From 02d7b81cf0101caf58783da9106405f08ee0556c Mon Sep 17 00:00:00 2001 From: Harald Geyer Date: Thu, 15 Dec 2011 22:27:38 +0100 Subject: [PATCH] Neuer Text: Ruf der Sterne --- content/Tanja_Meurer/Ruf_der_Sterne.tex | 676 ++++++++++++++++++++++++++++++++ 1 file changed, 676 insertions(+) create mode 100644 content/Tanja_Meurer/Ruf_der_Sterne.tex diff --git a/content/Tanja_Meurer/Ruf_der_Sterne.tex b/content/Tanja_Meurer/Ruf_der_Sterne.tex new file mode 100644 index 0000000..797447b --- /dev/null +++ b/content/Tanja_Meurer/Ruf_der_Sterne.tex @@ -0,0 +1,676 @@ +\usepackage[ngerman]{babel} +\usepackage[T1]{fontenc} +\usepackage{textcomp} +\input{common/hyp-de} + +%\setlength{\emergencystretch}{1ex} + +\renewcommand*{\tb}{\begin{center}* \quad * \quad *\end{center}} + +\newcommand\bigpar\medskip + +\begin{document} +\raggedbottom +\begin{center} +\textbf{\huge\textsf{Ruf der Sterne}} + +\bigskip +Tanja Meurer +\end{center} + +\bigskip + +\begin{flushleft} +Dieser Text wurde erstmals veröffentlicht in: +\begin{center} +Die Steampunk-Chroniken\\ +Band I -- Æthergarn +\end{center} + +\bigskip + +Der ganze Band steht unter einer +\href{http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.0/de/}{Creative-Commons-Lizenz.} \\ +(CC BY-NC-ND) + +\bigskip + +Spenden werden auf der +\href{http://steampunk-chroniken.de/download}{Downloadseite} +des Projekts gerne entgegen genommen. + +\vfill + +Tanja Meurer, geboren 1973 in Wiesbaden, ist gelernte +Bau-zeichnerin aus dem Hochbau, arbeitet seit 2001 in bauverwandten +Berufen und ist seit 2004 bei einem französischen Großkonzern als +Dokumentationsassistenz beschäftigt. + +Nebenberuflich verdingt sie sich als Autorin und Illustratorin für +verschiedene Verlage. + +\texttt{http://www.tanja-meurer.de/} +\texttt{http://www.nights-end.de/} + +\end{flushleft} + + +\section{Ruf der Sterne} + +Die mächtigen Glasfenster der Fertigungshalle wurden von einer +Druckwelle aus den Rahmen gesprengt. Ein Feuerball breitete sich im +Zentrum des Backsteingebäudes aus. Flammenspeere fauchten in die +mittägliche Sommerhitze. Durch die schiere Urgewalt dieser +Explosion hob sich das Dach. Gewaltige Metallplatten schleuderten +glühend durch die Luft. Einen Herzschlag später erschütterte eine +zweite Detonation das Werk. Die dicken Backsteinmauern brachen nach +außen. Ziegel wurden zu tödlichen Geschossen, die Tore, Fenster und +Türen der umstehenden Lager und Verwaltungsgebäude durchschlugen. + +Die dritte Explosion riss die letzten Mauern ein. Gewaltige +Gesteinsbrocken wurden aus dem Erdreich in die Luft geschleudert. +Ein massives Stahlgerüst, das den Korpus eines schlanken Schiffes +trug, brach in sich zusammen, als würde es aus Streichhölzern +bestehen. Glühende Funken stoben in die flirrende Luft. Eine Wolke +aus Staub und Ruß wogte über dem Werksgelände. Leise klirrend +regneten feine Glassplitter auf das Kopfsteinpflaster nieder. + +Die darauf folgende Stille wurde lediglich von dem leisen Knacken +überhitzten Metalls und brennenden Holzes durchbrochen. + +\tb + +Feuerwehr, Lazarettkutschen, Journalisten und Schaulustige +versperrten die Straße zu der Werkshalle. Über alle Köpfe hinweg +sah Anabelle den gen Himmel ragenden Rammsporn des Schiffes. Ruß +überzog seine Außenhaut. Der Leib des Schiffes lag vermutlich +zertrümmert auf dem Boden der Werkshalle. + +Ein Schauer rann ihr über den Rücken. Ihr Maschinenkörper konnte +weder Hitze noch Kälte wahrnehmen. Dennoch sendete ihre menschliche +Seele diesen Impuls durch ihre Glieder. Instinktiv zog sie die +Schultern hoch und rieb sich die Arme. + +Eine Hand berührte ihren Arm. + +»Miss Talleyrand, Mr. Hailey erwartet Sie bereits.« + +Anabelle sah zurück. Ihr Blick begegnete dem Sergeant Masters’. +Blankes Entsetzen stand in die Züge des blassen Mannes geschrieben. +Sie senkte den Kopf und nickte. + +»Ist Madame Zaida schon anwesend?«, fragte Anabelle, während sie +ihm folgte. + +Masters deutete ein Nicken an. Er führte Anabelle zu einem +prunkvollen Gebäude, dessen Front zur Themse zeigte. Die Schäden an +den verputzten Außenwänden zeugten von der Gewalt der Explosion. +Anabelles Blick glitt an dem imposanten Bau hinauf. Ein +Schmiedeeisenbalkon im ersten Stock überkragte, von wuchtigen +Säulen getragen, die gesamte Front. Die breite Freitreppe führte zu +kunstvoll bleiverglasten Türen. Auf einem Marmorschild konnte man +das Firmenlogo erkennen. Hier saß die Verwaltung der +Luftschiffwerft Erhardt \& Vock. Wortlos erklomm Anabelle die +Stufen. Unter ihren Stiefeln knirschten Glas und Steinsplitter. +Eine Krankenschwester in dunklem Kleid und Häubchen kümmerte sich +im Foyer um verwundete Personen. Anabelle schenkte ihnen wenig +Aufmerksamkeit. Ihr Hauptaugenmerk galt den gerahmten Werbeplakaten +der Werft. Die Druckwelle hatte viele von den Wänden gefegt. Auf +dem Boden lagen Bilder des neuen Schiffstyps. Anabelle blieb stehen +und kniete nieder. Neugierig hob sie zwei Plakate auf und +betrachtete den verzierten, schlanken Rumpf der neuen Ætherschiffe. +Bisher beschränkte sich die Werft lediglich auf heliumbetriebene +Starrluftschiffe. Seit sie zum ersten Mal von dem Konzept des +Himmelsseglers in der Zeitung gelesen hatte, grübelte sie über die +Technik hinter diesem Wunderwerk. Anhand der im Vorfeld +veröffentlichten Skizzen, baute sie in theoretischen Schritten +daran mit. Die Forschung an der neuen, eher historischen +Gestaltgebung irritierte und faszinierte Anabelle zutiefst. Mit +einer Art metallenem Wikingerschiff in die Luft zu schweben +erschien ihr unmöglich. Die Vorstellung, damit die Wolken zu den +Sternen zu durchbrechen, wirke noch weniger real. Ihr ausgeprägter +Verstand reichte nicht aus, sich dazu logisch herleitbare Techniken +einfallen zu lassen. + +Sie rollte die Plakate ein und tippte sich nachdenklich mit dem +Rand gegen die Stirn. + +»Mademoiselle Talleyrand?«, fragte Masters dicht hinter ihr. Nervös +fuhr er sich mit den Fingern durch das rote Haar. Sie erhob sich. + +»Monsieur Masters«, flüsterte sie, darauf bedacht keinen zufälligen +Zuhörer auf sich aufmerksam zu machen. »Haben Sie sich nie die +Frage gestellt, wie dieses Prinzip funktioniert und ob es für solch +revolutionäre Technik nicht reichlich Neider gibt?« + +Sie strich sich mit einer Hand den Rock glatt und klopfte den Staub +und die Splitter aus Saum und Schleppe. + +»Doch, durchaus«, erklärte der Sergeant. »Wollen Sie andeuten, dass +Erhardt \& Vock möglicherweise ihrer Technik beraubt und damit aus +dem Wettbewerb ausgebootet wurden?« + +Anabelle sah an ihm vorbei, aus der geborstenen Eingangstür. +Gendarmen trieben die Schaulustigen auseinander, um die +Leichenwagen durchzulassen. + +»Es wäre in jedem Fall eine einzukalkulierende Möglichkeit, +Sergeant«, entgegnete sie. + +»Inspektor Hailey vermutet ähnliches, einen Anschlag, keinen +Unfall«, erklärte Masters. »Aber wie skrupellos müsste man sein, +dafür ein Werk zu sprengen und hunderte Arbeiter zu töten?« + +Anabelle reichte dem Sergeant ihre Hand. Masters ließ gern zu, dass +sie sich bei ihm unterhakte. + +»Sind wir nicht zur Klärung hier, Sergeant Masters?« + +\tb + +»Monsieur le Inspecteur«, begrüßte Anabelle den stiernackigen +Hailey. Seine massige Boxerstatur hob sich neben der zierlichen +Gestalt einer älteren Dame in bieder hellgrauem Kostüm nahezu +ungeheuerlich ab. Der Inspektor sah kurz von dem Tisch vor sich +auf. + +»Miss Talleyrand!«, rief er. Offenbar blieb es bei dieser etwas +mageren Begrüßung. Anabelle hob eine Braue. + +»Es freut mich, Sie wiederzusehen«, gab sie betont pikiert zurück. +Die Spitze prallte an Haileys dickfelliger Ost-Londoner Natur ab. + +»Milly Havelock ist mein Name.« Die Dame trat auf Anabelle zu. +Allerdings standen ihr Tränen in den Augen. »Ich bin Mr. Erhardts +Sekretärin.« Allein die Erwähnung dieses Namens ließ sie +aufschluchzen. + +Anabelle ergriff ihre Hand und drückte sie leicht. Die emotionale +Art irritierte die Wissenschaftlerin. + +»Anabelle de Talleyrand«, stellte sie sich knapp vor. + +Rasch wandte sich Miss Havelock ab und presste das Taschentuch +gegen ihre dünnen Lippen. Verunsichert durch dieses Verhalten blieb +Anabelle in dem überladenen Büroraum stehen und beobachtete sie. + +Masters löste sich von Anabelles Arm und trat zu der alten Dame +hinüber. Langsam geleitete er sie zu einem schweren Ledersessel. + +»Mr. Masters …«, flüsterte sie mit tränenerstickter Stimme. »Was +soll nun aus uns allen werden? Mr. Erhardt ist tot und Mr. Vock … +seit Tagen im Ausland.« Sie schluchzte und vergrub ihr Gesicht in +den Händen. + +Anabelle wusste, wie unhöflich und kalt ihr Verhalten auf diese +Frau wirken musste, konnte aber nichts daran ändern. Bereits jetzt +zog sie Schlüsse aus den Reaktionen Mrs. Havelocks. Die Beziehung +zwischen Mr. Erhardt und seiner Sekretärin schien nicht vollkommen +einwandfrei zu sein. Erhardt tot?, Anabelle legte die Stirn in +Falten. Zu ihm und Vock wollte sie gerade eine Frage stellen als +der Inspektor sie zu sich winkte. + +»Anabelle, das ist Ihr Gebiet«, rief Hailey. + +Sie wendete sich dem Inspektor zu. Dieser stand über einen +ausladenden Tisch gebeugt, und stützte sich mit seinen gewaltigen +Fäusten auf der dunklen Platte ab. Vor ihm lagen unzählige, +auseinander gerollte Pläne und Bauanleitungen für das Schiff, sowie +in Leder gefasste Schriftstücke. + +Anabelle ergriff eines jener Bücher, und schlug es an willkürlicher +Stelle auf. Inhaltlich fanden sich statische Berechnungen für den +Rumpf des Schiffes. Neugierig überflog sie einige Zeilen. Die +Belastung, mit der Erhard und sein Partner zu rechnen schienen, +entsprach der Statik eines Güterdampfers. Irritiert runzelte +Anabelle die Stirn. Sollte das Schiff nicht ausschließlich +Passagiere transportieren? Nach den Berechnungen des Skeletts würde +der Luftsegler mit hoher Wahrscheinlichkeit auch schwere Last +transportieren können. + +»Haben Sie etwas gefunden?«, fragte Hailey. + +Anabelle wiegte den Kopf. »Ich weiß nicht genau«, murmelte sie. +Nachdenklich legte sie das Buch ab, um in den Risszeichnungen zu +blättern. Laut Plänen und Grundrissen sollte es drei Passagierdecks +und ein Aussichtsdeck geben. Die einfachen Kabinen besaßen mehr +Platz als eine Hotelsuite. Dieser Komfort fehlte den gängigen +Luftschiffen. Ebenso gab es Appartements mit Salons, großen Bädern +und Ankleidezimmern. Wozu solch eine Verschwendung? + +Sie griff nach dem nächsten Buch und blätterte es durch. + +»Anleitungen zur Herstellung von Leichtmetalllegierungen, die hoher +Reibungshitze widerstehen können«, murmelte sie. Ein Stahlskelett, +die Außenhaut aus leichtem Metall und die statischen Berechnungen +für ein Schlachtschiff passten nicht zueinander. Einige +Eintragungen erschienen ihr fundiert, andere sinnlos. + +»Gibt es eine Angebotssammlung oder ein Auftragsbuch für die +Innenausstattung?«, fragte sie mit einem Seitenblick auf Hailey. +Der Inspektor nickte. Mit einer Hand hob er einen Katalog auf, der +neben dem Tisch auf dem Boden stand. »Das hier, denke ich«, sagte +er. + +Anabelle schlug die ersten Seiten auf. Mit einem Finger fuhr sie +über das Register der einzubauenden Möbel, Lampen und +Sanitäranlagen. + +»Haben wir das auch für die technischen Einbauten? Die müssten +ebenfalls als Katalog aufgenommen worden sein.« + +Hailey hob die Schultern. »Da kann ich Ihnen nicht helfen.« + +Anabelle nickte. »Mrs. Havelock?«, wendete sie sich an die +Sekretärin. + +Die alte Dame saß zusammengesunken in ihrem Sessel. Erschrocken hob +sie den Blick. Erst als sie Anabelle ihre ungeteilte Aufmerksamkeit +schenkte, sprach die junge Wissenschafterin weiter. »Gibt es in +Ihren Unterlagen Kataloge über die bereits eingebauten +Sonderherstellungen?«, fragte sie. + +Die alte Dame erwiderte Anabelles Blick mit vollkommenem +Unverständnis. + +»Ich rede von Belüftungssystemen, Verrohrungen, Sanitäranlagen, +Gasleitungen, Luftumwälzern, Heizungen, Wasserwiederaufbereitung +und ähnlichem.« + +Mrs. Havelock schlug die Augen nieder. »Ich glaube diese Bücher +befanden sich zum Zeitpunkt des Unglücks in der Maschinenhalle.« + +Trotz der vorgeblichen Ahnungslosigkeit der alten Dame, fiel es +Anabelle schwer, ihr glauben zu schenken. Wie praktisch!, dachte +sie. Ihrer Ansicht nach war ein solcher Fall schier unmöglich. +Diese Bücher dienten lediglich der Ablage. Die Techniker arbeiteten +mit Duplikaten und Wasserpausen. Vorerst verschwieg sie ihre +Gedanken. + +»Sehr bedauerlich«, sagte sie. + +Nach der Mimik Haileys zu urteilen ließ ihr schauspielerisches +Talent zu wünschen übrig. + +»Ich brauche mehr Zeit, um all diese Unterlagen gebührend zu +prüfen. Deshalb würde ich mich gerne über Nacht hier einquartieren +und arbeiten«, erklärte Anabelle. + +Hailey warf Mrs. Havelock einen kurzen Blick zu. + +Die Mimik der alten Dame gefror. + +»Weshalb?!«, verlangte sie zu wissen. + +»Miss Talleyrand ist wissenschaftliche Beraterin Schottland Yards, +Madam«, erklärte er steif. »Ihre Prüfung deckt möglicherweise mehr +als einen Unfall auf.« + +Die alte Dame zögerte. + +»Ich kann es befehlen lassen«, vertraute Hailey ihr wenig +freundlich an. Anabelle beobachtete die Sekretärin. Hölzern nickte +sie. »Also gut, wie Sie wollen.« + +Steif erhob sich Mrs. Havelock und schritt zu der Bürotür. »Sie +gestatten, dass ich Mr. Vock telegraphisch informiere?!« + +»Sicher«, bestätigte Hailey. Die Sekretärin verließ das Zimmer. +Anabelle wies hinaus. »Wissen Sie, wo sich Madame Zaida befindet?« + +\tb + +Journalisten bedrängten die Polizei mit ihren Fragen, während +Fotographen ihre unhandlichen Apparate abbauten. + +Auch Anabelle wollte sich ein Bild über das Ausmaß der Zerstörung +machen. Mit raschen Schritten eilte sie in das Zentrum der +Explosion. Der Anblick ließ sie erneut schaudern. Riesige Teile des +Steinbodens fehlten. Geschmolzenes Metall verband sich mit Holz und +Ziegeln. Ketten, Zahnräder und große Platten der Dachabdeckung +lagen auf der Erde verstreut. Das Skelett des Schiffes glühte noch +immer. Die darunter begrabenen Arbeiter mussten ein grauenhaftes +Ende genommen haben. Noch immer wurden Leichen geborgen. Anabelle +bezweifelte, dass irgendeine Person so nah des Explosionsherdes +überlebt haben konnte. Die Ausmaße der Zerstörung lagen jenseits +jeder Vorstellungskraft. + +Anabelle schritt langsam voran. Vorsichtig, bedacht auf das immense +Gewicht ihres Maschinenkörpers, umging sie instabilere Stellen des +Bodens. Sie suchte Zaida. Mit einer Hand raffte sie die Schleppe +ihres Kleides, um in den Krater unter dem Wrack zu klettern. + +Geröll und Schutt knirschte unter ihren Absätzen. Ein Polizist hob +kurz den Blick, wandte sich aber wieder ab, als er sie erkannte. +Wenige Schritte entfernt stand die schlanke, hochgewachsene +Angolanerin. Sie hielt in ihrer unbehandschuhten Hand ihren Stock +mit dem silbernen Rabenkopf. Behutsam rieb sie über das Metall. +Langsam drehte sie sich um ihre Achse. Es schien, als wolle sie +sich einen Überblick verschaffen. Zaida sah durch die Schleier der +Wirklichkeit und den Filter der Magie. + +Vorsichtig trat Anabelle an ihre Seite und wartete geduldig, bis +sich die Aufmerksamkeit ihrer Freundin auf sie richtete. + +»Wie viel weißt du von Hailey?«, fragte die Zauberin leise. + +»Pläne und Berichte habe ich mir angesehen und Mrs. Havelock kennen +gelernt«, entgegnete Anabelle. + +»Deine Meinung?« Zaidas Mimik verriet nichts von ihren persönlichen +Eindrücken. + +»Sie ist dem Seniorpartner sehr ergeben«, murmelte Anabelle. »Ihr +missfällt die Prüfung der Unterlagen.« + +»Wir sind Fremde, die unangenehme Fragen stellen und den Ruf +Erhardts beflecken könnten«, entgegnete Zaida. + +»In jedem Fall.« Anabelle straffte sich. »Anhand der Unterlagen und +dem Fehlen einzelner Dokumente möchte ich die ehrbaren Absichten +Mr. Erhardts ebenso in Frage stellen wie die von Mr. Vock.« + +Zaida streifte ihren Handschuh über und umklammerte den Stock +fester. »Was hast du gefunden?« + +Kommentarlos entrollte Anabelle die Plakate, die sie aus der +Eingangshalle mitgenommen hatte. Das silbrige Wikingerschiff +schnitt auf einer Illustration durch die Wolkendecke zu den +Sternen. Auf der anderen präsentierte es sich seriös als Luxusliner +der Lüfte. Mit einer knappen Kopfbewegung deutete sie zu dem Sporn, +der über Ihnen in den Krampen hing. + +»Anhand der Statik und der Inneneinrichtung würde diese +Konstruktion nicht starten können«, erklärte Anabelle ruhig. Sie +sah den leisen Zweifel in dem Blick ihrer Freundin. »Die Forschung +ist hierfür nicht weit genug. Zurzeit brauchen wir Heliumballons +und Rotoren. Dieses Schiff hat Segel. Wenn sich im Bauch nicht +außergewöhnlich viel Gas für den Antrieb befinden sollte, wird es +nicht starten. Davon abgesehen fehlen ihm die relevanten Rotoren, +die es davor bewahren ins Trudeln zu kommen.« + +»Dieses Schiff wird seit Monaten beworben«, murmelte Zaida tonlos. +»Laut der Times sollte morgen das erste Mal einen Testflug +stattfinden.« + +»Unser Weg zu den Sternen«, zitierte Anabelle. Ihre Stimme troff +vor Ironie. »Nein. Dieses Schiff ist Betrug.« + +Zaida senkte den Blick. »Kannst du diese Theorie beweisen?« + +»Gib mir Zeit, Pläne und Berichte zu studieren, um sie anschließend +mit dem Wrack zu vergleichen.« + +\tb + +Der Verdacht des Betruges und der Veruntreuung von +Forschungsgeldern verdichtete sich für Anabelle, als Hailey von +einem Besuch bei der Rothschild-Bank zurückkehrte. »Anabelle!« rief +er schon auf die Entfernung. »Sie hatten offenbar den richtigen +Riecher!« + +\bigpar + +Anabelle hob den Blick. Sie kniete auf dem Boden, in ihren Händen +ein Kupferzylinder und Reste einer winzigen Kupferspule aus einer +Taschenuhr. Sie trug unterdessen den groben Hosenanzug eines +Arbeiters und Handschuhe. Sergeant Masters assistierte ihr. Er +stand an einem Tisch und katalogisierte, was Anabelle an +Einzelteilen fand und sofort zuweisen konnte. Sie legte den +Zylinder ab und nickte dem jungen Mann zu. »Notieren Sie, +Masters?«, bat sie ihn. + +»Sicher, Mademoiselle!« + +»Was haben Sie erfahren?«, wendete sie sich an den Inspektor, der +atemlos neben dem Tisch innehielt. + +»Die Konten sind eingefroren worden. Aber die Einlage war +ungewöhnlich gering«, keuchte er. »Allerdings wurden laut den +Rothschilds große Beträge an eine Firma in Indien transferiert. Bei +allen anderen Unterlieferanten für dieses Projekt sind wiederum nur +geringe Anzahlungen geleistet worden.« Er tupfte sich mit einem +Taschentuch den Schweiß von der Stirn. »Was konnten Sie in der Zeit +finden?« + +Anabelle deutete auf den Tisch und die Bücher hinter sich. »Dieses +Schiff sollte einen Verbrennungsmotor auf Basis von Diethylether +erhalten. Diese Idee ist gut. Die Energie, die aus diesem +hochexplosiven Stoff gewonnene wird, ist immens. Diese +Zusammensetzung entzündet sich bei 95° F.« Sie strich sich eine +Strähne aus dem Gesicht. »Diethylether ist hoch brennbar und +schwerer als Luft. Man kann sich ausrechnen, dass ein Leck in einem +der Versorgungstanks in Kombination mit einem Zündfunkengeber +tödlich endet.« + +Hailey fuhr sich mit dem Handrücken über die schweißnasse Stirn. +Nachdenklich rieb er sich den Nasenrücken. Er überlegte. Anabelle +gewährte ihm die Zeit, seine eigenen Schlüsse zu ziehen. »Das ist +hier passiert?« + +Sie nickte. + +»Wie gut lassen sich die Tanks manipulieren?«, fragte er nach +einigen Sekunden. + +Anabelle deutete auf die Kupferzylinder auf dem Tisch. »Diese +kleinen Spielzeuge hier hatten einen Zünder. Dafür dienten +wahrscheinlich billige Taschenuhren. Aus dem Schutthaufen habe ich +kleine Bestandteile eines Uhrwerks herausfiltern können. Ein +Zeiger, ein verschmortes Uhrblatt und eingeschmolzene Rädchen. +Diese zündeten das hier …« Sie hob das Kupferrohr an. »Sie dienten +als bewegliches Auflager unter den Gastanks im Keller.« + +Sie wendete sich einem gewaltigen Krater im Boden zu. »Kommen +Sie!« + +Mit raschen Schritten erreichte sie ihn und sprang hinein. Hailey +blieb nichts anderes, als ihr zu folgen. Dicht hinter Anabelle +federte er in den schlecht beleuchteten Gewölbekeller. + +»Licht kann man keines machen, nehme ich an«, murmelte der +Inspektor. Anabelle nickte. »Der süße Geruch lässt auf einen Rest +Äther schließen, Monsieur Hailey«, erklärte sie. »Halten Sie sich +also besser ein Taschentuch vor Ihr Gesicht.« + +Der Inspektor presste beide Hände gegen Mund und Nase. Anabelle +betrachtete ihn spöttisch. + +»Kommen Sie.« + +Mit gebührender Vorsicht schritt Anabelle vor ihm über Schutt und +verkohlte Reste von Kisten. + +»Warum sind Sie sich so sicher, dass die Fabrik keinem neidischen +Konkurrenten zum Opfer fiel?«, fragte er. + +»Die Pläne sind undurchführbar. Seit ich von dem Konzept gelesen +habe, Monsieur, überlege ich mir, wie ich ein Schiff dieser Art +bauen würde.« + +Sie blieb vor einem weiteren schwarz verbrannten Krater stehen. + +»Anabelle, Sie sind nicht das Maß aller Dinge!«, zischte Hailey +ärgerlich. + +Sie hob den Blick. Die Beleidigung prallte an ihr ab. + +»Das weiß ich durchaus. Allerdings ist mir auch bewusst, dass die +Menschen an Bord Luft zum Atmen und Wasser brauchen.« Sie hob beide +Hände. »Dazu würde ich die Außenhülle vollständig schließen und +eine Wasser- und Luftwiederaufbereitungsanlage einbauen.« Sie +lachte auf. »Davon abgesehen, wohin sollten die Menschen fliegen? +Zum Mond?«, fragte sie spöttisch. + +Hailey schwieg. + +»Wenn Sie sich den Mond in der Sternwarte betrachten, so können Sie +nicht mehr erwarten, als eine Ansammlung von Staub und Steinen. +Wissen wir, ob wir dort atmen oder leben können?« Sie wartete seine +Antwort nicht ab. »Nein!« Nach einer Sekunde Zögerns schüttelte sie +den Kopf. »Die Idee ist reizvoll, ein Traum für jeden Ingenieur, +Pionier und Abenteurer, nicht für reiche Menschen, die es leid +sind, um die Welt zu segeln.« + +Die Konsequenz aus Anabelles Worten erschütterte Hailey zutiefst. + +»Dann starben all diese Menschen für nichts«, flüsterte er tonlos. + +»Wahrscheinlich.« Anabelle wies auf einen deformierten, zerplatzten +Tank, unter dem verkohltes Holz lag. »Alle Brennbarkeit und +Explosivität wäre nicht so verheerend gewesen, wenn nicht +zusätzliches Brandmaterial hier gelagert worden wäre.« + +Hailey schluckte hart. »Grauenhaft!« + +»Zaida und Masters haben hier unten den vollkommen zerfetzten Leib +eines Menschen gefunden.« + +»Der Initiator?«, vermutete Hailey. + +»Oder das Opfer«, überlegte Anabelle. »Mrs. Havelock sprach von Mr. +Erhardt, der offenbar starb.« + +»Laut ihrer Aussage ging er jeden Tag für mehrere Stunden in die +Fertigung, um selbst die Arbeiten zu überwachen«, führte er aus +»Erhardt war der leitende Ingenieur und vertraute offenbar nicht +einmal seinem jüngeren Partner die Geheimnisse dieser Erfindung +an.« + +»Er musste fürchten, dass Vock seine Konstruktion als Lüge +enttarnt.« Anabelle räusperte sich. »Wo ist Mr. Vock über-haupt?« + +»Die Havelock konnte mir nur sagen, dass er bereits seit einer +Woche auf Geschäftsreise ist … in Delhi.« + +»Sicher?«, fragte Anabelle misstrauisch nach. »Haben Ihre Männer +diese Spur schon überprüfen lassen?« + +»Ja, aber sie verliert sich bereits in London«, gestand Hailey. + +»Vielleicht ist der Tote Monsieur Vock.« Nachdenklich wiegte +Anabelle den Kopf. »Warten wir bis heute Nacht. Sicher wird Mrs. +Havelock weitergeben, dass ich hier bleibe. Ich rechne in jedem +Fall mit Besuch.« + +»Kommen Sie allein klar?«, fragte Hailey. Sorge klang in seinen +Worten mit. + +Mit einem Grinsen nickte Anabelle. »Sie wissen doch: ich bin eine +Maschine.« + +\tb + +Noch immer ragte der Sporn über ihr auf. Seit mehreren Stunden war +sie – bis auf wenige Bobbies, die darauf achteten, dass kein +Unbefugter das Gelände betrat – allein. + +Im Licht von Karbidlampen und Fackeln las sie sich die Unterlagen +durch. Einige bemerkenswerte Punkte fielen ihr auf. Es gab geringe +Unterschiede im Strich von den technischen Rissen, den Details für +den Drechsler und den Darstellungen der Motoren, zu der Ausstattung +der Kabinen. Für Anabelle stand fest, dass an diesen Plänen +unterschiedliche Personen gearbeitet haben mussten. Stammte die +Grundidee von Vock – oder einer anderen Person? Vielleicht einem +unbedeutenden Ingenieur, der die Arbeit an dem Projekt aufgab? + +Jemand räusperte sich hinter ihr. Ohne sich umzudrehen oder den +Blick von den Plänen zu nehmen fragte sie: »Monsieur Erhardt, wie +ich annehme?« + +»Ja«, entgegnete der alte Mann knapp. Anabelle drehte sich zu ihm +um. Außerhalb des Lichtkreises erhob sich ein fast konturloser +Schatten. Lediglich der Lauf eines Gewehres hob sich schwach ab. + +»Warum sind Sie zurück gekehrt?«, fragte sie ruhig. + +»Ich kann Ihnen meinen Schatz nicht ausliefern«, entgegnete er. +Seine Tonlage klang androgyn und weich, aber auch alt. »Sie wissen +diese Pläne nicht zu würdigen, Mademoiselle Talleyrand.« Ein +gefährlicher Unterton schlich sich in seine Stimme. Die Schärfe +darin umriss ein Quäntchen Wahnsinn. + +»Was glaubten Sie, mit diesen Dokumenten zu erreichen, Monsieur?«, +fragte Anabelle leise. »Sie wissen, dass diese Unterlagen ein +Luftschloss beschreiben …« + +»Woher kommt nur diese französische Überheblichkeit?«, fragte er. + +»Ich habe Wissen, keine Überheblichkeit«, entgegnete Anabelle +verärgert. + +»Wissen?!«, zischte er. »Dieses Schiff ist ein Meisterwerk. Die +vorangegangenen Luftschiffe sind nichts im Vergleich hierzu!« + +»Die bisherigen Bautypen sind in der Lage zu fliegen, sie bringen +Ihnen und Vock Ruhm und Geld ein …« + +»Schweigen Sie!«, donnerte er. + +Anabelle wusste, dass sie mit einem Verrückten sprach. Trotz allem +konnte sie nicht schweigen. »Warum? Weshalb haben Sie ein Projekt +verfolgt, dass zum Scheitern verurteilt war?« + +Erhardt schoss. Die Kugel fetzte Erdreich und Stein aus dem Boden +vor Anabelles Füßen. Erschrocken wich sie zurück, bis sie gegen +ihren Tisch stieß. Auf Einschüsse in ihrer Kautschukhaut konnte sie +gut verzichten. »Monsieur …«, begann sie, wurde aber von seinem +unartikulierten Aufschrei unterbrochen. Die Wachen wurden sicher +gleich auf ihn aufmerksam! + +»Schweigen Sie!«, brüllte er. »Die Pläne meines Sohnes waren +perfekt!« + +Irritiert blinzelte Anabelle. Sohn? Wie hatte sie die menschliche +Seite aus ihrer Kalkulation heraus lassen können?! Es ging Erhardt +scheinbar nicht um Geld von Investoren. + +»Die Differenzen in den Plänen«, murmelte sie. »Monsieur, Sie haben +die Arbeit ihres Sohnes fortgeführt?« + +Die Milde in ihrer Stimme beruhigte Erhardt etwas. »Ja«, flüsterte +er. »Seine Idee war so brillant! Aber Vock wollte das Design +bestimmen. Es sollte prachtvoller sein als alle Schiffe, die je +gebaut wurden.« Er verstummte. Sein heiseres Schluchzen brach durch +die Stille zwischen ihnen. »Mein Sohn … Millys Sohn …« Wieder +versagte seine Stimme. »Vock hat sein Konzept ad absurdum geführt. +Dieses Schiff ist flugunfähig.« + +Anabelle nickte. »Vock wollte Subventionen und schnellen Profit. +Vermutlich ist er mit dem Geld geflohen.« + +Stein knirschte unter Erhardts Schuhen. Er trat in den Lichtkreis. +Sein eingefallenes, fahles Gesicht sprach von Entbehrung und Leid. +Wirr hingen seine grauen Haare in die Stirn. Offenbar trug er seit +Tagen den gleichen Anzug und fand keine Zeit sich zu rasieren. +Anabelles Seele zog sich zusammen. Sie empfand Mitleid. + +»Mein Sohn wurde – Dank Vocks Habgier – während eines Unfalls im +Werk zu einem Krüppel. Wochen danach starb er an den Folgen. Ein +Leben für ein Leben!« + +»Die zerfetzte Leiche war Vock«, vermutete Anabelle. + +»Ja«, bestätigte Erhardt. Der Ingenieur sank ein Stück weit in sich +zusammen. Das Mitleid in Anabelle wuchs. Sie wusste, dass es für +den alten Mann keine Zukunft gab. Er war der Mörder von +einhundertfünfzig Arbeitern und seines Partners. Aber wie groß wäre +das Ausmaß der Katastrophe geworden, hätte dieses Schiff je +abgehoben. Ein Absturz, eine Explosion, gleichgültig welches +Szenario sie sich dafür ausmalte, hätte weitaus mehr Opfer +gefordert. Das Interesse an der Forschung und die Diskussion über +Sinn und Unsinn der Raumfahrt würde ohnehin neu angefacht werden, +ausgelöst durch das Fiasko des gestrigen Tages. Doch irgendwann +gelänge es den Menschen. Der Weg in das All war ihnen sicher. + +\bigpar + +»Ihr Sohn wird seine Ehre und Anerkennung bekommen«, flüsterte +Anabelle. »Auf Basis seiner Technik können andere Wissenschaftler +sein Werk fortführen. Seine Idee wird nicht ungehört bleiben. Er +teilt den Traum nach den Sternen mit uns allen. Wenn die Zeit reif +ist ein Sternenschiff zu bauen, wird auch er diese letzte Grenze +durchbrechen.« + +\end{document} + -- 2.11.4.GIT