten sich an der großen Kulturaufgabe beteiligen, die
22826 er sich gestellt hatte, mit Ausnahme einer extremen Gruppe, deren
22827 oligarchische Interessen vor dem bloßen Gedanken der
22828 Gleichberechtigung aller zurückscheuten. Aber ihr Grollen war
22829 unschädlich, weil ihr Einfluß auf die Regierung gebrochen war und
22830 die Verlockung fortfiel, welche so viele nach Macht und Karriere
22831 strebende Kreise der Bevölkerung verleitet hatte, die
22832 kulturfremden, kavaliermäßigen Gewohnheiten nachzuahmen.
22834 Und selbst Anhänger von Lebensanschauungen, denen der Gedanke des
22835 Menschenbundes anfänglich höchst unsympathisch gewesen war,
22836 begannen sich damit zu befreunden. Der Fabrikbesitzer Pellinger,
22837 der sich leicht für alles begeisterte, was einem versöhnenden
22838 Ausgleich dienen konnte, hatte sich den Bestrebungen des Bundes
22839 eifrig gewidmet und gehörte bald zu den Vertrauensmännern Grunthes.
22840 Seine Vermutung, daß der Fremde, der auf der Sternwarte wohnte,
22841 niemand anders wie Torm sei, war ihm bald zur Gewißheit geworden,
22842 als er ihm bei Grunthe begegnete. Er verbarg dies Grunthe nicht,
22843 und dieser hielt es für das beste, ihm gegen Zusicherung der
22844 Verschwiegenheit zu sagen, daß Torm allerdings hier sei, aber aus
22845 politischen Gründen sich versteckt halten müsse.
22847 Herr von Schnabel setzte Pellingers Bemühungen, ihn für den
22848 Menschenbund zu gewinnen, zuerst hartnäckigen Widerstand entgegen.
22849 Mit Leuten, die auf dem Standpunkt eines Ell ständen, könne er sich
22850 nicht befreunden. Er liebte es, sich als einen besonderen
22851 Verteidiger der Ehre des verschollenen Torm aufzuspielen, indem er
22852 behauptete, daß Frau Torm durch Ell kompromittiert sei, der sich
22853 der Verantwortung in feiger Weise entzogen habe. Und da Torm nicht
22854 gegen Ell vorgehen könne, so müsse wenigstens, seiner Ansicht nach,
22855 jeder anständige Mensch sich von Bestrebungen fernhalten, die
22856 darauf hinführten, daß niemand mehr für seine Ehre mit der eignen
22857 Person eintreten könne. Die Gerüchte über Frau Torm seien noch
22858 immer nicht verstummt, und wenn Torm da wäre, so müsse er, ob es
22859 nun verboten sei oder nicht, durch irgendeine Herausforderung Ruhe
22860 schaffen.
22862 Pellinger lachte ihn aus. Er könne ihn versichern, daß alle diese
22863 Gerüchte auf gänzlicher Unkenntnis der Verhältnisse beruhten. Das
22864 sei ganz gleichgültig, meinte Schnabel, man dürfe eben die Gerüchte
22865 nicht dulden.
22867 „So?“ sagte Pellinger. „Und was, meinen Sie, würde dadurch
22868 gebessert werden, wenn Sie zum Beispiel dergleichen behaupteten und
22869 Torm Sie forderte? Ich will jetzt einmal gar nicht von dem
22870 unentschuldbaren Frevel sprechen, der in der kulturwidrigen
22871 Einrichtung des Zweikampfes selbst liegt, sondern die Sache rein
22872 praktisch betrachten. Wird denn dadurch irgend etwas bewiesen?
22873 Würde man nicht erst recht sagen, es muß doch etwas Wahres dran
22874 sein?“
22876 „Jedenfalls würde man Achtung vor dem Mann bekommen.“
22878 „Meiner Ansicht nach müßte man ihn verachten; denn er hätte eine
22879 unsittliche Handlung begangen. Ein Mann wie Torm kann auf die
22880 Achtung derer verzichten, die sie an so verwerfliche Bedingungen
22881 knüpfen. Und so jeder Mann von sittlichem Ernst. Der schiene mir
22882 verachtungswert, der nicht seine eigne Würde und das Bewußtsein
22883 seines Rechts so hochschätzte, daß sie nicht gekränkt werden können
22884 durch das Gerede des Pöbels in Glacéhandschuhen.“
22886 „Na, na, Sie sprechen da in einer Weise, die – die etwas
22887 eigentümlich –“
22889 „Ja, Herr von Schnabel, ich habe mich auch überzeugt, daß wir alle
22890 mehr auf unsern eignen Wert und unser freies Urteil bauen müssen
22891 als auf die sogenannte Ansicht der Gesellschaft, die sich auf
22892 Irrtümern aufbaut. Dadurch sind wir im Begriff, den Wert dieser
22893 Gesellschaft zu heben. Es müssen sich diejenigen zusammenfinden,
22894 die der Unabhängigkeit ihres Urteils sich freuen. Das allein sind
22895 die Gentlemen. Ich bin überzeugt, auch Sie werden sich noch bei uns
22896 einfinden, wenn Sie sich die Sache überlegen. Daß Torm ebenso
22897 denkt, darauf kann ich Ihnen mein Wort geben.“
22899 Herr von Schnabel ging einige Tage in verdrießlichen Gedanken
22900 umher. Auch Dr. Wagner war dem Menschenbund beigetreten. Die Zahl
22901 derer, die seinen Ansichten beistimmte, wurde immer kleiner. Er
22902 wälzte Pellingers Worte hin und her. Endlich suchte er Grunthe
22903 auf.
22905 Es war ein langes Gespräch, das sie führten. Vornehmlich drehte es
22906 sich um die Persönlichkeit von Ell und die Ziele des
22907 Menschenbundes.
22909 Als Herr von Schnabel die Sternwarte verließ, war er Mitglied
22910 geworden. Nicht irgendein besonderes, durchschlagendes Ereignis
22911 hatte seine Sinnesänderung bewirkt. Der Sieg des Idealismus übte
22912 eine assimilierende Kraft der Veredelung aus.
22914 \section{54 - Auf der Sternwarte}
22916 Es begann bereits zu dunkeln, als die beiden Freundinnen nach
22917 kurzer Wanderung bergab die Haltestelle der elektrischen Bahn
22918 erreichten. Sie nahmen sogleich in dem bereitstehenden Wagen Platz,
22919 der sich nach wenigen Minuten in Bewegung setzte. Die helle
22920 Beleuchtung im Innern des Wagens verhinderte sie, etwas von der
22921 anmutigen Gegend, durch die sie fuhren, zu erkennen. Trotzdem
22922 verging ihnen die Zeit rasch, denn La war glücklich, zum erstenmal
22923 von der leidenschaftlichen Liebe und Sehnsucht sprechen zu können,
22924 die sie so lange stillschweigend und duldend hatte im Herzen
22925 verbergen müssen. Se hörte ihr teilnehmend zu, manchmal schüttelte
22926 sie leise den Kopf, immer aber mußte sie wieder mit Bewunderung auf
22927 die Freundin blicken, die mutig und entschlossen den unerhörten
22928 Schritt vom Nu zur Erde wagen wollte. Wenn sie dann ihre Augen
22929 glückstrahlend leuchten sah, so konnte sie nicht zweifeln, daß sie
22930 alle Hindernisse siegreich zu überwinden wissen werde. Sie saßen
22931 allein in ihrem Wagenabteil und konnten darum ungestört miteinander
22932 plaudern. Und dabei fragte Se:
22934 „Eines, liebste La, ist mir doch noch bedenklich. Du sagst, zwei
22935 Jahre lang, zwei Menschenjahre, hast du ihn nicht gesehen, nicht
22936 direkt mit ihm verkehrt. Das ist lange Zeit für einen Mann. Deiner
22937 bist du sicher, aber weißt du denn, wie es mit ihm steht? Ob er
22938 dich denn noch will? Hast du nie diesen Zweifel gehabt?“
22940 „Niemals“, sagte La entschieden. „Niemals seit jenem Augenblick, da
22941 ich ihn unter Tränen in meinen Armen hielt, da ich ihm gestand, daß
22942 ich sein bin. Das war kein Spiel, das waren keine Küsse und
22943 Liebesworte, die wie Frühlingsblumen im Sonnenschein sprießen und
22944 über Nacht im Strauß verwelken. Das wissen wir beide, die unser
22945 Wissen um das Glück mit dem Wissen um das Elend erkauften, daß wir
22946 uns nie gehören können. O Se, du Kleinmütige, du weißt nicht, wie
22947 stolz die Liebe macht; ich weiß jetzt, wie man es werden kann.
22948 Glaubst du, daß der vergessen kann, um den diese Augen aus Liebe
22949 weinten? Nein, ich bin La, ich bin seine La, und das denken wir
22950 beide zu jeder Stunde, denken’s und fühlen’s in tausend Schmerzen,
22951 und ob wir es uns auch niemals wieder sagen, wir zweifeln nicht.“
22953 La schwieg und versank in Träumerei. Sie schloß die Augen und
22954 wollte sich nach ihrer Gewohnheit im Sitz zurücklehnen. Aber der
22955 unbequeme Hut erinnerte sie sogleich, wo sie war.
22957 Se lächelte. „Ich habe mich schon lange darüber geärgert“, sagte
22958 sie, „daß diese Bahn so unbequeme Sitze hat. Bei mir gehen die
22959 kleinen Erdenleiden in keinem großen auf, und ich merke unter
22960 anderm auch, daß die heutigen Strapazen und Erregungen uns ganz
22961 schwach zur Friedauer Sternwarte werden kommen lassen. Aber ich
22962 habe mich nicht wie heute früh auf die Erde verlassen, sondern mir
22963 eine ganze Schachtel Energiepillen eingesteckt.“
22965 „Ich auch“ sagte La und zog das Büchschen aus ihrem
22966 Reisetäschchen.
22968 „Ach sieh doch“, neckte sie Se. „Also hat das Zutrauen zu den
22969 ›Geselchten‹ doch seine Grenzen.“
22971 „Närrchen, wozu haben wir denn unsre Vernunft? Doch nicht, um das
22972 Kleine über dem Großen zu vergessen, sondern alles in seinem
22973 richtigen Verhältnis als Zweck und Mittel abzuwägen.“
22975 „Aha, du sprichst schon im Grunthe-Ton. Da werden wir wohl bald da
22976 sein, hier sieht man bereits erleuchtete Straßen. Nun schnell die
22977 Pillen geschluckt.“
22979 Nicht lange darauf hielt der Wagen an der Endstation. Die Fahrgäste
22980 in den übrigen Abteilen des Wagens waren alle schon unterwegs
22981 ausgestiegen. Die beiden Martierinnen standen allein auf der Straße
22982 und sahen sich ziemlich ratlos um. Der Wagenführer schaltete seine
22983 Lichter um und verschwand in der benachbarten Restauration, um sich
22984 in seiner kurzen Ruhepause zu stärken. Kein Mensch war auf der
22985 Straße sichtbar.
22987 Der Boden war noch feucht und teilweise mit den Resten des
22988 Gewitterregens bedeckt. Die breite, von Vorgärten begrenzte Straße
22989 endete hier in einem kleinen, mit Bäumen besetzten Platz, von
22990 welchem dunkle Alleen nach drei Seiten ausgingen. Man konnte nicht
22991 erkennen, wo sie hinführten, denn zwischen den dichtbelaubten
22992 Bäumen verschwand das Licht der spärlichen Gasflammen, die sie
22993 erhellten, und nur so weit konnte man sehen, als die Strahlen der
22994 elektrischen Bogenlampen an der Endstation der Straßenbahn
22995 reichten.
22997 „So also sieht es in Friedau aus“, seufzte Se. „Und das ist noch
22998 eine Residenzstadt! Wie mag es da erst auf dem Lande sein, wo –“
23000 „Halte keine Reden“, unterbrach sie La, „sondern komm, die
23001 Sternwarte wird schon zu finden sein.“
23003 Sie spähte nach jemand aus, den sie nach dem Weg fragen könnte.
23004 Eine Laterne tauchte in der Hauptstraße auf, es war die eines
23005 Radfahrers, der in eine der Alleen einbog.
23007 „Dort hinaus muß also noch irgend etwas liegen, denn es fahren noch
23008 Menschen hin“, sagte La in unverwüstlicher Laune.
23010 „Weißt du, wer das war?“ rief Se. „Als er bei der Bogenlampe
23011 vorüberfuhr, erkannte ich ihn. Es ist derselbe Mensch, der während
23012 des Gewitters bei dem Pavillon stand. Und – ich bin vorhin nicht
23013 dazu gekommen, mit dir darüber zu sprechen – ist dir nicht eine
23014 seltsame Ähnlichkeit aufgefallen?“
23016 „Mit wem? Ich habe kaum auf ihn geachtet.“
23018 „Mit Ismas Mann. Nach den Bildern. Ich bilde mir ein, es ist
23019 Torm.“
23021 „Wie töricht. Das würde doch Isma zuerst wissen –“
23023 „Wenn er aber Gründe hätte, sich zu verbergen? Du hast ja gehört
23024 –“
23026 „Dann wäre er doch nicht nach Friedau gegangen, wo ihn jeder Mensch
23027 kennt.“
23029 „Und niemand sucht. Er sieht jetzt nicht mehr so aus, wie er damals
23030 ausgesehen hat. Ich glaube gern, daß ihn kein Mensch wiedererkennt.
23031 Der Bart ist anders, das Haar ergraut, die Gesichtsfarbe gebräunt,
23032 die Wangen eingefallen – aber ich habe den Blick für den Charakter
23033 der Physiognomie, ich sehe durch alle Veränderungen hindurch –“
23035 „Aber warum sollte er sich vor seiner Frau verbergen?“
23037 „Es ist mir auch ein Rätsel. Immerhin wäre es sonderbar, wenn es
23038 zwei so ähnliche Individuen gäbe. Doch sieh, da kommt jemand.“
23040 Der Wagenführer trat aus der Restauration. Seine Abfahrtszeit war
23041 gekommen. Auf Las Frage gab er den Damen bereitwillig Auskunft. Die
23042 Allee rechts, immer bergan, in ein paar Minuten kommt man an das
23043 Gitter.
23045 „Also die Allee, die dein Geistertorm hinaufgefahren ist. Wären wir
23046 ihm nur gleich nachgegangen. Nun vorwärts“, sagte La.
23048 Die Steigung war für die beiden Martierinnen beschwerlich. Sie
23049 spannten jedoch ihre Schirme auf, und so kamen sie bald vor das
23050 eiserne Gittertor, das von einer Glühlampe beleuchtet wurde.
23052 Niemand war ihnen begegnet.
23054 „Es ist furchtbar einsam hier“, sagte La.
23056 „Das ist noch das Beste dabei“, sagte Se. „Es ist wenigstens auch
23057 still. Wie spät ist es denn eigentlich?“
23059 „Da oben leuchtet ja das Zifferblatt der Sternwartenuhr. Es ist
23060 acht Uhr vorüber. Wir wollen schellen.“
23062 Grunthe saß mit Torm, der soeben von seinem Ausflug zurückgekommen
23063 war, bei ihrem frugalen Abendessen, als ihm der Besuch zweier Damen
23064 gemeldet wurde. Sein Assistent, der sonst die Besucher der
23065 Sternwarte herumzuführen pflegte, war nicht anwesend, und es war
23066 ihm sehr unangenehm, jetzt sich stören zu lassen, zumal durch
23067 Damen. Er ließ daher sagen, er bedauere, aber die Sternwarte könne
23068 heute nicht gezeigt werden.
23070 Der Diener ging hinaus, kam jedoch nach einer Minute in großer
23071 Aufregung wieder herein.
23073 „Was gibt es denn?“ fragte Grunthe.
23075 „Zwei Damen vom Mars“, stammelte der Diener, indem er Grunthe
23076 ehrfurchtsvoll eine schmale, zierliche Karte überreichte. Sie war
23077 mit einer Nadel durchstochen, an der eine kleine goldene Medaille
23078 hing. Diese Medaille war es, die den Diener in Aufregung versetzt
23079 hatte. Jeder kannte diesen Weltpaß der Nume, das Wappen des Mars
23080 auf der einen Seite, auf der andern die Worte: ›Im Schutze des Nu.‹
23081 Sie öffnete dem Besitzer alle Türen.
23083 „Nume?“ sagte Grunthe verwundert zu Torm. Er betrachtete die Karte.
23084 Sie trug keinen Namen, sondern nur die flüchtig hingeschriebenen
23085 martischen Zeichen: „Die Pflegerinnen von Ara bringen sich in
23086 Erinnerung.“
23088 Grunthes Stirn zog sich zusammen. Seine Lippen bildeten das in
23089 Klammern gesetzte Minuszeichen. So las er noch einmal die Karte.
23090 Dann lösten sich seine Züge wieder zu einem höflicheren Ausdruck,
23091 und er sagte zu dem Diener: „Ich bitte in die Bibliothek. Ich werde
23092 gleich kommen.“
23094 „Es sind La und Se“, sagte er dann zu Torm, „die beiden Nume, die
23095 Saltner und mich nach unserm Sturz gepflegt haben. Ich bin ihnen zu
23096 großem Dank verpflichtet. Ich muß sie empfangen. Wollen Sie
23097 mitkommen?“
23099 „Es würde mich interessieren. Diese La war sehr freundlich gegen
23100 meine Frau während ihres Aufenthalts auf dem Mars. Aber sie ist
23101 auch eine Freundin Ells. Man weiß nicht, was sie herführt. Hören
23102 Sie erst, was sie wollen.“
23104 „Sie können nun einmal Ihr Mißtrauen nicht loswerden. Doch wie Sie
23105 wünschen.“
23107 Torm warf einen Blick durchs Fenster. „Es ist klar geworden“, sagte
23108 er. „Ich will versuchen, am großen Refraktor einige Platten zu
23109 exportieren. Die Damen kennen mich nicht, dort im Dunkeln können
23110 sie mich überhaupt nicht erkennen. Wenn Sie sie herumführen, könnte
23111 ich sie mir dort einmal –; übrigens, nun fällt mir ein, vielleicht
23112 habe ich die Damen schon gesehen, heute, an der schönen Aussicht
23113 bei Tannhausen –. Dort waren zwei Martierinnen, und kurz vorher sah
23114 ich ein merkwürdiges Luftschiff aufsteigen –; nun aber gehen Sie,
23115 wir werden ja sehen.“
23117 Grunthe betrat die Bibliothek mit einem möglichst liebenswürdigen
23118 Gesicht, sogar ein Lächeln machte einen Anlauf zum Erscheinen,
23119 verunglückte aber in seinen ersten Zügen. La und Se enthoben ihn
23120 der Schwierigkeit, ihnen die Hand zu reichen, indem sie ihn auf
23121 martische Weise begrüßten.
23123 Es gab bald ein lebhaftes Gespräch und kurze Erkundigungen und
23124 Erklärungen herüber und hinüber. Grunthe wollte ausführlich auf die
23125 wissenschaftlichen Ergebnisse zu sprechen kommen, die er mit Hilfe
23126 der Mitteilungen gewonnen hatte, die ihm La vom Mars aus hatte
23127 zukommen lassen, aber La ging nicht darauf ein, sie fragte direkt
23128 nach Saltner.
23130 „Ich will Ihnen mitteilen, was wir wissen“, sagte sie. „Er ist in
23131 Bedrängnis, man wird ihn dieser Tage mit Hilfe von Luftschiffen
23132 suchen und gefangennehmen. Ich bin aber von seiner Unschuld
23133 überzeugt.“
23135 Grunthe wurde sehr ernst. Er wagte es sogar, La jetzt anzusehen und
23136 erkannte in ihren Zügen die Aufrichtigkeit der Teilnahme und die
23137 herzliche Sorge um den Freund.
23139 „Es ist für Saltners Freunde“, sagte er, „eine Freude, ein solches
23140 Wort zu hören. Ich weiß, daß auch Ell ihm gerne helfen würde, wenn
23141 er dürfte, aber er ist durch seine Amtspflicht gebunden. Leider
23142 kann Ihre Überzeugung, selbst wenn sie nachträglich vom Gericht
23143 geteilt werden sollte was ich bezweifle, Saltner nichts nützen. Ich
23144 muß Ihnen gestehen, daß seine Lage eine verzweifelte ist. Er selbst
23145 würde sich ja schließlich auch über die Verhaftung und das Urteil
23146 hinwegzusetzen wissen. Aber Sie wissen, wie er an seiner Mutter
23147 hängt. Und damit verknüpft sich sein Geschick. Die alte Dame würde
23148 eine nochmalige Gefangennahme nicht überleben, das ist Saltners
23149 Sorge. Und ihr Zustand gestattet ihm nicht, seinen Zufluchtsort
23150 aufzugeben und etwa, was ihm sonst vielleicht gelingen könnte, sich
23151 am Tag in den Wäldern zu verbergen und in der Nacht auf unwegsamen
23152 Kletterpfaden in Sicherheit zu bringen. Wir sehen daher keinen Weg
23153 vor uns, wie diese Gefahr vermieden werden könnte. Vielleicht schon
23154 morgen geschieht das Traurige.“
23156 „Morgen?“ unterbrach ihn La erschrocken. „Was wissen Sie?“
23158 „Ich erhielt heute eine Depesche von einem seiner Freunde. Zwei
23159 Luftschiffe sind zu seiner Aufsuchung ausgeschickt. Sie sollte
23160 schon heute beginnen. Das Wetter, das die Berge in Wolken hüllt,
23161 verhinderte sie jedoch. Wenn es morgen klar wird – und die
23162 Wetterkarte läßt es vermuten –“
23164 „Können Sie mir sagen, wo Saltner sich aufhält?“
23166 „Genau wissen es nur wenige Eingeweihte. Wir wissen nur, was auch
23167 den andern bekannt ist, in den Bergen, die sich südlich vom
23168 Etschtal oberhalb Bozen, etwa nach dem Nonsberg, hinziehen, in
23169 einer der dort befindlichen Hütten – hier können Sie die
23170 Spezialkarte sehen.“ La ließ sich die Karte erklären.
23172 „Können Sie mir die Karte leihen?“ fragte sie.
23174 „Recht gern. Aber was wollen Sie damit?“
23176 „Ich sagte Ihnen schon, ich bin mit meiner Freundin auf einer Reise
23177 durch Europa. Vielleicht sehe ich mir diese Gegend einmal an.
23178 Übrigens war ich so frei, mein Luftschiff hierher zu bestellen, um
23179 uns abzuholen. Es müßte eigentlich schon hier sein. Frau Torm sagte
23180 uns, daß Sie selbst hier im Garten gelandet seien, so glaubte ich
23181 –“
23183 La hatte ruhig gesprochen. Jetzt trafen sich ihre Blicke mit denen
23184 Grunthes, sie ruhten eine Weile ineinander. Dann legte Grunthe
23185 schweigend die Karte zusammen und überreichte sie La.
23187 „Wünschen Sie eine Empfehlung an einen Kenner der dortigen Gegend?“
23188 fragte er. „Sie dürften dort als Nume wenig Entgegenkommen
23189 finden.“
23191 „Wir brauchen keinen Führer“, erwiderte La. „Wir schweben ja über
23192 den Höhen, da genügt uns die Karte. Ich danke Ihnen.“
23194 Sie erhob sich.
23196 „Wollen Sie nicht einen Gang durch unsere Arbeitsräume tun? Von der
23197 Plattform aus würden wir die Ankunft Ihres Schiffes am besten
23198 bemerken.“
23200 Sie durchschritten mehrere Zimmer und betraten den Rundgang. Hier
23201 und da sprach Grunthe einige erklärende Worte.
23203 „Sie sehen“, sagte er, „wie wir uns Mühe geben, von Ihnen zu
23204 lernen. Vieles hatte Ell bereits eingerichtet, ehe wir etwas von
23205 den Numen wußten. Ich habe mich freilich schon damals gewundert,
23206 wie er auf so viele neue Feinheiten hatte kommen können.“
23208 An einer Stelle war die Seitenwand weit auseinandergeschoben. An
23209 dem dort befindlichen, auf den Sternenhimmel gerichteten Instrument
23210 war Torm beschäftigt. Er verbeugte sich flüchtig, ohne sich stören
23211 zu lassen.
23213 Se beobachtete ihn scharf, soweit es die matte Beleuchtung
23214 gestattete, während sie scheinbar das Werk einer in der Nähe
23215 stehenden Uhr studierte.
23217 „Wissen Sie“, sagte sie plötzlich laut zu Grunthe, „daß wir Frau
23218 Torm beinahe mitgebracht hätten? Wir waren mit ihr im Wald, nur
23219 mußte sie leider nach Berlin zurück. Haben Sie denn etwas von den
23220 Gerüchten gehört, daß Torm wirklich zurückgekehrt sei und sich nur,
23221 man weiß nicht warum, hier verborgen halte? Wir haben mit Frau Torm
23222 natürlich nicht davon gesprochen, aber Sie können wir ja doch
23223 fragen.“
23225 Torm hatte sich bei Ses Worten tief auf das Instrument gebeugt, und
23226 Se sah deutlich, wie seine Hand an der Schraube des Apparats
23227 zitterte.
23229 „Welches Gerücht?“ fragte Grunthe, als hätte er nicht recht gehört.
23230 In diesem Augenblick erhellte sich die Gegend plötzlich wie von
23231 Sonnenlicht, und durch die geöffnete Wand drang auf kurze Zeit ein
23232 tagheller Schein.
23234 „Das Luftschiff“, rief La und blickte zum Fenster hinaus, während
23235 Se ihren Blick auf Torm gerichtet hielt, der sich schnell
23236 entfernte.
23238 „Der Schiffer beleuchtet seinen Landungsplatz.“
23240 „Und meinem Assistenten hat er die Aufnahme verdorben“, setzte
23241 Grunthe hinzu.
23243 „Das tut mir sehr leid“, sagte La. „Aber wir wollen Sie auch nicht
23244 länger stören. Würden Sie jetzt die Güte haben, uns in den Garten
23245 zu führen?“
23247 Als La und Se mit Grunthe den Garten betraten, lag das Schiff schon
23248 auf dem Rasenplatz. Nur zwei kleine Lichter machten es im Dunkel
23249 kenntlich. Grunthe konnte die freundliche Einladung nicht
23250 abschlagen, die Yacht zu besichtigen und einen Augenblick im Salon
23251 Platz zu nehmen.
23253 Se setzte sich ihm gegenüber, und ihn offen anblickend begann sie:
23255 „Nun will ich Ihnen auch einmal etwas auf den Kopf zusagen,
23256 Grunthe. Dieser Mann, den sie Ihren Assistenten nannten, war Hugo
23257 Torm, und Sie wissen es. Warum steckt er hier im Verborgenen? Warum
23258 ist er nicht bei seiner Frau, die ihn für tot hält? Warum läßt er
23259 sie in ihrem Harm sitzen? Und das dulden Sie? Das ist ja ganz
23260 unerhört. Und nun reden Sie die Wahrheit.“
23262 Grunthe saß stumm mit eingezogenen Lippen.
23264 „Sie wollen nicht reden?“ fragte Se.
23266 „Ich darf nicht. Es sind nicht meine Geheimnisse.“
23268 „Ach, also Torms! Das Zugeständnis genügt. Und billigen Sie dies
23269 Verhalten?“
23271 „Nein.“
23273 „Warum benachrichtigen Sie nicht Frau Torm?“
23275 „Das geht mich nichts an. Davon verstehe ich nichts. Das muß ich
23276 Torm überlassen.“
23278 „Und seine Gründe? Er muß Ihnen doch Gründe angegeben haben.“
23280 „Ich kann nichts sagen.“
23282 „So werde ich Isma –“
23284 „Ich bitte Sie“, unterbrach sie Grunthe, „Sie können nicht wissen,
23285 ob das gut wäre. Nehmen Sie an, er stünde unter dem Druck einer
23286 Schuld, oder glaubte es wenigstens – er würde seine Frau nur ins
23287 Unglück stürzen, wenn er jetzt käme, oder er scheue sich, vor sie
23288 als ein Ausgestoßener zu treten, aber er hoffe, daß der Makel noch
23289 von ihm genommen werden könnte, in einiger Zeit –. Nehmen Sie an,
23290 er warte nur noch Nachrichten ab. Eine vorzeitige Mitteilung könnte
23291 alles verderben –“
23293 „Nehmen wir an, was wir wollen“ hub jetzt La an, „hier gibt es gar
23294 keine andre Wahl, als die Frau in dieses Geheimnis zu ziehen, und
23295 sie kann dann entscheiden –. Ihr haltet das wahrscheinlich für
23296 besonders edel, daß der Mann die inneren Kämpfe in sich ausficht
23297 und die Frau aus Schonung in der Angst der Ungewißheit läßt, weil
23298 ihr denkt, sie könnte sich wieder durch rücksichtsvolle Gefühle
23299 bestimmen lassen, das zu tun, was sie eigentlich nicht will.
23300 Zartgefühl nennt ihr’s, und Hochmut ist es, weiter nichts. Der
23301 Hochmut, daß ihr allein so außerordentlich fähig seid zu
23302 beurteilen, wo und wieweit man sich aufopfern darf. Das kommt aber
23303 alles davon, weil ihr nicht wißt, was Freiheit ist; Freiheit, die
23304 das Gefühl anerkennt, wie es wirklich ist, aber nicht es
23305 zurechtstutzt, wie es euch verständig scheint. Und weil eure
23306 Vernunft zu blöde ist, um dieses ganze Gewirr von Gefühl und
23307 Berechnung zu durchschauen so verderbt ihr das Leben aus lauter
23308 Edelmut in der schönsten Selbstlüge.“
23310 „Ich verstehe nichts davon“, sagte Grunthe wiederholt, indem er
23311 aufstand. „Ich will nichts damit zu tun haben, das sind Sachen, die
23312 sich nicht berechnen lassen. Ich bitte nur, wahren Sie ein
23313 Geheimnis, das nicht das Ihrige ist, wie auch ich es tue.“
23315 „Das versteht sich von selbst“, erwiderte Se. „Wir können nur von
23316 dem Gebrauch machen, was wir mit eignen Augen gesehen haben.“
23318 „Leben Sie wohl“, sagte Grunthe. „Und möge Ihre Reise zum Ziel
23319 führen.“
23321 „Sie werden uns in jedem Fall nächste Nacht wieder hier sehen.
23322 Dürfen wir in Ihrem Garten übernachten?“
23324 „Selbstverständlich. Indessen – ich kann mich nicht darum
23325 kümmern.“
23327 „Das beanspruchen wir nicht“, sagte La lächelnd. „Wenn wir aber
23328 vielleicht Gäste mitbringen, die mit Ihnen sprechen möchten, wie
23329 können wir Sie von unsrer Ankunft benachrichtigen?“
23331 „An der Tür, die vom Garten nach dem Haus führt, ist eine Klingel.
23332 Wir werden wahrscheinlich die nächste Nacht durcharbeiten, wenn es
23333 klar ist.“
23335 „Es wird klar werden“, sagte La, indem sie jetzt Grunthe die Hand
23336 reichte.
23338 Er nahm sie, er drückte sie sogar ein wenig. Dann ging er mit
23339 steifen Schritten aus der Tür.
23341 La sah ihm nach.
23343 „Ich fürchte“, scherzte Se, „den hast du auch erobert. Er hat dir
23344 ja beinahe die Hand gedrückt.“
23346 „Ja“, sagte La, „er hat sich gebessert. Aber im Ernst, er ist einer
23347 von den Menschen, die wert wären, auf dem Nu geboren zu sein. O Se,
23348 wenn es Gott gäbe, daß wir morgen hier alle zusammen sind!“
23350 „Laß uns hoffen und ruhen. Wir haben einen schweren Tag vor uns.“
23352 „Ich will nur noch mit dem Schiffer sprechen. Eine Stunde vor
23353 Sonnenaufgang wollen wir aufbrechen.“
23355 Alle Luken wurden geschlossen, die Lichter gelöscht. Dunkel und
23356 verschwiegen lag das Schiff auf dem Rasen, verborgen von den hohen
23357 Bäumen des Parks. Ein fernes Wetterleuchten zuckte zuweilen im
23358 Norden, im Süden aber, alle Sterne überstrahlend, zog der rötliche
23359 Mars seine Bahn in ruhigem Licht.
23361 \section{55 - In höchster Not}
23363 Der getreue Palaoro war in der Nacht auf das Gebirge gestiegen, um
23364 Saltner die Nachricht zu bringen, daß zwei Luftschiffe in
23365 Bereitschaft seien, ihn zu suchen. Diese Nachforschung konnte nur
23366 dadurch geschehen, daß die Luftschiffe Tal für Tal und Berghalde
23367 für Berghalde absuchten und jedes einzelne Häuschen, jede Hütte
23368 anliefen, um sich die Insassen anzusehen. Dies war allerdings eine
23369 umständliche Sache, doch war das Gebiet, um das es sich handelte,
23370 in bestimmter Weise eingeschränkt. Denn alle Täler, die den
23371 Gebirgsstock umgaben oder aus ihm herausführten, waren sogleich am
23372 Tag nach Saltners Flucht abgesperrt worden, die hier zerstreut
23373 liegenden Ortschaften waren besetzt, und es wäre nicht möglich
23374 gewesen, sie unentdeckt zu passieren. Ein einzelner Gebirgssteiger,
23375 wie Saltner, hätte sich wohl vorüberschleichen können, nicht so
23376 eine Gesellschaft, in der Saltners Mutter sich befand. Denn diese
23377 mußte entweder reiten oder getragen werden, war also auf die
23378 gangbaren Wege angewiesen. Die Hütten, welche in Betracht kamen,
23379 waren entweder Unterstandshütten für Touristen, oder es waren
23380 Sennhütten oder Zufluchtsorte für Hirten. Sie lagen stets an
23381 hervorragenden Punkten oder offen auf Wiesen und Almen, so daß sie
23382 von der Höhe aus leicht wahrgenommen werden konnten. Wollte Saltner
23383 für ein Luftschiff unentdeckbar bleiben, so konnte es nur dadurch
23384 geschehen, daß er sich in den Wald flüchtete, der die Abhänge der
23385 Bergrücken bedeckte.
23387 Da am ersten Tag nach Palaoros Ankunft des dichten Nebels wegen auf
23388 den Bergen noch keine Gefahr der Entdeckung vorlag, brach Saltner
23389 mit dem Führer auf, um in den Wäldern eine passende Unterkunft zu
23390 suchen. Die Hütten, die sich hier für Köhler und Holzschläger
23391 errichtet fanden, waren allerdings höchst primitiver Art. Es gelang
23392 ihnen aber, doch einen Bau aufzufinden, der sich durch einige
23393 Arbeit wenigstens für den Notfall bewohnbar machen ließ. Sie
23394 setzten diese ärmliche Wohnung, so gut es ging, instand und kehrten
23395 abends nach der sogenannten Kleinen Hütte zurück. In der Nacht wäre
23396 es nicht möglich gewesen, Frau Saltner in das abgelegene Tal durch
23397 den Wald zu transportieren, da sie getragen werden mußte. Sie
23398 beschlossen also, es am Tag zu wagen. Gefährlich für die Entdeckung
23399 war dies freilich, denn es mußte ein weites, baumloses Plateau,
23400 dann eine steile Schutthalde und ein Felsabstieg passiert werden,
23401 ehe man in den Wald gelangte. Sie hofften, daß der Nebel noch
23402 anhalten werde.
23404 Vor Sonnenaufgang verließ Saltner die Hütte und bestieg den
23405 Bergrücken, der den Blick nach Norden und Westen gestattete. Hinter
23406 den Zacken der Dolomiten strahlte der Himmel in leuchtendem Rot.
23407 Ein Meer von weißen Nebeln wogte in den Tälern, und nur die Gipfel
23408 der Berge blickten wie Inseln aus ihm hervor. Rosig glühten die
23409 Schneeriesen im Westen, und ihre höchsten Häupter glänzten bereits
23410 im Sonnenlicht. Saltner spähte nach der Gegend, wo Bozen unter
23411 Nebeln verborgen lag. Und da – siehe –, aus den weißen Wolken
23412 tauchten zwei dunkle Punkte auf, deutlich hoben sie sich jetzt
23413 gegen den hellen Himmel ab. Er richtete sein Fernglas darauf. Es
23414 war kein Zweifel, es waren die beiden Luftschiffe, die sich zu
23415 seiner Verfolgung aufmachten. Er eilte den Berg hinab.
23417 „Wir müssen fort“, sagte er zu Palaoro. „Sie suchen uns, und der
23418 Tag wird klar werden. Aber sie fahren nach Südost, wir werden also
23419 noch Zeit haben, ehe sie bis hierher kommen. Für den Anfang steigen
23420 auch die Nebel noch herauf, wir müssen sehen, daß wir zur rechten
23421 Zeit Deckung finden.“
23423 Der Zug setzte sich in Bewegung. Saltner und Palaoro trugen den
23424 Tragstuhl mit Frau Saltner. Katharina schritt, ebenfalls mit Gepäck
23425 beladen, hinterher. Es ging die Bergwand im Südwesten hinauf, dann
23426 über ein weites Plateau. Man kam nur langsam vorwärts. Oft mußte
23427 geruht werden. Endlich waren die Felsen am Rande des Plateaus
23428 erreicht, das sich von hier mit einer steilen Schutthalde in ein
23429 Tal hinabsenkte. Dieses mußte passiert werden, um den Bergrücken
23430 auf der gegenüberliegenden Seite zu gewinnen. Von dort führte der
23431 Weg durch eine Scharte zwischen zwei Gipfeln nach einem zweiten,
23432 engeren Tal, dessen waldbedeckte Abhänge sicheren Schutz boten. In
23433 dem ersten Tal zogen sich die Nebel jetzt bis dicht an den Rand des
23434 Plateaus. Ehe die kleine Expedition den schmalen, aber
23435 verhältnismäßig leicht gangbaren Pfad betrat, der hier hinabführte,
23436 spähte Saltner noch einmal nach den Schiffen aus, ohne eine Spur
23437 von ihnen bemerken zu können. Dann bedeckten die Nebel die
23438 Flüchtigen. Bevor der neue Aufstieg begann, wurde eine Ruhepause
23439 gehalten und dann mit neuen Kräften vorwärts geschritten. Es waren
23440 gegen vier Stunden seit dem Aufbruch vergangen, als sie aus den
23441 Talnebeln herausstiegen und sich anschickten, die Höhe zu
23442 passieren. Man hatte hier wieder einen weiten Umblick nach Westen
23443 und Süden. Plötzlich blieb Palaoro stehen.
23445 „Sie kommen“, rief er aus.
23447 Er hatte in der Ferne, im Süden, einen dunkeln Punkt bemerkt, den
23448 nun Saltners Glas als Luftschiff nachwies. „Sie nähern sich“, sagte
23449 Saltner, „aber sie haben sich getrennt – es ist nur ein Schiff.“
23451 „Sie werden von zwei verschiedenen Seiten anfangen. Diese wollen
23452 wahrscheinlich hinüber nach den Hütten am Laugen. Hier können wir
23453 nicht weiter, in wenigen Minuten müssen sie uns sehen. Wir müssen
23454 den Berg zwischen uns bringen. Sie werden vorläufig jedenfalls auf
23455 der Südseite bleiben.“
23457 Man bog nach rechts ab und war bald durch die aufsteigenden, mit
23458 Rasen und verkrüppelten Fichten bedeckten Felsabhänge des
23459 Bergrückens gegen das herannahende Schiff gedeckt, so lange es sich
23460 nicht über den Gipfel erhob. Es war aber anzunehmen, daß die
23461 Martier zunächst die Abhänge im Süden absuchen würden. Der
23462 beschwerliche Weg führte nun bergab nach einem Felsriegel zu, von
23463 dem aus sich eine Schlucht in das Tal hinabzog. Doch war es
23464 fraglich, ob diese von einem Wildbach durchströmte, in steilen
23465 Abstürzen niedergehende Schlucht passierbar sein würde. Dies mußte
23466 zunächst untersucht werden. Das Ende des Felsriegels, der nach
23467 Norden fast senkrecht etwa hundert Meter abstürzte, war mit hohen,
23468 flechtenbedeckten Fichten bestanden und bot unter diesen und
23469 zwischen den Felstrümmern einen vorläufigen Zufluchtsort. Hier
23470 wollte Saltner die Frauen verbergen, während Palaoro einen Weg nach
23471 dem Tal auskundschaften sollte. Es galt nur noch die kurze Strecke
23472 über den kahlen Rücken bis zum Beginn des Waldes zu durchqueren.
23474 Vielleicht noch hundert Schritte bergab trennten die Flüchtigen von
23475 dem schützenden Dickicht, als sie vor sich, nach Norden, über den
23476 dort hervorragenden Berggipfeln ebenfalls einen Punkt bemerkten,
23477 der unzweifelhaft ein Luftschiff war.
23479 „Dort ist das andere Schiff“, rief Palaoro.
23481 So schnell, als es möglich war, durchliefen sie die kurze Strecke
23482 und suchten einen geschützten Platz unter den hohen Stämmen. Die
23483 Sonne schien warm auf die harzduftenden Nadeln, in langen Bändern
23484 hingen die graugrünen Flechten von den Ästen, und der aus
23485 Felstrümmern bestehende Boden war mit weichem Moos bedeckt. Man hob
23486 Frau Saltner aus dem Stuhl, und die Frauen ruhten an geschützter
23487 Stelle in der stillen, sonnendurchwärmten Luft, während Saltner und
23488 Palaoro bis an den Rand des Absturzes vorgingen, um vorsichtig nach
23489 dem vermuteten Feind auszuspähen.
23491 „Es ist mir nicht recht erklärlich“, sagte Saltner, „warum dieses
23492 Schiff einen so seltsamen Weg eingeschlagen hat, daß es jetzt von
23493 Norden kommt. Aber gleichviel, wenn sie uns nicht auf dem Weg
23494 hierher erkannt haben, sind wir vorläufig sicher.“
23496 „Sie können uns schon gesehen haben. Sie kommen ja gerade auf uns
23497 zu.“
23499 „Leider. Sie haben die ursprüngliche Richtung geändert. Man möchte
23500 wirklich glauben, daß sie hierher wollen. Ach, sie steigen in die
23501 Höhe und spannen die Flügel auf, sie werden eine Landung
23502 versuchen.“
23504 „Wenn sie wirklich uns gesehen haben und hier in das Wäldchen
23505 wollen, so können sie nur draußen auf dem Bergrücken landen, von wo
23506 wir gekommen sind. Sonst können sie nirgends heran, das verhindern
23507 die Bäume.“
23509 „Kommt, Palaoro. Wir wollen nach der andern Seite gehen, hier ist
23510 nichts zu tun und nichts zu befürchten. Das Schiff ist so hoch, daß
23511 man es nicht mehr sehen kann, ohne zu weit aus den Bäumen zu
23512 treten. Was tun wir nun, wenn sie landen?“
23514 „Wir steigen in die Schlucht hinunter, so weit es geht.
23515 Nachklettern werden sie uns nicht. Bleiben Sie bei der Frau Mutter,
23516 und ziehen Sie sich inzwischen nach der Schlucht zu. Kathrin kann
23517 hier den Stuhl ein Stück tragen. Ich sehe inzwischen nach dem
23518 Schiff.“
23520 Saltner brachte seine Mutter mit Hilfe der Magd bis an die Stelle,
23521 wo die Schlucht begann. Hier kletterte er selbst weiter, um den Weg
23522 zu untersuchen. Es ging zunächst steil bergab, aber es schien ihm
23523 möglich, doch noch hier herabzukommen. Nach einer kurzen Strecke
23524 erweiterte sich die Schlucht zu einem kleinen, von fast senkrechten
23525 Wänden umgebenen Felskessel. Den nahezu ebenen Boden, auf dem ein
23526 kleines Bächlein entsprang, bedeckte kurzer Rasen. Im Sonnenschein
23527 funkelten die Wassertropfen auf den Halmen, kleine blaue
23528 Schmetterlinge und weißschimmernde große Apollofalter spielten in
23529 diesem stillen Winkel. Die Quelle rieselte als schmales Rinnsal der
23530 Felswand zu, die sie in einer kleinen Klamm durchbrach. Aber die
23531 Neigung war gering, Saltner schritt durch das seichte Wasser und
23532 überzeugte sich, daß sich dahinter der Boden des Tales erweiterte.
23533 War man einmal bis hierher vorgedrungen, so mochte der weitere
23534 Abstieg wohl gelingen. Nun beeilte er sich zurückzukehren.
23536 Er hatte etwa zwei Drittel des Aufstiegs kletternd zurückgelegt,
23537 als er zu seinem Erstaunen von Baum zu Baum ein Seil nach oben hin
23538 ausgespannt fand. Bald begegnete ihm Palaoro, der Frau Saltner auf
23539 einem Arm trug, während er sich mit Hilfe des Seiles vorsichtig den
23540 steilen Abhang hinabarbeitete. Ihm folgte Katharina. Ohne ein Wort
23541 zu sprechen unterstützte Saltner den Abstieg, bis sie das Ende des
23542 Seils erreicht hatten. Hier setzte Palaoro Frau Saltner nieder und
23543 sagte zu ihr beruhigend: „Hier sind sie ganz sicher, die dreißig
23544 Meter können die Herren Martier nicht herabkraxeln. Wir wollen nur
23545 das Seil holen.“
23547 Er winkte Saltner und beide stiegen wieder den Berg hinauf.
23549 Kurz vor der Höhe blieb Palaoro stehen und berichtete Saltner das
23550 Geschehene. Als er vorhin den Rand des Waldes erreicht hatte und
23551 die kahle Berglehne nach oben übersehen konnte, habe er das von
23552 Norden gekommene Luftschiff bemerkt, das mit ausgebreiteten
23553 Schwingen im Segelflug langsam über der Höhe schwebte. Es sei ein
23554 ganz besonders großes, schönes Schiff gewesen. Da sei von der
23555 andern Seite das kleine Regierungsschiff, das er als das Schiff des
23556 Unterkultors in Wien erkannte, schnell herbeigekommen und hätte dem
23557 andern Schiff Signale gemacht, die er nicht verstand. Darauf hat
23558 das große Schiff die Flügel eingezogen, und er hat nicht sehen
23559 können, was aus ihm geworden, da es hinter den Bäumen verschwunden
23560 ist. Das kleine aber ist dicht vor dem Wald auf dem Bergrücken
23561 gelandet. Nun ist der Pitzthaler, der Grenzjäger, aus dem Schiff
23562 geklettert und nach dem Wald gegangen. Wie er gesehen hat, daß es
23563 der Pitzthaler ist, hat er sich langsam zurückgezogen, und wie die
23564 vom Schiff aus den Pitzthaler hinter den Bäumen nicht mehr sehen
23565 konnten, ist er ihm so wie zufällig entgegengegangen. Hat ihn nun
23566 der Pitzthaler gefragt, ob er nicht hier herum den Herrn Saltner
23567 gesehen hat, der sollt’ mal gleich auf das Schiff kommen, denn sie
23568 hätten von oben bemerkt, wie er um den Berg herumgegangen sei, und
23569 da könnt’ er jetzt nirgends anders stecken als hier im Wald. Da
23570 hätte er geantwortet, das wollte er dem Herrn Saltner schon sagen,
23571 wenn er ihn halt zufällig hier treffen täte, wenn aber der Herr
23572 Saltner nicht käme, was sie dann wohl tun würden. Dann würden sie
23573 den Wald hier besetzen, daß er nicht herauskönnte, und er und der
23574 Verpailer, der auch mit wäre, die müßten ihm halt nachgehen und ihn
23575 herausholen, denn sonst kämen sie um ihr Brot. Er hätte sich aber
23576 am Fuß was vertreten und könnte nur langsam den Berg
23577 heruntersteigen. Und darauf wäre der Pitzthaler wieder
23578 zurückgegangen. Nun sei er erst wieder bis an den Waldrand
23579 geschlichen und habe gesehen, wie der Herr Unterkultor und vier
23580 Beds mit Glockenhelmen aus dem Schiff gekraxelt und mit den beiden
23581 Grenzjägern nach dem Wald zu gegangen seien. Da sei er rasch
23582 zurückgesprungen, habe das Seil ausgespannt und sei mit den Frauen
23583 herabgestiegen. Und er hat noch gesehen, wie die Grenzjäger mit den
23584 Martiern erst nach der andern Seite gegangen sind.
23586 Während des Berichts lösten Saltner und Palaoro das Seil und
23587 stiegen die Schlucht wieder hinab. Sie beschlossen, sich bis in den
23588 Felskessel hinabzuziehen und dort des weiteren zu warten. Beide
23589 hofften, daß ihnen die Grenzjäger nicht sogleich folgen, sondern
23590 die Martier unter irgendeiner Ausrede mit der Verfolgung hinhalten
23591 würden.
23593 Mit vielen Beschwerden gelang es, den übrigen Teil des Weges
23594 zurückzulegen. Sobald sie hinter dem nächsten Felsblock
23595 hervortraten, befanden sie sich am Rand der kleinen Wiese. Saltner
23596 trug jetzt seine Mutter, Palaoro ging voran. Er stand am Eingang
23597 zum Kessel. Da sprang er zurück. Erschrocken winkte er Saltner.
23598 Dieser setzte seine Mutter sanft nieder und sprang zu ihm.
23600 „Was gibt es?“ fragte er leise.
23602 „Das große Luftschiff liegt auf der Wiese“ flüsterte Palaoro.
23604 „Um Gottes willen! So sind wir verloren. Wir sind von beiden Seiten
23605 eingeschlossen.“
23607 Er warf einen Blick auf die seitlichen Abstürze der Schlucht, der
23608 ihn belehrte, daß hier ein Entkommen mit den Frauen nicht denkbar
23609 sei. Ratlos blickten die Männer sich an.
23611 „Habt Ihr Leute bei dem Schiff gesehen?“ fragte Saltner.
23613 „Ich hab mir gar nicht Zeit genommen“, antwortete Palaoro. „Sie
23614 müssen von oben gesehen haben, daß hier der einzige Ausweg ist, und
23615 haben ihn verlegt. Wenn sie sich jetzt hier umschauen, müssen sie
23616 uns finden, auch wenn die von oben nicht herabkommen. Bergauf
23617 werden die Nume nicht steigen, aber vielleicht haben sie auch
23618 Grenzjäger bei sich. Wir wollen wenigstens das kleine Stückchen
23619 zurück bis dort zwischen die beiden Felsen.“
23621 „Es ist auch nur für den Augenblick“, sagte Saltner, „aber wir
23622 wollen es tun. Möglich wäre es ja, daß die Grenzjäger nicht sehen
23623 wollen und vorbeiziehen, wahrscheinlich freilich nicht, es ist zu
23624 klar, daß wir hier stecken müssen. Ich werde mir dann das Schiff
23625 ansehen, und wenn es nicht anders ist –“
23627 „Ergeben?“ stammelte Palaoro.
23629 „Ihr nicht, das hat keinen Zweck. Ihr könnt hier an der Seite
23630 hinaufklettern. Ich aber kann die Frauen nicht verlassen.“
23632 Er lehnte einen Augenblick wie gebrochen an dem Felsen.
23634 „O meine Mutter!“ flüsterte er. Dann ging er zurück zu den Frauen.
23636 „Ich muß euch noch ein paar Minuten hierlassen“, sagte er. „Dort
23637 zwischen den Felsen wirst du besser sitzen. Es ist noch ein
23638 Hindernis drunten, hoffentlich läßt es sich beseitigen.“
23640 „Du mein lieber Josef, was ich dir für Mühe mache. Aber wenn sie
23641 uns wieder fangen, das ist zu schrecklich“, antwortete Frau
23642 Saltner.
23644 Bald waren die Frauen untergebracht.
23646 „Ich gehe jetzt“, sagte Saltner, sich beherrschend. „Ängstige dich
23647 nicht, Mutter.“
23649 Er küßte sie.
23651 „Aber du kommst bald wieder?“
23653 „Gott wird helfen.“
23655 Saltner warf noch einen Blick zurück. Dann schlich er bis an den
23656 Felsblock, der den Eingang zur Waldblöße deckte. Von oben konnte
23657 man ihn nicht mehr sehen. Ein moosbedeckter Vorsprung am Felsen
23658 bildete eine natürliche Bank. Hier ließ er sich einen Augenblick
23659 nieder, um noch einmal zu bedenken, was er tun solle. Es war nichts
23660 zu tun. Hierbleiben konnte er nicht. Vorüber konnte er auch nicht.
23661 Er mußte sich gefangengeben. Auch das wäre ihm zuletzt gleichgültig
23662 gewesen. Aber die Mutter! Sie überlebte den Schrecken nicht. Das
23663 war das Ende! Und nun war alles verloren. Keine Rettung.
23665 „Gnädiger Gott, hilf uns“, sagte er leise. „Doch Dein Wille
23666 geschehe.“
23668 Er erhob sich, er wollte um die Ecke des Felsens nach dem Schiff
23669 ausspähen. Da war es ihm, als hörte er leises Rascheln der dürren
23670 Zweige, die den Moosboden bedeckten. War es eine Eidechse? Kam
23671 jemand? Er zögerte einen Augenblick. Die Spalte neben dem Felsen,
23672 durch welche das Sonnenlicht in den Wald blickte, verdunkelte sich.
23673 Eine Gestalt stand vor ihm.
23675 Er richtete sich hoch auf. Das Herz schlug ihm, wie ein Nebel legte
23676 es sich vor seinen Blick. Wer war das? Unter dem Schatten eines
23677 breiten Hutes leuchteten ihm zwei Augen entgegen, glückstrahlend,
23678 sonnenhaft. Schweigend standen sich beide gegenüber, bis es leise;
23679 zögernd, als fürchte er, aus einem Traum zu erwachen, über Saltners
23680 Lippen kam, eine einzige Silbe:
23682 „La!“
23684 Es war ihm, als müsse er zu Boden sinken. Da bewegte sich die
23685 Gestalt. Zwei Arme umschlangen ihn, eine weiche Wange fühlte er an
23686 der seinigen. La barg ihren Kopf an seiner Schulter und flüsterte:
23687 „Sal! mein Sal!“
23689 Er sank auf die Moosbank nieder und zog sie mit sich. Ihre Lippen
23690 glühten aufeinander.
23692 „Du bist es, du bist es“, sagte La selig.
23694 Er zog sie aufs neue an sich.
23696 Endlich stammelte er: „Und du, wie kommst du – O du mein Glück,
23697 weißt du denn –“
23699 „Ja, ja! Ich komme, um dich zu fangen und nie wieder freizugeben.
23700 Ich komme vom Nu, und ich will bei dir bleiben auf der Erde, oder
23701 wo du willst – nur nicht allein, nicht länger allein. Ich kann es
23702 nicht!“ Sie sank aufs neue an seine Brust. Dann sprang sie auf.
23704 Von oben hörte man das Klingen des Bergstocks. Palaoro wurde
23705 sichtbar. Er prallte zurück, als er La erblickte. Dann rief er:
23706 „Sie steigen von oben herab.“
23708 Saltner blickte auf La. „Du kommst zu mir, Geliebte“, sagte er
23709 hastig. „Aber ich bin gefangen und eingeschlossen. Du kommst, nur
23710 zu sehen, wie ich dir entrissen werde.“
23712 La lächelte glücklich. „Das ist unmöglich“, sagte sie. „Geh und
23713 hole deine Mutter, und du wirst sehen.“
23715 Saltner wirbelte der Kopf, aber er nahm sich keine Zeit, zu
23716 überlegen, wie das alles möglich sei. Er prüfte nicht, er zweifelte
23717 nicht, Las Wort glaubte er. Weiter bedurfte es nichts. Er sprang
23718 mit Palaoro den Felsen hinauf.
23720 „Wir sind gerettet, gerettet!“ rief er seiner Mutter zu. „Fürchte
23721 dich nicht vor den Numen, zu denen ich dich bringe, es sind unsre
23722 Freunde.“
23724 „Wenn du es sagst, so ist es gut.“
23726 In wenigen Minuten standen sie wieder bei La, die an dem Felsen
23727 gewartet hatte.
23729 „Das ist unsre Retterin“, sagte Saltner, auf La weisend.
23731 La faßte ehrfurchtsvoll die Hand von Saltners Mutter und sprach:
23732 „Sie sollen bald zufrieden sein.“
23734 „Gott segne Sie“, antwortete die Mutter.
23736 La schritt voran. Die nachfolgenden Menschen stutzten bei dem
23737 Anblick, der sich ihnen bot. Kathrin stieß einen Schrei der
23738 Verwunderung aus.
23740 Wie eine goldene Schale in der Sonne leuchtend lag die Luftyacht
23741 auf der Waldwiese. Niemand war zu sehen als am Fuß der breiten,
23742 bequemen Schiffstreppe der Schiffer in seinem Glockenhelm, der
23743 salutierend die Herrin des Schiffs erwartete. La eilte voran. Als
23744 sie das Geländer erfaßte, flammte ein Funkenbogen über dem Eingang,
23745 der die Aufschrift zeigte: „Willkommen im Schutze der La.“
23747 Am Eingang zum Schiff blieb sie stehen und wiederholte die Worte.
23748 Man stieg in das Schiff, der Schiffer folgte, im Augenblick war die
23749 Treppe eingezogen.
23751 Palaoro blieb vorläufig auf dem Verdeck. Saltner führte seine
23752 Mutter und die Magd in den Raum, dessen Tür La öffnete.
23754 „Hier ist Ihr Zimmer“, sagte sie, „und daneben das für Katharina.
23755 Nun ruhen Sie sich recht aus. Und was Sie wünschen, sprechen Sie in
23756 diese Öffnung, so wird es da sein.“
23758 Frau Saltner war sprachlos. Ein weicher Polsterstuhl am Fenster
23759 nahm sie auf. Sie blickte sich im Zimmer um.
23761 „Das ist ja gerade wie daheim in unsrer Sommerwohnung“, sagte sie
23762 endlich. „Die Täfelung ringsum, und die Gardine in der Ecke, und
23763 dort, das Kruzifix und das Lämpchen –. Nur die Bilder, und die
23764 Kissen, und die Teppiche das ist alles viel kostbarer – wie kommt
23765 das nur – –“
23767 „Das ist die Zauberin, die es gemacht hat“ sagte Saltner, gerührt
23768 Las Hand ergreifend. „Sie hat nichts vergessen von allem, was ich
23769 ihr von unserm Heim schildern mußte. Ihr gehört dieses Wunder von
23770 einem Luftschiff.“
23772 La sah dem geliebten Mann in die Augen.
23774 „Uns beiden!“ sagte sie dann.
23776 „Du willst? Du willst es wirklich?“ rief Saltner jubelnd und schloß
23777 sie in seine Arme. Doch wie in einem tiefen Schreck verstummte er
23778 plötzlich. „Aber ich bin ein Mensch“, sagte er tonlos.
23780 „Sei, was du willst, ich bin dein, deine La.“
23782 Er blickte auf die Herrliche, Königliche, deren Blick wie bittend
23783 zu ihm aufgeschlagen war. Er wußte nicht, was mit ihm vorging. Der
23784 plötzliche Übergang von der Verzweiflung zum höchsten Glück, von
23785 der Not zur Sicherheit, vom Unerreichbaren zum Wirklichen verwirrte
23786 ihn. Er schüttelte den Kopf, und sein Antlitz strahlte dabei von
23787 Freude.
23789 „Ich weiß ja nicht, was ich bin, wer ich bin, wo ich bin. Ich weiß
23790 nur, daß ich namenlos glücklich bin. Schau, Mutter, das ist sie,
23791 die ich liebe, der ich alles verdanke. Ich weiß nicht, wie man das
23792 bei euch auf dem Mars macht, wenn man eine Frau haben will, und es
23793 ist mir auch ganz egal, und du bist halt die La! Da, Mutter, gib
23794 ihr einen Kuß, ich muß einmal einen Juchzer tun.“
23796 Und mit einem Sprung war er aus dem Zimmer, und während die alte
23797 Frau ihre Hände zitternd auf das von Liebe und Schönheit strahlende
23798 Haupt der glücklichen Nume legte, schallte draußen ein Jodler laut
23799 und jubelnd zu den Bergen empor, und das Echo der Felsen gab ihn
23800 zurück – –
23802 \section{56 - Selbsthilfe}
23804 Kaum war der Widerhall verklungen, als noch eine andere,
23805 unerwartete Antwort ertönte. „Holla! Wer da?“ Die Grenzjäger traten
23806 aus dem Wald. Sie waren nicht wenig erstaunt, hier Saltner und
23807 Palaoro auf dem Verdeck des fremden Schiffes zu sehen.
23809 „Grüß Gott, Herr Saltner“, rief Pitzthaler, sich auf sein Gewehr
23810 lehnend. „Da sind’s wohl gar schon gefangen?“
23812 „Das bin ich schon“, rief Saltner lustig. „Es tut aber nichts. Es
23813 ist ganz schön hier.“
23815 „Aber um die Belohnung haben’s mich gebracht. Es sind hundert
23816 Gulden ausgesetzt.“
23818 „Darum sollt Ihr nicht kommen. Da habt’s an Hunderter, und da noch
23819 einen.“ Die Scheine flatterten hinab.
23821 Von innen rief eine Stimme: „Wollen die Herren ins Schiff kommen?
23822 Wir werden bald aufsteigen.“
23824 Saltner und Palaoro verschwanden. Die Luken schlossen sich.
23826 La zog Saltner in den Salon. „Du sollst deine La sehen“, sagte sie,
23827 sich an ihn schmiegend, „die fliegende und die wandelnde, denn
23828 beide haben ihren Herren gefunden.“
23830 Er blickte um sich, und von dem zarten Schmuck der Wände, von dem
23831 Reichtum der Ausstattung schweiften seine Blicke nach der wonnigen
23832 Gestalt, die ihn umschlungen hielt.
23834 „Es ist ein Märchen“, sagte er. „Eine Fee hat mich in ihr
23835 Zauberschloß geführt, und ich wundre mich über nichts mehr. Und ich
23836 würde es nicht glauben, wenn ich nicht diese Lippen – –“
23838 „Glaubst du es nun?“ fragte La, sich endlich aus seiner Umarmung
23839 lösend.
23841 „Was du willst. Aber ich habe dich so unendlich viel zu fragen. Wie
23842 konntest du mich finden? Wie kamst du auf diese Stelle? Wie kamst
23843 du überhaupt zu diesem Schiff? Und zu diesem Menschen? Und doch
23844 habe ich noch keine Ruhe. Die Mutter wird sich ängstigen, sie ist
23845 noch nie in einem Luftschiff aufgestiegen. Ich glaube, wir müssen
23846 zu ihr gehen.“
23848 „Sei ganz ruhig. Ich verließ sie, die Hände auf dem Schoß gefaltet,
23849 mit geschlossenen Augen im Lehnstuhl liegend. Ich schob den
23850 Fenstervorhang vor und schickte die Magd zu ihr. Sie wird jetzt
23851 schlafen und merkt nichts von der Fahrt. Doch ich will schnell
23852 sehen.“
23854 Im Augenblick war sie zur Tür geschlüpft und wieder zurück.
23856 „Sie schläft“, sagte sie. „Und nun kannst du fragen. Doch ich will
23857 es dir sagen.“
23859 Und sie begann zu erzählen, von ihrem Kampf mit sich selbst, von
23860 ihrem Entschluß, von ihrer Prüfungsreise auf der Erde – und
23861 inzwischen löste sich das Schiff von seinem Lager, langsam sanken
23862 die Felswände hinab, heller strahlte die Sonne –
23864 „Wir steigen“, sagte La, sich unterbrechend.
23866 „Und sieh“, rief Saltner, „das Nächstliegende hab ich vergessen in
23867 der Überraschung, dich zu haben. Was hast du mit dem Schiff des
23868 Unterkultors abgemacht? Was tust du jetzt, wenn sie von dir unsere
23869 Auslieferung verlangen? Wie kannst du überhaupt uns befreien?“
23871 „Sie riefen mich an, als ich hierherkam, weil sie wußten, daß ich
23872 deinen Zug und die Verfolgung gesehen hatte, und verlangten durch
23873 Signale, daß ich sie unterstützen sollte. Ich ging darauf ein, um
23874 bei der Hand zu sein, und besetzte den unteren Ausgang. Ich dachte
23875 mir, daß du hier herabkommen würdest, wenn der Weg oben versperrt
23876 ist. Und so hab ich dich gefangen. Aber ans Ausliefern denke ich
23877 nicht, wenn du – du – bei mir bleiben willst.“
23879 „Und wenn sie dich zwingen? Das Gesetz ist auf ihrer Seite.“
23881 „Gesetz gegen Gesetz – wenn du willst, wenn du bestimmst, daß ich
23882 dein bin und du mein nach dem Gesetz der Numenheit – dann darf ich
23883 dir das Geheimnis sagen des unverletzlichen Asyls. Doch wisse, du
23884 darfst es nur bestimmen, wenn es dein freier Wille ist, um deinet-
23885 und meinetwillen, nicht aber um deiner Rettung willen. Darum darfst
23886 du nicht sorgen; ich rette dich vor jeder Gefahr, auch wenn du frei
23887 bleiben willst ohne mich – ich muß es dir sagen, damit kein fremder
23888 Gedanke, keine Sorge dich beeinflußt. Dieses Schiff ist das
23889 schnellste das je gebaut worden. Niemand kann es einholen. Ich
23890 bringe dich mit der Mutter hinüber über den Ozean, wo du sicher
23891 bist, und auch auf den Unterhalt brauchst du nicht zu denken. Denn
23892 ich bin nicht zur Erde gekommen, um Freiheit aufzuheben, sondern
23893 Freiheit zu bringen, dir und mir.“
23895 Er hatte ihr zugehört, den Blick tief in ihre Augen versenkt und
23896 ihre Hände in den seinen haltend, und dann antwortete er:
23898 „Ich weiß nicht, ob ich alles verstehe, aber wenn’s darauf
23899 hinauskommt, ob es mein freier Wille ist, daß du mein Weib sein
23900 sollst –. O La, die du das getan hast, von der Höhe deines Nu
23901 herabzusteigen zu diesem Jammertal, um diesem Menschen das Leben
23902 zurückzugeben –. Wie kannst du das fragen, meine La, mein Glück und
23903 mein alles – freilich will ich’s, bestimm’ ich’s, ich, Josef
23904 Saltner, so wahr ich hier sitze und dich in meine Arme ziehe, ich
23905 will’s.“
23907 „Und ich“, sagte La feierlich, „auch ich will. Und nun ist es
23908 Gesetz, und ich bin dein. Und damit du es beweisen kannst, so komm,
23909 Ohr an Mund, und höre, was niemand wissen darf, außer uns beiden.“
23911 Sie flüsterte in sein Ohr, und dann barg sie das Gesicht an seiner
23912 Schulter.
23914 Da klopfte es am Telephon.
23916 „Das ist der Schiffer“, sagte La. Sie warf einen Blick aus dem
23917 Fenster. „Ah, dort ist das Regierungsschiff. Laß uns hören.“
23919 Als sich der Unterkultor überzeugt hatte, daß Saltner mit seiner
23920 Begleitung unter Zurücklassung des Tragstuhls und Gepäcks in die
23921 Schlucht hinabgestiegen war und somit entweder den Feldjägern oder
23922 dem von ihm zu Hilfe gezogenen Luftschiff nicht entgehen konnte,
23923 begab er sich mit seinen Beds wieder nach seinem Schiff zurück.
23924 Sobald Las Schiff über der Berglehne erschien, signalisierte er
23925 ihm, daß es sich zu ihm begeben solle, um die Gefangenen, die er
23926 dort vermutete, an ihn auszuliefern. La wollte sich dieser
23927 gesetzlich begründeten Forderung nicht entziehen und ließ daher ihr
23928 Schiff in der Nähe des Kultorschiffes sich niedersenken.
23929 Unmittelbar darauf erschien der Beamte selbst an Bord der ›La‹ und
23930 wurde vom Schiffer in den Salon gewiesen, in welchem er La und
23931 Saltner fand.
23933 Der Unterkultor war ein vornehmer Mann mit entschiedenem Wesen.
23934 Ohne Saltner weiter zu beachten, begrüßte er La höflich und sagte,
23935 daß er den Kommandierenden des Schiffes zu sprechen wünsche.
23937 „Er steht vor Ihnen“, sagte La, ihn mit ruhiger Würde anblickend.
23938 „Ich war bis vorhin Besitzerin dieser Privatyacht, habe aber jetzt
23939 das Eigentum und das Kommando derselben abgetreten an meinen
23940 Gemahl, Josef Saltner, dessen Name Ihnen bekannt ist und den ich
23941 mir hiermit vorzustellen erlaube.“
23943 Der Beamte machte eine Bewegung des Unwillens und der Überraschung.
23944 Seine Augen wanderten prüfend über La und Saltner. Dann sagte er
23945 kühl: „Die Höflichkeit verbietet mir, Zweifel in Ihre Worte zu
23946 setzen. Doch muß ich Sie bitten, mir die Papiere des Schiffes und
23947 Ihre eigene Legitimation vorzuweisen.“
23949 La trat an den Wandschrank und reichte ihm die Papiere, die er
23950 sorgfältig prüfte. Sie enthielten die Schenkungsurkunde Frus über
23951 die Luftyacht ›La‹, die zu Las vollkommen freier Verfügung gestellt
23952 war; ferner einen Freipaß vom Verkehrsministerium des Mars, gültig
23953 für das ganze Sonnensystem und bestätigt für die Erde von Ill, dem
23954 Protektor der Erde, und alles, was für die Legitimation Las
23955 erforderlich war.
23957 Der Beamte gab die Papiere ehrfurchtsvoll zurück.
23959 „Die Legitimation ist unanfechtbar“, sagte er. „Ich freue mich, in
23960 Ihnen die Tochter eines Mannes begrüßen zu können, dessen
23961 technischer Tätigkeit bei der Besitzergreifung der Erde wir zu so
23962 großem Dank verpflichtet sind. Doch“, setzte er sehr ernst hinzu,
23963 „ich habe, wie Sie hier sehen, den Auftrag von den Residenten der
23964 europäischen Staaten, aufgrund der gesetzmäßig geführten
23965 Untersuchung, Josef Saltner von Bozen nebst seiner Mutter Marie und
23966 der Magd Katharina Wackner zu verhaften. Es ist nichts darüber
23967 bekannt, noch aus Ihren Papieren zu entnehmen, daß Saltner ihr
23968 Gemahl sei; auch kann weder dieser Umstand, der überdies zu
23969 beweisen wäre, noch der Aufenthalt auf diesem Schiff die Verhaftung
23970 aufheben oder verhindern. Ich bedauere daher, dazuschreiten zu
23971 müssen –“
23973 Er wandte sich zu Saltner, der an der gegenüberliegenden Wand des
23974 Salons stand, und wollte auf ihn zuschreiten, um ihn zum Zeichen
23975 der Verhaftung zu berühren. Doch La trat dazwischen, und auf einen
23976 Wink von ihr flüsterte Saltner einige leise Worte gegen ein kleines
23977 Schild, das rosettenartig in der Wand angebracht war. Sofort wich
23978 die Wand an dieser Stelle auseinander und schloß sich wieder hinter
23979 ihm.
23981 „Die Verhaftung ist jetzt nicht mehr möglich“, sagte La.
23983 Der Beamte warf einen finsteren Blick auf sie. „Ich muß Sie
23984 bitten“, sprach er, „mir dieses Zimmer zu öffnen, oder ich müßte
23985 die Öffnung erzwingen.“
23987 La blickte ihn stolz an.
23989 „Das werden Sie niemals wagen“, rief sie. „Haben Sie nicht gesehen,
23990 daß die Tür eine akustische ist, die sich nur auf das Losungswort
23991 öffnet? Und wenn ich Ihnen sage, daß dieses Wort niemand wissen
23992 darf, außer mir und – ihm? Werden Sie nun glauben, wer er ist?“
23994 „So ist es“, rief der Unterkultor zurückweichend, „das ist – Ihr
23995 –“
23997 „Mein Zimmer.“
23999 „Dann allerdings. Der Beweis ist geführt. Dieser Raum ist
24000 unverletzlich.“
24002 Er lächelte gezwungen.
24004 „Und ich glaube, unsere Unterhandlungen sind damit erledigt“, sagte
24005 La kalt.
24007 „Nicht ganz“, erwiderte der Beamte nach kurzem Schweigen. „Doch
24008 fürchten Sie nicht, daß ich Sie aufhalte. Geben Sie nur Auftrag,
24009 mich zu Frau Saltner und ihrer Magd zu führen. Diese Personen
24010 können Sie nicht schützen.“
24012 La wollte entrüstet erwidern. Doch erschrocken hielt sie inne.
24013 Jetzt war das Gesetz auf seiner Seite. Sie stand stumm.
24015 „Sie werden sich nicht weigern“, sagte er.
24017 „Und wenn ich es tue?“
24019 „So muß ich Gewalt gebrauchen. Ich werde das Schiff durchsuchen
24020 lassen.“
24022 Er schritt nach der Tür, um die Beds zu rufen, die vor dem Schiff
24023 auf seine Befehle warteten. Zu diesem Zweck mußte er auf das
24024 Verdeck steigen, von wo die Landungstreppe nach außen ging.
24026 La klopfte das Herz. Was sollte sie tun? Bis jetzt hatte sie die
24027 Gesetze nicht verletzt. Aber wie sollte sie die Mutter schützen?
24029 Da öffnete sich die Tür ihres Zimmers. Saltner stand neben ihr.
24030 Rasche Worte bestätigten die Vermutung, die ihn ohne Rücksicht auf
24031 seine Sicherheit herausgetrieben hatte, um La und der Mutter zu
24032 Hilfe zu eilen.
24034 „Wir werfen die Leute hinaus!“ rief er.
24036 „Beim Nu, ich bitte dich, das dürfen wir nicht.“
24038 „Warum nicht? Ich darf mich ja doch nicht mehr hier sehen lassen.“
24040 „Aber Gewalt, das ist etwas anderes. Es versperrt uns die Rückkehr
24041 zum Nu, es beraubt dich deines Bürgerrechts.“
24043 „Und doch sehe ich keinen andern Ausweg. Den Nu oder mich! Wenn der
24044 Mann nicht freiwillig geht, wirst du wählen müssen.“
24046 La blickte ihn an, die Hände zusammenpressend. Dann warf sie die
24047 Arme um seinen Hals.
24049 „Dich, dich!“ rief sie.
24051 „Habe ich das Kommando?“
24053 „Ja, ja.“
24055 Saltner sprang dem Beamten nach. La folgte pochenden Herzens. Der
24056 Unterkultor stand auf dem Verdeck, er winkte den Beds.
24058 „Wie wird die Treppe aufgezogen?“ fragte Saltner La hastig.
24060 „Vom Steuerraum aus automatisch.“
24062 „Sage dem Schiffer, daß er sich bereithält. Hoffentlich verläßt der
24063 Kultor das Schiff. Wenn nicht, bleibt doch nichts übrig, als ihn
24064 hinauszuwerfen.“
24066 „Sal – er ist bewaffnet – ich bitte dich –“
24068 Leise stieg Saltner die Treppe zum Verdeck hinauf.
24070 Die Beds hatten nicht sogleich die Winke des Beamten bemerkt, weil
24071 sie ihre Aufmerksamkeit nach der entgegengesetzten Seite in die
24072 Luft gerichtet hatten. Dort zeigte sich in großer Höhe von Südosten
24073 her ein dunkler Punkt, das andre Schiff der Martier, das jetzt die
24074 beiden Schiffe auf dem Bergrücken bemerkt hatte und, ohne sich zu
24075 übereilen, auf sie zuhielt. Es war ein Stationsschiff aus Rom,
24076 eines jener großen und furchtbar schnellen Kriegsschiffe, mit allen
24077 Waffen ausgerüstet, wie sie in den Hauptstädten der Erde den
24078 obersten Beamten zur Erhöhung der Autorität des Nu beigegeben
24079 waren.
24081 Ein paar rasche Schritte brachten Saltner hinter den Kultor. Dieser
24082 wandte sich nach ihm um, aber in demselben Augenblick hatte Saltner
24083 ihm mit einem raschen Griff den Telelytrevolver aus der Tasche
24084 gerissen und ihn weit hinweggeschleudert.
24086 „Was wagen Sie?“ rief der Kultor. „ich verhafte Sie –“
24088 „Bedaure sehr – verlassen Sie sofort das Schiff, wenn Sie nicht
24089 eine unfreiwillige Spazierfahrt machen wollen –“
24091 Auf den Ruf des Kultors waren die Beds aufmerksam geworden, sie
24092 blickten her. Saltner durfte ihnen keine Zeit lassen, sich mit dem
24093 Kultor zu verständigen, denn wenn sie von ihren Telelytwaffen
24094 Gebrauch machten, war er verloren. Er kommandierte: „Die Treppe
24095 herauf! Aufsteigen! Schnell!“
24097 Im Augenblick schlug sich die Treppe in die Höhe und schob sich auf
24098 dem Verdeck ineinander, während das Schiff in die Höhe schoß. Die
24099 Beds sahen ihm erstaunt nach, wußten aber nicht, was sie tun
24100 sollten, da Palaoro gleichzeitig auf einen Wink Saltners den Kultor
24101 ins Innere des Schiffes gezogen hatte. Sein Protest wurde nicht
24102 beachtet.
24104 „Was machen wir mit dem Mann?“ sagte Saltner. „Wir wollen ihn doch
24105 nicht mitschleppen. Dort hinter dem Felsvorsprung können uns die
24106 Beds und das kleine Schiff nicht sehen. Dort setzen wir ihn ab. Mag
24107 er schauen, wie er heimkommt.“ Saltner erteilte dem Schiffer die
24108 nötigen Befehle. Nach zwei Minuten lag das Schiff wieder still.
24110 Der Kultor stieg in stummem Ingrimm die Schiffstreppe hinab, die
24111 sich sofort wieder hob.
24113 „Nehmen Sie’s nicht übel, Herr Kultor“, rief ihm Saltner nach.
24114 „Aber es ging nicht anders. Habe die Ehre.“
24116 Der Kultor wandte sich um. „Ich warne Sie“, rief er wütend.
24117 „Ergeben Sie sich noch jetzt. Ich lasse Sie sonst rücksichtslos
24118 durch das Kriegsschiff verfolgen und vernichten.“
24120 „Tut mir leid“, antwortete Saltner. „Muß jetzt notwendig auf meine
24121 Hochzeitsreise. B’hüt euch Gott.“
24123 Man konnte nicht mehr verstehen, was der Kultor erwiderte, die ›La‹
24124 war schon wieder zu hoch gestiegen. Aber man sah, daß das
24125 Kriegsschiff auf den Ort zuhielt, wo es den Kultor bemerkt hatte,
24126 der ihm mit den Armen winkte. Auch das kleinere Schiff erschien
24127 jetzt.
24129 La war neben Saltner getreten. „Komm herab“, sagte sie,
24131 „wir müssen die Luken schließen und uns beeilen. Das Schiff dort
24132 ist ein schnelles Kriegsschiff, wir können ihm nur durch
24133 schleunigste Flucht entgehen.“
24135 Saltner warf einen Blick zurück, dann umfaßte er La und sprang, sie
24136 in die Höhe hebend, die Treppe hinab, auf der jetzt Marsschwere
24137 herrschte.
24139 „Wenn wir ausreißen müssen, so übernimm du wieder den Oberbefehl.
24140 Ich weiß ohnehin nicht, wohin wir eigentlich wollen.“
24142 „Die Luken zu!“ befahl La. „Volle Diabarie!“
24144 Die ›La‹ schoß senkrecht in die Höhe. Schnell war sie bedeutend
24145 höher als das niedrig schwebende Kriegsschiff. Aber dieses erhob
24146 sich jetzt schräg und gewann, da es in voller Fahrt war, bald einen
24147 Vorsprung nach Norden. Es kehrte nun in einem Bogen zurück, um der
24148 ›La‹ den Weg abzuschneiden. Es hatte gar nicht angelegt, um den
24149 Kultor aufzunehmen, da inzwischen dessen eigenes Schiff
24150 eingetroffen war, von dem aus er sich mit dem Kriegsschiff durch
24151 Signale verständigte.
24153 Die ›La‹ stieg weiter kerzengerade empor, während das Kriegsschiff
24154 ihr in immer engeren Spiralen folgte. Der Horizont erweiterte sich
24155 schnell, schon lagen die Bergriesen der Alpen tief unten, die
24156 Eishäupter der Ortlergruppe erschienen als flache Schneehügel; im
24157 Norden und Süden tauchten die Ebenen auf und verschwammen mit der
24158 Luft des Himmels. Palaoro war bei dem zweiten Schiffer im
24159 Steuerraum. In den drei Räumen, in denen sich Menschen befanden,
24160 wurden die Sauerstoffapparate in Tätigkeit gesetzt, um die Luft
24161 atembar zu erhalten. Die Höhe von zwölf Kilometern war erreicht.
24162 Fern im Westen schien der Himmel von Wolken bedeckt zu sein. „Dort
24163 müssen wir hin“, sagte La. „Im Nebel können wir die Richtung
24164 ändern, ohne daß es bemerkt wird. Wir müßten sonst vielleicht die
24165 Flucht so weit fortsetzen, bis wir in den Erdschatten kommen, und
24166 das führt uns zu weit vom Ziel ab.“
24168 „Und welches ist das Ziel?“
24170 „Berlin.“
24172 „Aber La?“
24174 „Du sollst alles hören. Erst aber wollen wir einmal sehen, ob das
24175 Kriegsschiff uns nachkommen kann. Richtung nach West! Voll
24176 Repulsit!“ sagte sie zum Schiffer.
24178 Das Schiff wandte seine Spitze nach Westen mit einer sanften
24179 Neigung nach oben. Der Reaktionsapparat wirkte. Es sauste durch den
24180 luftverdünnten Raum. Die Geschwindigkeit steigerte sich allmählich
24181 auf 400 Meter in der Sekunde.
24183 Das Kriegsschiff war der ›La‹ gefolgt. Sobald es erkannt hatte, in
24184 welcher Richtung die ›La‹ zu entkommen suchte, schlug es
24185 ebendieselbe ein. Aber nun zeigte sich die Überlegenheit der Yacht.
24186 Die Entfernung von dem Verfolger wuchs schnell. Nach fünfundzwanzig
24187 Minuten hatte das Schiff einen Weg von 600 Kilometern zurückgelegt.
24188 Von der Erde erblickte man nichts, eine dichte Wolkendecke lagerte
24189 hier unten. Das Kriegsschiff war nur noch als ein Punkt zu
24190 erkennen. Nach weiteren fünf Minuten umhüllten Wolken die Yacht.
24191 Alsbald wurde der Lauf gemäßigt. „Wenden Sie sofort“, sagte La zum
24192 Schiffer, „und benutzen Sie die Wolken soweit wie möglich nach
24193 Nordost. Kommen wir aus den Wolken heraus, und ist dann das
24194 Kriegsschiff nicht mehr sichtbar, so fahren Sie so schnell wie
24195 möglich nach Berlin. Dort wird man uns zunächst auf keinen Fall
24196 suchen.“
24198 „Das scheint mir doch fraglich“, sagte Saltner. „Sobald das
24199 Kriegsschiff sieht, daß wir ihm entkommen, wird es nach der
24200 nächsten Stadt hinabgehen und nach allen Richtungen telegraphieren.
24201 Man wird uns, wo wir hingelangen, sofort erkennen.
24203 Es wird wohl also nichts übrig bleiben, als bis über Europa
24204 hinauszugehen.“
24206 „Das ist wahr. Wir können erst in der Dunkelheit nach Berlin. Aber
24207 wo bleiben wir so lange? Wir wollen doch nicht immerfort hier in
24208 den Wolken herumfahren?“
24210 „Warum willst du nicht sogleich nach Amerika?“
24212 „Ich werde es dir dann erklären.“
24214 „Wo sind wir denn eigentlich?“
24216 „Wir müssen mitten in Frankreich sein. Wir wollen hinab und uns
24217 einmal umsehen.“
24219 „Dann laß uns doch lieber nach irgendeinem abgelegenen Gebirge
24220 gehen, wo es einsam ist und so bald keine Nachrichten hinkommen,
24221 dort können wir warten, bis es Zeit ist, nach Berlin zu reisen.“
24223 „Du hast recht. Fahren Sie also weiter nach Südwest, mit mäßiger
24224 Geschwindigkeit, und suchen Sie auf den Pyrenäen einen guten
24225 Landeplatz. Dort warten wir bis gegen Abend. Dann gelangen wir
24226 gerade zur rechten Zeit nach Berlin. Und jetzt komm! Wir wollen
24227 einmal nach der Mutter sehen, und dann – ich habe dir noch soviel
24228 zu erzählen. Und es ist auch noch jemand hier, den du begrüßen
24229 mußt.“
24231 Se trat ihnen im Salon entgegen.
24233 „Sind wir endlich in Sicherheit?“ fragte sie. Und Saltner die Hand
24234 reichend, fuhr sie lächelnd fort: „Sobald man mit Ihnen
24235 zusammenkommt, ist man seines Lebens nicht sicher.“
24237 „Seien Sie mir nicht böse. Ich werde von nun ab ganz vernünftig
24238 werden.“
24240 „Bei soviel Glück?“
24242 „Ja, es macht mich bescheiden.“
24244 \section{57 - Das Spiel verloren}
24246 Die letzte Woche war für Ell im höchsten Grad aufregend gewesen. Er
24247 arbeitete von früh bis spät in die Nacht und konnte doch die Last
24248 verantwortungsvoller Entscheidungen nicht bewältigen, die ihn
24249 bedrückte und seine ganze Tatkraft in Anspruch nahm. Er fühlte, wie
24250 eine nervöse Abspannung sich seiner bemächtigte, deren er nicht
24251 Herr zu werden vermochte. Selbst zu einem Besuch bei Isma, nach
24252 welchem er sich sehnte, hatte er noch nicht Zeit finden können.
24254 Die Übergriffe der Beamten hatten sich wiederholt. Es war nicht
24255 immer ein krankhafter Zustand, ausgesprochener Erdkoller, wie bei
24256 Oß, der dazu Veranlassung gab, sondern eine schärfere Tonart begann
24257 Platz zu greifen, die leicht zu Konflikten führte. Und dies kam
24258 daher, daß die auf der Erde angestellten Nume eine starke Partei
24259 auf dem Mars hinter sich wußten. Die Antibaten, welche auf ein
24260 härteres und entschiedeneres Vorgehen gegen die Menschen als eine
24261 untergeordnete und nur durch Gewalt zu zügelnde Rasse drangen,
24262 hatten im Parlament wie im Zentralrat an Einfluß gewonnen. Ells
24263 Tätigkeit bot ihnen einen willkommenen Angriffspunkt, auf den sie
24264 zunächst ihre Kräfte richteten. Die Strenge, mit welcher Ell jedem
24265 Übergriff der Instruktoren und Beamten entgegentrat, wurde in der
24266 Presse in übertriebener Weise erörtert und als eine
24267 Voreingenommenheit für die Menschen hingestellt und getadelt. Die
24268 Absetzung von Oß, die sofort nach der vom Wiener Unterkultor
24269 vorgenommenen Untersuchung verfügt worden war, wurde besonders
24270 aufgebauscht, da Oß eine angesehene und als Techniker um den Staat
24271 verdiente Persönlichkeit war. Schon daß sich Saltner durch die
24272 Flucht auf die Berge der Strafe entzogen hatte, war als ein Zeichen
24273 von Nachlässigkeit gedeutet und Ell zum Vorwurf gemacht worden.
24274 Unter diesem Druck, auf den Ell nicht Rücksicht nehmen wollte,
24275 hatte der italienische Kultor das Kriegsschiff zur Verfügung
24276 gestellt, um Saltner aufzusuchen.
24278 Die gegen die Menschen gerichtete Strömung auf dem Mars war ja
24279 nichts Neues. Ell hatte stets mit ihr rechnen müssen, und er hatte
24280 ihr Anwachsen mit Besorgnis verfolgt. Doch vertraute er fest auf
24281 die Macht der Vernunft in den Numen und die Reinheit seiner eigenen
24282 Absichten, und in diesem Glauben hatte ihn Isma aus innerstem
24283 Herzen bestärkt. Jetzt aber begannen die direkten Angriffe auf ihn
24284 offener hervorzutreten, und er hatte zu seinen übrigen Arbeiten
24285 seine Verteidigung in der Presse zu führen. Ein lebhafter Wechsel
24286 von Lichtdepeschen, die alle über den Nordpol nach dem Mars gingen,
24287 fand zwischen Berlin und Kla statt.
24289 Aber ganz ohne Einfluß auf Ell war dieser vom Mars, das heißt von
24290 einem Teil seiner Bevölkerung ausgeübte Druck doch nicht geblieben.
24291 Er sah sich veranlaßt, die ihm zu Gebote stehenden Machtmittel
24292 rücksichtsloser zu gebrauchen, und je mehr ihn das Mißverständnis
24293 und der Tadel seiner Handlungen verdroß, um so mehr gewöhnte er
24294 sich, auf seine eigenen Entscheidungen und Entschlüsse zu vertrauen
24295 und jede anderweitige Beratung abzulehnen. Mit Erschrecken sagte er
24296 sich zuweilen im stillen, daß die Furcht, er werde dahin kommen,
24297 sein Kultoramt in autokratischer Weise zu handhaben, nicht
24298 unberechtigt sei. Und immer wieder nahm er sich vor, unter keinen
24299 Umständen sich dazu drängen zu lassen, als Selbstherrscher zu
24300 verfahren oder den antibatischen Forderungen nachzugeben.
24302 Der einflußreichste Teil der Martier ging ja, wie bei der
24303 Besitznahme, so auch bei der Behandlung der Erde von rein idealem
24304 Gesichtspunkt aus. Die Kultur des Mars, den Geist der Numenheit auf
24305 der Erde zu verbreiten, war ihr Ziel; eine Beherrschung der
24306 Menschheit, soweit sie notwendig schien, nur ein vorübergehendes
24307 Mittel, eine Art notwendigen Übels. Aber gerade hier verstimmte es
24308 vielfach, daß die Menschen im großen und ganzen so wenig
24309 Entgegenkommen und Verständnis für das zeigten, was die Martier
24310 ihnen bringen wollten. Man erkannte wohl Ells Tätigkeit in gewisser
24311 Hinsicht an, aber man hielt seinen Weg doch für etwas umständlich.
24312 Die Hebung der Bildung konnte natürlich nur allmählich geschehen,
24313 und sie war die notwendige Vorbedingung für das Gelingen des
24314 zivilisatorischen Werkes, das die Nume an der Erde ausführen
24315 wollten. Aber man meinte, daß eine entschiedenere Wegräumung der
24316 Hindernisse hinzukommen müsse. Ein solches Hindernis sah man in
24317 Deutschland noch immer vor allem in der politischen Übermacht der
24318 reaktionären Parteien. Man verlangte einen entschiedenen Bruch mit
24319 den oligarchischen Traditionen, die sich von dem Gedanken einer
24320 bevorzugten und herrschenden Klasse nicht trennen konnten. Man
24321 wünschte hier ein entschiedenes Vorgehen, das aber wieder ohne
24322 Anwendung von Gewaltmaßregeln, die Ell verhüten wollte, nicht
24323 möglich gewesen wäre.
24325 Ein weiterer Grund zur Unzufriedenheit, der sich allerdings gegen
24326 die Regierung der Zentralstaaten selbst und gegen Ill als den
24327 Protektor der Erde wendete, war die bisherige Beschränkung der
24328 Kulturtätigkeit auf die westeuropäischen Staaten. Man verlangte die
24329 effektive Ausdehnung des Protektorats auf die ganze Erde, vor allem
24330 die Einbeziehung Rußlands und der Vereinigten Staaten von
24331 Nordamerika. Ill sah voraus, daß dies zu neuen schweren Kämpfen
24332 geführt hätte; er hoffte, sie zu vermeiden, wenn man es der Zeit
24333 überließ, von selbst den Einfluß zu gewinnen, der bei der
24334 kulturellen Überlegenheit der Martier auf die Dauer nicht
24335 ausbleiben konnte. Aber diese weise Zögerung hatte doch zur Folge,
24336 ungeduldigere Köpfe der antibatischen Strömung zuzuführen. Ihre
24337 hauptsächliche Kraft indessen zog die Partei der Antibaten aus dem
24338 Teil der Bevölkerung, in welchem die idealen Kulturziele von
24339 eigennützigen Absichten getrübt waren. Zwar hatte man auf dem Mars
24340 geglaubt, für immer der Gefahr enthoben zu sein, daß der reine
24341 Wille der Vernunft zum Guten in Kampf geraten könne mit
24342 selbstischen Interessen, mit dem Bestreben, wenn auch nicht für den
24343 einzelnen, so doch für den Staat, Vorteile auf Kosten der
24344 Gerechtigkeit gegen alles Lebendige zu gewinnen. Aber sobald mit
24345 der Erschließung der Erde das Gefühl der Macht und die Möglichkeit
24346 sich eingestellt hatte, Wesen, die man nicht für seinesgleichen
24347 hielt, auszubeuten, erhoben sich in den weniger hochstehenden
24348 Elementen der Bevölkerung, an denen es nicht fehlte, wieder jene
24349 niederen Instinkte eines unter dem schönen Namen des Patriotismus
24350 sich verbergenden Egoismus. Man erklärte es für eine nationale
24351 Pflicht des Martiers, von der Erde alles zu gewinnen, was das
24352 wirtschaftliche Interesse des Mars irgend daraus ziehen konnte. Mit
24353 einem Worte, was man wollte, war nichts anderes als die Erhöhung
24354 der Revenuen des Mars, aber nicht bloß durch den berechtigten
24355 Handelsverkehr, sondern durch die direkte Arbeit der Menschen für
24356 die Martier. Zwar hatte man schon bedeutende Energiemengen von der
24357 Erde bezogen durch Anlegung von Strahlungsfeldern in Tibet, in
24358 Arabien und in den äquatorialen Gegenden von Afrika. Aber diese
24359 wurden von martischen Gesellschaften auf ihre Kosten, obwohl mit
24360 hohem Gewinn, betrieben. Man wollte jedoch von Staats wegen zur
24361 Erhöhung der Privatrente aller Bürger eine Besteuerung der
24362 Menschen, um diese zu größerer Arbeit im Sinne der Martier zu
24363 zwingen. Man führte aus, daß die Menschen bei ihrer natürlichen
24364 Indolenz nur dann dazu gebracht werden könnten, sich die Technik
24365 der Martier und damit ihre Kultur anzueignen, wenn man sie durch
24366 eine hohe Steuer veranlasse, die von der Sonne ihnen zuströmende
24367 Energie unter Anleitung der Martier auch wirklich auszunutzen.
24369 Auf Grund dieser populären Erwägung wollte jetzt die
24370 Antibatenpartei ihren ersten größeren Schlag führen. Er sollte, wie
24371 sich wenigstens die Entschiedenen sagten, nur die Vorbereitung
24372 sein, um die den Menschen zugesprochenen Rechte sittlicher
24373 Persönlichkeiten überhaupt in Zweifel zu stellen und schließlich
24374 aufzuheben. Die Erde sollte zu einer Werkstatt für die Erhaltung
24375 des Mars durch eine Riesenrente erniedrigt werden. Diese letzten
24376 Gesichtspunkte wurden zwar noch verschleiert, aber die Gegner
24377 enthüllten sie in ihrer ganzen Unsittlichkeit und Torheit, ohne
24378 doch die Anhänger einer Besteuerung der Menschen überzeugen zu
24379 können, welche schiefe Bahn sie zu beschreiten im Begriff waren.
24381 Gestern hatte Ell die Nachricht erhalten, daß der Antrag
24382 eingebracht worden war – und nicht ohne Aussicht auf Annahme –, für
24383 die westeuropäischen Staaten eine vorläufige Jahressteuer von 5.000
24384 Millionen Mark anzusetzen, indem man anführte, daß die Hälfte davon
24385 bereits durch die Verminderung der Militärlasten gedeckt sei.
24386 Außerdem sollten von nun ab die Menschen die Kosten der martischen
24387 Verwaltung selbst tragen, was man in Rücksicht auf die zu zahlenden
24388 Schulgelder auf ebensoviel veranschlagen mußte.
24390 Ell sagte sich, daß eine solche Maßregel, wenn sie sich
24391 verwirklichen sollte, ihm die Fortführung seines Amtes unmöglich
24392 machen würde. Sein ganzes Streben war auf die Versöhnung, auf die
24393 freiwillige Anpassung der Menschen an die Kulturwelt des Mars
24394 gerichtet. Der Aufruf zur Begründung eines allgemeinen
24395 Menschenbundes, der zwar die Befreiung der Erde von der Herrschaft
24396 des Mars anstrebte, aber durch ein Mittel, das zu demselben
24397 versöhnenden Ziel führen sollte, das er ersehnte, war ihm daher
24398 willkommen. Er tat nichts, um diesen Ideen und ihrer Ausbreitung
24399 entgegenzutreten. Bei der Antibatenpartei auf dem Mars wurden
24400 jedoch die Tendenzen des Menschenbundes unter ganz anderem
24401 Gesichtspunkt betrachtet. Hier wollte man ja nicht das Kulturheil
24402 der Erde, sondern ihre Ausnutzung, und man sah daher in dem Bund
24403 eine große Gefahr, ein revolutionäres Unternehmen. Die neue
24404 Steuerlast, die man den Menschen zudachte, sollte sie belehren, daß
24405 sie auf keine freiwillige Aufgabe der Mars-Herrschaft zu rechnen
24406 hätten. Siegten die Antibaten mit ihrem Vorhaben, so mußte dies auf
24407 der Erde erneute Erbitterung hervorrufen und die Menschen über die
24408 Absichten der Nume enttäuschen. Es würde also der von Ell
24409 angestrebten Versöhnung entgegengewirkt werden, und seine eigene
24410 Arbeit wäre nicht nur in Frage gestellt, sondern es wäre damit auch
24411 sein vom Zentralrat gebilligter Plan gewissermaßen zurückgewiesen
24412 worden. Ell mußte sich die Frage vorlegen, ob er dann seine
24413 Tätigkeit noch für nutzbringend halten dürfte.
24415 Heute nun brachten ihm die neuen Zeitungen vom Mars ihn persönlich
24416 kränkende Nachricht. Man hatte ihm in einer Parlamentsrede seine
24417 Abstammung von den Menschen mütterlicherseits zum Vorwurf gemacht
24418 und die Regierung getadelt, daß sie einen Mann in eine so
24419 verantwortliche Stellung eingesetzt habe, dem man als Halb-Numen
24420 kein Vertrauen entgegenbringen könne.
24422 Ell ging entrüstet in seinem Zimmer auf und ab. Sollte er nicht
24423 diesen Leuten sein Amt vor die Füße werfen? Aber das hieße die
24424 Sache aufgeben, der er sein Leben gewidmet hatte. Durfte er nicht
24425 hoffen, wenn er selbst festhielt, doch seine Ansicht zum Sieg zu
24426 führen und Gutes auf der Erde zu wirken? Ja, wenn er sich nur
24427 selbst sicherer gefühlt hätte. Wenn nicht in jenem Vorwurf ein Kern
24428 von Wahrheit gelegen hätte! War nicht seine Heimat auf zwei
24429 Planeten, und hatte er die Kraft gehabt, im entscheidenden Moment
24430 allein der Stimme der Numenheit zu folgen, die ihn hieß, nichts
24431 anderes im Auge zu haben, als die große Aufgabe, das Verständnis
24432 der Planeten anzubahnen? Hatte er nicht als ein schwacher Mensch
24433 geschwankt in seiner Pflicht, ganz sich selbst zu vergessen um des
24434 Ganzen willen, hatte er nicht seiner Neigung Gehör gegeben und der
24435 Freundin zuliebe die Erde verlassen, wo er hätte wirken sollen?
24436 Gewiß, es war nicht seine Absicht gewesen, sich dieser Pflicht zu
24437 entziehen, äußere Umstände hatten ihn verhindert, rechtzeitig zu
24438 ihr zurückzukehren. Aber eben diesen Umständen durfte er keinen
24439 Spielraum des Zufalls gestatten, er hätte sich der Gefahr nicht
24440 aussetzen dürfen, die Pflicht zu versäumen. Das war seine Schuld.
24441 Er hatte eine Schuld auf sich geladen. Durfte er dann noch sich als
24442 den Mann betrachten, der hoch genug stand, um die Kultur zweier
24443 Planeten zu vermitteln? Durfte er sich die Kraft zutrauen,
24444 gegenüber den Angriffen von beiden Seiten die Verantwortung zu
24445 tragen und die Machtfülle nicht durch menschliche Leidenschaften zu
24446 entstellen?
24448 In solchen Gedanken wandelte sich seine Entrüstung in ernste
24449 Selbstprüfung, und immer wieder erwog er die Frage, ob er der
24450 Sache, die er durchzufechten entschlossen war, auch wohl an diesem
24451 Platz noch die rechten Dienste zu erweisen vermöge.
24453 Da wurde ihm der Unterkultor von Wien gemeldet.
24455 Als das Luftschiff Las, von dem Kriegsschiff verfolgt, den Blicken
24456 der Martier entschwunden war, hatte sich der Beamte sofort auf den
24457 Weg nach Berlin gemacht. Drei Stunden später war er dort angelangt.
24458 Er wurde sogleich vorgelassen. Empört beklagte er sich über die
24459 Behandlung, die sich Saltner gegen ihn herausgenommen, und
24460 verlangte die volle Strenge des Gesetzes gegen den Frevler, an
24461 dessen Ergreifung er nicht zweifelte.
24463 Ell glaubte seinen Ohren nicht trauen zu dürfen, so überraschte ihn
24464 das, was er hören mußte.
24466 „La?“ fragte er. „Sind Sie auch sicher, La, die Tochter von Fru,
24467 des technischen Direktors im Ministerium für Raumschiffahrt? Sie
24468 hat Saltner in aller Form für ihren Gemahl, nach dem Rechte des Nu,
24469 erklärt und ihn in ihrem Luftschiff entführt?“
24471 „Es ist kein Zweifel, die Papiere waren in Ordnung, der Beweis –
24472 wie ich ihnen sagte. Und dieser Bat wagte es, mich anzufassen, mich
24473 mit Gewalt ins Schiff hinabzuziehen, mich auszusetzen und mir
24474 höhnische Worte nachzurufen. Aber Sie werden –“
24476 „Ich werde dem Gesetz gemäß verfahren. Ich bedaure tief dieses
24477 Ereignis. Entschuldigen Sie mich jetzt, aber halten Sie sich,
24478 bitte, in der Nähe, daß ich Sie eventuell noch einmal sprechen
24479 kann, ehe Sie nach Wien zurückkehren. Ich danke Ihnen für Ihren
24480 Bericht, Sie haben Ihrerseits korrekt gehandelt, Sie konnten nicht
24481 wissen, daß das Luftschiff Freunde und Helfer Saltners barg. Sorgen
24482 Sie dafür, daß eine etwaige Nachricht von dem verfolgenden Schiff
24483 mir sogleich mitgeteilt wird.“
24485 Der Beamte hatte noch nicht die Tür erreicht, als das Signal am
24486 Depeschentisch erklang und zwei Telegramme, die mit eilig
24487 bezeichnet waren, sich auf die Platte desselben schoben.
24489 Ell riß das erste auf und rief sogleich den Unterkultor zurück.
24491 „Aus Lyon, vom Kommandanten des Kriegsschiffs“, sagte er. „Die
24492 Luftyacht ›La‹, mit unerreichbarer Geschwindigkeit fliegend, ist in
24493 einer unübersehbaren Wolkendecke verschwunden und konnte nicht mehr
24494 aufgefunden werden.“
24496 Der Beamte stand starr.
24498 „Ihrer Rückkehr nach Wien steht nun vorläufig nichts entgegen“,
24499 sagte Ell. „Das weitere werde ich veranlassen. Leben Sie wohl.“
24501 Sobald Ell allein war, ließ er sich auf seinen Stuhl sinken und
24502 stützte die Hände in den Kopf.
24504 Das hatte La getan! Er konnte es nicht begreifen. Um Saltners
24505 willen! Er sah sie vor sich, wie sie damals, als er auf dem Nu mit
24506 ihm stritt, Saltners mannhaftes Eintreten für das Vaterland mit
24507 einem Kuß belohnte, und eine Regung von Neid stieg in ihm auf, die
24508 er gewaltsam zurückdrängte. Mochte sie! Der Vorgang hatte für ihn
24509 eine ganz andere Bedeutung. Das war offne Auflehnung gegen die
24510 Herrschaft der Nume auf der Erde. Was Saltner getan hatte,
24511 freilich, das sah ihm ganz ähnlich, das mochte er selbst
24512 verantworten, ja er konnte es ihm nicht einmal verdenken. Und er
24513 hätte es ihm herzlich gegönnt, daß ihm die Flucht glücke. Gegen ihn
24514 einschreiten zu müssen, war ihm ein peinlicher Gedanke. Ja, wenn es
24515 Saltner aus eigner Kraft gelungen wäre, sich der Verfolgung zu
24516 entziehen! Aber daß es durch Las Hilfe geschehen mußte! Daß sie
24517 sich dazu hergab, den Schuldigen der Macht des Gesetzes zu
24518 entreißen! Wie konnte sie das vor sich selbst verantworten? Mag
24519 sein, daß sie sich keines ungesetzlichen Mittels bedient hatte, mag
24520 sein, daß sie glaubte, in gutem Recht bei ihrer Selbsthilfe zu
24521 handeln. Aber die Beihilfe zur Flucht war doch ein Faktum, das
24522 blieb. Und diesen Mann band sie in aller Form an sich – La, die
24523 Tochter Frus –, was mußte das wieder auf dem Mars für Aufsehen
24524 erregen! Daraus würden die Gegner Kapital schlagen. Schließlich
24525 würde man natürlich Ell verantwortlich machen, daß der Geist der
24526 Widersetzlichkeit nicht nur bei den Menschen geduldet werde,
24527 sondern sich durch die Berührung mit ihnen sogar auf die Nume
24528 fortpflanze. Und was würde La tun? Wohin wollte sie sich flüchten?
24529 Wenn sie nach dem Mars ging oder nach fremden Teilen der Erde,
24530 welch schwierige Auseinandersetzungen, Verhandlungen, neue
24531 Angriffspunkte ergaben sich da?
24533 Gab es denn heute keine Ruhe für ihn? Er mußte sie suchen. Wo? Zu
24534 Isma! Er wollte zu Isma. Er erhob sich. Da fiel sein Blick auf das
24535 zweite Telegramm. Mochte es liegen bleiben! Doch nein, das ging
24536 nicht, vielleicht war es doch wichtig. Er brach es auf. Oh, wie
24537 lang!
24539 „Kalkutta. \ldots{} Der Kommissar der Marsstaaten hat die Ehre zu
24540 melden, daß es geglückt ist, unzweifelhafte Spuren des gesuchten
24541 Hugo Torm aufzufinden und daß die Beweise vorliegen. Torm war der
24542 Fremde, der wiederholt in den Verhandlungen mit Tibet erwähnt wurde
24543 und sich längere Zeit in Lhasa aufgehalten hat. Es sind Leute
24544 ermittelt worden, die mit ihm die Reise nach Kalkutta gemacht haben
24545 und sich im Besitz von Gegenständen befinden, die sie von Torm
24546 erhielten. Hier konnte festgestellt werden, daß Torm am 18. oder
24547 19. August das Post-Luftschiff nach London benutzt hat. Sein
24548 gegenwärtiger Aufenthalt konnte hier nicht ermittelt werden.“
24550 Ell sank auf seinen Platz zurück.
24552 Torm lebte! Daran war nun kein Zweifel mehr möglich.
24554 Ell fühlte, wie sich ihm das Blut in den Kopf drängte, wie seine
24555 Gedanken sich verwirrten – –. Und jetzt brauchte er Klarheit,
24556 volle, nüchterne Klarheit!
24558 Warum freute er sich denn nicht? Er mußte sich doch freuen, daß der
24559 bewährte Freund, der verdiente Forscher, der Mensch überhaupt
24560 gerettet war, und vor allem, daß – –
24562 Ja, er wollte ja zu Isma. Er wollte bei ihr Ruhe suchen und Trost.
24563 Jetzt konnte er sie ihr bringen. Jetzt konnte er ihre Hände fassen
24564 und ihr sagen: „Freue dich, Isma, er lebt!“ Und er sah, wie sie die
24565 Augen aufschlug und ihn ungläubig ansah und er wieder sagte: „Er
24566 lebt“, und wie die blauen Augen sich mit Tränen füllten und sie
24567 aufschrie: „Er lebt!“, und wie sie an seine Brust sank und den Kopf
24568 an seine Schulter lehnte und schluchzte: „O mein Freund, mein
24569 Freund! Ich bin so glücklich!“ Und es war ihm, als müßte er sie von
24570 sich stoßen, und doch war es solche Seligkeit, sie an sich zu
24571 pressen und die Lippen auf ihr Haar zu drücken, und zu sehen, wie
24572 dies geliebte Wesen sich nicht zu fassen wußte im unerhofften Glück
24573 – –. Warum freute er sich denn nicht? Warum zögerte er auch nur
24574 einen Augenblick? Also vorwärts!
24576 Er stand wohl auf, er schritt auf und ab, er blieb vor dem Telephon
24577 stehen, aber er konnte sich nicht entschließen, nach dem Wagen zu
24578 rufen. Nein, er konnte sich nicht freuen, er wollte nicht! Das
24579 Glück war ihm so nahe, die erträumte Zukunft so schön – und es
24580 sollte nicht sein? Aber was war denn geschehen? Würde es nicht so
24581 sein, wie es immer gewesen war? Würde sie ihn weniger lieb haben?
24582 Würde er sie nicht sehen, so oft er wollte? Hatte er sie je anders
24583 begehrt? Wußte er nicht seit Jahren, daß sie ihm nie anders gehören
24584 würde, und war er nicht glücklich gewesen trotz alledem mit der
24585 treuen Freundin?
24587 Doch, es war anders, es war eben nicht mehr so wie früher. Er wußte
24588 es, sie selbst hatte sich frei gefühlt, sie hatte sich mit dem
24589 Gedanken vertraut gemacht, daß sie den Gatten nie wiedersehen
24590 würde, sie hatte den Schmerz durchlebt und langsam sich gewöhnt, an
24591 den Verschollenen zu denken als an einen Verlorenen. Und wenn sie
24592 je die Zukunft erwog, so sah sie einen andern neben sich. Und er,
24593 Ell, er glaubte nur zu sicher zu wissen, daß diese Zukunft ihm
24594 gehörte, zu fest hatte sich die Hoffnung in ihm gegründet, daß er
24595 sie nun bald sein nennen würde in einem andern Sinne, ganz sein. Er
24596 mochte das namenlose Glück nicht ausdenken, nur das wußte er, wie
24597 viel leichter er dann die Schwere seines Ringens und Kämpfens
24598 ertragen würde. – – Ja, es war anders geworden, er sah schon lange
24599 nicht mehr in ihr die Freundin, der er geschworen hatte zu dienen
24600 ohne Verlangen. In verzehrenden Flammen loderte in ihm die
24601 Leidenschaft, sie zu besitzen! Sie wieder zurückkehren zu sehen in
24602 die Arme eines andern – nein, es war nicht mehr möglich. Es konnte
24603 nicht mehr so sein, nimmermehr konnte er neben ihr hergehen in
24604 ehrlicher Entsagung. Wenn er jetzt die Geliebte verlor, so verlor
24605 er auch die Freundin, so hatte er sie ganz und auf immer verloren
24606 –. Dann mußte er fort, er durfte sie nicht mehr sehen – sie war ihm
24607 verloren – verloren – –
24609 Und das sollte er ertragen? Und das sollte er dulden? Und dabei
24610 wissen, daß sie ihn liebte? Wo war denn der Mann? Er war ja nicht
24611 da. Zurückgekehrt, ein Totgeglaubter, und der erste Schritt war
24612 nicht zu seiner Frau? Warum kam er nicht und nahm sein Recht in
24613 Besitz? Warum verbarg er sich? Kam er vielleicht doch niemals
24614 wieder? Und wäre dieser Kampf mit sich selbst und der Sturm, den
24615 die Nachricht in Ismas Herzen erregte, wären sie unnütz, zwecklos?
24616 Doch nein, die Nachricht war zu sicher. Aus einem Postluftschiff
24617 der Martier steigt man an einer Station aus, aber man verunglückt
24618 nicht. Und wenn man in einem der zivilisierten Staaten ausgestiegen
24619 ist, so verschwindet man nicht spurlos, wenn man nicht will, wenn
24620 man nicht gute Gründe dazu hat. Warum also verbirgt sich Torm? Nur
24621 in seinem Gewissen muß der Grund liegen, er muß etwas getan haben,
24622 das ihn zur Flucht vor der Welt veranlaßt. Aber warum auch vor
24623 Isma? Also auch vor ihr muß er sich scheuen? Er will vielleicht gar
24624 nicht zu ihr? Offenbar, er will nicht! Und vor diesem Mann, der
24625 vielleicht Ismas nicht mehr würdig ist, der sich vor ihr verbirgt,
24626 sollte er, Ell, das Feld räumen? Wenn Torm sich gegen die Nume
24627 vergangen hatte, so war es Ells Pflicht, dies zu sühnen. Welche
24628 Rücksicht sollte er nehmen, wenn Torm selbst seine Rechte aufgab
24629 oder das Recht der Nume sie ihm absprach? Und deshalb sollte Ell
24630 den grausamen Verzicht auf sich nehmen, der ihm das Liebste, das
24631 Teuerste entriß, der ihm die Wurzel im innersten Gemüt zerstörte,
24632 aus dem seine Energie, sein Mut, sein Vertrauen, die ganze große
24633 Aufgabe seines Lebens die besten Kräfte zog?
24635 Ell ballte die Faust. „Hab ich mein Sein hingegeben für die Sache,
24636 so will ich auch mein Glück mir erobern! Wo ist er, dem ich sie
24637 geben soll, die ich mir verdient habe, die mir gehört? Wo ist er?
24638 Verschwunden –, nun gut – er bleibe verschwunden!“
24640 Er sank in seinen Stuhl zurück und verfiel in dumpfes Brüten. Tiefe
24641 Stille herrschte in dem weiten Raum, nur von Zeit zu Zeit entrang
24642 sich seiner Brust ein Seufzer, ohne daß er darum wußte. Und er
24643 wußte nicht, daß die Zeit verging, daß das Dunkel des Abends sich
24644 über die Stadt gelegt hatte – –
24646 Und wenn Torm doch kam? Ja, verhindern konnte er es wohl, aber mit
24647 diesem Wissen vor Isma treten – das konnte er nicht. Und sie sein
24648 nennen um den Preis einer Schuld – das konnte er nicht, das war ja
24649 unmöglich. Und wer weiß – er hatte Isma mehrere Tage nicht gesehen
24650 –, wenn – wenn Torm schon gekommen wäre? Er fuhr in die Höhe, von
24651 einem plötzlichen Schrecken aufgejagt. Wenn sie bei ihm wäre, und
24652 ihm nichts davon gesagt hätte, wenn – –
24654 Jetzt bemerkte er, daß es dunkel war. Ein Handgriff schaltete das
24655 Licht ein. Dann stand er vor dem Telephon.
24657 Wie es auch werden mochte, verbergen durfte er ihr nichts! Er
24658 fragte an, ob Isma zu Hause wäre. Sie war da. Sie freue sich sehr,
24659 ihn bald zu sehen.
24661 Wenige Minuten später saß Ell in seinem Wagen. Er ließ so schnell
24662 fahren, als es der Straßenverkehr ermöglichte, aber der Weg war
24663 weit. Er sah es jetzt ein, er durfte ihr die Nachricht nicht
24664 vorenthalten. Wenn Torm nicht zu ihr zurückkehrte, so mußte sie
24665 trotzdem wissen, daß er hätte zurückkehren können.
24667 Aber wie würde dies auf sie wirken? Nun sorgte er sich wieder um
24668 die Freundin. Doch er hatte sich einmal angemeldet –. Er wollte sie
24669 sprechen, er konnte ja vorsichtig sein, die neue Hoffnung für sie
24670 nur andeuten – –
24672 Der Wagen hielt, diesmal direkt vor der Tür. Ell eilte die Treppen
24673 hinauf. Die Wirtin öffnete. Ell wollte mit flüchtigem Gruß an ihr
24674 vorüber.
24676 „Der Herr Kultor werden verzeihen“, sagte sie verlegen. „Frau Torm
24677 sind nicht zu Hause.“
24679 Ell prallte zurück. „Nicht zu Hause? Aber ich habe ja vor einer
24680 halben Stunde mich angemeldet.“
24682 „Ja, Frau Torm haben es mir auch gesagt, wir waren gerade bei
24683 Tisch, aber dann – dann –“
24685 „Was war dann?“ fragte Ell ungeduldig und hart.
24687 „Der Herr Kultor mögen verzeihen, ich weiß es ja nicht –. Es kamen
24688 die beiden Damen wieder –“
24690 „Welche Damen?“
24692 „Nun die Damen vom Mars, die gestern schon hier waren und die
24693 Partie gemacht haben mit Frau Torm.“
24695 „Welche Damen? Welche Partie? Sagen Sie alles!“
24697 „Um Gottes willen, ich weiß ja nichts weiter, sie waren drin im
24698 Zimmer, nur kurze Zeit, und auf einmal kam Frau Torm herausgestürzt
24699 im Mantel und Hut, ganz eilig, und rief nur ›Ich muß fort‹, und die
24700 beiden Damen gingen mit ihr, ich weiß ja nicht wohin. Und ich
24701 wollte noch fragen, was ich denn nun sagen sollte, wenn der Herr
24702 Kultor kämen, aber weil die beiden fremden Damen vom Mars dabei
24703 waren, getraute ich mich nicht. Und ich bin noch die Treppe
24704 hinuntergelaufen und habe gesehen, es stand ein Wagen vor der Tür,
24705 in dem fuhren sie alle drei fort –“
24707 „Wie lange ist das her?“
24709 „Noch keine zehn Minuten.“
24711 „Führen Sie mich ins Zimmer, ich werde warten.“
24713 „Ach, entschuldigen Sie nur, Herr Kultor, das habe ich noch ganz
24714 vergessen, Frau Torm hat mir zugerufen, sie käme die Nacht nicht
24715 zurück.“
24717 „So will ich doch nachsehen, ob sie nicht eine Nachricht für mich
24718 hinterlassen hat.“
24720 Ell sah sich vergeblich im Zimmer um. Kein Zeichen für ihn. Isma
24721 hatte offenbar ganz vergessen, daß sie ihn erwartete. Er ging.
24723 Er wußte nicht, was er denken sollte. Mit Torm mußte dieser
24724 plötzliche Aufbruch zusammenhängen, das war das einzige, was er
24725 sich sagte, aber weiter kam er nicht. Und so konnte sie ihn
24726 verlassen, ohne auch nur mit einem Wort seiner zu gedenken? Und die
24727 Damen vom Nu?
24729 Völlig niedergeschlagen kam er zu Hause an. Neue Depeschen waren
24730 eingetroffen. Er las sie durch – von Isma war nichts darunter. Er
24731 fühlte sich nicht imstande, zu arbeiten.
24733 Ein Gedanke drängte sich ihm immer wieder vor: Verloren! Verloren!
24734 Das hatte er um sie verdient?
24736 Es war zehn Uhr geworden. Da klang es noch einmal am
24737 Depeschentisch. Die tiefe Glocke. Das war etwas Besonderes, eine
24738 Lichtdepesche vom Mars.
24740 Er öffnete das Stenogramm und sah nach der Unterschrift: „Für den
24741 Zentralrat, der Präsident der Marsstaaten.“
24743 „Ich habe die Ehre, Ihnen mitzuteilen, daß der Zentralrat Ihnen
24744 seine ernste Mißbilligung aussprechen muß über die Nachsicht, mit
24745 welcher im deutschen Sprachgebiet die Übergriffe der Menschen gegen
24746 unsre Beamten behandelt werden. Der Zentralrat erwartet von Ihnen
24747 sofortige entschiedene Maßregeln, wodurch den Menschen begreiflich
24748 gemacht wird, daß sie der Herrschaft der Nume sich unter allen
24749 Umständen ohne Widersetzlichkeit zu beugen haben. Zugleich mögen
24750 Sie Vorbereitungen treffen, daß die nach dem nächstens zu
24751 veröffentlichenden Gesetz auf das deutsche Sprachgebiet fallende
24752 Kontribution von einer Milliarde Mark rechtzeitig erhoben werden
24753 kann.“
24755 Ell schleuderte das Blatt auf den Tisch.
24757 „Das bedeutet den Sieg der Antibaten!“ rief er aus.
24759 \section{58 - Lösung}
24761 Zu derselben Zeit, als Ell in seinem Wagen nicht schnell genug
24762 durch die Straßen Berlins jagen konnte, saß Torm an einem der
24763 großen Tische des Bibliothekzimmers in der Friedauer Sternwarte. Er
24764 beugte sich über seine Arbeit. Wohl zuckte es häufig in seiner
24765 Hand, die Blätter mit den langen Zahlenreihen zurückzuschieben,
24766 aber er bezwang sich; denn er wußte, daß ihn dann die bohrenden
24767 Gedanken nur noch heftiger quälten.
24769 Durfte er noch länger hier zögern? Und was sollte er tun? Grunthe
24770 hatte sich an den Protektor Ill selbst gewandt, um zu erfahren,
24771 welche Motive den neuen Nachforschungen nach Torm zugrunde lägen.
24772 Aber die Antwort war noch nicht eingetroffen. Wie die Zeitungen
24773 meldeten, hatte sich der Protektor, vom Zentralrat berufen, zu
24774 einer wichtigen Konferenz nach dem Mars begeben. Ehe er
24775 zurückkehrte, konnten, trotz der gegenwärtigen günstigen Stellung
24776 der Planeten und der neuerdings erzielten kolossalen
24777 Geschwindigkeit der Raumschiffe doch noch gegen zwei Wochen
24778 vergehen. So lange noch hier auszuhalten, erschien Torm manchmal
24779 als eine Unmöglichkeit. Und was dann, wenn die Antwort ungünstig
24780 ausfiel?
24782 Alle seine Willenskraft bot er auf, um die Sehnsucht nach Isma
24783 zurückzudrängen. Und doch grübelte er immer wieder, ob es nicht
24784 richtiger sei, ihr selbst die Entscheidung zu überlassen, sich zu
24785 ihm zu bekennen oder nicht. Doch nein, das hieße, sie zu einem
24786 verhängnisvollen Entschluß treiben. Aber er, er selbst, sollte er
24787 nicht für sich auf die Entscheidung seines Schicksals dringen,
24788 indem er Ell benachrichtigte? Er fand die Antwort nicht und
24789 versenkte sich aufs neue in seine Rechnungen.
24791 Da klang plötzlich durch die Stille des Raums aus dem Nebenzimmer,
24792 in welchem Grunthe arbeitete – die Tür war nur angelehnt –, eine
24793 helle Stimme, die Torm emporfahren machte.
24795 „Grüß Gott, Grunthe!“ erscholl es.
24797 „Saltner!“ hörte er Grunthe freudig überrascht rufen.
24799 „Ja, ich bin’s. Und ich will Sie nur ins Schiff holen, hier getraue
24800 ich mich nicht herein. Aber eins, sagen Sie gleich – ist Torm hier?
24801 Na, machen’s keine Sperenzen, ich weiß, daß er bei Ihnen logiert.
24802 Wo ist er?“
24804 „Er arbeitet in der Bibliothek.“
24806 „Dann heraus mit ihm, rufen Sie ihn. Frau Isma ist hier. Wir haben
24807 sie mitgebracht.“
24809 Da flog die Tür auf. Torm stand im Zimmer.
24811 „Wo?“ fragte er bloß. Aber er wartete keine Antwort ab. Es konnte
24812 ja nicht anders sein – sie war im Schiff, und das Schiff lag
24813 natürlich im Garten. Mit einem Satz war er an der Tür der Veranda
24814 und riß sie auf.
24816 Hier lehnte Isma am Geländer der Treppe. Pochenden Herzens wartete
24817 sie auf den Erfolg von Saltners Botschaft.
24819 Einen Moment blieb Torm stehen, als er sie erkannte, nur einen
24820 Moment. Dann hielt er sie in den Armen. Wie lange, sie wußten es
24821 nicht.
24823 „Komm herein!“ sagte er endlich. Noch vermochte er nichts anderes
24824 zu sprechen. Er trug sie fast in das Zimmer. Es war leer. Grunthe
24825 und Saltner hatten es durch eine andere Tür verlassen.
24827 Sie hielten sich an den Händen und blickten sich an. Isma zitterte.
24828 Die Tränen drängten sich in ihre Augen. Das war er! Der von ihr
24829 geschieden war in der blühendsten Kraft des Mannes, hoffnungsfroh
24830 und siegesgewiß – das Haar war ergraut, tiefe Falten hatten
24831 Anstrengung und Sorge in seine Stirn gegraben –, sie hätte Mühe
24832 gehabt, ihn wiederzuerkennen – aber die blauen Augen strahlten ihr
24833 in der alten Innigkeit entgegen.
24835 Sie schluchzte. „Ich habe dich wieder!“
24837 Wieder warf sie ihre Arme um seinen Hals, er aber löste sich sanft
24838 und sah sie nun an mit einem ernsten Blick voll Kummer und Liebe.
24840 „Isma“, sagte er langsam, „du weißt nicht, wen du umarmst.“
24842 „Ich weiß es, Hugo, ich weiß es! Die Freunde, die treuen, die mich
24843 hierherbrachten, haben es mir gesagt. Ich weiß, warum du
24844 fernbliebst, warum du nicht zu mir eiltest. Es war nicht recht,
24845 doch ich versteh’ es – ich aber gehöre zu dir, drum bin ich hier
24846 –“
24848 „Über mir schwebt das Gericht und die Not, die Schande, die den
24849 Frevler am Gesetz trifft. Du weißt nicht alles – ich brach das
24850 Vertrauen der Nume am Pol, ich nahm von ihrem Gut, ich floh mit
24851 Gewalttat und stieß den Wächter hinab ins Schiff -- ich bin ein
24852 Geächteter, solange die Nume herrschen. -- An dich aber hab ich kein
24853 Recht, du stehst im Schutze des Nu, du bist frei. -- Warum kommst du,
24854 mich in die furchtbare Qual zu stürzen, wieder von dir fliehen zu
24855 müssen, nachdem ich dich gesehen – oh, es ist furchtbar!“
24857 „Nein, nein“, rief sie, aufs neue sich an ihn schmiegend. „Ich
24858 lasse dich nicht von mir, jetzt nicht wieder, und es ist nicht
24859 furchtbar. Was du auch getan, du tatest es, um zu mir zu kommen,
24860 nun trag ich mit dir, was geschehen soll. Aber du brauchst nichts
24861 zu fürchten. Unsere Freunde führen uns, wohin der Arm der Nume
24862 nicht reicht.“
24864 Er schüttelte den Kopf. „Das geht nicht“, sagte er finster. „Ich
24865 nehme keine Gnade an von denen, die ich als Feinde der Menschheit
24866 betrachte, von den Vernichtern meines Glücks – das geht nicht!“
24868 „Oh, wie kannst du so sprechen! Saltner ist in derselben Lage, er
24869 hat nicht gezögert, Las Hilfe anzunehmen, er hat sie zur Frau
24870 genommen nach den Gesetzen des Nu –“
24872 „Dann kann er es tun, weil er sie liebt. Ich aber hasse diese Nume.
24873 Und wir beide sind geschieden nach dem Gesetz des Nu –“
24875 „Geschieden, wir? Wer hat das bestimmt? Dieses Gesetz ist nichts
24876 ohne unsern Willen. Es schützt unsern Willen gegen fremden
24877 Eingriff, aber gegen unsern Willen kann es weder fesseln noch
24878 scheiden. Und ich habe niemals und werde niemals – o Hugo, wie
24879 kannst du glauben, ich würde dich verlassen, ich, die ich selbst
24880 die Schuld trage unsrer Trennung – hier stand ich, an dieser
24881 Stelle, da beschwor ich Ell, mich mitzunehmen nach dem Nordpol,
24882 denn binnen Tagesfrist gedacht ich dich zu finden, und es wurden
24883 zwei Jahre – nicht durch meine Schuld –“
24885 „Erinnere mich nicht an ihn“, unterbrach er sie hart. „Diese zwei
24886 Jahre – oh! Als ich zurückkam und umkehrte vor deiner Tür, da trat
24887 er heraus –“
24889 „Hugo“, sagte sie flehend, „das Leid hat dich verbittert, sonst
24890 würdest du so nicht reden. Ja, er ist mein Freund, der treueste,
24891 beste, das weißt du, und das wird er uns immer beweisen. Eben
24892 sagtest du, ich sei frei, wo aber findest du mich? In den
24893 Prunkzimmern des Kultorpalais oder hier im Asyl des Geächteten, der
24894 mich nicht will?“
24896 Er blickte sie lange an, dann zog er sie an sich.
24898 „Verzeih mir“, sagte er, „es ist wahr, ich habe dich ja hier, du
24899 geliebte Frau. Was kümmert uns der Menschen Rede? Ich habe
24900 gelitten, und das Elend war über mir. Aber die Philister sollen
24901 nicht über uns sein. Wie wollen wir den Numen trotzen, wenn wir
24902 nicht uns selbst die Freiheit im Gefühl zu wahren wissen? Mir aber
24903 zerreißt es das Herz, daß ich dich nicht halten kann mit offnem
24904 Trotz, weil ich selbst keine Stätte mehr habe, so weit die Planeten
24905 kreisen. Denn eins will ich bewahren, den Stolz, und Rettung will
24906 ich nicht durch ihre Gnade!“
24908 Isma beugte sich zurück und sah ihm groß in die Augen.
24910 „Wenn nicht durch ihre Gnade“, sagte sie langsam, „dann gibt es nur
24911 eins: durch die Wahrheit!“
24913 Seine Augen erweiterten sich, als er erwiderte: „Wenn ich dich
24914 recht verstehe –“
24916 „Vertraue dich Ell an. Sage ihm alles und höre, was er für richtig
24917 hält. Und wenn es nötig ist, stelle dich ihrem Gericht. Ich aber
24918 werde bei dir sein.“
24920 Er zögerte. „Das heißt, ich gebe mich in seine Hand.“
24922 „Er ist edel und groß.“
24924 Torm runzelte die Stirn. Er dachte lange nach. Endlich sagte er:
24925 „Ich sehe keinen andern Ausweg. Und nun du zu mir kamst, darf ich
24926 nicht länger zögern, mein Schicksal zu entscheiden. Ich werde
24927 gehen.“
24929 Sie fiel ihm um den Hals. „Geh“, rief sie, „gehen wir, und
24930 sogleich!“
24932 „Jetzt? Auf der Stelle? Wie meinst du das? Es ist Abend – und ich,
24933 in meiner Überraschung, ich habe noch nicht einmal gefragt, wie
24934 kamst du her?“
24936 „Komm mit zu La, und du wirst alles begreifen.“
24938 Er schloß sie noch einmal in seine Arme. Dann gingen sie Hand in
24939 Hand durch das Zimmer nach der Veranda, in den Garten.
24941 Sie standen vor dem Luftschiff.
24943 „Verzeih mir“, sagte Torm zu Isma, „aber jetzt in die Gesellschaft
24944 der andern zu gehen, sie zu begrüßen, zu reden – es ist mir
24945 unmöglich – und es ist doch schon zu spät, um Ell noch zu sprechen,
24946 selbst wenn La uns wirklich so schnell und noch jetzt –“
24948 „Ich werde La rufen.“
24950 Die Beratung mit La dauerte nicht lange.
24952 „Sie, Torm“, sagte sie, „wird Ell jederzeit empfangen, und Sie
24953 haben nicht eher Ruhe, bis die Entscheidung gefallen. Für uns aber
24954 ist es erwünscht, noch heute nacht alles abzuwickeln, denn der
24955 Boden Europas brennt uns unter den Füßen, und wenn die Sonne
24956 aufgeht, möchte ich hoch über den Wolken sein. In einer halben
24957 Stunde können Sie in Ells Zimmer stehen.“
24959 „Ihr Interesse entscheidet“, sagte Torm. „Meinetwegen dürfen Sie
24960 sich nicht aufhalten. Ich bin bereit.“
24962 La führte Torm und Isma ins Schiff. Sie sahen noch, wie La mit
24963 Grunthe sprach, der das Schiff verließ. Dann blieben sie allein im
24964 kleinen Salon. Was hatten sie nicht alles sich mitzuteilen! Sie
24965 glaubten eben erst begonnen zu haben, als La eintrat und sagte:
24967 „Wir sind auf dem Vorbau des Kultorpalais, auf dem Anlegeplatz für
24968 die Luftschiffe, steigen Sie schnell aus und lassen Sie sich
24969 melden. Da Sie an dieser nur für Nume zugänglichen Tür Einlaß
24970 verlangen, wird man keine Schwierigkeiten machen. Unser Schiff
24971 finden Sie am Akazienplatz, wohin Sie eine der vor dem Palais
24972 haltenden Droschken in wenigen Minuten bringt. Und nun viel Glück
24973 auf den Weg!“
24975 Isma umarmte ihn schweigend, dann stieg Torm die Schiffstreppe
24976 hinab. Von den Türmen der Stadt schlug die elfte Stunde, als der
24977 diensttuende Bed Torm nach seinem Begehr fragte. Ein Besuch um
24978 diese Zeit mußte wohl etwas sehr Wichtiges sein, darum zögerte er
24979 nicht anzufragen, ob der Kultor noch empfange. Er arbeitete noch.
24981 Ell erbleichte, als er die Karte las.
24983 „In mein Privatzimmer“, sagte er.
24985 Die beiden Freunde standen einander gegenüber. Beide fühlten sich
24986 nicht frei. Beide hatten gegen die Macht eines Verhängnisses
24987 gekämpft, das stärker war als sie, dem sie sich nun ergeben mußten.
24988 Auch in Ells Zügen hatten Überarbeitung und Sorgen ihre Spuren
24989 zurückgelassen. Es war nur ein Moment, daß ihre Blicke aufeinander
24990 ruhten. Und jeder sah im andern ein stilles Leid, das an ihm
24991 zehrte, und die Erinnerung stieg auf an die Jahre treuer,
24992 gemeinsamer Freundesarbeit und kühner Hoffnung, und die Rührung des
24993 Wiedersehens umschleierte ihre düsteren Blicke mit milder Freude.
24994 Sie eilten aufeinander zu, und ihre Hände lagen ineinander.
24996 „Sie werden vor allen Dingen wissen wollen, wo ich war“, begann
24997 Torm endlich „ich aber komme, um von Ihnen zu hören – Sie empfangen
24998 mich als Freund, wie aber empfängt mich der Kultor – was habe ich
24999 zu erwarten?“
25001 „Ich verstehe Sie nur halb“, erwiderte Ell betroffen. „Was
25002 veranlaßt Sie zu der Frage? Sprechen Sie offen –. Kommen Sie aus
25003 Tibet über Kalkutta?“
25005 Torm zuckte zusammen. „Ach, Sie wissen? Doch nun hören Sie erst
25006 alles.“
25008 Er berichtete kurz über seine Flucht vom Pol und aus dem Luftschiff
25009 und die Ereignisse, die sich dabei zutrugen. Er verheimlichte
25010 nichts. Er erzählte, was ihn veranlaßt hatte, weder seine Frau noch
25011 Ell aufzusuchen, sondern sich in Friedau verborgen zu halten, wo Se
25012 ihn erkannt habe; daß ihn Isma infolgedessen aufgesucht hätte und
25013 er jetzt hier sei, um den Rat Ells zu vernehmen und die Folgen
25014 seiner Handlungen zu tragen.
25016 Ell hörte schweigend zu, den Kopf sinnend auf die Hand gestützt. Er
25017 unterbrach ihn mit keinem Wort, keine Miene verriet, was in ihm
25018 vorging.
25020 Das hatte er nicht gewußt. Die Tat gegen den Wächter des Schiffes
25021 war verderblich für Torm. Ell, als oberster Beamter der Nume
25022 hierselbst, mußte sie verfolgen. Der eben erhaltene Erlaß hatte ihm
25023 seine Pflicht eingeschärft. Wenn er dieser Pflicht folgte, wenn er
25024 die Mahnung des Zentralrats annahm, so war Torm verloren. Torms
25025 Schicksal war in seine Hand gelegt. Ein Druck auf diese Klingel,
25026 und er kehrte nicht mehr aus diesem Zimmer zurück, nicht mehr zu
25027 Isma – –. Und dann? Isma war frei. Aber wo war sie? Ohne ein Wort
25028 des Abschieds hatte sie ihn verlassen und war zu ihrem Mann geeilt.
25029 Ein tiefer, bitterer Schmerz gekränkter Liebe durchzuckte ihn.
25030 Durch Jahre hatte sie ihn in hoffnungsfroher Freundschaft gehalten,
25031 bis die Erwartung des nahen Glücks ihn ganz eingenommen, und jetzt
25032 – nun war er ihr nichts mehr. Das war Isma! Ja, er konnte sich
25033 rächen. Er konnte auch – –. Und durfte er denn schweigen? Durfte er
25034 Torm, nun er um sein Verbrechen wußte, unbehelligt ziehen lassen?
25035 Ihn der Gattin zurückgeben und sie in ihrem Glück schützen? Und wie
25036 dann den Gedanken an sie ertragen?
25038 Torm hatte längst geendet. Ell saß noch immer, den Kopf in die Hand
25039 gestützt, die seine Augen beschattete, ohne zu sprechen. Torm
25040 wartete geduldig, obwohl sein Herz pochte. Denn jetzt mußte sich
25041 alles entscheiden.
25043 Endlich richtete sich Ell auf und blickte Torm an. Er begann ruhig,
25044 fast gleichgültig:
25046 „Ihr Prozeß am Pol und was damit zusammenhängt, die Entwendung des
25047 Sauerstoffs – wovon übrigens nichts bekannt geworden ist –, die
25048 unerlaubte Benutzung des Luftschiffs zur Flucht – darüber können
25049 Sie beruhigt sein. Ich sehe dies als eine zusammenhängende einzige
25050 Handlung an, die unter die Friedensamnestie fällt. Sie können
25051 deswegen nicht verfolgt werden. Ich nehme es auf mich, diese Akten
25052 kassieren zu lassen. Aber das andere! Das ist traurig, das ist
25053 schwer! Wenn es zur Anzeige kommt, sind Sie verloren.“
25055 Torm sprang auf.
25057 „Sie wissen es, so bin ich verloren.“
25059 Auch Ell erhob sich. Er schritt durch das Zimmer auf und nieder,
25060 noch immer mit sich kämpfend. Dann blieb er wieder vor Torm
25061 stehen.
25063 „Wenn es zur Anzeige kommt, sage ich, und wenn Sie bei Ihrem
25064 Geständnis stehen bleiben.“
25066 „Wie kann ich anders.“
25068 „Denn es ist nichts davon bekannt geworden. Es ist etwas geschehen,
25069 was Sie nicht wissen. Das Schiff mit der gesamten Besatzung ist auf
25070 der Rückkehr bei Podgoritza durch die Albaner vernichtet worden,
25071 ehe irgendeine Nachricht von ihm zu uns gelangt ist. Niemand wurde
25072 gerettet, alle Papiere und Aufzeichnungen sind verbrannt oder
25073 verschwunden. Niemand kann beweisen, was Sie getan haben, außer
25074 Ihnen – und mir!“
25076 „O ich Tor!“ murmelte Torm; bleich und finster blickte er auf Ell.
25078 „Wollen Sie widerrufen, was Sie mir gesagt haben? Es war vielleicht
25079 nur eine poetische Ausschmückung ihres Abenteuers? Sie haben den
25080 Wächter nur leicht beiseite gedrängt?“
25082 „Ich schlug ihn vor die Stirn, ich hörte ihn mit einem Aufschrei
25083 dumpf auf die Kante der Treppe schlagen. Hätte ich gewußt, was ich
25084 jetzt weiß, ich hätte vielleicht geschwiegen. Lügen werde ich
25085 nicht. Und doch – komme, was da kommen will, es ist besser so.
25086 Gewißheit konnte ich nicht anders erlangen, als daß ich mit Ihnen
25087 sprach. Gewißheit mußte ich erlangen, und die Wahrheit mußte ich
25088 sagen, wenn ich überhaupt sprach. Und Sie müssen meine Bestrafung
25089 einleiten.“
25091 „Ich muß es, wenn –“, er unterbrach sich und ging wieder auf und
25092 ab. Dann trat er an das Fenster. Torm hörte ihn leise stöhnen. Nun
25093 wandte er sich um. Er schritt auf Torm zu. Er sah verändert aus.
25094 Aus dem geisterhaft bleichen Gesicht leuchteten seine großen Augen
25095 wie von einem überirdischen Feuer. Vor Torm blieb er stehen und
25096 faßte seine Hände.
25098 „Gehen Sie“, sagte er mit Bestimmtheit. „Gehen Sie, mein Freund,
25099 ich werde die Anzeige nicht erstatten. Was Sie gesprochen haben,
25100 der Kultor hat es nicht gehört – verstehen Sie –“
25102 Torm schüttelte den Kopf.
25104 „Sie werden es verstehen, binnen einer Stunde. Wohin gehen Sie?
25105 Nach Friedau? Sie haben nichts mehr zu befürchten. Gehen Sie –
25106 geben Sie sich zu erkennen – und seien Sie glücklich – gehen Sie
25107 –“
25109 Er drängte Torm zur Tür. Ein Diener nahm ihn in Empfang und zeigte
25110 ihm den Weg durch die Gemächer und über die Treppen.
25112 Sobald Ell allein war, sank er wie gebrochen auf einen Sessel. Er
25113 schloß die Augen und preßte die Hände vor die Stirn. Nur wenige
25114 Minuten. Dann stand er auf. Er wußte, was er wollte.
25116 Mit fester Hand setzte er zwei Depeschen auf. Die eine war in
25117 martischer Kurzschrift, sie war an den Protektor der Erde gerichtet
25118 und trug den Zusatz: Als Lichtdepesche auf den Nu nachzusenden. Die
25119 andre ging an Grunthe: Sofort zu bestellen.
25121 „Besorgen Sie dies eilends“, sagte er zu dem Diener. „Und nun
25122 wünsche ich nicht mehr gestört zu sein.“
25124 Torm fand vor der Tür des Palais bereits einen Wagen halten, und
25125 als er herantrat, winkte ihm Isma entgegen. Sie hatte keine Ruhe im
25126 Schiff gefunden und wollte ihn hier erwarten. Angstvoll blickte sie
25127 ihm entgegen.
25129 „Alles gut!“ rief er und sprang in den Wagen, der sogleich sich in
25130 Bewegung setzte.
25132 „Ich bin frei, wir sind sicher! Nun habe ich dich erst wieder!“
25134 „Gott sei bedankt“, flüsterte Isma, an seine Schulter gelehnt. „Und
25135 was sagte Ell?“
25137 „Gehen Sie nach Friedau, seien Sie glücklich!“
25139 „Sonst nichts?“
25141 „Nichts.“
25143 Nach ihr hatte er nicht gefragt, für sie hatte er keinen Gruß,
25144 keinen Glückwunsch, ihr Name war nicht über seine Lippen gekommen.
25145 So klang es schmerzlich durch ihre Seele, während Torm, immer
25146 lebhafter werdend, seine Unterredung mit Ell berichtete.
25148 Am Akazienplatz verließen sie den Wagen. Alsbald senkte sich das
25149 Luftschiff auf den menschenleeren Platz und nahm sie auf.
25151 Gegen ein Uhr nachts ließ sich das Luftschiff wieder auf seinen
25152 Ankerplatz im Garten der Sternwarte von Friedau nieder.
25154 Grunthe hatte die Rückkehr erwartet. Saltner holte ihn herbei.
25156 „Es ist zwar schon spät, aber das hilft heute nichts, und aus den
25157 Beobachtungen wird auch nichts. Eine Stunde müssen Sie uns noch
25158 schenken. Ich feiere nämlich meine Hochzeit, schauen’s, da müssen
25159 Sie schon noch einmal lustig sein. Ich habe die ganze Expedition
25160 eingeladen.“
25162 Als er in den Salon des Schiffes trat, fand er eine Tafel für sechs
25163 Personen nach Menschensitte gedeckt.
25165 „Wir sind eigentlich zwei Brautpaare“, sagte Saltner zu Grunthe.
25166 „Von Ihnen verlangen wir nicht, daß Sie das dritte abgeben, aber
25167 eine Dame haben wir doch für Sie. Meine Mutter schläft freilich,
25168 aber hier – die Se kennen’s ja, wir haben uns wieder versöhnt.“
25170 „Ausnahmsweise“, sagte Se lachend, „werde ich mich heute
25171 herablassen, mit euch fünf Menschen an einem Tisch zu essen, aber
25172 nur zu Ehren der drei Entdecker des Nordpols.“
25174 Unter lebhaftem Gespräch hatte man an der Tafel Platz genommen.
25175 Torm wandte sich zu Se und sagte, sein Glas erhebend: „Die
25176 Vertreterin der Nume gestatte mir, nach unsrer Sitte ihr zu danken.
25177 Denn ihrem Scharfblick verdanke ich das Glück dieser Stunde.“
25179 „Ich danke Ihnen“, erwiderte Se, „und ich freue mich, daß Sie nun
25180 dem Bild wieder ähnlich sehen, nach welchem ich Sie erkannte.“
25182 „Und jetzt“, rief Saltner, die Gläser neu füllend, „wie damals, als
25183 wir zuerst den Pol erblickten, bring ich wieder ein Hoch aus auf
25184 unsre gnädige Kommandantin, auf Frau Isma Torm, und diesmal stößt
25185 sie selbst mit an, und das ist das beste. Und nun, Grunthe, können
25186 Sie wieder sagen: Es lebe die Menschheit!“
25188 Grunthe erhob sich steif. Sein Unterarm streckte sich im rechten
25189 Winkel von seinem Körper aus, und seine möglichst wenig gebogenen
25190 Finger balancierten das Weinglas wie ein Lot, mit dem er eine
25191 Messung ausführen wollte.
25193 „Es lebe die Menschheit“, sagte er, „so sprach ich einst. Ich sage
25194 es jetzt deutlicher: Es lebe die Freiheit! Denn ohne diese ist sie
25195 des Lebens nicht wert. Wenn die Freiheit lebt, so ist es auch kein
25196 Widerspruch, wenn ich mich dessen freue, was meine verehrten
25197 Freunde von der Polexpedition für ihre Freiheit halten, die
25198 Vereinigung mit einem Vernunftwesen, das kein Mann ist. Um aber den
25199 abstrakten Begriff der Freiheit durch eine konkrete Persönlichkeit
25200 unsrer symbolischen Handlung zugänglich zu machen, sage ich, sie
25201 lebe, die uns die Freiheit gebracht hat. Wie sie herabstieg von dem
25202 Sitz der Nume und den Wandel seliger Götter tauschte mit dem
25203 schwanken Geschick der Menschen, nur weil sie erkannte, daß es
25204 keine höhere Würde gibt als die Treue gegen uns selbst, so zeigte
25205 sie uns, wie die Menschheit sich erheben kann über ihr Geschick,
25206 wenn sie nur sich selbst getreu ist. Denn es gibt nur eine Würde,
25207 die Numen und Menschen gemeinsam ist, wie der Sternenhimmel über
25208 uns, das ist die Kraft, nachzuleben dem Gesetz der Freiheit in uns.
25209 Sie tat es, und so brachte sie die Freiheit diesen meinen Freunden,
25210 und allen ein Vorbild, wie Nume und Menschen gleich sein können.
25211 Darauf gründet sich unsre Hoffnung der Versöhnung, der wir
25212 entgegenstreben. Ihr aber, die in so hohem Sinn uns genaht und die
25213 Freunde der Not entrissen, ihr gelte unser Glückwunsch und Hoch.
25214 Und so sage ich nun: Es lebe La!“
25216 Er blieb stehen, wie in Nachsinnen verloren, sein Glas starr vor
25217 sich hinhaltend, an das die andern mit Herzlichkeit anstießen.
25219 Saltner küßte La und flüsterte: „Du kannst dir aber etwas
25220 einbilden, das ist das erste Mal, daß er eine Frau leben läßt!“
25222 „Und das letzte Mal“, murmelte Grunthe, sich niedersetzend.
25224 Saltner aber sprang auf und trat zu Grunthe und umarmte ihn, ehe er
25225 es verhindern konnte.
25227 Grunthe wand sich verlegen. „Ich glaube“, sagte er, „ich meine ja
25228 eigentlich diese La, in der wir sitzen, das schöne Luftschiff –“
25230 „Oh, oh!“ rief Se, „das hilft Ihnen nichts mehr, Sie haben von
25231 ›Persönlichkeit‹ gesprochen – jetzt können Sie nichts mehr
25232 zurücknehmen.“
25234 „Nein, ich will es ja auch nicht“, sagte er ernsthaft.
25236 Da öffnete sich die Tür. Der Schiffer trat ein.
25238 „Eine Depesche für Herrn Dr. Grunthe ist eben gebracht worden“,
25239 sagte er.
25241 Grunthe stand auf und trat beiseite. Er las.
25243 Dann kehrte er zum Tisch zurück. Er sah sehr ernst aus.
25245 „Es ist etwas Wichtiges geschehen“, sagte er auf die fragenden
25246 Blicke der andern. „Ell hat sein Amt niedergelegt.“
25248 „Wie? Was? Lesen Sie!“
25250 Er reichte Saltner das Blatt. Dieser las:
25252 „Ich benachrichtige Sie hierdurch, daß ich soeben bei Ill um
25253 Enthebung vom Kultoramt und um meine Entlassung aus dem Dienst der
25254 Marsstaaten eingekommen bin. Unter den obwaltenden Umständen ist
25255 mir die Fortführung unmöglich. Ich bitte Sie, meinen Besitz in
25256 Friedau als den Ihrigen zu betrachten. Ich selbst gehe nach dem
25257 Mars, um gegen die Antibaten zu wirken. Sie werden bald von mir
25258 hören. Glück dem Menschenbund! Saltner und Torm meinen Gruß. Ihr
25259 Ell.“
25261 Isma wußte nicht, wohin sie blicken sollte. Sie fühlte, wie Blässe
25262 und Röte auf ihrem Antlitz wechselten. In der allgemeinen Erregung
25263 achtete man nicht auf sie.
25265 „Also darum“, sagte Torm, „darum sagte er, in einer Stunde werde
25266 ich verstehen, warum der Kultor meinen Bericht nicht gehört habe –
25267 –. Lassen Sie uns des edlen Freundes gedenken!“
25269 „Auf Ell!“ sagte Saltner. „Aber Sie müssen mir noch erklären –“
25271 „Es muß ein politisches Ereignis eingetreten sein – vielleicht ist
25272 der Antrag über die Steuern angenommen“, bemerkte Torm. „Also auf
25273 Ell!“
25275 Sie erhoben die Gläser. Ismas Hand zitterte. Als sie anstieß,
25276 entglitt das Glas ihren Fingern und zerbrach.
25278 La allein hatte gesehen, was in Isma vorging. Kaum klangen die
25279 Scherben auf dem Tisch, als sie auch ihr Glas fallen ließ und mit
25280 einem leichten Stoß Saltner das seine aus der Hand schlug.
25282 „Das ist recht!“ rief sie.
25284 „Fort alle mit den Gläsern und Flaschen! Auch der Nu will sein
25285 Recht haben. Ehe wir Abschied nehmen, meine lieben Freunde, noch
25286 einen Zug vom Nektar des Nu aus den Kellern der La!
25288 Und dann hinauf in den Äther!“
25290 \section{59 - Die Befreiung der Erde}
25292 Zum zweiten Mal war es Herbst geworden, seit La und Saltner die
25293 Freunde in Friedau verlassen hatten, um zunächst außerhalb des
25294 Machtbereichs der Martier die Entwicklung der Dinge abzuwarten. Das
25295 ganze Gebiet der Vereinigten Staaten von Nordamerika stand ihnen
25296 zur Verfügung. Ihr Haus und ihr Glück führten sie mit sich. Ob in
25297 den blühenden Gärten des ewigen Frühlings an den Buchten der
25298 kalifornischen Küste, ob auf den Schneegipfeln der Sierra Nevada
25299 oder unter den Wundern des Yellowstone-Parks, für La und Saltner
25300 galt das gleich, das glänzende Luftschiff war ihre Heimat; ob es in
25301 den Lüften schwebte oder unter Palmen ruhte, treu barg es die Wonne
25302 der Vereinten und machte sie unabhängig von der Welt.
25304 Nur über dieses Freigebiet hinaus durften sie sich nicht wagen. La
25305 mußte sich den Wunsch versagen, die Ihrigen auf dem Mars oder auch
25306 nur ihren Vater am Pol der Erde zu besuchen, und konnte ihn selbst
25307 bloß zu kurzem Besuch einigemal bei sich sehen. Se war alsbald nach
25308 dem Mars zurückgekehrt. Palaoro, der sich zum geschickten
25309 Luftschiffer ausgebildet hatte, war bei Saltner zurückgeblieben.
25310 Auch die beiden Martier, die in Las Diensten standen, blieben ihr
25311 treu, selbst als sich das Verhältnis von Martiern und Menschen
25312 schärfer zuspitzte.
25314 Die Partei der Antibaten auf dem Mars hatte immer deutlicher ihre
25315 Ziele enthüllt. Den Menschen sollte die Würde der freien
25316 Selbstbestimmung abgesprochen, die Menschheit in eine Art
25317 Knechtschaft zum Dienst der Nume gestellt werden. Die Erde wollte
25318 man lediglich als ein Objekt der wirtschaftlichen Ausnutzung
25319 zugunsten des Mars behandeln und das Kulturinteresse der
25320 Menschheit nur insofern berücksichtigen, als es zum Mittel für die
25321 größere Leistungsfähigkeit dieser tributären Geschöpfe dienen
25322 konnte. Und diese Auffassung des Verhältnisses zur Erde war jetzt
25323 auf dem Mars zum Sieg gelangt. Sowohl im Parlament als im
25324 Zentralrat besaßen die Antibaten die Majorität. Die Abdankung von
25325 Ell, die unglücklicherweise kurz vor die Neuwahlen fiel, durch
25326 welche alle Marsjahre ein Drittel der Volksvertreter neu ernannt
25327 wurde, hatte zum Sieg der Antibaten bedeutsam mitgewirkt. Sie war
25328 als der sichtbare Beweis aufgefaßt worden, daß die bisherige
25329 Methode in der Regierung der Menschen nicht die richtige sei. Man
25330 verlangte ein rücksichtsloses Verfahren, höhere Revenuen, baldige
25331 Unterwerfung Rußlands und der Vereinigten Staaten. Mit dem Sieg der
25332 Antibatenpartei begann diese neue Politik. Maßregel folgte auf
25333 Maßregel, um die Erde dem Dienst des Mars zu unterwerfen.
25335 Oß und einige andere höhere Beamte der Martier auf der Erde waren
25336 allerdings aus ihren Stellungen abberufen worden, da sie zweifellos
25337 von jener nervösen Störung befallen waren, die man vulgär als
25338 Erdkoller bezeichnete. Aber ihre Ersatzmänner verfolgten die
25339 Politik der Unterdrückung nur mit größerer Klugheit. An Ells Stelle
25340 war der Martier Lei gekommen, ein ausgesprochener Antibat, ein sehr
25341 energischer Mann, der selbst vor gewalttätigen Eingriffen nicht
25342 zurückscheute. Ell war auf den Mars gegangen und hatte dort mit
25343 aller Kraft zugunsten der Erde zu wirken versucht, vorläufig ohne
25344 erkennbaren Erfolg. Gleich ihm waren seine früheren Untergebenen in
25345 das Privatleben zurückgetreten und agitierten nun auf dem Mars als
25346 seine entschiedenen und gefährlichen Gegner.
25348 Ells Oheim, der Protektor der Erde und Präsident des Polreichs,
25349 Ill, kämpfte noch eine Zeitlang gegen die vom Zentralrat
25350 gewünschten Maßregeln. Als man aber gegen seinen ausdrücklichen Rat
25351 ihn beauftragte, die Vorbereitungen zu treffen, um im nächsten
25352 Frühjahr die russische Regierung erforderlichenfalls mit Gewalt zu
25353 veranlassen, auch in ihrem Gebiet die Einsetzung martischer
25354 Residenten und Kultoren zuzulassen und einen jährlichen Tribut von
25355 30 Milliarden Mark zu zahlen – um sie zu zwingen, die ausgedehnten
25356 Steppen und Wüsten im Süden und Osten mit Strahlungsfeldern zu
25357 bedecken –, da legte auch Ill mit schwerem Herzen sein Amt nieder.
25358 Die Erde war nun der Gewalt einer den Menschen feindlich gesinnten
25359 Partei ausgeliefert.
25361 Rußland machte einen Versuch zum Widerstand. Aber der Geist, der
25362 jetzt auf dem Mars herrschte, war weniger ›human‹ als in den ersten
25363 Kriegen mit den europäischen Staaten. Die Martier scheuten sich
25364 nicht, den Hafen von Kronstadt und das blühende Moskau ohne
25365 Rücksicht auf Menschenleben zu zerstören. Der Zar gab nach, da er
25366 sah, daß alles auf dem Spiel stand und seine Herrschaft zu
25367 zerfallen drohte. Es gab keine Mittel für Rußland, der
25368 vernichtenden Gewalt der Luftschiffe zu widerstehen. Der russische
25369 Kaiser wurde Vasall der Marsstaaten. Das war im Sommer des dritten
25370 Jahres nach der Entdeckung des Nordpols.
25372 Schwer lag die Fremdherrschaft über Europa und den von ihm
25373 abhängigen Ländern. Die Geldsummen, welche in Gestalt von Energie
25374 nach dem Mars flossen, waren ungeheuer. Jedoch nicht diese
25375 Leistungen waren es, die als drückend empfunden wurden. Zwar
25376 erhoben die Staaten, um die auferlegten Tribute zu bezahlen,
25377 Steuern in einer Höhe, die man vorher für unmöglich gehalten hätte.
25378 Aber dies war nur die Form, in welcher ein Strom des Reichtums nach
25379 dem Mars hin mündete, dessen schier unerschöpfliche Quelle in der
25380 Sonne lag und nun zum erstenmal von den Menschen bemerkt und
25381 benutzt wurde. Es fehlte nicht an Geld, vielmehr, der
25382 Nationalreichtum stieg sichtlich, und zwar in allen Schichten der
25383 Bevölkerung, die Lebenshaltung hob sich, und von wirtschaftlicher
25384 Not war nirgends die Rede. Denn zahllose Arbeitskräfte fanden zur
25385 Herstellung und Bearbeitung der Strahlungsfelder Beschäftigung, und
25386 selbst die gefürchtete Entwertung von Grund und Boden trat nicht
25387 ein. Mit dem Fortschritt in der Herstellung billiger chemischer
25388 Nahrungsmittel fanden sich zugleich andere Methoden der
25389 Bodenausnutzung. Der Verkehr blühte. Das Hauptzahlungsmittel
25390 bestand in Anweisungen auf die Energie-Erträge der großen
25391 Strahlungsfelder. Die aufgespeicherte Energie selbst kam nur zum
25392 kleinen Teil in den Verkehr, die geladenen Metallpulvermassen, die
25393 ›Energieschwämme‹, wurden zum größten Teil direkt nach dem Mars
25394 exportiert, die Scheine über diese Erträge aber wanderten von Hand
25395 zu Hand und in die Regierungskassen als Steuern. Von hier wurden
25396 sie als Tribut an die Marsstaaten verrechnet.
25398 So hatten die Martier allerdings durch ihre Tributforderungen die
25399 Menschen gezwungen, der neuen Quelle des Reichtums in der direkten
25400 Sonnenstrahlung sich zuzuwenden und der Menschheit einen ungeahnten
25401 wirtschaftlichen Fortschritt verliehen. Aber sie hatten dies nicht,
25402 wie die Menschenfreunde auf dem Mars wollten, durch allmähliche
25403 Erziehung zur Freiheit getan, sondern durch Zwang. Und dieser Zwang
25404 war es, der die Menschen des äußeren Segens nicht froh werden ließ.
25405 Es war Fremdherrschaft, die auf ihnen lag, und je leichter ihnen
25406 der Gewinn des Unterhalts wurde, um so schwerer empfanden sie den
25407 Verlust der Freiheit und Selbständigkeit. Und der gemeinsame Druck
25408 ward wider Willen der Martier ein schnell wirkendes Mittel zur
25409 Erziehung des Menschengeschlechts. Er weckte das Bewußtsein der
25410 gemeinsamen Würde.
25412 Je schwerer die Hand der Martier auf den Völkern ruhte, um so
25413 rascher und mächtiger verbreitete sich der allgemeine Menschenbund.
25414 Seine Prinzipien waren noch dieselben: Numenheit ohne Nume!
25415 Erringung der Kulturvorteile, die der höhere Standpunkt der Martier
25416 bieten konnte, um die Erde unabhängig von ihrer Herrschaft zu
25417 machen – auf friedlichem Weg.
25419 Aber was Ill und Ell als das eigene Ziel betrachtet hatten, darin
25420 sahen die neuen Gewalthaber eine gefährliche Überhebung der
25421 Menschen, die nur zu Unbotmäßigkeit führen würde. Und sie begingen
25422 den großen Fehler, den Menschenbund zu verbieten.
25424 Damit wurde aus dem Bund eine geheime Gesellschaft, die nur um so
25425 fester zusammenhing. Er wurde ein wirklicher Bund der Menschen, der
25426 aufklärend und verbrüdernd wirkte zwischen allen Nationen und
25427 Stämmen, zwischen allen Gesellschaftsklassen und Bildungsstufen.
25428 Ein jeder fühlte nun, daß er nicht bloß Franzose oder Deutscher,
25429 Handarbeiter oder Künstler, Bauer oder Beamter sei, sondern daß er
25430 dies nur sei, um ein Mensch zu sein, um eine Stelle auszufüllen in
25431 der gemeinsamen Arbeit, das Gute auf dieser Erde zu verwirklichen.
25432 Die Gegensätze milderten sich, das Verbindende trat hervor. In den
25433 Staaten, in denen herrschende Klassen die hergebrachte Scheu vor
25434 der Geltung des Volkswillens noch immer nicht überwunden hatten,
25435 machte sich nun doch die Einsicht geltend, daß allein in der
25436 Einigkeit des ganzen Volkes die Kraft zur Erhebung zu finden sei.
25437 Längst erstrebte Forderungen einer volkstümlichen Politik wurden
25438 von den Fürsten zugestanden. Man lernte, jeden eignen Vorteil dem
25439 Wohl des Ganzen unterzuordnen. Und während ein ohnmächtiger Zorn
25440 gegen den Mars in den Gemütern kochte, erhoben sich die Herzen in
25441 der Hoffnung auf eine bessere Zukunft, und ein machtvoller, idealer
25442 Zug erfüllte die Geister: Friede sei auf Erden, damit die Erde den
25443 Menschen gehöre!
25445 Der Menschenbund war der Träger dieser Ideen, aber man zweifelte
25446 nun, sie auf friedlichem Weg durchführen zu können. Rettung, so
25447 schien es, war nicht mehr zu hoffen vom guten Willen der Martier;
25448 man mußte sie zu erobern suchen durch eine allgemeine gewaltsame
25449 Erhebung gegen die Bedrücker – „zum letzten Mittel, wenn kein
25450 andres mehr verfangen will, ist uns das Schwert gegeben“ –. Der
25451 Menschenbund wurde eine stille Verschwörung zur Abschüttelung der
25452 Fremdherrschaft. Aber wo war ein Schwert, das nicht vom
25453 Luftmagneten emporgerissen, vom Nihilit nicht zerstört wurde, das
25454 hinaufreichte zu den schwerelosen, pfeilgeschwinden,
25455 verderbenbringenden Hütern der martischen Herrschaft?
25457 Die herrschende Gärung konnte den Martiern nicht verborgen bleiben.
25458 Die Partei der Menschenfreunde auf dem Mars machte sich die
25459 Tatsache zunutze, daß die Unzufriedenheit auf der Erde nicht zu
25460 leugnen war. Sie wies auf die Gefahren hin, die hieraus entstehen
25461 mußten. Unermüdlich war Ell an der Arbeit, die Tendenzen der
25462 Antibaten zu bekämpfen und die Nume mit dem Wesen, der
25463 geschichtlichen Entwicklung und den Bestrebungen der Menschen
25464 bekannter zu machen. Und seine Anhänger wuchsen an Zahl. Aber
25465 gerade weil die Antibaten bemerkten, daß sie Gefahr liefen, an
25466 Macht einzubüßen, wurden sie um so verblendeter in den Mitteln zu
25467 ihrer Erhaltung. Aufs neue gewann die Absicht deutlichere Gestalt,
25468 den Menschen durch ein Gesetz direkt das Recht der Freiheit als
25469 sittliche Personen abzusprechen. Und gegen den Menschenbund wurde
25470 ein System von Verfolgungen in Szene gesetzt. Die Erbitterung nahm
25471 zu. Die Martier aber erkannten, daß die Fäden der Verschwörung nach
25472 den Vereinigten Staaten hinwiesen. Der Sitz der Zentralleitung des
25473 Bundes war nicht mehr in Europa, er befand sich in einem Land, das
25474 ihrer Macht nicht unterworfen war.
25476 Es kam zu einer stürmischen Sitzung im Parlament und im Zentralrat
25477 des Mars, etwa ein Jahr nach der Unterwerfung Rußlands. Man
25478 verlangte, daß nun auch die Vereinigten Staaten von Nordamerika
25479 gezwungen werden sollten, sich der direkten Regierung durch die
25480 Marsstaaten zu fügen. Eher werde man vor den Umtrieben des
25481 Menschenbundes und der Widersetzlichkeit der Erde nicht sicher
25482 sein. Und die Antibaten siegten wieder, obwohl mit geringer
25483 Majorität. Den Vereinigten Staaten wurde die Forderung gestellt,
25484 die Häupter des Menschenbundes, unter denen man Saltner als eines
25485 der gefährlichsten bezeichnete, auszuliefern und Residenten und
25486 Kultoren der Marsstaaten in die Hauptstädte der einzelnen Staaten
25487 aufzunehmen.
25489 Der Beschluß fand in einem großen Teil der Marsstaaten keineswegs
25490 Billigung. Die Ansichten Ells, der bei einer Nachwahl in das
25491 Parlament berufen worden war, wurden in weiten Kreisen geteilt. Man
25492 sagte sich, daß ein etwaiger Widerstand der Vereinigten Staaten zur
25493 Niederwerfung viel größere Mittel erfordern würde als die
25494 Bezwingung des russischen Reiches. Denn hier war die Sache
25495 entschieden, wenn der Zar sich beugte. In Amerika aber war
25496 anzunehmen, daß, wenn auch die zentrale Regierungsgewalt aufgehoben
25497 werde, jeder Staat für sich einen Widerstand leisten könne, der bei
25498 der weiten Ausdehnung des Gebietes zu umfangreichster
25499 Machtentfaltung und wahrscheinlich zu traurigen Verheerungen
25500 zwingen würde. Aber der Beschluß war nun gefaßt und mußte
25501 durchgeführt werden. Das Ultimatum wurde gestellt. Es enthielt die
25502 Drohung, daß im Fall irgendeiner Feindseligkeit gegen die zur
25503 Ausführung der verlangten Bestimmungen eintreffenden Luftschiffe
25504 das Gesetz als sanktioniert zu gelten habe, wonach die gesamte
25505 Bevölkerung der Erde des Rechts der freien Selbstbestimmung für
25506 verlustig erklärt werde.
25508 Die Vereinigten Staaten antworteten mit der Kriegserklärung.
25510 Drei Tage darauf erfolgte von seiten der Marsstaaten die
25511 Verkündigung des angedrohten Gesetzes: Die Bewohner der Erde
25512 besitzen nicht das Recht freier Persönlichkeit.
25514 Es war eine Zeit unbeschreiblicher Aufregung in allen zivilisierten
25515 Staaten. Man empfand die Erklärung als eine Beschimpfung der
25516 gesamten Menschheit. In Europa herrschte eine ohnmächtige Wut.
25517 Jeder bangte davor, sich zu äußern oder zu widersprechen, weil er
25518 den Schutz des Rechtes von sich genommen fühlte. Ein letzter Rest
25519 der Hoffnung ruhte noch auf den Vereinigten Staaten. Aber die
25520 Hoffnung war gering. Wie wollten sie der Macht der Martier
25521 widerstehen? Und wirklich – die Überflutung der Staaten durch eine
25522 Luftschifflotte von gegen dreihundert Schiffen ging vor sich, ohne
25523 daß Widerstand versucht wurde. Die martischen Schiffe verteilten
25524 sich auf die Hauptverkehrspunkte in dem ganzen ungeheuren Gebiet.
25525 Eine merkwürdige Ruhe herrschte im Land, ein passiver Widerstand,
25526 der unheimlich war. Die Kultoren und Residenten waren da, aber
25527 außerhalb des Nihilitpanzers ihrer Schiffe wagten sie nichts zu
25528 unternehmen. Die Martier stellten eine dreitägige Frist zur
25529 Übergabe der Regierungsgewalt und drohten im Fall der Weigerung mit
25530 Verwüstungen in großem Maßstab, vor allem auch mit Unterbrechung
25531 des Verkehrs. Es schien keine Rettung. Mit Zittern und Bangen
25532 verfolgte man auf der ganzen Erde die Vorgänge in Nord-Amerika. In
25533 dumpfem Schmerz beugten sich die Gemüter. Sollte auch das letzte
25534 Bollwerk der Freiheit auf der Erde vernichtet werden? Das war das
25535 Ende der Menschenwürde!
25537 Der gegenwärtige Protektor der Erde und Präsident des Polreichs,
25538 Lei, war mit der Exekution gegen die Vereinigten Staaten beauftragt
25539 worden. Sein Admiralsschiff lag auf dem Kapitol zu Washington. Am
25540 11. Juli sollte die zur Unterwerfung gestellte Frist ablaufen. Es
25541 war am Morgen dieses Tages, der die Geschichte der Menschheit
25542 entscheiden mußte, als der Protektor durch den Lichtfernsprecher
25543 der Außenstation am Nordpol den Auftrag geben wollte, eine
25544 Nachricht durch Lichtdepesche nach dem Mars zu senden. Vergeblich
25545 versuchte der Beamte zu sprechen. Der Apparat versagte – man mußte
25546 auf der Außenstation den Anschluß nicht zustande bringen können. Es
25547 wurde nun nach der Polinsel Ara telegraphiert. Die Leitung war
25548 nicht unterbrochen. Aber lange erhielt man keine Antwort. Endlich
25549 kam eine Depesche: „Anwesenheit des Protektors sofort
25550 erforderlich.“ Das Schiff des Protektors raste nach dem Nordpol,
25551 von einer kleinen Schutzflottille gefolgt. Im Lauf des Nachmittags
25552 bemerkte man, daß die übrigen in Washington befindlichen
25553 Luftschiffe der Martier ebenfalls nach Norden hin sich entfernten.
25554 Gleiche Nachrichten liefen aus allen übrigen Städten ein. Sobald
25555 das letzte Schiff der Martier die Hauptstadt verlassen hatte,
25556 tauchten vorher in den Häusern verborgen gehaltene amerikanische
25557 Truppen überall auf, die martischen Beamten, die allein den Verkehr
25558 mit dem Pol hatten vermitteln dürfen, sahen sich plötzlich für
25559 gefangen erklärt, und die nächste Depesche nach dem Pol lautete,
25560 nicht mehr in martischer, sondern in englischer Sprache: „Wir sind
25561 im Besitz des Telegraphen. Die feindlichen Schiffe sind fort.“
25563 Und die Antwort, gezeichnet vom Bundesfeldherrn Miller, lautete:
25564 „Großer Sieg! Die Außenstation ist erobert, achtzehn Raumschiffe
25565 mit 83 Luftschiffen fielen in unsere Hände. Lei gefangen. Von den
25566 zurückkehrenden Luftschiffen sind bereits über fünfzig genommen.
25567 Ruft alle Völker zum Kampf auf!“
25569 Das Unglaubliche war geschehen. Was niemand für möglich gehalten
25570 hatte – die Macht der Martier war gebrochen, die Unbesiegbaren
25571 waren gefangen in ihrem eigenen Bollwerk! Eine Vereinigung von
25572 lange vorbereiteter Überlegung, von unerhörter Tatkraft und
25573 schlauem Mut hatte es zustande gebracht. Die Nume waren vollständig
25574 überrascht worden.
25576 Tief verborgen in der Einsamkeit des Urwalds war ein Verein von
25577 Ingenieuren seit Jahr und Tag tätig gewesen. Der Opfersinn
25578 amerikanischer Bürger und die von der ganzen Erde
25579 zusammenströmenden Mittel des Menschenbundes hatten hier eine mit
25580 unbeschränktem Kapital arbeitende Werkstatt ins Leben gerufen. Man
25581 hatte auf dem Mars die Technik des Luftschiffbaus schon längst
25582 studieren lassen, und auf der Erde diente das Luftschiff ›La‹ als
25583 Muster. Es war gelungen, durch schlaue Operationen große
25584 Quantitäten von Rob, Repulsit und Nihilit einzuführen, und der
25585 allmächtige Dollar hatte es in Verbindung mit Kühnheit und
25586 Intelligenz fertiggebracht, daß hier in aller Stille eine Flotte
25587 von dreißig Luftschiffen hergestellt worden war. Die nötige
25588 Mannschaft war eingeübt worden. Das Letztere war hauptsächlich
25589 Saltner zu verdanken, der diesen Dienst auf seinem eigenen
25590 Luftschiff gründlich erlernt hatte. So war es gekommen, daß die
25591 Vereinigten Staaten ohne Wissen der Martier über Luft-Kriegsschiffe
25592 verfügten, die den martischen an Geschwindigkeit nichts nachgaben.
25594 Freilich, diese wenigen Schiffe konnten gegen die Übermacht der
25595 Martier und ihre überlegene Übung nichts ausrichten. Aber General
25596 Miller, der Generalstabschef der Union, hatte einen Plan
25597 ausgedacht, zu dessen Durchführung sie ausreichen konnten.
25599 Sobald die Flotte der Martier zur Besetzung der Staaten
25600 aufgebrochen war, hatte sich die kleine Unionsflotte unbemerkt in
25601 das nördliche Polargebiet begeben. Äußerlich besaßen die Schiffe
25602 ganz das Ansehen und die Abzeichen der martischen Kriegsschiffe. So
25603 näherten sie sich unbefangen der Polinsel Ara. Keiner der hier
25604 anwesenden Martier konnte vermuten, daß es sich um feindliche
25605 Schiffe handeln könne. Die Insel war überhaupt nicht eigentlich
25606 militärisch besetzt, denn sie war durch ihre Lage am Nordpol
25607 vollständig gegen eine Überrumpelung geschützt gegenüber einem
25608 Feind, der keine Luftflotte besaß. Außerdem ließ sich die ganze
25609 Insel auf dem Meer durch einen Nihilit-Kordon gegen jede Annäherung
25610 zu Schiff absperren. Es befanden sich daher nur einige Avisos zum
25611 Nachrichtendienst hier. Auf den benachbarten Inseln waren noch
25612 große Werkstätten errichtet, wo die vom Mars eingeführten
25613 Luftschiffe montiert und bemannt wurden. Daneben befanden sich
25614 ausgedehnte Werke zur Komprimierung von Luft, die nach dem Mars
25615 verfrachtet wurde. Im ganzen hatte sich so hier eine Kolonie von
25616 einigen tausend Martiern angesiedelt, die aber in keiner Weise auf
25617 einen kriegerischen Angriff eingerichtet war.
25619 Die Überrumpelung der Insel gelang vollkommen. Zwei Schiffe drangen
25620 unmittelbar an den inneren Rand des Daches der Insel. Die Besatzung
25621 dieser Schiffe bestand aus lauter Freiwilligen, die geschulte
25622 Ingenieure waren und die Einrichtungen des abarischen Feldes
25623 sorgfältig studiert hatten. Ehe man in den Maschinenräumen wußte,
25624 was vorging, waren die martischen Ingenieure überwältigt oder durch
25625 die vorgehaltene Waffe zur Ausführung der Befehle der Amerikaner
25626 gezwungen. Sie wurden verhindert, eine Nachricht durch das
25627 abarische Feld nach der Außenstation zu geben. Den nächsten
25628 Flugwagen, der zum Ring der Außenstation auffuhr, bestieg General
25629 Miller selbst mit einer auserwählten Schar von Offizieren,
25630 Ingenieuren und Mannschaften. Eine Stunde später waren sie auf dem
25631 Ring. Auch hier wurden die Ingenieure, welche das abarische Feld
25632 bedienten, ohne Schwierigkeit überrumpelt und gefesselt. Dann drang
25633 man in die obere Galerie, die große Landungshalle der Raumschiffe
25634 vor. Hier lag die größte Schwierigkeit. Mehrere hundert Martier
25635 waren damit beschäftigt, die Raumschiffe zu entladen, denn es waren
25636 neue Raumschiffe gekommen mit Kriegsmaterial, vor allem mit neuen
25637 Luftschiffen. Dies waren hauptsächlich Mannschaften der
25638 Kriegsflotte, die mit Telelytrevolvern bewaffnet waren. Sobald sie
25639 die erste Überraschung überwunden hatten, setzten sie sich zur Wehr
25640 und zwangen das kleine Häuflein der Angreifer, sich schleunigst in
25641 das untere Stockwerk zurückzuziehen. Hier erhielten diese zwar nach
25642 einiger Zeit Verstärkung durch einen zweiten Flugwagen, dennoch
25643 konnten es beide Teile nicht auf einen Kampf ankommen lassen – die
25644 Telelytwaffen, die hier gegeneinander wirksam geworden wären,
25645 hätten binnen wenigen Minuten zur vollständigen Vernichtung von
25646 Freund wie Feind geführt. Die Menschen aber befanden sich im Besitz
25647 des abarischen Feldes und der Elektromagneten der Insel – sie
25648 drohten, den ganzen Ring durch Veränderung des Feldes zum Sinken zu
25649 bringen und die Außenstation zu zerstören, wenn sich die Martier
25650 nicht auf der Stelle ergäben.
25652 Die Martier konnten zwar auf ihren Raumschiffen die Außenstation
25653 verlassen, doch hätte es mehrere Stunden gedauert, ehe sie
25654 dieselben klar zum Raumflug hätten machen können. In dieser Zeit
25655 konnte, wenn die Menschen ernstmachten, das Kraftfeld der Station
25656 und damit das Gleichgewicht des Ringes gestört werden. Überhaupt
25657 sagten sie sich, daß sie bald Hilfe und Ersatz von den Ihrigen
25658 bekommen müßten, und wollten deshalb nicht diese wichtigste ihrer
25659 Anlagen auf der Erde gefährden. So blieb ihnen nichts übrig, als
25660 sich gefangenzugeben.
25662 Inzwischen hatten die übrigen amerikanischen Luftschiffe die
25663 gesamte Kolonie auf den Inseln um den Pol eingeschlossen und
25664 rücksichtslos mit ihren Nihilitsphären und Repulsitgeschützen
25665 angegriffen. Die vollständig überraschten Martier waren wehrlos,
25666 die wenigen Schiffe, die zum Gebrauch fertig waren, wurden sofort
25667 durch die Angreifer zerstört, ehe sie soweit bemannt waren, daß sie
25668 sich durch den Nihilitpanzer schützen konnten. Andererseits waren
25669 diesmal die Menschen durch das Nihilit gegen einen Angriff durch
25670 die Telelytwaffen geschützt. Auch hier war die Überrumpelung
25671 gelungen, die Martier mußten sich ergeben. Sie wurden sämtlich auf
25672 der Insel Ara untergebracht und hier bewacht.
25674 Sobald die Insel im Besitz der Amerikaner war, wurde nach den
25675 Städten der Union telegraphiert, gleich als ob es sich um Bitten
25676 oder Anordnungen der Martier handle. Zunächst hatte man den
25677 Protektor um sofortige Rückkehr gebeten, dann richtete man ähnliche
25678 Ansuchen an die übrigen Schiffe der Martier. Einzelne Kapitäne
25679 folgten ohne Bedenken, andere hielten weitere Umfragen, wodurch
25680 eine allgemeine Verwirrung entstand. Es bestätigte sich jedoch, daß
25681 der Protektor selbst mit einer Flottille nach dem Pol aufgebrochen
25682 war. Endlich kam von der dem Pol zunächst gelegenen Station von
25683 einem martischen Kapitän selbst ein in der amtlichen Geheimschrift
25684 aufgegebenes Telegramm, das den tatsächlichen Vorgang meldete; die
25685 Polstation sei von einer Luftschifflotte der Union überfallen.
25686 Hierauf wurden sämtliche Schiffe zur Hilfeleistung nach dem Pol
25687 berufen, und auch das letzte Stationsschiff verließ Washington. Der
25688 Telegraph wurde nun von den Beamten der Union in Besitz genommen,
25689 und die Menschen erhielten jetzt die Nachricht von dem unerhörten
25690 Ereignis.
25692 Ahnungslos war Lei mit dem schnellen Admiralsschiff allen andern
25693 vorangeeilt, um nur sobald als möglich auf der Insel zu erfahren,
25694 was geschehen sei. In seinem raschen Flug bemerkte er die
25695 Zerstörungen in der Kolonie, konnte aber nichts anderes glauben,
25696 als daß es sich um einen Unglücksfall, eine Explosion handle. Er
25697 senkte sich auf das Dach der Insel, wo nichts Verdächtiges zu
25698 bemerken war. Aber kaum berührte das Schiff das Dach, als es im
25699 Augenblick erstürmt wurde. Der Protektor der Erde war
25700 kriegsgefangen.
25702 Nun erhob sich die kleine Luftflotte der Amerikaner und flog den
25703 nach und nach eintreffenden martischen Schiffen entgegen. Diese
25704 konnten in den sich nähernden Schiffen nichts anderes erwarten wie
25705 entgegenkommende Boten. Sie mäßigten ihren Flug, um etwaige Signale
25706 zu erkennen. Da zischten die Repulsitgeschosse, und ehe sich eine
25707 Hand nach dem Griff des schützenden Nihilitapparates ausstrecken
25708 konnte, wurden die Robhüllen zertrümmert, und die Schiffe der
25709 Martier stürzten in die Wogen des Meeres oder zerschellten auf den
25710 schwimmenden Eismassen. Es war eine furchtbare, erbarmungslose
25711 Zerschmetterung der Feinde.
25713 Noch mehrfach gelang es, vereinzelt ankommende Schiffe der Martier
25714 durch Überraschung zum Sinken zu bringen. Dann hatten einige der
25715 nachfolgenden Schiffe den Überfall bemerkt, die später
25716 eintreffenden waren gewarnt und näherten sich in ihren
25717 Nihilitpanzern. Zwischen zwei mit den Waffen und
25718 Verteidigungsmitteln der Martier ausgerüsteten Schiffen konnte es
25719 keinen Kampf geben, beide waren unverletzlich. Die Amerikaner zogen
25720 sich daher auf die Insel zurück, deren Umkreis auf dem Meer sie
25721 durch die Nihilitzone und deren Dach sie durch ihre Luftschiffe
25722 schützten. So war es auch den Martiern, die nun im Verlauf des
25723 Tages ihre ganze Flotte aus den Vereinigten Staaten um den Pol
25724 konzentrierten, nicht möglich, einen Angriff zu wagen.
25726 Während die Kapitäne noch berieten, brachte ein Schiff die
25727 Nachricht, daß nach einer Depesche vom Südpol auch die Außenstation
25728 an diesem Pol in den Händen der Menschen sei. Sie war gleichzeitig
25729 mit dem Nordpol von zwei amerikanischen Luftschiffen überrascht
25730 worden, die hier leichtes Spiel hatten. Der Südpol lag in der Nacht
25731 des Winters vergraben, die Station war bis auf eine kleine Anzahl
25732 Wächter verlassen, die den unerwarteten Besuch ohne Mißtrauen
25733 aufgenommen hatten und sogleich überwältigt worden waren.
25735 Die Nume auf der Erde waren somit von jeder Verbindung mit dem Mars
25736 abgeschnitten.
25738 Als die Nachricht nach Europa gelangte, brach ein Jubel aus, wie
25739 ihn die Erde noch nicht vernommen. Aber auch hier war alles zu
25740 einer Erhebung vorbereitet. Überall, wo sich die Beamten der
25741 Martier nicht in ihre Luftschiffe retten konnten, bemächtigte man
25742 sich ihrer Personen. Allerdings hielten die Luftschiffe ihrerseits
25743 die Hauptstädte besetzt und bedrohten sie mit vollständiger
25744 Vernichtung. Sie unterbrachen die Verbindungen der Länder mit dem
25745 Pol, und zwei Tage lang schwebte Europa wieder in banger Sorge. Es
25746 war der Rache der Martier schutzlos ausgesetzt, und die Regierungen
25747 waren gezwungen, die eignen Staatsbürger zum Teil mit Anwendung von
25748 Gewalt zu veranlassen, die gefangenen Martier wieder freizugeben.
25749 Der erste Jubel verklang so schnell, wie er gekommen war, und eine
25750 tiefe Niedergeschlagenheit trat an seine Stelle.
25752 Doch welch Erstaunen ergriff die Bewohner der europäischen
25753 Hauptstädte, als sie eines Tages die drohenden Kriegsschiffe auf
25754 den Dächern der Regierungsgebäude verschwunden sahen. Zuerst wollte
25755 man an keine günstige Veränderung glauben, man befürchtete
25756 irgendeine unbekannte, neue Gefahr. Um Mittag erst erklärte eine
25757 Bekanntmachung der Regierungen allen Völkern, was geschehen sei.
25758 Der Waffenstillstand mit dem Mars war geschlossen worden.
25760 Die Amerikaner hatten am Pol neben ungeheuren Vorräten an Rob und
25761 Kriegsmaterial einige achtzig Luftschiffe erbeutet und diese durch
25762 die gefangenen Martier instand setzen lassen. Dadurch waren sie in
25763 die Lage gesetzt, nicht nur den Pol zu halten, sondern ihre Macht
25764 auch über die ganze Erde zu erstrecken. Zwar konnten sie den
25765 Schiffen der Martier nichts anhaben, aber ebensowenig konnten sie
25766 von diesen aufgehalten werden. Sie begaben sich nach allen
25767 denjenigen Punkten der Erde, wo die Martier große Anlagen zur
25768 Verwertung der Sonnenstrahlung geschaffen hatten, und bedrohten
25769 diese mit Vernichtung des martischen Eigentums. Zugleich drohte man
25770 mit der völligen Zerstörung der Außenstationen an den Polen.
25771 Hierdurch wäre nicht nur das Leben von einigen tausend Martiern,
25772 sondern auch ein unermeßliches Kapital und die Verbindung zwischen
25773 Erde und Mars zerstört worden.
25775 Der gefangene Protektor korrespondierte von der Außenstation aus
25776 durch Lichtdepeschen mit dem Zentralrat des Mars. Hier erkannte man
25777 alsbald, daß die Gefahr ungeheurer Verluste und Verheerungen nur
25778 durch einen friedlichen Ausgleich zu vermeiden war. Der Zentralrat
25779 konnte nicht wagen, einen Vernichtungskrieg zu beginnen, der zwar
25780 schließlich mit der Ausrottung der Menschen und ihrer Kultur
25781 geendet, aber der Regierung der Marsstaaten die Verantwortung
25782 aufgebürdet hätte. Es wurde daher zwischen den Marsstaaten und dem
25783 Polreich der Erde einerseits, den Vereinigten Staaten, die auf
25784 einmal die führende Macht der Erde geworden waren, und den
25785 Großmächten Europas andererseits ein Waffenstillstand geschlossen,
25786 dessen Bestimmungen im wesentlichen folgende waren:
25788 Das Recht der Menschen auf die Freiheit der Person wird anerkannt.
25789 Die Nume sollen auf der Erde keinerlei Vorrechte besitzen.
25791 Das Protektorat über die Erde wird aufgehoben. Sämtliche bisherige
25792 Beamte der Marsstaaten auf der Erde und sämtliche Kriegsschiffe
25793 haben die Erde zu verlassen.
25795 Die Kriegsgefangenen werden freigegeben.
25797 Die Stationen der Martier auf den Polen sowie ihr gesamtes auf der
25798 Erde erworbenes Vermögen bleibt ihnen erhalten, desgleichen ihre
25799 Raumschiffe auf der Außenstation des Nordpols. Doch bleiben diese
25800 Stationen so lange im Besitz der Amerikaner, bis durch einen
25801 endgültigen Friedensvertrag das künftige Verhältnis der beiden
25802 Planeten geregelt sein wird, und zwar nach Maßgabe obiger
25803 Grundsätze.
25805 Dieser Friedensvertrag ist innerhalb eines halben Erdenjahres
25806 abzuschließen und soll den freien Handelsverkehr beider Planeten
25807 als eine Bestimmung enthalten.
25809 Der Sprung von der Not zur Rettung war so ungeheuer, daß man erst
25810 allmählich fassen konnte, welches Heil der Menschheit zuteil
25811 geworden. Und nun war die Freude unbeschreiblich.
25813 Vom Mars kam Raumschiff auf Raumschiff und führte die Kriegsschiffe
25814 der Martier und diese selbst nach dem Nu zurück. Die Staaten
25815 ordneten aufs neue ihre Verfassungen und schlossen untereinander
25816 ein Friedensbündnis, das die zivilisierte Erde umfaßte. Die
25817 Grundsätze, welche der Menschenbund verbreitet und gepflegt hatte,
25818 trugen dabei ihre Früchte. Ein neuer Geist erfüllte die Menschheit,
25819 mutig erhob sie das Haupt in Frieden, Freiheit und Würde.
25821 Am dritten August verließ das letzte Raumschiff der Martier die
25822 Erde. Erst wenn der definitive Friede geschlossen war, sollte ein
25823 regelmäßiger, friedlicher Verkehr wieder beginnen. Bis dahin
25824 durften nur Lichtdepeschen gewechselt werden.
25826 \section{60 - Weltfrieden}
25828 Saltner hatte sich aus Rücksicht auf Las Eigenschaft als Martierin
25829 an der kriegerischen Erhebung gegen die Martier nicht beteiligt. La
25830 bedauerte innig die Trübung der Beziehungen zwischen den Planeten,
25831 doch stand sie nicht bloß als Gattin ihres Mannes, sondern auch mit
25832 ihrem Gerechtigkeitsgefühl auf der Seite der Menschen, die für ihre
25833 Unabhängigkeit kämpften. Sie hörte nicht auf zu glauben, daß die
25834 Vernunft auf dem Mars siegen und zu einem heilsamen Frieden führen
25835 werde.
25837 Sobald die Herrschaft der Martier über Europa aufgehört hatte,
25838 begab sich Saltner mit La und den übrigen Angehörigen des
25839 Luftschiffs in seine Heimat zurück. Er gab damit vor allem dem
25840 Wunsch seiner Mutter nach, die von tiefer Sehnsucht nach ihren
25841 heimatlichen Bergen befallen war. In der Nähe von Bozen, hoch über
25842 dem Tal, erwarb La eine schloßartige Villa, um den Herbst und
25843 Winter in diesem geschützten südlichen Klima und doch in Höhenluft
25844 zuzubringen.
25846 Der Verkehr durch Lichtdepeschen und die Friedensverhandlungen mit
25847 dem Mars gestalteten sich nicht so einfach, wie man gehofft hatte.
25848 Die Beamten, welche den Lichtverkehr zu vermitteln hatten, waren
25849 wenig geübt, und als im Herbst die telegraphische Station auf die
25850 Außenstation am Südpol verlegt werden mußte, gelang es nur mit
25851 Schwierigkeit, den Apparat hier überhaupt zur Funktion zu bringen.
25852 Eine Zeitlang fürchtete man, damit gar nicht zu Rande zu kommen,
25853 und als dies endlich geglückt war, kamen nicht selten
25854 Mißverständnisse im Depeschenwechsel vor, der infolgedessen von den
25855 Martiern auf das Dringendste eingeschränkt wurde.
25857 Und doch hätte man gerade jetzt auf der Erde, mehr als je, gern
25858 Näheres über die Vorgänge auf dem Mars erfahren. Denn die letzten
25859 Nachrichten waren beunruhigender Natur gewesen, und als über ein
25860 Vierteljahr vergangen war, ohne daß die entscheidende
25861 Friedensnachricht vom Mars eintraf, begannen beängstigende Gerüchte
25862 über die Absichten der Martier sich auf der Erde zu verbreiten. Es
25863 waren wiederholt in der Nähe der Station Raumschiffe beobachtet
25864 worden, die sich allerdings in gehöriger Entfernung hielten, aber,
25865 wie man fürchtete, die Vorboten irgendeiner feindlichen
25866 Unternehmung sein konnten.
25868 In der Tat stand das Schicksal der Erde vor einer furchtbaren
25869 Entscheidung.
25871 Die Niederlage der Martier, der Verlust der Herrschaft über die
25872 Erde, hatte der Antibaten-Partei zunächst einen schweren Schlag
25873 versetzt. Die Vertreter einer menschenfreundlichen Politik wiesen
25874 darauf hin, wie allein das scharfe und ungerechte Vorgehen gegen
25875 die Bewohner der Erde die Schuld trage, daß der Nume nun vor dem
25876 Menschen sich demütigen müsse. Es sei dies aber eine gerechte
25877 Strafe für die Fehler der Antibaten, die sich somit als unfähig zur
25878 Führung der Regierungsgeschäfte erwiesen hätten. Die Idee der
25879 Numenheit, die Gerechtigkeit gegen alle Vernunftwesen verlange als
25880 die allein würdige Sühne die Bestätigung der Freiheit, welche die
25881 Menschen sich erkämpft hätten. Es gäbe überdies kein Mittel, die
25882 Menschen, seitdem sie sich im Besitz der Waffen der Martier
25883 befänden, auf eine andre Weise zu bezwingen, als durch eine
25884 vollständige Verheerung ihres Wohnorts; eine solche Barbarei aber
25885 könne den Numen nie in den Sinn kommen. Sie seien der Erde genaht,
25886 um ihr Frieden, Kultur und Gedeihen zu bringen, nicht um einen
25887 blühenden Planeten zu vernichten, nur damit sie seine Oberfläche
25888 zur Sammlung der Sonnen-Energie ausbeuten könnten.
25890 Obwohl diese Ansicht wieder die öffentliche Meinung zu beherrschen
25891 begann, war doch die Macht der Antibaten noch keineswegs gebrochen.
25892 Es gab eine große Anzahl Martier, deren wirtschaftliche Interessen
25893 durch den Verlust der von der Erde fließenden Kontributionen
25894 geschädigt waren und deren Vernunft durch den Egoismus der
25895 Herrschsucht Einbuße erlitten hatte. Sie stellten sich auf den
25896 Standpunkt, daß die menschliche Rasse überhaupt nicht kulturfähig
25897 im Sinne der Nume sei und daß es daher für die Gesamtkultur des
25898 Sonnensystems besser sei, die Bewohner der Erde zu vernichten,
25899 damit ihr Planet den wahren Trägern der Kultur als unerschöpfliche
25900 Energiequelle diene. Der Wortführer dieser Ansicht war Oß, während
25901 Ell an der Spitze der Menschenfreunde stand. Man warf ihm vor, daß
25902 ja gerade durch seine Amtsführung als Kultor erwiesen wäre, wie
25903 unfähig die Menschen zur Aneignung der martischen Kultur seien.
25904 Habe er doch selbst sein Amt aufgegeben.
25906 Ell gab zu, daß er sich über die Schnelligkeit getäuscht habe, mit
25907 der seine Reformen zur Wirkung gelangen könnten. Die Nume seien zu
25908 zeitig zur Erde gekommen, die Menschheit sei allerdings noch nicht
25909 reif für die Lebensführung der Martier. Aber sie habe doch gezeigt,
25910 daß sie zu vorgeschritten sei, um als unfrei behandelt zu werden.
25911 Und deshalb sei es nunmehr der richtige Weg, durch einen
25912 friedlichen Verkehr mit der Erde die Vorteile auszunutzen, welche
25913 die Erde als Energiequelle biete, zugleich aber damit der
25914 Menschheit das Beispiel einer überlegenen Kultur zu geben, die ihr
25915 ein Vorbild sein könne. Nicht durch Unterjochung, sondern durch
25916 freien Wetteifer müßten die Menschen erst auf die Stufe geführt
25917 werden, die sie für die direkte Aufnahme martischer Kultur fähig
25918 mache.
25920 Diese entgegengesetzten Meinungen, die in den Marsstaaten zu
25921 heftigen politischen Kämpfen führten, verzögerten die endgültige
25922 Entscheidung über den Friedensschluß. Beide Parteien suchten den
25923 Abschluß immer wieder hinauszuschieben in der Hoffnung, bei den
25924 nächsten Wahlen zum Zentralrat eine entscheidende Majorität zu
25925 bekommen. Man wußte dies auf der Erde und sah daher dem Ausfall
25926 dieser Wahl mit Spannung und Furcht entgegen. Ell und Oß
25927 kandidierten beide für den Zentralrat. Der Sieg Ells bedeutete den
25928 Frieden. Der Sieg von Oß ließ befürchten, daß die Martier für ihre
25929 Niederlage vom 11. Juli furchtbare Rache nehmen würden. Anfang
25930 Dezember mußte die Wahl stattfinden, die Entscheidung fallen. Und
25931 gerade jetzt versagte wieder der Lichttelegraph. Seit vierzehn
25932 Tagen hatte man keine Depesche vom Mars erhalten, vergeblich
25933 arbeitete und operierte man an dem Apparat – die Rechnungen wollten
25934 mit den Beobachtungen nicht stimmen –, und jeden Tag depeschierte
25935 man vom Südpol, daß man bestimmt hoffe, morgen mit der Einstellung
25936 fertig zu werden.
25938 Unheimliche Gerüchte über die Absichten der Martier durchschwirrten
25939 die Erde. Eines vor allen nahm immer deutlichere Gestalt an und
25940 erfüllte die Gemüter mit Grausen. Man sagte, daß sich in Papieren
25941 der Martier, die nach der eiligen Entfernung der Beamten
25942 aufgefunden worden seien, ausgearbeitete Projekte befunden hätten
25943 zu einer völligen Vernichtung der Zivilisation der Erde. Der
25944 ehemalige Instruktor von Bozen, Oß, der Kandidat der Antibaten für
25945 den Zentralrat, bekannt als ein hervorragender Ingenieur, sollte
25946 der Urheber eines Planes sein, wonach bei einem dauernden
25947 Widerstand der Menschen die Oberfläche der Erde unbewohnbar gemacht
25948 werden konnte. Einzelne Blätter brachten detaillierte Ausführungen.
25949 Es handelte sich um nichts Geringeres als die Absicht, die tägliche
25950 Umdrehung der Erde um ihre Achse aufzuheben. Diese Rotation der
25951 Erde sollte so verlangsamt werden, daß der Tag allmählich immer
25952 länger wurde und endlich mit dem Umlauf der Erde um die Sonne
25953 zusammenfiele, daß also Tag und Jahr gleich würden. Dann würde die
25954 Erde in derselben Lage zur Sonne sein wie der Mond zur Erde, das
25955 heißt, sie würde der Sonne stets dieselbe Seite zukehren. Es gäbe
25956 keinen Unterschied mehr von Tag und Nacht, die eine Seite der Erde
25957 hätte ewigen Sonnenschein, die andere ewige Finsternis – die Sonne
25958 bliebe für denselben Ort stets in demselben Meridian stehen. – Die
25959 Folgen einer solchen Veränderung wären furchtbar gewesen. Der Plan
25960 der Martier sollte angeblich dahin gehen, die Erde in eine solche
25961 Stellung zu bringen, daß der Stille Ozean in ewiger Sonnenglut, die
25962 großen Festlandmassen aber, der Hauptsitz der zivilisierten
25963 Staaten, in ununterbrochener Nacht blieben. Dann mußte allmählich
25964 eine Verdampfung des gesamten Meeres stattfinden. Denn die
25965 Wasserdämpfe würden sich auf der immer kälter werdenden Nachtseite
25966 der Erde niederschlagen und diese mit ewigem Schnee und
25967 unschmelzbarem Gletschereis überziehen. Eine Eiszeit, der kein
25968 Leben widerstehen könnte, würde auf die Schattenseite der Erde
25969 hereinbrechen, während die Sonnenseite in Gluten verdorren würde.
25970 Wohl nur auf einer schmalen Grenzzone könnte sich Leben erhalten.
25971 Aber wer vermochte zu sagen, welch andere, verderbliche
25972 Umwandlungen bei einer derartigen Änderung des Gleichgewichts von
25973 Luft und Wasser auf der Erde noch eintreten mochten?
25975 Wohl versuchte man diesen Plan als ein törichtes Hirngespinst
25976 hinzustellen, als ein Schreckmittel, das die Martier wohl
25977 absichtlich den Menschen zurückgelassen hätten. Doch konnte man die
25978 entschiedenen Befürchtungen nicht genügend zerstreuen. Das Projekt
25979 schien zu gut fundiert. Oß hatte die Energiemenge ausgerechnet, die
25980 zur Hemmung der Erdrotation erforderlich ist. Sie ist allerdings so
25981 groß als die Strahlungsenergie, die von der Sonne in 600 Jahren zur
25982 Erde gelangt, wenn man nur die gegenwärtig den Menschen auf der
25983 Erdoberfläche zugängliche Energie in Anschlag bringt. Viel größer
25984 aber ist die Energiestrahlung unter Berücksichtigung aller
25985 Strahlengattungen. Und wenn die Martier den von ihnen
25986 aufgespeicherten Energieschatz aufbrauchten, so waren sie sicher,
25987 ihn wieder ersetzen zu können. Oß hatte eine Methode ausgedacht –
25988 er nannte sie die ›Erdbremse‹ –, wonach die Rotationsenergie der
25989 Erde selbst die Arbeitsquelle sein sollte, um eine Hemmung
25990 erzeugen, sie sollte zur Arbeit benutzt und somit die Erde durch
25991 sich selbst gebremst werden. Zwanzig Jahre genügten seiner Rechnung
25992 nach, um die Erdrotation auf das gewünschte Maß zu verringern.
25994 Mit besonderem Bangen sah man dem 11. Dezember entgegen. An diesem
25995 Tag fand die Opposition von Mars und Erde statt, es trat die
25996 Stellung ein, in der die beiden Planeten sich am nächsten befanden.
25997 Bei der Opposition am Ende des August vor vier Jahren war die
25998 Anwesenheit der Martier auf der Erde entdeckt worden; die
25999 Opposition im Oktober vor zwei Jahren hatte den Sieg der
26000 Antibatenpartei gebracht; so bildete man sich ein, die nächste
26001 Opposition im Dezember dieses Jahres müsse wieder durch irgendein
26002 unheilvolles Ereignis sich auszeichnen. Daß sich dieses gerade an
26003 den 11. Dezember, als den Tag der Opposition, knüpfen müsse, war ja
26004 eine Art Aberglaube; daß aber die Zeit der größten Annäherung der
26005 Planeten die günstigste für etwaige Unternehmungen der Martier
26006 gegen die Erde war, ließ sich nicht leugnen. Und so fehlte es nicht
26007 an düsteren Prophezeiungen für diesen Tag.
26009 Das Aufhören des Depeschenverkehrs mit dem Mars vergrößerte nun die
26010 Sorge. Man befürchtete, daß die Antibatenpartei gesiegt habe und
26011 die Unmöglichkeit, den Apparat einzustellen, auf einer
26012 absichtlichen Störung durch die Martier beruhe. Wenn das auch
26013 seitens der Union, die im Besitz der Außenstationen war, nicht
26014 zugegeben wurde, so traf man doch Anstalten, im Fall eines
26015 unerwarteten Erscheinens von Raumschiffen der Martier die Station
26016 sperren, ja im Notfall stürzen zu können. Seltsam war es gewiß, daß
26017 auch auf der Station am Nordpol, wohin man trotz des Polarwinters
26018 ein Luftschiff entsandt hatte, die Einstellung des Phototelegraphen
26019 nicht gelingen wollte.
26021 Inzwischen war die Entscheidung auf dem Mars gefallen. Ein
26022 aufregender Streit der Meinungen, wie er seit Jahrtausenden in der
26023 politischen Geschichte des Mars unerhört war, fand endlich seine
26024 Schlichtung. Die Beweggründe, die Ell zuletzt ins Feld führte,
26025 hatten einen durchschlagenden Erfolg. Der Plan von Oß, die Erde zu
26026 bremsen, bestand wirklich, und Ell zeigte, zu welchen
26027 unmenschlichen und verwerflichen Folgen diese wahnwitzige
26028 Unternehmung führen müsse, deren Möglichkeit außerdem durchaus
26029 fraglich sei. Und endlich deckte er einen Umstand auf, der bisher
26030 noch immer als Geheimnis behandelt worden war – die Gefahr, die den
26031 Menschen und vielleicht auch den Martiern bei einem dauernden
26032 Aufenthalt auf der Erde drohte, das Wiederaufleben der furchtbaren
26033 Krankheit Gragra. Selbst auf diese hatte Oß in einem geheimen
26034 Memorial hingewiesen als auf ein Mittel, die Menschen zu
26035 vernichten. Ell scheute sich nicht, dieses Aktenstück zu
26036 veröffentlichen. Da erhob sich eine allgemeine Entrüstung in dem
26037 überwiegenden Teil der Martier. Schon die ganze Methode geheimer
26038 Pläne und Machinationen, die den Martiern als ein bedenkliches
26039 Zeichen politischen Rückschritts erschien, noch mehr aber der
26040 Verfall der Gesinnung, die Mißachtung des sittlich Guten und Edlen
26041 empörte auch das Gemüt derer, die sich eine Zeitlang durch
26042 Sondervorteile hatten zu Menschenfeinden machen lassen, und
26043 erweckten sie zum Bewußtsein ihrer Würde als Nume. So brachte der
26044 Tag der Wahl ein überraschendes Resultat. Der Registrierapparat der
26045 telegraphisch abgegebenen Stimmen zeigte für Ell über 312 Millionen
26046 Stimmen gegen etwa 40 Millionen für Oß.
26048 Ell war mit einer erdrückenden Mehrheit in den Zentralrat gewählt,
26049 mit ihm noch Ill und drei andere Führer der menschenfreundlichen
26050 Partei. Die antibatische Bewegung war hierdurch endgültig
26051 unterdrückt.
26053 Schon am folgenden Tag genehmigte der Zentralrat den
26054 Friedensvertrag mit den verbündeten Erdstaaten in der Fassung, wie
26055 er längst sorgfältig ausgearbeitet von der menschenfreundlichen
26056 Partei vorlag.
26058 Aber ein unerwartetes Hindernis zeigte sich. Schon in den letzten
26059 Tagen waren die Depeschen nicht mehr von der Erde erwidert worden.
26060 Eine Störung des Apparats war vorhanden, und die Martier erkannten,
26061 daß sie auf der Unfähigkeit der Menschen beruhte, ihren
26062 Phototelegraphen zur Einstellung zu bringen. Trotz aller Bemühungen
26063 war es unmöglich, die Friedensbotschaft der Erde durch
26064 Lichtdepesche mitzuteilen.
26066 Der Zentralrat hatte beschlossen, daß Ell, in Anerkennung seiner
26067 Verdienste um die Erschließung der Erde und der nun erlangten
26068 Versöhnung der Planeten, an der Spitze der Kommission nach der Erde
26069 gehen sollte, die beauftragt war, den Friedensvertrag zwischen
26070 beiden Planeten zu vollziehen. Aber es war im Waffenstillstand
26071 bestimmt worden, daß kein Raumschiff auf der Erde landen sollte,
26072 bis nicht telegraphisch die Annahme des Friedens durch die
26073 Marsstaaten mitgeteilt sei. Und das war nun vorläufig unmöglich.
26075 Ein Raumschiff, das man entsandte, um Aufklärung über die Ursache
26076 der Störungen zu erhalten, und das mit der größten erreichbaren
26077 Geschwindigkeit fuhr, kehrte nach zwölf Tagen unverrichteter Sache
26078 zurück. Es hatte versucht, sich durch Signale mit der Außenstation
26079 am Südpol zu verständigen, war aber nicht verstanden worden. Und
26080 als es Anstalten traf, sich auf die Station hinabzulassen, wurde es
26081 durch Repulsitstrahlen bedroht und an der Landung verhindert, so
26082 daß es wieder umkehren mußte. Doch berichtete es, daß, soviel sich
26083 bemerken ließe, die Station nicht in richtiger Verfassung zu sein
26084 scheine und die Unmöglichkeit des telegraphischen Verkehrs
26085 vielleicht an einer Verschiebung der Außenstation liege.
26087 Hierauf nahm man seine Zuflucht zum Retrospektiv. Dies gestattete,
26088 die Station genau zu beobachten. Und nun stellte sich für die
26089 Gelehrten der Martier unzweideutig heraus, daß der Ring der
26090 Außenstation seine Lage geändert habe. Die Berechnung zeigte, daß
26091 binnen kurzem das Gleichgewicht des ganzen Kraftfeldes überhaupt
26092 gestört werden müßte, wenn nicht bald eine Korrektur eintrat. Die
26093 Menschen hatten es nicht richtig verstanden, die Korrektionen
26094 vorzunehmen, die zur Erhaltung des Feldes und des Ringes notwendig
26095 waren. Die Karte der Polargegend, die auf dem Dach der unteren
26096 Stationen sich befand und den Entdeckern des Nordpols das erste,
26097 unlösbare Rätsel über die Einrichtungen der Martier aufgegeben
26098 hatte, diente nämlich dazu, eine Kontrolle für die feinen
26099 Bewegungen der Außenstation infolge von Schwankungen der Erdachse
26100 zu haben. Beide Stationen, im Norden wie im Süden, schwebten nun in
26101 höchster Gefahr. Es mußte, sollte nicht der Verkehr mit der Erde
26102 dauernd in Frage gestellt sein, sofort das Kraftfeld in den
26103 richtigen Stand gesetzt werden, und dies konnte nur durch martische
26104 Ingenieure geschehen.
26106 Wie aber sollten die Martier dies rechtzeitig bewirken, da sie
26107 jetzt kein Mittel hatten, die Menschen zu benachrichtigen, und ihre
26108 Raumschiffe der Gefahr ausgesetzt waren, von den Menschen bei der
26109 Landung zerstört zu werden? Und selbst, wenn es gelang, sich vor
26110 der Landung mit den Menschen zu verständigen, so war es noch immer
26111 sehr fraglich, ob bei dem Zustand der Station nicht diese Landung
26112 mit unbekannten Gefahren verbunden sei. Jetzt das Band mit der Erde
26113 neu zu knüpfen, indem man sich einem Raumschiff anvertraute, war
26114 ein Unternehmen auf Leben und Tod. Wer wollte sich daran wagen? Der
26115 Wille zum Frieden war auf beiden Planeten vorhanden, der Beschluß
26116 der friedlichen Übereinkunft auf beiden Seiten gefaßt. Und nun
26117 sollte der Weltfrieden daran scheitern, daß man die
26118 Friedensbotschaft nicht verkündigen, die einzige Brücke, die
26119 Außenstation, nicht vor der Vernichtung schützen konnte?
26121 Da erbot sich Ell, das Rettungswerk zu unternehmen. Er wußte, was
26122 er wagte. Aber er wußte auch, daß, wenn irgend jemand, so ihm die
26123 Pflicht erwachsen war, die Verbindung zwischen den Planeten
26124 herzustellen. Wieder stand er so nahe an der Erfüllung seines
26125 Lebenszwecks, und noch einmal sollte seine Hoffnung fehlschlagen?
26126 Aber es war auch die einzige Aufgabe, die er noch zu erfüllen
26127 hatte. War der Friede geschlossen, so war alles getan, was er tun
26128 konnte.
26130 Eine freiwillige Gruppe geübter Ingenieure schloß sich ihm an. Das
26131 Regierungsschiff ›Glo‹ sollte Ell mit seinen Genossen binnen sechs
26132 Tagen nach der Erde bringen. Man hatte verschiedene Maßregeln
26133 ausgedacht, um den Menschen die friedliche Absicht kundzutun,
26134 insbesondere die Übermittlung von direkten Nachrichten durch
26135 Hinabwerfen geeigneter Gegenstände auf die Erde. Die Hauptsorge für
26136 Ell war, ob er noch zurecht kommen würde, den Einsturz der
26137 Außenstation zu verhindern. Mit noch nie erlebter Geschwindigkeit
26138 schoß der ›Glo‹ durch den Weltraum.
26140 Die Störungen des abarischen Feldes und der Außenstation waren zwar
26141 in der letzten Zeit auch von den Menschen wahrgenommen worden, doch
26142 reichten ihre Kenntnisse und Mittel nicht aus, sie in ihren
26143 Ursachen zu erkennen und ihre Bedeutung zu beurteilen. Man wußte
26144 nicht, in wie großer Gefahr die Station schwebe, wenn nicht
26145 schleunigst eine Korrektur eintrete. Als sich Ells Raumschiff der
26146 Station näherte, bemerkte Fru, der genaueste Kenner dieser Technik,
26147 der Ell freiwillig begleitet hatte, daß die Hilfe nur von der
26148 Erdoberfläche aus zu bringen sei. Von dorther mußte das Feld
26149 reguliert werden. Er bezweifelte, ob die regelrechte Beförderung im
26150 Flugwagen überhaupt noch möglich sei oder es für die nächsten
26151 vierundzwanzig Stunden bleiben werde, und da Ell fürchtete, viel
26152 kostbare Zeit zu verlieren, ehe er sich vom Raumschiff aus mit der
26153 Außenstation verständigen könne – denn dies war nur durch
26154 unzureichende Signale möglich –, so beschloß er, überhaupt vom
26155 Anlegen am Ring abzusehen. Er wollte vielmehr versuchen, sogleich
26156 so weit in die Atmosphäre hinabzusteigen, bis die Dichtigkeit der
26157 Luft das Aussetzen eines Luftschiffes gestattete, und mit diesem
26158 wollte er nach dem Pol direkt sich begeben. Es war dabei wichtig,
26159 der Erdachse so nahe wie möglich zu bleiben, obwohl er allerdings
26160 hier befürchten mußte, von den Menschen angegriffen zu werden, ehe
26161 er seine friedlichen Absichten darlegen konnte.
26163 Das Raumschiff hatte sich bis auf zwanzig Kilometer der
26164 Erdoberfläche genähert und kam nun in die Luftschichten, die
26165 freilich bei ihrer geringen Dichtigkeit den Menschen noch nicht
26166 gestatteten, sich in ihnen ohne Schutz aufzuhalten, aber doch die
26167 Grenze bildeten, bis zu welcher sich dicht verschlossene
26168 Luftschiffe allenfalls erheben konnten. Gern wäre Ell noch weiter
26169 hinabgestiegen, indessen schon nahten sich Kriegsschiffe der
26170 Menschen, deren Angriff er das schutzlose Raumschiff nicht
26171 aussetzen durfte. Aber diese trauten ihrerseits dem Raumschiff
26172 nicht und hielten sich in so weiter Entfernung, daß der Austausch
26173 von Signalen nicht möglich war. Die Martier ließen ihre in Kapseln
26174 eingeschlossenen Briefe durch eine besondere Vorrichtung aus dem
26175 hermetisch geschlossenen Raumschiff herabfallen, doch war nicht
26176 darauf zu rechnen, daß sie im Gewirr der Eisschollen des Bodens
26177 gefunden werden würden. Inzwischen drängte Fru auf einen
26178 entscheidenden Entschluß, da jede Stunde die Gefahr für die
26179 Erhaltung der Station vergrößerte.
26181 So entschloß sich Ell, das Raumschiff in einer Höhe zu verlassen,
26182 zu der die Luftschiffe nicht emporsteigen konnten. Hier war
26183 freilich das Luftschiff der Martier, auf welchem er das Raumschiff
26184 verlassen mußte, selbst der Gefahr ausgesetzt, sich nicht schwebend
26185 halten zu können. Dennoch war der Versuch, auf diese Weise zur Erde
26186 zu gelangen, die einzige Möglichkeit, die übrig blieb. Und Ell
26187 schwankte keinen Augenblick, die gefahrvolle Landung zu versuchen.
26189 Um das Luftboot so leicht wie möglich zu machen, nahmen außer Ell
26190 und Fru nur noch zwei Ingenieure in demselben Platz. Dann wurde es
26191 verschlossen und die Entladungskammer des Raumschiffs geöffnet.
26192 Sobald das Luftschiff von seinem Halt gelöst war, stürzte es mit
26193 großer Geschwindigkeit abwärts. Sofort wurden die Flügel
26194 ausgespannt und der Fall in eine schiefe Ebene übergeleitet, die in
26195 der Richtung nach dem Pol hinführte. So gelangte das Luftschiff bis
26196 in die Höhe von zehn Kilometern hinab und hatte sich damit dem Pol
26197 so weit genähert, daß seine Bahn in eine Schraubenlinie verändert
26198 werden mußte, damit es nicht zu weit vom Pol fortschösse. Jetzt
26199 hatten die amerikanischen Kriegsschiffe das martische Schiff
26200 bemerkt und näherten sich ihm, in ihre Nihilitpanzer gehüllt. Es
26201 gelang den Martiern, ihr Schiff zu ruhigem Schweben zu bringen. Wie
26202 jedoch sollte man sich bei den geschlossenen Schiffen verständigen?
26203 Und sie zu öffnen, verbot die noch viel zu stark verdünnte Luft
26204 dieser Höhe. Fru strebte danach, durch weiteres Sinken um einige
26205 tausend Meter in dichtere Luftschichten zu gelangen. Deshalb zog er
26206 die Flügel des Luftschiffs ein. Nun erst vermochten die
26207 amerikanischen Schiffe die große weiße Fahne zu erkennen, die das
26208 martische Schiff als Friedenszeichen führte. Sie näherten sich
26209 trotzdem weiter. Das eine legte sich in die Fallinie des martischen
26210 Schiffes und deutete damit an, daß es ein weiteres Sinken nicht
26211 zulassen würde. Das andere zog zum Zeichen des Verständnisses
26212 seinen Nihilitpanzer ein und kam dem martischen Schiff so nahe, daß
26213 man die hinter den schützenden Robscheiben ausgeführten Signale
26214 verstehen konnte.
26216 Ell signalisierte: „Wir bringen den Friedensvertrag. Ich, Ell, bin
26217 mit dem Abschluß beauftragt. Laßt uns sofort nach der Station.“
26219 Der Kapitän antwortete: „Ich bin hocherfreut, darf Sie aber nicht
26220 näher heranlassen, bis ich Instruktionen erhalten habe. Es werden
26221 sogleich weitere Schiffe eintreffen.“
26223 Darauf erwiderte Ell: „Es ist höchste Gefahr, die Außenstation ist
26224 im Gleichgewicht gestört. Lassen Sie uns sogleich hin.“
26226 Hierdurch wurde der Kapitän mißtrauisch. Er signalisierte: „Das
26227 verstehe ich nicht.“
26229 Ell war der Verzweiflung nahe. Der zähe Amerikaner antwortete
26230 nicht, und alles konnte an einer halben Stunde hängen, um die man
26231 zu spät zur Station kam. Auch Fru wußte nicht, was zu tun sei. Das
26232 Signalisieren nahm zu viel Zeit in Anspruch. Ja, wenn man sprechen
26233 könnte! Die Schiffe lagen jetzt dicht nebeneinander. Aber durch die
26234 geschlossenen Hüllen konnte der Schall nicht dringen.
26236 „Ich spreche hinüber!“ rief Ell. „Wir können nicht länger warten.“
26238 „Unmöglich“, rief Fru.
26240 „Es muß gehen.“
26242 Ehe ihn die andern hindern konnten, hatte er den Verschluß, der zum
26243 Verdeck führte, geöffnet und wieder geschlossen. Er stand auf dem
26244 Verdeck in der eisigen dünnen Luft. Mit Erstaunen sah man vom
26245 amerikanischen Schiff aus ihm zu. Ell winkte und rief durch ein
26246 Sprachrohr. Man verstand, daß er sprechen wolle. Der Kapitän, in
26247 seinen Pelz gehüllt, den Sauerstoffapparat vor dem Mund, trat
26248 ebenfalls auf das Verdeck. Ell mußte, um zu sprechen, die
26249 Sauerstoffatmung unterbrechen. Er mußte schreien, um in der dünnen
26250 Luft gehört zu werden. So setzte er dem Kapitän die Tatsachen
26251 auseinander. Dieser schüttelte einige Male den Kopf, dann begann er
26252 zu verstehen, er nickte. Er hütete sich wohl zu sprechen. Mehrere
26253 Minuten waren darüber vergangen. Ell fühlte, wie es ihm im Kopf
26254 sauste, wie sein Herz schlug, wie seine Glieder erstarrten, seine
26255 Augen nichts mehr erkannten. Aber der Amerikaner trat in sein
26256 Schiff zurück, und im Augenblick darauf entfernte es sich nach dem
26257 Pol zu.
26259 Fru öffnete den Verschluß und zog Ell in das Innere des Schiffes.
26260 Er faßte den Zusammensinkenden in seine Arme, ein Blutstrom brach
26261 aus Ells Munde. Vergeblich bemühten sich die Martier um den
26262 Leblosen, während ihr Schiff in rasender Eile dem Amerikaner nach
26263 dem Pol folgte.
26267 Die Mittagssonne eines klaren, windstillen Dezembertages lag auf
26268 den Bergen, deren helle Landhäuser über das Etschtal und die
26269 beschneiten Höhen weit nach Süden hin schauten. Es war warm wie im
26270 Frühling auf der Veranda, an deren Geländer La lehnte. Ihre Blicke
26271 waren auf den Fußweg gerichtet, der von der Stadt nach der Villa
26272 emporführte. Dort, wo der Pfad aus dem Tannenwald hervortrat, um in
26273 mehrfachen Windungen den steilen Rasenabhang vor dem Haus zu
26274 erklimmen, wurde jetzt Saltners Gestalt sichtbar. Er kam aus der
26275 Stadt. Mit Vorliebe pflegte er den Weg, obwohl er eine Stunde
26276 tüchtigen Steigens in Anspruch nahm, zu Fuß zurückzulegen, um, wie
26277 er sagte, nicht aus der Übung zu kommen. Sonst vermittelte das
26278 Luftschiff den Verkehr in wenigen Minuten. Als er La erkannte,
26279 schwang er den Hut und sprang schneller den Pfad hinauf. Bald stand
26280 er auf der Veranda.
26282 „Sind Nachrichten da?“ rief La ihm entgegen.
26284 „Vom Mars noch nicht, aber vom Südpol“, sagte er, sie mit einem Kuß
26285 begrüßend.
26287 „So ist die Einstellung noch immer nicht gelungen?“
26289 „Nein, aber man hat die Annäherung eines Raumschiffes beobachtet,
26290 das der ›Glo‹ zu sein scheint. Es vermeidet jedoch die Station und
26291 scheint sich unter dieselbe herab bis in die Atmosphäre senken zu
26292 wollen. Die amerikanischen Luftschiffe bewachen die gesamte
26293 Umgebung des Pols.“
26295 La atmete auf. „Das ist ein gutes Zeichen“, sagte sie. „Hoffentlich
26296 begegnet man ihm nicht feindlich, ein einzelnes Raumschiff ist
26297 nicht zu fürchten, es wird Nachrichten bringen wollen.“
26299 „Man kann das nicht wissen. Es ist gar nicht zu sagen, was die
26300 Martier möglicherweise sich ausgedacht haben und womit sie uns
26301 überraschen. Du warst selbst sehr besorgt.“
26303 „Ja, wenn Oß gesiegt haben sollte, wäre allerdings alles zu
26304 befürchten. Die ›Erdbremse‹ ist nicht bloß Phantasie, ich weiß, daß
26305 er solche Gedanken schon mit sich herumtrug, als er noch Assistent
26306 des Vaters war. Gebe Gott, daß das Schiff eine gute Nachricht
26307 bringt.“
26309 „Wir wollen uns nicht vor der Zeit ängstigen“, sagte Saltner, indem
26310 er den Arm um ihre Schulter legte, um sie von der Veranda ins Haus
26311 zu führen.
26313 In diesem Augenblick hallte vom Tal ein Kanonenschuß herauf. Gleich
26314 darauf ein zweiter und dritter.
26316 „Was ist das?“ fragte La erschrocken.
26318 Beide kehrten um und blickten auf die Stadt hinab. Wieder ertönten
26319 die Schüsse. Sie spähten mit den Ferngläsern hinunter.
26321 Saltner ergriff Las Hand.
26323 „Es muß eine gute Nachricht sein“, rief er. „Schau dort, an den
26324 Türmen und auf den Schlössern werden die Fahnen aufgezogen. Sollte
26325 etwa –“
26327 „O Sal, wenn es der Friede wäre!“
26329 Saltner eilte ans Telephon. Er sprach das Telegraphenamt an. Eine
26330 Weile mußte er warten, weil die Beamten voll beschäftigt waren.
26331 Dann kam die Antwort.
26333 „Botschaft vom Mars. Der Friedensvertrag nach Vorschlag der
26334 Erdstaaten vom Zentralrat genehmigt. Ell mit dem Abschluß des
26335 Friedens auf der Erde beauftragt. Nähere Nachrichten stehen noch
26336 aus.“
26338 La fiel ihrem Mann um den Hals. Tränen der Freude drängten sich in
26339 ihre Augen. Er schloß sie in seine Arme. Er wußte, was in ihr
26340 vorging. Jetzt, erst jetzt fand sie die volle Ruhe, nun war ihr
26341 Bund bestätigt vom Geschick der Planeten.
26343 „Wollen wir hinab, um die neuen Nachrichten in Empfang zu nehmen?“
26344 fragte er.
26346 „Laß uns hierbleiben. Ich möchte jetzt nicht gerade unter die
26347 Menschen. Bleibe bei mir in unserm Haus!“
26349 „So soll Palaoro mit dem kleinen Schiff hinab, um uns sogleich die
26350 Extrablätter mit neuen Nachrichten heraufzubringen. Du hast recht,
26351 geliebte La!“
26353 Noch ehe Palaoro zurückkehrte, erfuhr Saltner durch ein
26354 telephonisches Gespräch mit einem Freund den Hauptinhalt der neuen
26355 Depeschen. Diese waren aber so unklar und zum Teil widersprechend,
26356 daß La und Saltner nicht wußten, was sie davon halten sollten. Es
26357 hieß, die Gesandtschaft unter Ells Führung sei zum Abschluß des
26358 Friedens eingetroffen und habe die Friedensbotschaft selbst auf die
26359 Erde gebracht. Sie sei aber an der Landung verhindert worden, weil
26360 eine Beschädigung des abarischen Feldes vorläge. Eine spätere
26361 Depesche besagte, die Außenstation sei im Begriff,
26362 zusammenzustürzen, oder sei schon eingestürzt. Die Deputation der
26363 Marsstaaten sei dabei verunglückt. Die letzte Nachricht meldete,
26364 die Bestätigung des Friedensvertrages mit den Marsstaaten sei
26365 bereits an die Regierungen telegraphiert. Der Erbauer der Station,
26366 Fru, sei zur Rettung der Außenstation vom Mars herbeigeeilt.
26368 La und Saltner tauschten noch ihre Ansichten über die Bedeutung
26369 dieser Nachrichten aus, als Palaoro mit dem Luftboot anlangte. Das
26370 erste, was er überreichte, war eine lange Depesche an La.
26372 Sie riß den Umschlag auf.
26374 „Vom Vater“, rief sie jubelnd. „Er kommt zu uns!“ Sie durchflog das
26375 Blatt. Ihre Züge wurden ernst.
26377 „Was ist geschehen?“ fragte Saltner besorgt.
26379 „Der Vater ist gesund und die Station ist gerettet –“
26381 „Gott sei Dank!“
26383 „In der letzten Stunde. Mit Mühe gelang es dem Vater, das Unheil
26384 noch abzuwenden. Daß die Unseren zurechtkamen, verdanken sie der
26385 Aufopferung Ells. Und er –“
26387 Saltner beugte sich über das Blatt. La hob ihre tränenfeuchten
26388 Augen zu ihm auf, er küßte ihre Stirn.
26390 „Das Andenken dieses Edlen ist unvergeßlich“, sagte er. „Er war der
26391 Führer auf dem Weg, den die Welt nun wandeln kann zu Freiheit und
26392 Frieden.“
26394 \end{document}